XXII

Wie jedes Mal, wenn sie auf die Straße hinaustrat, musste sie gegen die Überzeugung ankämpfen, dass es schon wieder kälter geworden war. Brack und alle anderen, mit denen sie sprach, behaupteten hartnäckig, es wäre Sommer, und Pia blieb allmählich nichts anderes mehr übrig, als sich einzugestehen, dass das vermutlich der Wahrheit entsprach. Vermutlich fielen die Temperaturen im Winter noch ein gutes Stück unter den absoluten Nullpunkt. Aber wie es aussah, dachte sie betrübt, standen ihre Chancen gar nicht schlecht, das selbst herauszufinden. Sie waren jetzt seit gut zwei Wochen in dieser sonderbaren Stadt mit dem noch sonderbareren Namen, und der Turm des Hochkönigs war ihre letzte Hoffnung gewesen, doch noch einen Weg zurück nach Hause zu finden. Vielleicht stellte dieser unheimliche Turm irgendeinen Weg dar, wieder in die Welt zurückzukehren, in die sie gehörte, aber wenn, dann war ihr dieser Weg zumindest im Augenblick verwehrt. Wäre Lasar nicht im richtigen Moment aufgetaucht, dann hätte Eirann sie vielleicht berührt, und dann …

Wäre gar nichts passiert, rief sie sich in Gedanken zur Ordnung. Weil es keinen Eirann gegeben hat. Er war eine Erinnerung, nichts als eine Legende. Es gab ihn nicht. So wenig, wie es Gespenster gab.

Die Straße war menschenleer und dunkel. In keinem einzigen Haus brannte Licht, und es war so still, als wäre die Stadt im gleichen Moment ausgestorben, in dem das letzte Sonnenlicht hinter dem Horizont verschwunden war. Trotzdem blieb Lasar plötzlich stehen und hob warnend die Hand. Seine Haltung drückte Anspannung aus. Das hatte sie die ganze Zeit über getan, nicht erst seit, sondern schon bevor sie den Turm verlassen hatten, aber jetzt gesellte sich noch etwas anderes hinzu. Angst?

»Was hast du?«, fragte Pia, doch Lasar machte nur eine neuerliche und jetzt eindeutig erschrockene Geste, zu schweigen, und zog sie dann mit einer plötzlichen Bewegung in den Schatten eines überhängenden Türsturzes. Erst dann hörte Pia das Geräusch schwerer, langsamer Schritte, die näher kamen.

Es war eine Patrouille der Stadtwache, die üblichen zwei Mann in schwerem Mantel, Harnisch und Schild, die am anderen Ende der Straße erschienen und nicht besonders schnell, dafür zielsicher auf sie zukamen. Der Junge fuhr erschrocken zusammen und sah sich hektisch nach rechts und links um, und Pia konnte seine Gedanken in diesem Moment mehr als deutlich hören. Er suchte verzweifelt nach einem Versteck oder einem Fluchtweg. Als er loslaufen wollte, legte ihm Pia die Hände auf die Schultern.

»Rühr dich nicht«, zischte sie. »Und keinen Laut!«

Lasar war wahrscheinlich viel zu schockiert, um auch nur Luft zu holen, und als er seinen ersten Schrecken überwunden hatte, war es zu spät, um noch irgendetwas zu tun. Vorhin wäre er vermutlich nicht unentdeckt geblieben und den Männern einfach davongelaufen, doch nun war das unmöglich. Er stand einfach wie erstarrt da und Pia griff nach den Schatten und verwob sie zu einem schützenden Mantel, der sie vollkommen unsichtbar machte. Die beiden Wachsoldaten gingen weniger als eine Armlänge entfernt an ihnen vorbei, ohne sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Nach einigen weiteren Sekunden bogen sie in eine Seitenstraße ab, und erst in diesem Moment wagte es Lasar tatsächlich, wieder zu atmen.

»Bei Kronn!«, keuchte er. »Wie … wie habt Ihr das gemacht?«

»Du«, antwortete Pia. »Und was?«

»Ihr habt sie verzaubert, damit sie uns nicht sehen!« Der Junge starrte sie aus großen Augen an.

»Wenn ich Zauberkräfte hätte, wäre ich dann noch hier?«

»Aber wie habt Ihr das gemacht?«, beharrte Lasar, als hätte er ihre Worte gar nicht gehört.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Pia. »Doch es hat bestimmt nichts mit Zauberei zu tun. Ich konnte das schon immer.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, kam dieser aber näher, als ihr selbst bis zu dem Zeitpunkt klar gewesen war. Pia war schon als Kind unschlagbar darin gewesen, sich zu verstecken, und an dieser Tatsache hatte sich nichts geändert, während sie herangewachsen und schließlich zu einer jungen Frau geworden war. Vielleicht hatte sie ihre Blitzkarriere als erfolgreiche Nachwuchsdiebin und Einbrecherin sogar zu einem Großteil diesem speziellen Talent zu verdanken; wenn nicht sogar ausschließlich.

»Ich verstehe, Erhabene«, sagte Lasar. »Ihr wollt nicht darüber sprechen.«

»Das hat nichts mit wollen zu tun«, beharrte Pia. »Es ist …« Sie schluckte hinunter, was ihr auf der Zunge lag, und zuckte nur mit den Schultern. »Ganz wie du meinst. Aber tu mir einen Gefallen und hör endlich damit auf, mich ständig Erhabene zu nennen.«

»Aber Ihr seid …«

»Ich könnte es dir befehlen«, unterbrach ihn Pia, noch immer lächelnd, jedoch eine winzige Spur schärfer. »Aber das möchte ich lieber nicht.«

»Erhabene?«

Vielleicht sollte sie es. »Du könntest mich damit in Gefahr bringen.«

»Oh.« Das schien er zu verstehen. »Ganz wie Ihr meint, Er… Gaylen.«

»Und wir sollten jetzt weitergehen«, fügte sie hinzu, bevor das Gespräch zu absurd wurde. »Meinst du, dass wir noch mehr Wachen begegnen?«

Sie behielt Lasar aufmerksam im Auge, während sie diese Frage stellte. Dass die Stadtwache und er keine Freunde waren, war ihr schon am ersten Tag klar geworden, und wahrscheinlich hatte er sie gerade von einer Menge Ärger bewahrt – vorsichtig ausgedrückt. Sie hatten den Weißen Eber auf demselben Weg verlassen, auf dem sie ihre Aufpasser schon einmal ausgetrickst hatte, und würden ihn mit etwas Glück auch ungesehen auf demselben Weg wieder betreten. Sie selbst hatte jeden Grund, sich nicht blicken zu lassen, vor allem nach dem Gespräch mit Istvan und Malu. Dennoch hatte Lasars Reaktion sie alarmiert. Er war den Männern nicht einfach nur aus Gewohnheit oder einem schon prinzipiell schlechten Gewissen ausgewichen. Pia hatte seine Furcht gespürt. Ein Schatten davon war selbst jetzt noch auf seinem Gesicht zu sehen.

»Nein.« Lasar schüttelte überzeugt den Kopf. Dann machte er ein leicht verlegenes Gesicht. »Wir hätten auch dieser Patrouille nicht begegnen dürfen. Sie müssen von ihrer normalen Route abgewichen sein.«

»Du kennst die Zeiten, zu denen sie patrouillieren?«, fragte Pia, während sie ihren Weg fortsetzten, langsam und ganz instinktiv jeden Schatten und jedes Versteck ausnutzend, das sich ihnen bot. Wahrscheinlich wäre es nicht nötig gewesen. Alles in allem, das verriet ihr unfehlbares Zeitgefühl, waren gerade einmal zwei Stunden vergangen, seit sie den Weißen Eber verlassen hatten. Dennoch lag die Stadt so dunkel und still da, als wäre Mitternacht schon längst vorbei.

»Ja«, antwortete Lasar. Eine Spur von Stolz schwang in seiner Stimme mit, und er gab sich keine Mühe, ihn zu verbergen. »Früher konnte ich jeden ihrer Schritte voraussagen, und ich kann ihnen auch heute noch eine lange Nase drehen, wann immer ich will.«

»Früher?«

»Als ich noch … bevor ich für Brack gearbeitet habe.«

»Als du noch in einer Kinderbande gewesen bist«, vermutete Pia. Lasar schwieg. »He, das muss dir nicht peinlich sein«, sagte Pia und lachte leise. »Die gibt es dort, wo ich herkomme, auch. Ich war früher sogar selbst in der einen oder anderen. Und ich war gar nicht schlecht. Es gab Zeiten, da war kein Touristenbus vor mir sicher. Vor allem nicht die Handtaschen der hübschen Senhoras

Lasar sah sie verständnislos an, aber Pia fand, dass es allmählich Zeit war, auch von ihm ein wenig Vertrauen einzufordern. Sie spürte, dass der Junge etwas vor ihr verbarg. »Und was war dein Fachgebiet?«

»Erhabe… Gaylen?«

»Wie gesagt: Meine Spezialität waren Handtaschen, Digicams, Kreditkarten und all das Zeug, das dir sowieso nichts sagt. Und du?« Sie maß ihn mit einem aufmerksamen Blick von Kopf bis Fuß. »Du siehst mir aus wie ein guter Einbrecher. Schlank, geschmeidig … ich wette, vor dir war kein Kellerfenster sicher, habe ich recht?«

»Ich habe noch nie gestohlen!«, antwortete Lasar. Er klang ehrlich empört. »Und die anderen auch nicht!«

»Und warum versteckt ihr euch dann in diesem Turm?«, fragte Pia. »Und wieso habt ihr solche Angst vor den Wachen?«

»Weil sie uns sonst töten«, antwortete Lasar.

»Wie bitte?«

»Mich vielleicht nicht«, fuhr er fort. »Ich bin schon zu alt und ich habe eine Anstellung. Aber manchmal schlagen sie erst zu und sehen dann nach, wen sie getroffen haben.«

»Moment.« Pia blieb mitten im Schritt stehen. Sie bemühte sich, das Durcheinander hinter ihrer Stirn zu ordnen und möglichst ruhig weiterzusprechen. »Du willst damit sagen, die Stadtwache tötet Kinder? Warum?«

»Weil sie Kinder sind«, antwortete Lasar so selbstverständlich, als wäre das Antwort genug.

»Das allein reicht wohl kaum als Grund.«

»Ihnen schon«, sagte Lasar. »Sie töten Jungen und Mädchen zwischen fünf und fünfzehn. Natürlich nicht alle. Nur manche. Die, die sich nicht verstecken oder zu langsam sind, um ihnen davonzulaufen.«

»Einfach so?«, fragte Pia fassungslos. »Warum?«

»Das war schon immer so«, antwortete Lasar. »Es ist das Gesetz. Sie töten nur die, die nach Dunkelwerden auf der Straße sind. Kaum einer wagt sich deshalb nach Sonnenuntergang nach draußen. Aber manche eben doch, weil sie sich für schlauer oder gerissener als die Wache halten – oder einfach dumm sind.« Er machte ein fragendes Gesicht. »Ist das da, wo du herkommst, nicht so?«

Pia wollte ebenso instinktiv wie empört Natürlich nicht! antworten, aber dann deutete sie nur ein ausweichendes Achselzucken an. Natürlich machte die Polizei von Rio de Janeiro nicht nach Einbruch der Dunkelheit Jagd auf Kinder, um sie zu erschießen – das erledigten andere, anonyme Killerkommandos, die zuschlugen und sofort wieder verschwanden, nachdem sie ein paar Slumkinder erledigt hatten, und jeder wusste, in wessen Auftrag sie unterwegs waren.

»Siehst du? Das ist überall so.« Lasar machte eine auffordernde Geste, und sie setzten ihren Weg fort. Sein Blick strich rasch und neugierig über den länglichen Umriss, den sie unter ihrem Mantel verbarg, und entfernte sich dann hastig wieder, und Pia konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, schützend die Hand darüberzulegen. Obwohl das Schwert schwer und so kalt war, dass seine Berührung selbst durch den Stoff ihres Kleides hindurch fast wehtat, hatte sie es beinahe vergessen, denn es trug sich so selbstverständlich, als wäre es ein natürlicher Teil ihres Körpers; oder als besäße sie es schon so lange, dass es fast zu einem solchen geworden war.

Während der restlichen Zeit, die sie brauchten, um den Weißen Eber wieder zu erreichen, wechselten sie kein Wort mehr miteinander. Pia war immer noch vollkommen schockiert. Sie spürte, dass Lasar ihr die Wahrheit gesagt hatte, trotzdem fiel es ihr schwer, ihm zu glauben. Die Stadtwache sollte Jagd auf Kinder machen, nur weil sie nach Dunkelwerden das Haus verließen? Warum?

Sie erreichten die Straße, in der der Weiße Eber lag, und Pia blieb stehen, bevor sie die schützenden Schatten verließen. Wie sie es erwartet hatte, standen zwei von Istvans Männern auf der der Tür gegenüberliegenden Seite und froren um die Wette, und hinter den dünnen Papierfenstern des Gasthauses bewegten sich unruhige Schatten. So still, wie es hier draußen war, konnte sie gedämpfte Stimmen, Gelächter und Gemurmel hören.

»Gaylen?«, fragte Lasar.

Pia überlegte einen Moment ernsthaft, ihr Glück auf die Probe zu stellen und den Mantel aus schützenden Schatten zu benutzen, um unerkannt an den Männern vorbeizugelangen, verwarf diesen Gedanken aber schon, bevor sie ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Statt irgendetwas zu sagen, bedeutete sie Lasar mit einer Geste, vorauszugehen, und der Junge verstand. In seinen Augen blitzte es zufrieden auf, eine Aufgabe von ihr bekommen zu haben, dann wandte er sich um und huschte in die entgegengesetzte Richtung davon. Pia folgte ihm.

Lasar führte sie durch ein verwirrendes Labyrinth dunkel daliegender Gässchen und Hinterhöfe, und schon nach wenigen Augenblicken kletterten sie nebeneinander über die Mauer, die den Hinterhof des Weißen Ebers begrenzte. Etwas klapperte, als Pia in den Hof hinabsprang, und sie bedeutete Lasar zu warten.

Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass Lasar ohnehin gesehen haben musste, was sie im Thronsaal des Turmes gefunden hatte, und wenn nicht das, sollte ihr sein neugieriger Blick gerade klargemacht haben, dass ihr Geheimnis keines mehr war – dennoch zögerte sie spürbar, unter den Mantel zu greifen und das sonderbare Schwert hervorzuziehen.

Andererseits hatte sie keine Wahl. Wenn sie schon gezwungen war, irgendjemandem hier zu vertrauen, dann gehörte dieser Junge vermutlich zu den sehr wenigen, bei denen sie es riskieren konnte.

Schweren Herzens zog sie das Schwert unter dem Umhang hervor und reichte es ihm. Lasars Augen wurden groß. Pia war sicher, nicht nur Staunen und Ehfurcht darin aufblitzen zu sehen, sondern für einen winzigen Moment auch pure Angst. Seine Hände zitterten sichtbar, als er – zögernd, fast widerwillig – nach der Klinge griff.

Pia schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, streifte rasch den Umhang von den Schultern und wickelte das Schwert hinein. »Bring das in mein Zimmer«, bat sie. »Versteck es unter dem Bett, aber achte darauf, dass niemand es sieht.«

»Aber das ist …«, begann Lasar, doch Pia unterbrach ihn mit einem raschen Kopfschütteln.

»Ich weiß, was das ist. Tu, was ich dir sage. Bitte«, fügte sie nach einem winzigen Moment und mit einer Spur von schlechtem Gewissen hinzu.

»Wie Ihr befehlt, Erhabene«, antwortete Lasar, und diesmal verzichtete Pia darauf, ihn zu korrigieren. Manchmal war es doch ganz praktisch, Befehle erteilen zu können, die niemand infrage stellte.

»Warte einen Moment«, sagte sie nur. »Dann folge mir.«

Sie betrat den Weißen Eber durch den Hintereingang und stellte ohne Überraschung fest, dass der Schankraum schon wieder bis auf den letzten Platz besetzt war. Überall wurde getrunken und gelacht, und mehr als ein gieriger Blick traf ihr Gesicht und tastete in dem vergeblichen Versuch über ihre Gestalt, den Stoff ihres Kleides durchsichtig werden zu lassen. Das kannte sie mittlerweile.

»Gaylen! Endlich! Wo bist du gewesen?« Brack jonglierte mit gleich vier Bierkrügen in den Händen im Slalom zwischen den Tischen hindurch und sah ziemlich erschöpft aus, zugleich aber auch ein bisschen verärgert. »Ich habe dich überall gesucht!«

Pia machte eine Kopfbewegung auf die geschlossene Tür hinter sich. »Auf dem … « Sie zauberte ein verlegenes Lächeln auf ihr Gesicht. »Du weißt schon.«

Bracks Augen wurden schmal. »Ich habe eine Stunde lang nach dir gesucht. Und nach Alica auch.«

»Mir war nicht besonders gut«, erwiderte Pia. »Ich muss wohl irgendetwas Schlechtes gegessen haben.«

Bracks Augen wurden noch schmaler, während er näher kam und dann seine Last klirrend auf der improvisierten Theke ablud. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, dass er auch dort gesucht hatte. »Aber jetzt bin ich ja da.«

»Ja«, sagte Brack, setzte sichtbar dazu an, eine weitere und vermutlich deutlich weniger leicht zu beantwortende Frage zu stellen, und schüttelte schließlich nur den Kopf. »Schnell, Mädchen! Hol deine Schürze und dann rasch hinter die Theke! Jeder Moment, den du hier herumstehst, kostet mich bares Geld!«

Die Tür ging auf und Lasar kam herein, ihren zusammengerollten Mantel mit dem darin verborgenen Schwert unter dem linken Arm. Es erschreckte ihn, Brack unmittelbar vor sich zu sehen, und dieser fuhr ihn auch sofort an: »Und du machst dich auch nützlich, du elender Faulpelz! Wo bei Kronn hast du dich wieder rumgetrieben? Was glaubst du eigentlich, wofür ich dich bezahle?«

Bevor Lasar irgendetwas Dummes antworten konnte, trat Pia mit einem wie zufällig wirkenden Schritt zwischen ihn und Brack und machte eine auffordernde Geste. »Tu, was Brack gesagt hat«, sagte sie. »Bring meinen Mantel nach oben und hol mir meine Schürze. Bitte.«

Lasar nuschelte irgendetwas, das sich wie »Seit wann bezahlt er mich überhaupt?« anhörte, beeilte sich aber trotzdem, mit schnellen Schritten die Treppe anzusteuern und an ihrem oberen Ende zu verschwinden. Nach einem weiteren Augenblick löste sich auch Pia von ihrem Platz und trat gehorsam hinter die Theke. Der Geräuschpegel in Schankraum sank um ein gehöriges Stück. Pia zögerte, aber sie fühlte Bracks auffordernden Blick und wusste, was sie ihm schuldig war – auch wenn sie nach dem Gespräch mit Istvan und vor allem Malu nicht mehr sicher sagen konnte, ob es sich wirklich um eine kluge Idee handelte. Mit einer Bewegung, die gerade eine Winzigkeit zu langsam war, um nicht aufreizend zu wirken, hob sie beide Arme, streifte das Kopftuch ab und schüttelte ihr Haar mit einer gekonnten Bewegung nach hinten, sodass es sich wie ein weißgoldener Wasserfall über ihre Schultern und bis weit über ihren Rücken ergoss. Für die Dauer eines einzelnen Atemzuges wurde es mucksmäuschenstill und dann irgendwie sogar noch stiller, als sie ihr Haar ordnete und mit geschickten Bewegungen unter dem Kopftuch verbarg. Danach setzte der allgemeine Lärm wieder ein, und Pia senkte hastig den Blick, viel mehr zornig als beschämt. Sie kam sich immer noch ein bisschen schäbig vor, aber wenn das alles an Striptease war, was Brack von ihr erwartete, um seine Gäste zufriedenzustellen, dann sollte er es haben.

Sie griff nach einem leeren Bierkrug, den Brack ihr reichte, füllte ihn auf und verfuhr auf dieselbe Weise mit einem zweiten, dritten und vierten, bevor sie sie auf die Theke stellte, damit Brack sie abholen konnte. Als er das zweite Mal zurückkam, raunte er ihr zu: »Wo bist du wirklich gewesen?«

»Auf der Toilette«, antwortete Pia. »Und selbst wenn nicht … was geht dich das an?«

Ihr harscher Ton überraschte sie beinahe selbst, aber Brack schien ihn ihr nicht übel zu nehmen. »Nichts«, gestand er. »Aber andere könnten sich dieselbe Frage stellen. Siehst du den Kerl neben der Tür? Den mit dem Lederhelm? Schau nicht zu auffällig hin.«

Pia hob wie zufällig den Blick und sah in die angegebene Richtung. An einem Tisch neben dem Eingang saß ein einzelner, zumindest für hiesige Verhältnisse sehr großer Mann, der schlichte, jedoch sehr robust wirkende Kleidung und etwas trug, was sie zu Hause vermutlich als altmodische Flieger- oder Motorradhaube bezeichnet hätte, das hier aber wohl als leichter Helm durchging. Irgendetwas an seinem Gesicht kam ihr bekannt vor, doch sie war nicht sicher. Anscheinend war ihre Bewegung gar nicht so unauffällig gewesen, wie sie geglaubt hatte, denn er senkte rasch den Blick und starrte in seinen Bierkrug; was ganz bestimmt kein Zufall war.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, antwortete Brack. »Ich habe den Kerl hier noch nie gesehen. Aber er gefällt mir nicht. Sitzt nur da, starrt in sein Bier und sagt kein Wort. Als ob er auf was warten würde.«

»Du glaubst, Istvan hätte ihn geschickt? Oder Malu?«

»Keine Ahnung«, antwortete Brack. »Aber sei ein bisschen vorsichtig … und lass dein Kopftuch für heute Abend, wo es ist.«

»Das wird deinen Gästen nicht gefallen«, sagte Pia.

»Und Malus Spitzel noch sehr viel weniger«, fügte Brack hinzu. Er nahm gleich vier gefüllte Krüge in beide Hände und warf ihr einen fast beschwörenden Blick zu. »Ich rede morgen früh noch einmal mit Istvan. Ich denke, ich kann ihm einen Vorschlag machen, den er nicht ablehnen wird. Aber bis dahin solltest du besser ein wenig vorsichtig sein. Wäre doch zu schade, wenn wir uns selbst den Spaß verderben, Malu den Spaß zu verderben, oder?«

Pia warf ihm einen leicht irritierten Blick zur, aber Brack grinste nur breit und trollte sich mit seinen Krügen, und Pia konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit.

Sie hatte immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden. Für eine Weile gelang es ihr, es zu ignorieren, doch schließlich resignierte sie und sah auf.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Sie wurde angestarrt. Und dieses Mal senkte der Mann nicht den Blick, sondern sah sie direkt und ruhig an, und sie erkannte das Gesicht unter dem zerschrammten Lederhelm und dem verfilzten schwarzen Haar genau.

Pia erstarrte. Das war nicht möglich. Ihr Verstand, ihr logisches Denken, alles schrie ihr zu, dass sie sich täuschen musste, dass es ganz und gar unmöglich war …

Aber es war trotzdem die Wahrheit.

Er sah älter aus als das letzte Mal, mindestens zehn Jahre älter, und es konnten keine leichten zehn Jahre gewesen sein. Sein Gesicht war verhärmt. Auf seiner linken Wange prangte eine hässliche gezackte Narbe, als hätte jemand versucht, ihm mit einem nicht besonders scharfen Gegenstand das Gesicht zu zerschneiden, und rings um seine Augen war ein Netz dünner Fältchen entstanden, die nicht so wirkten, als kämen sie vom Lachen. Er starrte sie an. Das taten viele hier drinnen, wenn nicht alle, aber er tat es auf eine vollkommen andere Art. Sie war nicht einmal unbedingt unangenehm – auf jeden Fall nicht annähernd so anzüglich wie die der meisten –, aber … anders. Ein wenig erstaunt vielleicht, wobei sie das sichere Gefühl hatte, dass dieses Erstaunen nichts mit ihrem bloßen Anblick zu tun hatte. Oder doch, aber auf eine andere Art, als sie es erwartet hätte.

»Lös mich bitte für einen Moment ab«, sagte sie zu Lasar, der in diesem Moment zurückkam, drückte ihm einen leeren Krug in die Hand und ging mit raschen Schritten um die Theke herum und auf den Tisch neben dem Eingang zu. Zahlreiche erstaunte Augenpaare folgten ihr – unter anderem die Bracks, auch wenn er vielmehr verstimmt als erstaunt wirkte –, aber sie ignorierte sie, ging zu dem Tisch, an dem der Narbige saß, und ließ sich kommentarlos auf den Schemel ihm gegenüber sinken. Sie dachte an die Pistole, die oben unter ihrem Kopfkissen lag, und überlegte einen kurzen Moment lang ernsthaft, aufzustehen und sie zu holen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder.

»Hallo, Pia«, sagte Hernandez. »Schön, dich wiederzusehen.«

Es war seine Stimme. Sie hatte sich nicht verändert, war allenfalls etwas rauer geworden, aber es war ganz eindeutig seine Stimme. Viel mehr als das, was er sagte, zerstörte der Klang dieser Stimme auch noch den allerletzten Funken Hoffnung, vielleicht nichts als einer geradezu unglaublichen Ähnlichkeit aufgesessen zu sein. Es war Hernandez.

»Du hast dich gut gehalten.«

»Was man von Ihnen nicht behaupten kann«, antwortete Pia mit belegter Stimme. »Ich hätte Sie kaum wiedererkannt.«

»Es waren harte Zeiten«, sagte Hernandez.

Brack trat an ihren Tisch und polterte sofort los. »Gaylen, was soll das? Die Gäste haben Durst, und dieser Dummkopf Lasar schüttet mehr neben die Krüge als hinein, und …«

»Dann solltet Ihr Eurem Gehilfen vielleicht zur Hand gehen und mir einen frischen Krug Bier bringen«, unterbrach ihn Hernandez, »das übrigens ausgezeichnet ist.«

»Danke«, sagte Brack, »aber ich sehe es nicht gerne, wenn …«

»– deine Gäste durstig sind?« Hernandez’ Stimme veränderte sich fast unmerklich. Es war nur um eine Winzigkeit, kaum hörbar, aber dafür umso deutlicher zu fühlen. Sie klang plötzlich so kalt wie Eis und scharf wie eine Messerklinge. Brack japste nach Luft, plusterte sich auf und blinzelte dann erschrocken, als Hernandez ihn mit einem eisigen Blick maß.

»Noch ein Krug Bier, ganz wie Ihr wünscht«, murmelte er und trollte sich.

»Sie haben sich nicht verändert, Comandante«, sagte Pia anerkennend. Ihre Stimme klang noch immer flach.

»Will ich doch hoffen. Schließlich hatte ich Zeit genug zum Üben.«

Das war unübersehbar. Hernandez war älter geworden. Was, um Gottes willen, war hier passiert?

»Ich würde dich ja gerne auf einen Krug Bier einladen, aber das wäre ziemlich albern, wo du doch sozusagen an der Quelle sitzt, nicht wahr?«, fuhr Hernandez fort. »Ganz davon abgesehen, dass es ja fast einer Beleidigung gleichkäme, einer leibhaftigen Elfenprinzessin etwas so Ordinäres wie ein Bier anzubieten.«

»Elfenprinzessin?«, fragte Pia, aber Hernandez hob sofort die Hand und brachte sie zum Schweigen. Pia fiel auf, dass das letzte Glied seines kleinen Fingers fehlte. Die Narbe sah so alt aus wie die in seinem Gesicht.

»O bitte, Gaylen«, sagte er betont. »Ich bin nicht von so weit her gekommen, um mir die berühmte Attraktion des Weißen Ebers anzusehen und jetzt eine wenig eloquente Ausrede zu hören.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ist das das richtige Wort in diesem Zusammenhang? Eloquent? Ich bin es nicht mehr gewohnt, in solchen Begriffen zu denken. Man verlernt so schnell, die Sprache richtig zu benutzen, wenn so viele Worte ihren Sinn verlieren.« Lachend nippte er an seinem Bier. Obwohl er gerade bei Brack einen frischen Krug bestellt hatte, stand sein alter kaum angerührt vor ihm.

»Was wollen Sie hier, Hernandez?«, fragte Pia.

»Nur Nandes«, antwortete er. »Die Leute hier haben … gewisse Schwierigkeiten mit meinem Namen. Man muss sich anpassen. Und ich wollte dich sehen.«

»Sehen?«

»Du bist eine Berühmtheit, Pia. Man spricht landauf, landab von der wiedergekehrten Prinzessin Gaylen, die in einem heruntergekommenen Gasthof am Ende der Welt als Bedienung arbeitet. Irgendwie wusste ich, dass du es sein musst.« Er trank wieder von seinem Bier, einen weitaus größeren Schluck diesmal.

»Und jetzt lass dir etwas erzählen, Pia. Mein Leben hat eine radikale Änderung erfahren. Eine sehr radikale Änderung. Ich führe sozusagen ein komplett anderes Leben. Ich bin zwölf Jahre älter und nicht einmal sicher, ob es wirklich schlechter ist als das, das ich zuvor geführt habe.« Er hob die Schultern. »Natürlich vermisse ich das eine oder andere. Satellitenfernsehen. Hot Dogs. Eine gute Zigarre dann und wann …«

»Was ist passiert?«, fragte Pia ungläubig. »Es ist doch kaum zwei Wochen her!«

»Zwei Wochen?« Jetzt wirkte Hernandez wirklich überrascht. »Ja, ich dachte mir so etwas. Kein Wunder, dass du dich praktisch nicht verändert hast.« Ein flüchtiges Lächeln erschien in seinen Augen und erlosch sofort wieder. »Nur dein Modegeschmack lässt ein bisschen zu wünschen übrig.«

»Was? Ist? Passiert?«, fragte Pia noch einmal. Wenn er es denn unbedingt wollte, konnte sie diese Frage auch noch zehnmal wiederholen.

Hernandez schnaufte. Sein Lächeln war endgültig fort, und in seinen Augen war plötzlich etwas, das ihr Angst machte. »Das solltest du vielleicht deinen Freund fragen, dieses verdammte Spitzohr!«

»Den Elfenkrieger?«

»Er hat mich niedergeschlagen«, bestätigte Hernandez. »Ich habe dem Kerl drei Kugeln verpasst, und er hat sie einfach geschluckt, als wären es Pfefferminzbonbons. Er hat mich niedergeschlagen, und als ich wieder zu mir gekommen bin, da war ich hier. So einfach ist das.«

Für ihn mochte das einfach klingen, aber Pia hatte das Gefühl, dass plötzlich alles viel komplizierter geworden war. Gut, die Kleinigkeit von zwölf Jahren, die ihm irgendwie abhandengekommen waren, klammerte sie für den Moment einfach einmal aus, aber auch der Rest war verwirrend genug. Hernandez war Jesus und ihr gefolgt, als sie in diese Welt gewechselt waren, um sich vor ihm in Sicherheit zu bringen, und sie hatte gesehen, wie der Mann mit dem Silberhelm mit ihm gekämpft hatte. Danach waren Jesus und sie in die Wirklichkeit zurückgekehrt, und Hernandez war das offensichtlich nicht gelungen. Er war hier gestrandet. Aber zwölf Jahre? Großer Gott!

Sie deutete auf die Narbe in seinem Gesicht. »War er das?«

»Nein.«

»Und was wollen Sie jetzt hier? Von mir?«

»Von dir?« Hernandez schien einen Moment ernsthaft über diese Frage nachdenken zu müssen, dann schüttelte er den Kopf. »Nichts. Was sollte ich von dir wollen? Mach dir keine Sorgen um die zwei Millionen. Die sind hier nichts wert.«

»Sie glauben, ich könnte Sie zurückbringen«, vermutete Pia. »Aber wenn ich das könnte, dann wäre ich schon längst nicht mehr hier.«

»Zurück?« Hernandez lächelte schmerzlich. »Ich bin nicht sicher, ob ich das noch will. Natürlich, in den ersten Jahren war ich von dieser Idee besessen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als irgendwie einen Weg zurückzufinden, das kannst du mir glauben. Aber irgendwann beginnt selbst ein Starrkopf wie ich einzusehen, dass man die Wirklichkeit nicht ändern kann. Diese Welt ist nicht so schlecht. Sie hat auch eine Menge guter Seiten.«

»Sie ist kalt.«

Hernandez lächelte. »Ja, das ist sie.«

»Und was wollen Sie jetzt wirklich von mir?«, fragte Pia. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nicht, wie wir zurückkommen. Ich würde alles darum geben.«

»Vielleicht kommst du nicht zurück«, sagte Hernandez. »Und warum auch? Du gehörst hierher.«

»Blödsinn!«, sagte Pia.

»Dann sollten wir eine andere Erklärung finden, nicht wahr?«

»Und wie sollte die aussehen?«

»Du bist erst seit – wie lange? Zwei Wochen? – hier. Du weißt noch nicht viel über diese Welt. Jedenfalls nicht annähernd genug, um auch nur eine Ahnung davon zu haben, worauf du dich eingelassen hast.«

»Eingelassen?«, wiederholte Pia. »Ich habe mich auf gar nichts eingelassen. Alica und ich …«

»Alica?«, unterbrach sie Hernandez. Er runzelte die Stirn, und nach einer oder zwei Sekunden nickte er. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Estebans kleines Betthäschen, nicht wahr? Ich habe mich schon gefragt, wer die Begleiterin der Elfenprinzessin sein mag. Aber um deine Frage zu beantworten: Ihr habt euch auf etwas eingelassen. Ihr wisst es vielleicht nicht, aber es ist ziemlich groß.«

»Was soll das heißen?« Pia fragte sich, ob er das vielleicht nur gesagt hatte, um sie zu quälen, verwarf den Gedanken aber auch fast sofort wieder als ziemlich albern. Für sie mochte es vielleicht erst wenige Tage her sein, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, aber für ihn waren zwölf Jahre vergangen.

Und wenn es zwölf Jahre gewesen waren, in denen sein Hass auf sie Zeit gehabt hatte, sich an sich selbst zu nähren?

Dann wärst du jetzt wahrscheinlich schon tot, beantwortete sie ihre eigene Frage.

»Kommen Sie, Nandes, Sie sind doch nicht nur hier, um ein wenig über alte Zeiten zu plaudern oder mich mit ein paar gezielt kryptischen Bemerkungen nervös zu machen.«

Hernandez lächelte. »Ich weiß, für dich muss es albern klingen, nach so kurzer Zeit, aber trotzdem: Du hast dich kein bisschen verändert. Charmant wie eine Dampfwalze.«

»Verdammt noch mal, was wollen Sie, Hernandez?«, fauchte sie, scharf und eindeutig lauter, als sie beabsichtigt hatte. Die Gespräche an den unmittelbar benachbarten Tischen verstummten, und selbst Brack sah auf, blickte stirnrunzelnd in ihre Richtung und kam dann mit wiegenden Schritten und einem grimmig-entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht auf sie zu. Wäre er nicht selbst im Stehen ein gutes Stück kleiner gewesen als Hernandez im Sitzen, hätte es durchaus beeindruckend ausgesehen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Pia. »Kein Problem. Ich habe nur … einen alten Freund getroffen. Wir haben etwas zu besprechen. Es dauert nicht lange.«

Brack wirkte nicht überzeugt. »Bestimmt?«

»Ganz bestimmt«, versicherte Pia. »Ich komme gleich zurück, keine Sorge.«

Brack machte sich Sorgen, das sah man ihm deutlich an, aber er sagte nichts mehr, sondern schenkte Hernandez nur noch einen weiteren grimmigen Blick und ging.

Hernandez sah ihm amüsiert nach. »Manche Dinge sind anscheinend überall gleich«, sagte er. »Kaum ist eine junge Dame irgendwo in Gefahr, taucht ein Ritter in schimmernder Rüstung auf, um ihr beizuspringen. Obwohl …« Er sah noch einmal und noch deutlich amüsierter in Bracks Richtung, und sein Grinsen wurde abfällig.

»Brack ist ein Freund«, sagte Pia kühl. »Vielleicht einer von sehr wenigen, die wir hier haben.«

»Nein«, antwortete Hernandez, »das ist er nicht. Nicht, wenn es derselbe Brack ist, der dich und deine Freundin an den Kommandanten der Stadtwache verkauft hat.«

»Blödsinn!«, fauchte Pia. »Ohne Brack …«

»Hätten deine Freundin und du die Stadt vielleicht schon längst verlassen und wärt entweder tot, in der Gefangenschaft irgendwelcher Barbaren – was mit ein bisschen Pech auf dasselbe hinausläuft, aber vorher wesentlich unangenehmer sein kann – oder würdet im besten Fall durch die Wildnis irren. Und Istvan müsste euch suchen und würde nicht nur seine manikürten Fingernägel riskieren, sondern wahrscheinlich auch die Hälfte seiner Männer verlieren, statt in aller Ruhe abzuwarten, bis die Truppen aus Apulo hier sind, um euch einzukassieren.«

Hernandez brachte nicht nur das Kunststück fertig, dieses Monstrum von Satz auszusprechen, ohne über seine eigene Zunge zu stolpern oder auch nur ein einziges Mal Luft zu holen, Pia brauchte auch mindestens noch einmal genauso lange, um den Sinn seiner Worte zu begreifen.

»Wie bitte?«, murmelte sie dann.

»Ja, das dachte ich mir, dass dir das nicht gefällt«, sagte Hernandez. Er schien sich köstlich zu amüsieren.

»Ich verstehe es nicht einmal.«

»Wie auch? Aber es ist die Wahrheit. Die Soldaten sind bereits unterwegs. Man hört, die Orks machen ihnen das Leben ein bisschen schwer, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie noch länger als zwei Wochen brauchen, bis sie hier sind. Allerhöchstens drei, wenn ihr Glück habt … aber darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen.«

»Apulo?«

»Die Hauptstadt des Reiches«, erklärte Hernandez, doch Pia schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich«, sagte sie. »Aber Brack hat mir erzählt, dass ein Bote allein drei Monate braucht, um dorthin zu kommen.«

»Da hat er wohl gelogen.« Hernandez trank einen großen Schluck Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Pia sah, dass ihm auch an der anderen Hand das letzte Glied des kleinen Fingers fehlte.

»Und warum sollte er das tun?«

Hernandez lachte. »Um genau das zu erreichen, was er erreicht hat, Prinzessin Gaylen. Ihr fühlt euch sicher und kommt auf keine dummen Ideen.«

»Das meine ich nicht«, erwiderte Pia. »Warum sollte sich jemand in der Hauptstadt für Alica und mich interessieren?«

»Ja, warum wohl, Prinzessin Gaylen?«, erwiderte Hernandez spöttisch.

»Hören Sie mit dem Quatsch auf! Sie wissen genau, dass ich nicht diese Elfenprinzessin bin!«

»Ach?«, fragte Hernandez. »Weiß ich das?«

»Sie sind …«

»Und außerdem spielt es überhaupt keine Rolle«, fuhr er ungerührt fort. »Jemand in der Hauptstadt scheint es zu glauben … oder zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, und das immerhin ernsthaft genug, um ein ganzes Regiment der besten Krieger des Landes in Bewegung zu setzen, das euch abholen soll.«

»Das ist doch alles Unsinn«, widersprach Pia. Aber ihrer Stimme fehlte die notwendige Überzeugung. »Das hätte man uns doch gesagt.«

»Weil die Leute hier ja so nett sind«, vermutete Hernandez und schürzte gleich darauf verächtlich die Lippen. »Das Dumme ist nur, dass sie es nicht sind. Ich kann nichts über diesen Brack sagen. Vielleicht spielt er euch nur etwas vor, vielleicht ist er tatsächlich die große Ausnahme … aber das wird euch nichts nutzen, wenn sie euch erst einmal den Truppen übergeben haben und ihr auf dem Weg nach Apulo seid. Du bist nicht die Erste, die von sich behauptet, die Reinkarnation von Gaylen zu sein.«

»Das habe ich nie behauptet.«

»Man wird euch in die Hauptstadt bringen und dort verhören. Wenn du die echte Gaylen sein solltest, wäre das vermutlich nicht gut für dich. Die Leute hier sind ziemlich nachtragend, fürchte ich. Sie nehmen es den Elfen immer noch übel, dass sie damals das halbe Land in Schutt und Asche gelegt und die Überlebenden versklavt haben.«

Das hatte sie jetzt nicht unbedingt hören wollen. »Und wenn sich herausstellt, dass ich keine Elfenprinzessin bin …«

»– sondern nur eine kleine Taschendiebin aus den Favelas?« Hernandez hob die Schultern. »Das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Was sie in Apulo gerade brauchen«, antwortete Hernandez. »Frauen, die in der Wäscherei arbeiten, auf dem Schlachthof oder in den Bergwerken. Wenn du Glück hast, sucht einer der hohen Herren im Schloss gerade eine neue Mätresse. Oder man hört nie wieder etwas von deiner kleinen Freundin und dir.«

Pia starrte ihn an. Hernandez’ Augen funkelten spöttisch, aber darunter war etwas, das sie an gefrorenen Stahl erinnerte. Er sagte das nicht nur, um sie zu quälen. Es war die Wahrheit.

Trotzdem fuhr sie fort: »Warum sollte ich Ihnen das glauben?«

»Das musst du nicht«, antwortete Hernandez gelassen. »Warte einfach drei oder vier Wochen, und dann wird sich schon zeigen, ob ich die Wahrheit gesagt habe oder nicht.«

Pia starrte ihn fast hasserfüllt an, was Hernandez aber nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. Sein Lächeln kühlte noch einmal um mehrere Grade ab, und schließlich hob sie mit einem Ruck den Kopf und sah zu Brack. Er stand hinter der Theke und füllte seine Krüge, aber er blickte immer wieder in ihre Richtung, und sein Gesicht war beinahe so finster wie Pias Gedanken.

Nein, sie weigerte sich einfach zu glauben, dass Hernandez die Wahrheit sagte. Sie hatte den schmerbäuchigen Wirt nicht unbedingt ins Herz geschlossen, doch sie wollte trotzdem nicht glauben, dass er Alica und sie derart hintergangen haben sollte. Wem in dieser ganzen verrückten Welt konnte sie überhaupt noch trauen?

Und wenn sie schon einmal dabei war: Warum sollte sie eigentlich ausgerechnet Hernandez trauen?

Pia überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. »Nehmen wir einfach einmal an, dass das alles so ist, Nandes«, sagte sie, wobei sie diesmal ganz bewusst die verkürzte Version seines Namens benutzte. »Was genau haben Sie dann damit zu tun?«

»Mit WeißWald und den Truppen aus der Hauptstadt?« Hernandez schüttelte mit einem angedeuteten Lächeln den Kopf. »Nichts. Mit deiner Freundin und dir vielleicht etwas mehr. Aber das ist ganz und gar deine Entscheidung.«

Pia sah ihn nur fragend an. Und ziemlich verwirrt.

»lch will dir nichts vormachen, Pia«, fuhr Hernandez fort. »Ich bin weder zufällig hier noch ohne Grund. Man hat mich geschickt, um mit euch zu reden.«

Pia wartete einige Sekunden lang vergeblich darauf, dass er von sich aus weitersprach, sah schließlich ein, dass er es nicht tun würde, und fragte: »Und was will man von Alica und mir?«

»Euch helfen«, sagte Hernandez.

Um ein Haar hätte sie laut aufgelacht. »Ja, das passt. Entschuldigen Sie die dumme Frage. Nach all der Zeit hatte ich glatt vergessen, was für ein selbstloser Menschenfreund Sie doch sind.«

»Das bin ich nicht«, antwortete Hernandez ruhig. »Ich war es nie, und ich fürchte, ich werde es auch niemals werden. Dein Misstrauen verletzt mich nicht.« Er hob die Schultern. »Um ehrlich zu sein, hätte mich jede andere Reaktion überrascht. Und wären wir uns ein paar Tage – oder für mich Jahre – früher begegnet, dann wäre deine Angst auch sehr berechtigt gewesen. In den ersten Jahren hier habe ich nur an zwei Dinge gedacht: wieder nach Hause zu kommen und dich und deinen Freund zu töten. Aber das ist lange her.«

»Und inzwischen haben Sie mich ins Herz geschlossen, wie?«

»Nein, es ist viel simpler«, antwortete Hernandez. »Ich kenne dich. Die, die mich geschickt haben, wissen das und waren der Meinung, dass es besser ist, mich zu schicken als einen vollkommen Fremden.«

»Wozu?

»Um dir ein Angebot zu machen. Wir können dir helfen, von hier zu verschwinden. Dir und deiner Freundin.«

»Und warum?«

»Unsere Interessen sind dieselben wie die der anderen«, antwortete Hernandez offen. »Wir wollen wissen, ob du die wirkliche Gaylen bist oder nur eine weitere Betrügerin oder Verrückte.«

»Und warum sollte ich Ihnen trauen, Bracks Leuten aber nicht?«, fragte Pia.

»Weil es einen Unterschied gibt. Auch sie sind auf der Suche nach der echten Gaylen, aber aus vollkommen anderen Gründen. Ich glaube nicht, dass diese Gaylen jemals zurückkommt. Und selbst wenn, glaube ich noch weniger, dass du es bist. Aber wenn sie zurückkommen würde, dann wäre das eine Katastrophe für dieses Land. Es käme zu Unruhen, Aufständen, vielleicht Krieg. Diejenigen, die mich geschickt haben, wollen das nicht. So einfach ist das.«

»Und deshalb soll ich verschwinden.«

»Zumindest aus WeißWald, ja. Danach helfen wir dir das Land zu verlassen.«

»Und wenn ich doch die echte Gaylen sein sollte?«

»Dann ist es umso wichtiger, dass du verschwindest«, sagte Hernandez. »Ich kann dir nichts versprechen, aber es gibt …vielleicht einen Weg, nach Hause zu kommen. Vielleicht auch nicht. Aber bei uns würdet ihr wenigstens weiterleben.«

»Und darauf habe ich Ihr Wort?«, vermutete Pia. »Wie beruhigend. Nein, mehr Beweise brauche ich wirklich nicht. Selbstverständlich kommen wir mit. Ich sage Alica gleich Bescheid, dass sie packen soll.«

Hernandez lächelte knapp. »Mir ist klar, dass du mir nicht glaubst. Ich an deiner Stelle würde es auch nicht. Warum sprichst du nicht mit deiner Freundin, und ihr stellt ein paar eigene Nachforschungen an?« Er stand auf, trank noch einen Schluck aus einem Krug und stellte ihn dann mit einem übertrieben heftigen Ruck auf den Tisch zurück. »Denk darüber nach. Ich komme zurück und dann reden wir.«

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