VI

»Glaubst du, dass Esteban tot ist?«

Es war das dritte Mal innerhalb kurzer Zeit, dass Alica diese Frage stellte. Die beiden ersten Male hatte Pia sich mit viel Glück und hastig improvisierten Ausflüchten vor einer Antwort gedrückt, aber allmählich fielen ihr keine Ausreden mehr ein. Sie mussten inzwischen mindestens zwei oder drei Kilometer von Estebans Haus entfernt sein, und von ihren Verfolgern war immer noch keine Spur zu sehen. Pia war ziemlich sicher, dass sie sie abgehängt hatten. Sie selbst hatte jedenfalls schon lange keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden.

»Ich glaube nicht«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Jedenfalls war er noch am Leben, als wir im Zimmer waren.«

»Aber da war so viel Blut!«

»Ich schätze, das meiste war von dem Kerl, dem du den Fuß perforiert hast«, antwortete Pia. Sie versuchte, eher amüsiert als besorgt zu klingen, und zu ihrer eigenen Überraschung gelang es ihr sogar. »Keine Sorge. Sie haben ihm eins übergebraten, und wahrscheinlich wird er morgen früh mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens aufwachen, aber ich glaube nicht, dass er tot ist. Du kennst doch Esteban. Er hat einen harten Schädel.«

»Hoffentlich«, sagte Alica. »Wäre schade, wenn ihm was passiert wäre.«

Schade? Pia warf ihr einen leicht verwirrten Blick zu. Für jemanden, der seit fast einem Jahr Tisch und Bett mit Esteban teilte, war das eine eigenartige Formulierung, fand sie. Andererseits ging es sie nichts an.

»Übrigens, was ich vorhin gesagt habe, tut mir leid«, fuhr Alica fort, nachdem sie einige Minuten schweigend nebeneinander durch die verlassenen Straßen gegangen waren.

»Was?«

»Das mit Supergirl und so.« Alica bemühte sich, ein möglichst anerkennendes Gesicht zu machen. »Du warst wirklich gut. Wenn du nicht so cool reagiert hättest, dann hätten sie uns erwischt, da bin ich sicher.«

Pia auch, was aber nichts daran änderte, dass sie sich nach wie vor fragte, wie sie das überhaupt gemacht hatte. Sie hatte früh gelernt, sich ihrer Haut zu wehren, aber das vorhin war etwas vollkommen anderes gewesen. Alica hatte recht: Sie hatte sich wie Supergirl benommen, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, stolz darauf zu sein. Eigentlich erschreckte es sie ein bisschen.

»Verrätst du mir noch etwas?«, fragte Alica, als sie auch darauf nicht reagierte.

»Wenn du mir versprichst, danach die Klappe zu halten.«

Alica ignorierte das, genau wie Pia es erwartet hatte. »Als wir in Estebans Büro gestanden haben, hinter der Tür«, sagte sie. »Wie hast du das gemacht?«

Auf ganz genau diese Frage hatte Pia gewartet, und sie hatte sie auch befürchtet. Sie gewann noch ein paar Sekunden, indem sie Alica mit gespielter Ratlosigkeit ansah und fragte: »Was?«

»Der Kerl hat direkt in unsere Richtung geblickt«, sagte Alica. »Er hat keinen Meter vor uns gestanden, und er hat uns nicht einmal gesehen! Also, wie hast du das gemacht?«

»Ich habe gar nichts gemacht«, antwortete Pia. »Und ich habe keine Ahnung, was mit dem Kerl los war.«

»Verarsch mich nicht«, erwiderte Alica ernst. »Ich bin vielleicht nicht so helle wie du und Esteban, Süße, aber ich bin noch nicht ganz blöd. Ich weiß zwar nicht, was du gemacht hast, aber ich habe genau gespürt, dass du etwas gemacht hast. Also, was war’s?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Pia ehrlich. »Ich … ich hatte einfach das Gefühl, dass es richtig war, und da habe ich es getan. Aber ich weiß weder, was, noch, wie.«

Alica starrte sie noch einen weiteren Herzschlag lang durch dringend an, doch sie schien zu spüren, dass Pia diesmal die Wahrheit sagte, denn sie ging nicht weiter auf das Thema ein, sondern nickte nur knapp, zog ihre Zigarettenpackung aus der Tasche und klappte sie auf.

»Lass das«, sagte Pia.

»Weil es ungesund ist?«, fragte Alica schnippisch. Aber sie steckte die Schachtel immerhin gehorsam wieder ein.

»Weil wir so wenig auffallen sollten wie möglich«, antwortete Pia.

»Ah ja, und da macht es einen Unterschied, ob ich rauche oder nicht. Weil eine anständige Frau ja in der Öffentlichkeit nicht raucht, nicht wahr?«

Vermutlich machte es keinen Unterschied, gestand Pia sich ein. Sie erregten auch so schon genug Aufsehen, zwei junge Frauen, beinahe noch Mädchen, die ziemlich leicht bekleidet mitten in der Nacht allein unterwegs waren, barfuß und in einer Gegend, in der sie sich auch tagsüber schon nicht besonders wohlgefühlt hätte. Das hier waren nicht die Favelas, wie sie die Stadtverwaltung gerne heraufbeschwor, wenn sie wieder einmal nach einem Vorwand suchte, ihre Bagger und Schlägertrupps der Polizei loszuschicken, aber auch nicht die, die man den Touristen zeigte (wenn man sie in gepanzerten Bussen mit kugelsicheren Scheiben herkarrte), sondern eine einfache Gegend mit noch einfacheren Häusern, die meisten davon klein und ärmlich, aber aus Stein gebaut statt aus Holz und Wellblech. Auf den Straßen lagen keine Abfälle, und nur in den allerwenigsten Häusern lebten gemeingefährliche Kriminelle, vermutete Pia … aber um diese Uhrzeit und allein hätte sie sich nicht einmal im Stadtzentrum und auf der Hauptstraße wohlgefühlt. Es war nach drei. Seit zehn Minuten waren sie an keinem einzigen Haus vorbeigekommen, in dem noch Licht gebrannt hatte, und den letzten Menschen waren sie vor etwa zwanzig Minuten begegnet; genauer gesagt, aus dem Weg gegangen.

Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ihre Hand tastete nicht zum ersten Mal nach der Waffe in ihrem Hosenbund und strich über den verchromten Griff. Die Pistole hatte ihnen beiden vor einer Stunde vermutlich das Leben gerettet, aber das Gefühl von Beruhigung oder gar Sicherheit, die sie ihr doch eigentlich vermitteln sollte, wollte sich einfach nicht einstellen.

»Hast du mittlerweile wenigstens eine Idee, wohin wir gehen?«, fragte Alica … auch nicht zum ersten Mal.

Pia suchte nach einer Ausrede, die vermutlich noch fadenscheiniger war als die zuvor, doch in diesem Moment kam ihr das Schicksal zu Hilfe; oder die PanAm, Lufthansa, British Airways oder wem auch immer der Passagierjet gehörte, der im Tiefflug über die Dächer hereingedonnert kam und zur Landung ansetzte. Das Getöse machte nicht nur für eine oder zwei Minuten jede Unterhaltung unmöglich, sondern brachte Pia auch auf eine Idee.

»Hast du nicht gesagt, dass ihr früher direkt am Flughafen gewohnt habt?«, fragte sie, nachdem ihre Ohren aufgehört hatten zu klingeln.

Alica sah sie zwar ein wenig misstrauisch an, aber sie nickte.

»Dann gehen wir dorthin. Du hast doch bestimmt noch Freunde dort, oder?« Falls jemand wie Alica Freunde hatte.

»Ein paar«, antwortete Alica widerwillig. »He, ich werde ganz bestimmt keinen von meinen Freunden in diese Geschichte reinziehen! Du glaubst doch nicht, dass ich ihnen die Peraltas auf den Hals hetze!«

Pia glaubte schon lange nicht mehr, dass die drei sonderbaren Männer, vor denen sie geflohen waren, auch nur irgendetwas mit den Peraltas oder irgendeiner anderen Mafia-Familie zu tun hatten. Hier ging etwas vollkommen anderes vor.

»Wir ziehen sie nicht in irgendetwas rein«, sagte sie. »Aber wir brauchen jemanden, der uns hilft. Ein Versteck, und wenn es nur für heute Nacht ist. Morgen versuchen wir irgendwie, mit Esteban Verbindung aufzunehmen, und dann sehen wir weiter. Die Peraltas wissen doch gar nichts über dich. Und ganz bestimmt nichts über deine Freunde.«

Alica wirkte nicht überzeugt.

»Nur für heute Nacht«, sagte Pia. »Irgendwo müssen wir ja unterkriechen. Oder hast du Geld für ein Taxi oder ein Hotel dabei?«

Alica sah demonstrativ an sich herab. Abgesehen von sich selbst hatte sie so ziemlich nichts dabei; gar nicht davon zu reden, dass das nächste Taxi ebenso unerreichbar weit weg war wie das nächste Hotel. Schließlich hob sie widerwillig die Schultern, fuhr plötzlich zusammen und sah sich hastig nach rechts und links um, als ein Scheppern an ihr Ohr drang, gefolgt von einem lang anhaltenden Echo, das beinahe lauter zu sein schien als das eigentliche Geräusch. Zwei oder drei Atemzüge später huschte eine schwarze Katze vor ihnen über die Straße und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Alica runzelte die Stirn. »War das jetzt von links nach rechts oder von rechts nach links?«, fragte sie.

»Was?«

»Bedeutet es nun Unglück, wenn einem eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg läuft, oder von rechts nach links?«, wiederholte Alica.

»Das kommt ganz darauf an, wie laut man diese Frage stellt, wenn man als Frau mitten in der Nacht allein in der schlimmsten Gegend von Rio de Janeiro unterwegs ist«, antwortete Pia ernsthaft.

»Aber ich bin doch gar nicht allein«, sagte Alica. Immerhin sagte sie es deutlich leiser. »Supergirl ist ja bei mir.«

Pia lächelte zwar pflichtschuldig, aber ihr Blick tastete gleichzeitig aufmerksam die Straße vor ihnen ab. Sie war ganz und gar nicht sicher, dass das Geräusch, das sie gehört hatten, tatsächlich nur von einer Katze verursacht worden war, ob sie nun von rechts nach links über die Straße gelaufen war oder von links nach rechts. Sie wurden beobachtet, das konnte sie fast körperlich spüren. Aber zu sehen war nichts.

»Was machen wir eigentlich, wenn Esteban tot ist?«, sagte Alica nach einer Weile. Sie waren wieder schweigend nebeneinander hergegangen, und vielleicht stellte sie diese Frage nur, um die unheimlich hallenden Echos zu übertönen, die ihre nackten Füße auf der Straße erzeugten.

»Ist er nicht«, antwortete Pia ruppig.

»Ich weiß«, sagte Alica. »Aber wenn. Ich frage ja nur. Du kennst doch die Peraltas. Gut möglich, dass sie sich an ihm ausgelassen haben, weil sie uns nicht kriegen konnten.«

Pia kannte die Peraltas nicht, ebenso wenig wie Alica, und sie glaubte mit jeder Sekunde weniger, dass sie es überhaupt mit Leuten der Mafia-Familie zu tun hatten. Die drei Männer hatten es eindeutig auf sie abgesehen gehabt, aber es war ihnen nicht um irgendwelche Drogen oder gar Geld gegangen. Die Peraltas waren zwar ebenso brutal wie rücksichtslos und sie waren echte Südamerikaner, was bedeutete, dass sie ziemlich komisch reagieren konnten, wenn es um das ging, was sie für ihre Ehre hielten … aber so schnell nun auch wieder nicht.

Vielleicht war es Zeit, mit den Freundlichkeiten aufzuhören. »Die Frage ist wohl eher, was du machst, wenn Esteban irgendetwas zustoßen sollte«, sagte sie. Früh selbstständig geworden, war es ihr niemals schwergefallen, sich allein durchzuschlagen. Im Moment erschien es ihr zwar wenig ratsam, in das kleine, zweigeschossige Haus im Süden der Favelas zurückzukehren, das sie zusammen mit Jesus bewohnte, aber das bereitete ihr eigentlich die geringsten Sorgen.

»Ich?« Alica machte ein ehrlich überraschtes Gesicht. »Also, darüber … habe ich noch gar nicht nachgedacht«, gestand sie.

Pia schenkte ihr einen fast mitleidigen Blick. »Hast du nicht? Wie lange bist du jetzt schon mit ihm zusammen?«

»Ein knappes Jahr. In einer Woche haben wir unser Jubiläum.«

»Dann gehörst du ja zu den Rekordhalterinnen«, sagte Pia. Das Scheppern wiederholte sich, etwas lauter jetzt, und diesmal huschte keine Katze über die Straße, gleich welcher Farbe. Pia versuchte das Geräusch irgendwie zu ignorieren. »Esteban hat es selten länger als ein Jahr mit einer Frau ausgehalten. Ich an deiner Stelle würde allmählich anfangen, mir Gedanken über meine Zukunft zu machen.«

»Das waren die anderen«, sagte Alica und machte eine zugleich überzeugte wie wegwerfende Geste. »Du willst mich doch nicht mit diesen kleinen Flittchen vergleichen, mit denen er vorher zusammen war? Ich habe ein paar Tricks auf Lager, um Esteban bei der Stange zu halten …«, sie kicherte, »… von denen du nicht einmal zu träumen wagst.«

Und von denen sie auch gar nichts wissen wollte. Pia beließ es bei einem weiteren schrägen Blick und ging ein wenig schneller. So wie sie Esteban kannte, würde er wahrscheinlich noch ihren Jahrestag abwarten und ihr einen Blumenstrauß geben, sein übliches großzügiges Abschiedsgeschenk, und sie dann in die Wüste schicken. Sie zerbrach sich den Kopf über eine möglichst diplomatische Art, Alica ihre Bedenken beizubringen, blieb dann stattdessen plötzlich stehen und zog die junge Frau blitzschnell in den Schatten eines Torbogens.

»Was …?«, keuchte Alica. Pia legte ihr schon wieder hastig die Hand über Mund und Nase und machte mit der anderen eine erschrockene Geste. Alica wollte ihre Hand zwar wegschieben, gab aber wenigstens keinen Laut mehr von sich.

Pia blieb etliche Sekunden völlig reglos und mit geschlossenen Augen stehen und lauschte. Sie versuchte, die übernatürliche Schärfe ihrer Sinne noch einmal herbeizuzwingen, aber im ersten Moment schien sie eher das Gegenteil zu erreichen. Sie hörte nur noch das schnelle Hämmern ihres eigenen Herzens, und die Nacht schien sich zu einer schwarzen Wand zu verdichten, hinter der sie rein gar nichts mehr sah.

»Was ist denn los?«, nuschelte Alica unter ihrer Hand hervor. Gottlob so leise, dass Pia die Worte eher erriet als verstand.

Statt zu antworten, nahm sie behutsam die Hand herunter und beugte sich noch behutsamer vor, um einen Blick zu riskieren. Alles war still. Die Häuser beiderseits der Straße lagen nach wie vor dunkel und still da, wie Mauern aus massiver Schwärze, hinter denen die Welt einfach aufgehört hatte zu existieren. Nichts rührte sich. In der ersten Sekunde.

In der zweiten erschien ein struppiger Schatten am Ende der Straße.

»Das … das kann doch nicht wahr sein!«, ächzte Alica. Pia hatte nicht einmal gemerkt, dass sie sich ebenfalls vorgebeugt hatte. »Wie haben die Kerle uns gefunden?«

Pia bedeutete ihr ganz instinktiv mit Gesten, still zu sein, aber ihr schoss dieselbe Frage durch den Kopf. Sie waren über eine Stunde kreuz und quer durch die Straßen gelaufen, zum Teil gerannt, und inzwischen hatten sie sich hoffnungslos verirrt. Es war ganz und gar unmöglich, dass jemand ihrer Spur gefolgt war.

Und doch war es so. Pia konnte die Gestalt nach wie vor nur als schwarzen Schatten erkennen, aber es gab nicht den geringsten Zweifel. Die Favelas wimmelten von schrägen Gestalten, doch sie kannte sonst niemanden, der in Fellumhängen umherlief und eine Keule am Gürtel trug.

»Und was tun wir jetzt?«, flüsterte Alica.

Auf jeden Fall keine dummen Fragen mehr stellen, dachte Pia. Ihr Blick tastete immer unsteter über die Straße, suchte nach einem Versteck oder einem Fluchtweg. Die Schatten wären tief genug gewesen, um sie vor jedem neugierigen Blick zu beschützen, hätten sie es mit normalen Verfolgern zu tun gehabt. Was sie nicht hatten, wie sich Pia eher betrübt als wirklich erschrocken eingestand. Sie tat wirklich gut daran, wenn sie allmählich damit anfing, diesen Kerlen mehr als ihre normalen menschlichen Sinne zuzubilligen. Vielleicht hatten sie ihre Spur ja tatsächlich gewittert wie Bluthunde, oder ihnen standen noch andere, viel unglaublichere Methoden zur Verfügung, ihre Beute aufzuspüren. Verrückt genug, aber warum das so war, darüber sollte sie sich vielleicht besser den Kopf zerbrechen, wenn sie ihnen endgültig entkommen waren. Falls sie ihnen entkamen. Pia war längst nicht mehr sicher, dass ihnen das Kunststück auch gelang.

Sie sah in die andere Richtung und war noch weniger sicher.

Auch dort war ein Schatten erschienen.

Eigentlich spürte sie seine Anwesenheit viel mehr, als dass sie ihn sah, aber sie wusste einfach, dass er da war. Basta.

Und das konnte nur eines bedeuten: Sie saßen in der Falle.

Ihr Blick suchte noch einmal die Schatten in beide Richtungen ab, versuchte ein Versteck zu finden, einen Durchlass, eines jener schmalen Gässchen, die es überall hier gab und die diese Gegend in ein Labyrinth verwandelten, in dem sich selbst ein Einheimischer hoffnungslos verirren konnte. Ausgerechnet hier schien es keine zu geben, und vielleicht war es nicht einmal Zufall, dass die beiden Männer gerade jetzt hier auftauchten.

Pia verbesserte sich in Gedanken. Nicht vielleicht. Es war ganz bestimmt kein Zufall.

Panik wollte sich in ihr breitmachen, aber das ließ sie nicht zu, sondern zwang sich ganz im Gegenteil zu noch größerer Ruhe. Es war nicht einmal lange her, dass sie und Jesus sich in einer ganz ähnlichen Situation befunden hatten. Gut, sie waren nicht von Steinzeitmenschen mit Keulen und Macheten verfolgt worden, aber Hernandez und seine Schläger waren im Grunde keinen Deut weniger gefährlich gewesen. Und eigentlich, das spürte sie, war sie ihnen nur entkommen, weil sie es einfach wollte.

Was für eine verrückte Idee.

»Ist deine Pistole noch geladen?«, fragte Alica nervös.

Pia nickte zwar, aber die bloße Vorstellung, die Waffe noch einmal benutzen zu sollen, erfüllte sie beinahe mit Entsetzen. Vorhin hatte sie geschossen, weil sie einfach keine andere Wahl mehr gehabt hatte und es um ihr nacktes Leben gegangen war, aber Alica erwartete anscheinend von ihr, dass sie auf die Männer feuerte, während sie näher kamen, und das war ein verdammter Unterschied!

Sie suchte – wider besseres Wissen und selbstverständlich vergebens – noch einmal nach einem Fluchtweg und registrierte beinahe ohne Überraschung, wie sich die beiden Schatten nahezu synchron in Bewegung setzten. Einer der beiden Männer humpelte, aber ihre Schadenfreude hielt sich in Grenzen. Ganz gleich, ob es der war, den sie angeschossen hatte, oder Alicas Opfer, der Anblick zeigte ihr, wie hart die Kerle waren. Vielleicht würde ihr gar nichts anderes übrig bleiben, als einen von ihnen zu erschießen. Oder auch beide.

Wortlos wandte sie sich um, tastete mit der flachen Hand an einer unverputzten Ziegelsteinmauer entlang und blieb erst wieder stehen, als es vor ihnen hell wurde …nun ja, oder wenigstens nicht mehr ganz dunkel war. Graues Zwielicht, das eher wie Nebel wirkte, zeigte ihnen einen jener winzigen Innenhöfe, wie sie für die Gebäude in dieser Gegend typisch waren: ein ungepflegtes Geviert von kaum fünf Schritten Ausdehnung in jede Richtung, schmale Fenster, hinter deren vorgelegten hölzernen Läden nur Dunkelheit war, und eine Metalltür mit einem kaum postkartengroßen, nichtsdestotrotz aber vergitterten Fensterchen in Augenhöhe. Verschwommene Umrisse längs der Wände mochten einfache Bänke oder Stühle sein, auf denen sich die Bewohner dieses Hauses tagsüber niederlassen konnten, und als Alica ihr folgte, stieß ihr Fuß gegen einen Blumenkübel, dessen Palmwedel protestierend raschelten. Alica machte ein angemessen betroffenes Gesicht, aber Pia sah nicht einmal zu ihr hin. Das Geräusch war nicht verräterisch. Die beiden Männer wussten längst, wo sie waren. Irgendetwas sagte ihr, dass sie das die ganze Zeit über gewusst hatten.

Sie ging zur Tür, drückte die Klinke herunter und fand sie erwartungsgemäß abgeschlossen vor. Das Haus dahinter war vollkommen ruhig, und die Stille war so total, dass sie nach einer weiteren Sekunde sogar die Atemzüge der Schlafenden hören konnte. Zwei Erwachsene und – mindestens – zwei Kinder, vielleicht mehr, eines davon noch sehr klein.

Sie trat zurück und sah sich aufmerksam um. Die hölzernen Läden aufzubrechen, sollte kein Problem sein, nicht einmal mit bloßen Händen, aber damit würde sie die Leute im Haus in Gefahr bringen, denn die Männer würden ihnen zweifellos auf demselben Weg folgen. Pia hatte nicht vergessen, was sie mit Esteban gemacht hatten, dessen einzige Verfehlung darin bestanden hatte, im falschen Moment am falschen Ort zu sein.

Ihr Blick huschte an der Wand neben Alica hoch und blieb an der überstehenden Dachkante hängen. Gute zwei Meter. Nicht mehr.

»Schaffst du das?«, fragte sie.

Alicas Blick sagte ganz eindeutig Nein, aber sie gab sich tapfer und nickte. »Wenn du mir die Räuberleiter machst.«

Es war etliche Jahre her, dass sie jemandem geholfen hatte, ein Hindernis auf diese Weise zu überwinden, aber ihnen blieb keine Zeit für lange Diskussionen. Pia lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, verschränkte die Hände vor dem Schoß und spannte alle Muskeln an, als Alica nach ihren Schultern griff und gleichzeitig den Fuß in ihre Hände setzte. Auf dem ersten Stück ging es unerwartet gut. Alica war leichter, als sie angenommen hatte, und stellte sich sogar einigermaßen geschickt an … aber das galt tatsächlich nur für das erste Stück und war wohl eher ein Versehen. Irgendwie gelang es ihr, mit beiden Füßen festen Halt auf Pias Schultern zu finden, doch damit hörte es dann auch schon auf. Pia wartete darauf, dass ihre Hände irgendwo oben an der Dachkante Halt fanden, und sie sich in die Höhe zog, doch stattdessen begann Alica plötzlich herumzustrampeln, und ihre Füße waren so ziemlich überall, nur nicht dort, wo sie sein sollten.

»Beeil dich, verdammt noch mal«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie sind gleich hier!«

Das half nicht unbedingt. Alica schien zwar endlich irgendwo festen Halt gefunden zu haben und versuchte sich auf das Dach hinaufzuziehen, und zumindest ihr rechter Fuß verschwand von Pias Schulter – um eine Sekunde später in ihrem Gesicht zu landen. Dann kam Alica auf die grandiose Idee, ihr auf den Kopf zu steigen.

Pia hatte genug. Grob packte sie Alicas rechten Fuß, drehte sich herum, streckte die andere Hand nach ihrem Hinterteil aus und versetzte ihr einen Stoß, der sie regelrecht auf das Dach hinauf katapultierte. Alica quietschte protestierend, war aber wenigstens geistesgegenwärtig genug, um sich irgendwo festzuklammern, und Pia federte kurz in den Knien ein und sprang mit ausgestreckten Armen nach oben. Ihre Hände bekamen die morsche Dachrinne zu fassen, und das Wunder, auf das sie selbst kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah: Die Kupferrinne ließ ein bedrohliches Ächzen und Knirschen hören und bog sich ein gutes Stück unter ihrem Gewicht durch, aber sie hielt. Mit den nackten Zehen an der Ziegelsteinmauer Halt suchend, zog sich Pia weiter in die Höhe und zwei schwere Herzschläge später neben Alica auf das Dach hinauf.

»Na, hat’s Spaß gemacht?«, grollte Alica.

»Was?«

»Meinen Hintern zu betatschen. Ich meine, du bist zwar wirklich süß, aber deine Hand da unten …«

Pia hatte nicht übel Lust, mit ihrer Hand noch etwas ganz anderes zu tun, doch sie beherrschte sich, stemmte sich stattdessen auf Hände und Knie hoch und kroch ein Stück von der Dachkante weg, bevor sie sich ganz aufrichtete. Das Dach verlief vor ihnen noch zwei oder drei Meter in gemäßigter Schräge, bevor es in eine weitere, senkrechte Wand überging und sich ein Stockwerk höher fortsetzte. Wenn sie es bis dorthin schafften, hatten sie eine gute Chance.

Sie würdigte Alica keines Wortes, sondern ging los und registrierte erleichtert, dass jemand so freundlich gewesen war, Steigeisen in die Wand einzulassen. Wahrscheinlich hatte es in der unter ihnen auch welche gegeben, und sie hatten sie bei der herrschenden Dunkelheit bloß nicht gesehen.

Vorsichtshalber kletterte Pia diesmal als Erste hinauf. Das Dach, auf das sie gelangte, war flach und mit zerrissener zäher Pappe gedeckt, die so oft in der Sonnenhitze geschmolzen und wieder erstarrt war, dass sie wie ein schwarzer Sumpf aussah, und sich auch so anfühlte. Jede ihrer Bewegungen verursachte schmatzende Geräusche und ein unangenehmes Ziehen auf der Haut, als sie sich auf den Bauch sinken ließ und dann rasch herumdrehte, um nach Alica zu sehen.

Diese überraschte sie schon wieder, denn sie folgte ihr dichtauf und mit solchem Geschick, dass Pia der böse Verdacht kam, ihre vermeintliche Unbeholfenheit gerade eben sei möglicherweise nur gespielt gewesen. Vielleicht fand Alica das Ganze hier ja irgendwie lustig. Pia griff trotzdem zu, um ihr auf dem letzten Stück zu helfen, zog sie zu sich herauf und aus der gleichen Bewegung heraus nach unten.

»Igitt!«, nörgelte Alica. »Was ist denn das für ein klebriges Zeugs?«

»Still!«, sagte Pia erschrocken. »Und rühr dich nicht!«

Alica sah schon wieder ein bisschen beleidigt aus, aber sie gehorchte immerhin. Nebeneinander flach auf dem Bauch liegend, sahen sie in die Dunkelheit hinunter.

Sie mussten nicht lange warten. Es verging weniger als eine Minute, bis eine Gestalt unter ihnen im Innenhof auftauchte. Sie war nur als flacher Schatten zu erkennen, aber an ihrer Hüfte schimmerte Metall, und Pia meinte so etwas wie einen schwachen Geruch nach Blut aufzufangen. Das musste der Bursche sein, dem sie in die Schulter geschossen hatte. So wie er sich bewegte, schien ihm die Verletzung nicht allzu viel auszumachen und ihn schon gar nicht zu behindern. Er stand einen Moment lang vollkommen reglos da, dann drehte er sich um, legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihnen hoch.

Das ist vollkommen unmöglich!, dachte Pia hysterisch. Er hatte nicht einmal nach ihnen gesucht, sondern sah so direkt zu Alica und ihr hoch, als hätte er ganz genau gewusst, wo sie waren!

»Weg hier!«, sagte sie. »Schnell!« Es hatte keinen Sinn mehr, leise zu sein oder sich verstecken zu wollen. Begleitet von einem schmatzenden Laut sprang sie auf die Füße, riss Alica grob mit sich in die Höhe und fuhr herum. Hinter ihnen polterte es, dann hörten sie das Geräusch von zerbrechenden Dachschindeln, als der Kerl einfach an der Wand heraufsprang, die sie gerade so mühsam erstiegen hatten.

Pia rannte das erste Dutzend Schritte in die Nacht hinein, ohne auch nur einen Gedanken an die Richtung zu verschwenden, in die sie liefen. Jede Richtung war recht, solange sie in direkter Linie von ihrem Verfolger wegführte. Das Dach ging nach zehn oder zwölf Metern in ein zweites, teergedecktes Flachdach über, das zu einer einfachen Sonnenterrasse umgebaut worden war. Alica und sie pflügten wie ein lebender Wirbelsturm durch die billigen Plastikmöbel, sprangen auf ein weiteres, etwas tiefer gelegenes Flachdach hinab und jagten die Schräge eines der seltenen schiefergedeckten Dächer hinauf, um auf der anderen Seite kurzerhand herunterzurutschen. Pia wagte nicht, einen einzigen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, aber das war auch nicht nötig. Ihr Verfolger war immer noch da und er fiel keineswegs zurück, sondern holte langsam, aber stetig auf, wie das rhythmische Stampfen seiner Schritte hinter ihnen verriet. Allmählich begann sich so etwas wie echte Verzweiflung in Pia breitzumachen. Sie konnten dem Kerl nicht davonlaufen, und er und sein Begleiter hatten ihr zur Genüge bewiesen, wie unmöglich es war, sich vor ihnen zu verstecken. Ihre Hand glitt fast ohne ihr Zutun zu der Waffe in ihrem Hosenbund und prallte dann so heftig zurück, als hätte sie glühendes Eisen berührt. Nein. So weit war sie noch lange nicht.

Wenn sie weder vor dem Burschen davonlaufen noch sich vor ihm verstecken konnten, mussten sie eben jeden anderen Vorteil nutzen, der sich ihnen bot. Immerhin kannten sie sich in dieser Gegend (oder zumindest in einer Gegend wie dieser) aus und er nicht – das wusste sie mit einer Sicherheit, die einen zweifelnden Gedanken erst gar nicht aufkommen ließ. Vielleicht konnten sie ihre Ortskenntnisse in die Waagschale werfen und ihn einfach austricksen.

Sie setzten nebeneinander und mit einem gewagten Sprung über eine gut zwei Meter breite Lücke zwischen zwei Gebäuden hinweg (die schmalen Gassen, die sie vorhin vergeblich gesucht hatte, waren jetzt selbstverständlich da und taten ihr Möglichstes, um sie zu behindern), rasten über ein weiteres Dach und bogen im letzten Moment nach links ab, als vor ihnen ein schwarzer Abgrund aufklaffte; ein weiterer Innenhof, gerade groß genug, um eben nicht über ihn hinwegspringen zu können.

Aber der Anblick brachte Pia auf eine Idee. Ihre Lungen brannten bereits wie Feuer, und ihre Beine schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden. Sie hatten allerhöchstens noch zwei oder drei Minuten, bis ihr entweder die Puste ausging oder ihre Verfolger sie einholten. Wahrscheinlich beides zugleich. Der Verzweiflung nahe, sah sie sich um, gewahrte einen hoffnungsvollen Umriss nur zwei oder drei Dächer vor ihnen und ein Stück links und deutete heftig gestikulierend in die entsprechende Richtung, während sie gleichzeitig versuchte, all ihre verbliebenen Kräfte zu mobilisieren und noch einmal schneller zu laufen. Alica ließ sich nicht anmerken, ob sie begriffen hatte oder nicht, aber sie folgte ihr klaglos.

Sie erreichten das übernächste Dach. Vor ihnen lag eine etwas hellere und vielleicht einen halben Meter tiefer gelegene Fläche, eingerahmt von einem bröckeligen Quadrat aus Betonsteinen, kaum so breit wie zwei nebeneinandergelegte Hände. Statt in gerader Linie über das Dach zu sprinten, schlug Pia flugs einen Haken und rannte über den schmalen Steg, ohne auch nur einen Gedanken an den Abgrund zu verschwenden, der daneben lauerte. Bis zur Straße hinab waren es knappe fünf Meter; wahrscheinlich kein tödlicher Sturz, aber wenn sie einen Fehltritt machte, konnte sie ebenso gut aufgeben und gleich auf den Killer warten.

Sie erreichte das nächste Dach, hatte rechts und links endlich wieder festen Boden vor sich und wagte es zum ersten Mal, einen Blick über die Schulter zurück zu werfen. Alica stürmte kaum einen Meter hinter ihr heran, nahezu genauso schnell wie sie und mit einem Geschick und einer Sicherheit, die sie ihr niemals zugetraut hätte. Wieder auf festem Boden, schwenkte sie genau wie Pia nach links, und keine zehn Schritte hinter ihr stürmte eine langhaarige Gestalt mit wehendem Mantel heran. Ihr Vorsprung war deutlich kleiner, als Pia erwartet hatte.

Und ganz genau wie sie es erwartet hatte, verzichtete er darauf, den vermeintlichen Umweg nachzuvollziehen, den Alica und sie gemacht hatten, sondern folgte ihnen in direkter Linie über das Dach.

Oder das, was er für ein Dach hielt.

In der mondlosen Nacht waren die schwarzen Plastikplanen, mit denen der Innenhof abgedeckt war, praktisch nicht von der hier allgegenwärtigen Teerpappe zu unterscheiden, allerdings waren sie nicht annähernd so stabil. Und darunter auch kein Holz oder Beton, sondern nur ein dünnes Geflecht aus Draht, möglicherweise sogar nur Fäden. Pia hatte darauf gehofft, dass ihr Verfolger durch das improvisierte Sonnendach brechen und mit haltlos wirbelnden Armen in die Tiefe stürzen würde, aber er verschwand einfach, buchstäblich von einem Lidzucken auf das andere, und wo er sein sollte, gähnte jetzt ein metergroßes Loch in der Plastikplane. Nur den Bruchteil einer Sekunde später drang ein schwerer Aufprall an ihr Ohr, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen.

»Wirklich clever«, sagte Alica. Ihr Atem ging ebenso schwer und rasch wie der Pias, aber sie klang zugleich äußerst zufrieden. »Und jetzt? Geben wir ihm den Rest?« Sie machte eine Kopfbewegung auf Pias Pistole.

»Der hat erst mal genug«, antwortete Pia. »So schnell läuft der niemandem mehr nach. Aber da war noch ein zweiter Kerl. Willst du hier warten, bis er auftaucht?«

Dieses Argument schien sogar Alica zu überzeugen, denn sie nickte, und dann konnte Pia trotz der Dunkelheit sehen, wie auch noch das allerletzte bisschen Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sie war nicht einmal überrascht, als sie herumfuhr und die riesige Gestalt sah, die wie aus dem Nichts hinter ihnen aufgetaucht war.

Dass sie nicht erschrak, rettete ihr möglicherweise das Leben, zumindest für diesen Moment. Es war ganz genau wie vorhin in Estebans Büro: Sie dachte nicht, sondern reagierte. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht zwar nicht erkennen (ganz davon abgesehen, dass die Kerle mit ihren verdreckten Bärten und tätowierten Gesichtern sowieso alle gleich aussahen), aber irgendwie wusste sie trotzdem, dass es der war, dem sie ins Bein geschossen hatte. Als er eine Hand ausstreckte, riss sie das Knie in die Höhe, womit er allerdings gerechnet zu haben schien, denn sein anderer Arm fuhr blitzartig herab, um seine edelsten Teile zu schützen.

Pia hatte jedoch gar nicht darauf gezielt. Ihr Knie knallte mit aller Gewalt, die sie nur aufbringen konnte, gegen die frische Schusswunde in seinem Oberschenkel.

Selbst ohne die Verletzung hätte es vermutlich sehr wehgetan. Der Treffer war so hart, dass Pia zurückprallte und ein betäubender Schmerz in ihrem Knie explodierte, der grelle Feuerlinien durch ihr gesamtes Bein schickte, aber das schien nichts gegen das zu sein, was Barney Geröllheimer empfand. Er brüllte vor Schmerz, kippte auf die Seite und krümmte sich am Boden. Pia reagierte auch diesmal, ohne zu denken. Bei jedem Schritt schien sich ein rot glühender Draht durch ihr Bein bis in die Hüfte hinauf zu bohren, aber sie ergriff trotzdem Alicas Handgelenk und zerrte sie einfach mit sich auf das nächste Dach und das nächste und das wiederum nächste. Erst dann blieb sie stehen, ließ ihren Arm los und stützte beide Hände auf die Oberschenkel, während sie sich weit nach vorne beugte und keuchend nach Luft rang. Sie hatte das Gefühl, Feuer zu atmen. Gleichzeitig war ihr entsetzlich kalt.

»Donnerwetter«, keuchte Alica. »Das war … saubere Arbeit. Das mit … Supergirl nehme ich … zurück. Die hätte wahrscheinlich Angst vor … dir.«

Pia vergeudete nicht einmal einen Atemzug, um ihr zu antworten, sondern richtete sich mühsam auf und sah hinter sich. Der Kerl lag noch immer am Boden und krümmte sich. Augenscheinlich machte ihm der Tritt deutlich mehr zu schaffen als die Kugel, die sie ihm vorhin verpasst hatte. Ihr Knie jedenfalls fühlte sich an, als hätte sie gegen Beton geschlagen. Auch von dem zweiten Verfolger war im Moment nichts zu sehen. Pia hoffte inständig, dass er immer noch fünf Meter tiefer im Hof lag und seine Knochen sortierte.

»Bleibt nur noch einer«, stieß sie kurzatmig hervor.

Alica blinzelte. »Wie?«

»Sie waren zu dritt, schon vergessen?« Pia wollte in diesem Moment nichts mehr, als sich irgendwohin zu setzen und auszuruhen, und sei es nur einige wenige Sekunden, doch stattdessen machte sie eine müde Geste in die Dunkelheit hinein. »Los! Weiter! Vielleicht können wir sie ja irgendwie abschütteln.«

»So ganz allmählich wirst du mir unheimlich«, murmelte Alica, »weißt du das?« Trotzdem drehte sie sich gehorsam um und ging los, und auf den ersten Schritten war es Pia, die ihr folgte, und nicht umgekehrt. Ihr war immer noch kalt.

Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die fror. Alica hatte eine deutliche Gänsehaut, und ihr Atem wehte als grauer Dampf vor ihrem Gesicht.

Und dann fiel Pia etwas auf, das noch sehr viel merkwürdiger war: Es war viel zu hell.

Die Nacht war nach wie vor mondlos, und der Himmel verbarg sich hinter einer geschlossenen Wolkendecke, aber die Dächer reflektierten das blasse Licht, als wären sie weiß lackiert, und diese Dächer selbst …

Es ging viel zu schnell, als dass sie auch nur eine Chance gehabt hätte zu reagieren. Alica war plötzlich weg, ebenso lautlos und jäh verschwunden wie der Barbar gerade, und im nächsten Moment gab der Boden unter Pias Füßen nach. Ganz instinktiv streckte sie die Hände aus und bekam auch tatsächlich irgendetwas zu fassen, aber es war nicht annähernd stabil genug, um sich daran festzuhalten.

Sie fiel, wenn auch nicht sehr tief. Dunkelheit hüllte sie ein, die seltsamerweise nach Stroh roch; sie hörte Alica schreien, dann schlug sie irgendwo auf.

Der Aufprall war unerwartet weich. Nicht so kalt wie das letzte Mal, als sie etwas ganz Ähnliches erlebt hatte, und deutlich sanfter, als wäre sie auf einen Heuboden gestürzt. Passend dazu kribbelte etwas in ihrer Nase und in ihrem Gesicht, und sie musste niesen.

Erst danach öffnete Pia die Augen, sah nichts als Schatten rings um sich und legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen (unangenehm weit über ihnen, mindestens drei oder vier Meter, schätzte sie) gähnte ein unregelmäßig geformtes Loch im Dach, über dem der seltsamste Nachthimmel zu sehen war, den sie jemals erblickt hatte. Eigentlich war er nicht wirklich zu sehen, denn er war zur Gänze mit bauchigen Wolken zugezogen, die niedrig genug zu hängen schienen, um sie mit dem ausgestreckten Arm zu berühren. Und sie waren weiß. Nicht schmutzig grau, als Wolken verkleideter Smog, wie sie es gewohnt war, solange sie sich zurückerinnern konnte, sondern weiß; von einer so strahlenden, reinen Farbe, wie Pia sie noch nie zuvor am Himmel gesehen hatte.

Neben ihr erscholl ein halb ersticktes Husten, dann raschelte es und dann hörte sie Alicas zornige Stimme: »Na, wunderbar! Das hast du wirklich sauber hingekriegt! Vielen herzlichen Dank auch!«

Statt zu antworten, was ohnehin völlig sinnlos gewesen wäre, richtete sich Pia weiter auf, versuchte sich das kribbelnde Zeug aus dem Gesicht zu wischen (es war tatsächlich Stroh) und schloss für ein paar Sekunden die Augen, um sich an die fast vollkommene Dunkelheit zu gewöhnen, die sie umgab.

Es funktionierte. Sie konnte jetzt immerhin erkennen, dass sie sich in einem sehr großen Raum befanden, der tatsächlich verblüffende Ähnlichkeit mit einem Heuboden hatte. Über ihnen ragte ein spitzer, aus schweren Balken gezimmerter Dachstuhl in die Höhe, und was ihrem Sturz die möglicherweise tödliche Wucht genommen hatte, das war wirklich eine dicke Schicht aus würzig riechendem Stroh, bestimmt einen Meter hoch. Irgendetwas raschelte, und als Pia erschrocken den Kopf drehte, sah sie einen Schatten mit einem langen nackten Schwanz davonhuschen.

»Igitt!«, sagte Alica. »Eine Ratte!«

Pia hoffte, dass es nur eine Ratte gewesen war.

»Wo zum Teufel sind wir eigentlich?«, schimpfte Alica. »Weißt du, wohin du uns geführt hast?«

»Ich weiß, wohin dieses Gespräch führt, wenn du nicht gleich die Klappe hältst«, sagte Pia ruhig.

Alica fauchte irgendeine Antwort, die Pia lieber nicht verstehen wollte, setzte sich mit einem lautstarken Rumoren auf … und ließ zu Pias absolutem Entsetzen ihr Zippo aufflammen!

Pia reagierte beinahe noch schneller als gerade beim Auftauchen des Barbaren, und diesmal war es auch gar nicht nötig zu denken. Mit einer entsetzten Bewegung schnellte sie herum, riss Alica das Feuerzeug aus der Hand und klappte es zu, und für die nächsten Sekunden hatte sie alle Hände voll damit zu tun, das gute Dutzend Funken (und auch die eine oder andere Flamme) mit eben diesen bloßen Händen auszuschlagen, die rings um Alica und sie herum im Stroh glommen.

»He!«, protestierte Alica. »So sehe ich nichts!«

»Was glaubst du, wie gut du erst siehst, wenn der ganze Laden hier in Flammen steht?«, fauchte Pia.

»In Flammen?«

»Das hier ist Stroh!«, sagte Pia. »Trockenes Stroh!«

»Oh«, murmelte Alica.

»Ja, oh.« Pia setzte dazu an, das Feuerzeug einzustecken, überlegte es sich dann aber anders und gab es ihr zurück.

»Wieso liegt hier überhaupt Stroh herum?«, maulte Alica. »Und was ist das eigentlich hier, verdammt noch mal?«

Pia antwortete nicht sofort, sondern investierte die komplette nächste Minute, um jeden Quadratzentimeter rings um sie herum nach einem übersehenen Funken oder einem schwelenden Glutnest abzusuchen. Sie fand nichts. Wie es aussah, hatten sie noch einmal Glück gehabt.

Sie sagte auch danach nichts, sondern schenkte Alica nur einen bösen Blick (den diese in der Dunkelheit hier drinnen sowieso nicht sah), stand auf und versuchte sich zu orientieren. Abgesehen von den monströsen Balken und jeder Menge Stroh schien der Raum vollkommen leer zu sein. In der gegenüberliegenden Wand gab es etwas wie eine Tür. Pia ging hin, blieb zwei oder drei Schritte davor stehen und legte überrascht die Stirn in Falten.

An der Tür war eigentlich nichts Außergewöhnliches – oder wäre nichts gewesen, hätte sie sich in einem alten Schloss irgendwo in England befunden. Hier wirkte sie ziemlich deplatziert. Sie war gerade einmal anderthalb Meter hoch, aber fast genauso breit, bestand aus groben, unbehandelten Brettern und hatte schwere schmiedeeiserne Beschläge. Es gab weder einen Riegel noch eine Klinke, nur einen einfachen Holzklotz, und kein Schloss. Pia zögerte, sie zu öffnen, und bevor sie es tat, legte sie das Ohr gegen die Tür und lauschte. Sie registrierte Geräusche, ohne sie identifizieren zu können, zog die Tür schließlich mit einem unguten Gefühl auf, und ein Schwall unterschiedlicher Laute und verwirrender Gerüche drang zu ihnen herein. Blasses, flackerndes rotes und gelbes Licht und gemurmelte Stimmen. Pia winkte Alica zu sich und bedeutete ihr zugleich, leise zu sein.

»Was zum Geier ist denn das?«, entfuhr es Alica.

Natürlich viel zu laut, aber dieselbe Frage stellte Pia sich auch. Vor ihnen lag eine schmale, steil in die Tiefe führende Holztreppe. Grob verputzte Wände und eine niedrige Strohdecke vervollständigten das Gefühl, sich in einer Scheune zu befinden; das Allerunmöglichste jedoch war die Länge der Treppe. Schon der Heuboden, in den sie gestürzt waren, war eigentlich höher gewesen als das ganze Haus, über dessen Dach sie geflüchtet waren, und die Treppe führte noch einmal mindestens drei oder vier Meter weit nach unten. Was war hier los?

Pia wiederholte ihre mahnende Geste und schlich auf Zehenspitzen los, um möglichst wenige Geräusche zu verursachen, aber die ausgetretenen Holzstufen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie knarrten und knirschten so erbärmlich unter ihrem Gewicht, dass der Besitzer dieses Gebäudes ganz bestimmt keine Alarmanlage brauchte. Pia sah es zwar nicht, aber sie konnte Alicas breites Grinsen in der Dunkelheit neben sich spüren.

Die Treppe hielt noch eine weitere Überraschung für sie bereit. Sie endete nach einem guten Dutzend Stufen an einem Absatz, neben dem sich ein lang gestreckter Gang auftat, zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber Pia meinte dennoch, etliche Türen in den Wänden rechts und links auszumachen. Vor ihnen führte die Treppe noch ein weiteres Stockwerk in die Tiefe. Der flackernde Lichtschein und die Geräusche murmelnder Stimmen wurden deutlicher. Ein Keller, dachte sie. Sie befanden sich in einem Keller. So einfach war das.

Und natürlich so falsch. Diese Erklärung hatte ungefähr so viele Löcher wie ein Fischernetz, aber sie war immer noch besser als alles andere, was ihr einfiel.

Sie überlegte kurz, eine der Türen vor sich auszuprobieren, besann sich dann eines Besseren und setzte ihren Weg die Treppe hinunter fort. Die Stufen quietschten hier nicht mehr so erbärmlich wie weiter oben, und Pia glaubte im allerersten Moment, es läge einfach daran, dass sich dieser Teil der Treppe in einem besseren Zustand befand als der obere. Dann trat auch Alica auf die Treppe, und das Knarren und Quaken musste noch bis ans andere Ende der Stadt zu hören sein, und Pia wurde klar, dass es an ihr gelegen hatte. Sie hatte ihre Art zu gehen ganz instinktiv dieser verdammten Treppe angepasst, um möglichst leise zu sein.

Sie stellte sich noch einmal dieselbe Frage wie gerade eben, aber diesmal wurde sie von einem intensiven Gefühl der Angst begleitet: Was geschah hier?

Was geschah mit ihr?

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