XII

Das Feuer im Kamin war schon wieder heruntergebrannt, doch Lasar legte gerade frisches Holz nach, als sie eintraten. Das Gasthaus war nicht mehr leer. Beiderseits der Tür standen zwei Männer in den schweren Wollmänteln und silberfarbenen Harnischen der Stadtwache. Beide hatten ihre Helme abgesetzt und der eine seinen Speer nachlässig gegen die Wand gelehnt; der andere aber umklammerte seinen Speer mit beiden Händen und so fest, als wäre gerade eine Horde Waffen schwingender Barbaren hereingestürmt, nicht zwei harmlose junge Frauen.

Pia konnte einen spöttischen Blick in seine Richtung nicht ganz unterdrücken, was Brack nicht entging. Er reagierte mit einer eindeutig erschrockenen Grimasse, sagte jedoch mit ruhiger Stimme und einer deutenden Geste auf einen der Tische: »Das ist Istvan, der Kommandant der Stadtwache.«

Istvan musste die Worte gehört haben, denn bis auf das gelegentliche Knacken eines brennenden Holzscheits war es nahezu vollkommen still hier drinnen, aber er reagierte nicht, und Pia und Alica folgten Bracks neuerlicher, jetzt eindeutig ungeduldiger Geste, und traten an den Tisch heran. Pia bedachte den schlanken, dunkelhaarigen Mann, der ein kantiges Gesicht und durchdringende Augen hatte und ihr für den Kommandanten einer kompletten Stadt beinahe ein bisschen zu jung vorkam, nur mit einem knappen Nicken und immerhin der Andeutung eines Lächelns, während Alica ihr Möglichstes tat, um einfach durch ihn hindurchzustarren. Istvan zog kurz die linke Augenbraue hoch, doch sein einziger Kommentar – an Brack gewandt – bestand aus einem angedeuteten Schulterzucken und den Worten: »Ihr wart lange weg, Brack.«

Brack begann unbehaglich mit den Händen zu ringen. Pia sah ihm an, wie viel Überwindung es ihn kostete, Alica und sie nicht mit vorwurfsvollen Blicken zu durchbohren. »Es tut mir leid, Erhabener«, sagte er nervös. »Ich musste erst eine Weile …nach ihnen suchen. Ihr wisst ja – WeißWald ist ein Labyrinth für den, der sich hier nicht auskennt.« Er gestikulierte übertrieben in Pias Richtung. »Das ist …«

»Ja, ich weiß, wer das ist«, unterbrach ihn Istvan. Sein Blick suchte Pias Gesicht und verharrte darauf. »Man kann es sehen.«

»Ich bin Gaylen«, sagte Pia. Eigentlich hatte sie Pia sagen wollen. Istvan starrte sie weiter aus seinen durchdringenden Augen an, und Pia begriff eines mit vollkommener Klarheit: Diesem Mann etwas vorzumachen, würde sehr schwer sein. Sie deutete auf Alica. »Meine Freundin Alica. Sie spricht Eure Sprache nicht. Aber ich kann für sie übersetzen.«

Istvan ließ sich nicht anmerken, was er von diesen Worten hielt, sondern bedeutete ihnen nur mit einer stummen Geste, Platz zu nehmen, und Pia gehorchte. Alica tat unaufgefordert dasselbe. Istvan würdigte sie nicht einmal eines Blickes.

Brack nahm ebenfalls Platz und machte eine herrische Geste in Lasars Richtung, der immer noch mit demselben Holzscheit beschäftigt war und sich so auffällig darum bemühte, unauffällig zu sein, dass es schon fast lächerlich war. »Bring Bier, Faulpelz.«

Der Junge verschwand, und Istvan wartete, bis das Geräusch der Tür hinter der Theke zu hören war, dann wandte er sich erneut und mit misstrauischer Miene direkt an Pia. »Dein Name ist also Gaylen«, sagte er. Pia versuchte vergeblich, sich selbst einzureden, dass ihr die bohrenden Blicke nichts ausmachten.

»Ja«, sagte sie. Istvan schwieg, und sie spürte, dass er von ihr erwartete, von sich aus weiterzusprechen. Brack, der sich so gesetzt hatte, dass Istvan sein Gesicht nicht sehen konnte, versuchte ihr mit Blicken etwas zu signalisieren, doch sie wusste nicht, was. Schließlich fuhr sie fort: »Und mein Name ist wirklich Gaylen. Ich meine … Brack hat mir erzählt, was es damit bei Euch auf sich hat. Das ist … sonderbar. Und ziemlich peinlich.«

»So?«, fragte Istvan.

»Da, wo wir herkommen, ist dieser Name eher eine Auszeichnung«, erklärte Pia.

»Da, wo ihr herkommt«, wiederholte Istvan.

Pia spürte, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegte. Sie konnte es knistern hören. »Eine kleine Insel im östlichen Meer«, sagte sie. »Ihr habt bestimmt noch nie davon gehört. Favela.«

»Nein«, antwortete Istvan. »Aber das hat nichts zu bedeuten. Das östliche Meer ist groß und die Küste ist weit. Niemand kennt alle Inseln, die es dort gibt. Wie sollte ich also den Namen einer bestimmten Insel kennen?« Falls es sie überhaupt gibt, fügte sein Blick unübersehbar hinzu. »Und was führt euch her, so weit weg von eurer Heimat?«

»Wir wollten nicht hierher«, antwortete Pia, wie sie selbst spürte, eindeutig zu hastig. Verdammt, warum hatte Brack auch so schnell mit diesem Istvan zurückkommen müssen? Sie hatte nicht einmal ansatzweise Zeit gehabt, sich eine Geschichte zurechtzulegen!

Jetzt würde sie improvisieren müssen.

»Meine Freundin und ich waren auf einer Wallfahrt«, sagte sie. »Wir wollten nach Florida, das ist die heilige Insel unseres Volkes.«

»Von der zweifellos hier auch noch nie jemand etwas gehört hat«, vermutete Istvan. Er runzelte die Stirn.

»Unser Schiff geriet in einen Sturm«, sagte Pia. »Wir haben Schiffbruch erlitten.«

»Wo?«, fragte Istvan. Brack verdrehte die Augen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht näherte sich allmählich echter Verzweiflung.

»An der Küste.« Pia lächelte hastig und bemühte sich noch heftiger um ein angemessen verlegenes Gesicht, als sich Istvans Stirnrunzeln vertiefte. »Ich weiß, das klingt … seltsam, aber Alica und ich verstehen nichts von der Seefahrt und noch weniger von Eurem Land. Der Sturm war schrecklich. Viele Tage hat er unser Schiff gebeutelt, und am Ende hat er es gegen die Klippen geworfen. Das Schiff ist gesunken, und Alica und ich waren die einzigen Überlebenden, fürchte ich. Wir sind tagelang umhergeirrt.« Sie registrierte, wie sich Bracks Gesichtsausdruck von beinahe zu echtem Entsetzen änderte, und erinnerte sich gerade noch daran, was er Alica und ihr über die Geografie dieses Landes erzählt hatte. »Ein paarmal haben wir Menschen gesehen, aber wir haben es nicht gewagt, uns ihnen zu zeigen.«

»Warum?«, fragte Istvan.

»Sie waren … unheimlich«, antwortete Pia zögernd und bemühte sich um ein angemessenes Schaudern. »Ich glaube, es waren Wilde. Schreckliche Gestalten in Fellen und mit Waffen.«

Istvan blickte an sich selbst hinab, genauer gesagt auf den schweren Fellmantel, den er sich um die Schultern geschlungen hatte, und den breiten Ledergürtel, aus dem der reich verzierte Griff eines Schwertes ragte. »Dann wart ihr sehr klug, euch ihnen nicht zu zeigen«, sagte er. »Manche dieser Barbarenstämme sind nicht unbedingt für ihre Gastfreundschaft berühmt.« Pia konnte nicht sagen, ob er ihr diese improvisierte Ausrede glaubte oder nicht. Er forderte sie nur mit einer Geste auf, weiterzusprechen.

»Wir sind tagelang umhergeirrt, bis wir schließlich Eure Stadt aus der Ferne gesehen haben. Viel länger«, fügte sie mit einem neuerlichen und noch übertriebeneren Schaudern hinzu, »hätten wir es wahrscheinlich nicht ausgehalten. Euer Land ist kalt. Jedenfalls für unsere Begriffe.«

Brack signalisierte ihr ein Nicken mit den Augen. Gut.

Oder auch nicht. »Wenn eure Heimat so weit entfernt ist und ihr so rein gar nichts über uns wisst, wieso sprichst du dann unsere Sprache so gut?«, fragte Istvan in beinahe harmlosem Tonfall.

»Weil es auch unsere Sprache ist«, antwortete Pia. »Alica hier stammt nicht aus unserem Land. Sie war Sklavin im Haus meiner Mutter.«

Alicas Augen schossen unsichtbare Blitze deutlich über der Hunderttausend-Volt-Marke in ihre Richtung, aber sie sagte nichts. Pia bedankte sich im Stillen dafür, breitete sich aber ebenso lautlos auf das vor, was Alica sagen würde, sobald sie wieder allein waren. Istvan sah sie jetzt eindeutig ungeduldig an, doch gerade als Pia weitersprechen wollte (genauer gesagt: sich noch den Kopf zerbrach, was sie wohl als Nächstes sagen sollte), ging die Tür auf und niemand anderes als Brasil kam herein. Er trug den linken Arm in einer schmuddeligen Schlinge, und die ebenfalls linke Hälfte seines Gesichtes sah aus, als wäre er gegen einen Brückenpfeiler gerannt. Mehrmals.

Alica riss die Augen auf und sprang so hastig in die Höhe, dass ihr Schemel umfiel, und Pias Hand zuckte unwillkürlich zu der Pistole, die sie unter ihrem Umhang im Hosenbund trug. Istvan blinzelte. Die beiden Wächter, die die Tür flankierten, maßen Brasil mit allerhöchstens gelindem Interesse, und auch Brasil selbst reagierte vollkommen anders, als Pia es erwartet hätte. Er stockte zwar für einen Moment im Schritt, als er sie erblickte, machte dann aber nur ein finsteres Gesicht und schlurfte zu demselben Tisch, an dem er heute Morgen gesessen und gefrühstückt hatte.

»Setz dich wieder, Mädchen«, sagte Brack, an Alica gewandt.

Alica schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, und wenn, ignorierte sie sie. Sie trat nur einen weiteren Schritt vom Tisch zurück und spannte sich sichtbar an. »Das ist …«

Brack wiederholte seine Geste, sich wieder zu setzen. Er wandte sich direkt an Pia. »Sag deiner Freundin, sie soll sich setzen. Es ist alles in Ordnung.«

»So?«

Brack setzte zu einer weiteren Erklärung an, drehte sich stattdessen jedoch schnaubend auf seinem Schemel herum, warf Brasil einen raschen, aber eindeutig mahnenden Blick zu und wandte sich dann an Istvan. »Wie Ihr seht, sie sind mit unseren Sitten und Gebräuchen wirklich nicht vertraut.«

»Gehört es zu Euren Sitten und Gebräuchen, dass sich die Gäste gegenseitig überfallen und ausrauben?«, fragte Pia. Die Worte taten ihr fast sofort wieder leid, denn Brack starrte sie regelrecht entsetzt an, und auch Istvans Miene verdüsterte sich.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Brack hat mir auf dem Weg hierher erzählt, was passiert ist.«

»Dann wisst Ihr auch, dass dieser Mann versucht hat, meine Freundin und mich zu überfallen«, antwortete Pia. Sie hatte mit jeder Sekunde mehr das Gefühl, dass es besser wäre, jetzt vielleicht gar nichts mehr zu sagen, aber sie konnte die Worte auch nicht zurückhalten. Brasil musterte sie über die Entfernung finster aus einem gesunden und einem fast zur Gänze zugeschwollenen Auge, in denen die blanke Mordlust loderte.

»Aber dieser Überfall fand außerhalb der Stadtmauern WeißWalds statt, richtig?«, vergewisserte sich Istvan.

Pia nickte.

»Siehst du«, fuhr Istvan fort. Er hob beiläufig die Schultern. »Selbstverständlich steht jeder unter dem Schutz unserer Gesetze, der sich innerhalb der Stadtmauern aufhält. Was er draußen tut, geht uns nichts an.«

Pia starrte ihn aus ungläubig aufgerissenen Augen an. »Soll das heißen …«, murmelte sie.

»Ja, das soll es heißen«, sagte Istvan. »Ihr scheint wirklich aus einem sehr fernen Land zu stammen.« Er machte eine unwillige Handbewegung, als Pia etwas darauf erwidern wollte, warf Alica einen weiteren, jetzt schon beinahe eisigen Blick zu und wartete, bis sie ihren Hocker aufgehoben und wieder darauf Platz genommen hatte.

»Aber wir wollten über eure Heimat sprechen, Gaylen. Und den Grund, aus dem ihr hier seid.«

Das wollte Pia ganz und gar nicht und schwieg.

»Ihr seid also rein zufällig nach WeißWald gekommen«, setzte Istvan neu an, als ihm klar wurde, dass sie nicht von sich aus weitersprechen würde.

»Nein«, antwortete Pia. Sie streckte die Beine aus, sodass Istvan ihre Stiefel sehen konnte. »Ein Geschenk meiner Mutter. Sie meinte, eines Tages könnten sie mir vielleicht von Nutzen sein. Sie haben mich hergeführt.«

Istvan starrte ihre Stiefel an. Lange. Sehr lange. Alica tat dasselbe, und ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

Schließlich nickte der Statthalter. »Deine Mutter scheint mir eine sehr kluge Frau zu sein. Und zugleich sehr dumm, dich auf einen solchen Namen zu taufen.« Er machte eine herrische Geste, zum Zeichen, dass er keine Antwort hören wollte. »Gleichwie. Das ist eine sehr … bemerkenswerte Geschichte, die du da erzählst, Gaylen. Und was habt ihr jetzt vor, deine Freundin und du?«

»Wir wollen wieder nach Hause«, antwortete Pia. »Sobald es das Wetter zulässt, gehen wir zur Küste und versuchen ein Schiff zu finden, das uns zurück in unsere Heimat bringt.« Sie wollte es nicht, aber ihr Blick irrte ganz von selbst wieder zum Nachbartisch und tastete über Brasils zerschlagenes Gesicht. Lasar hatte ihm mittlerweile einen Krug Bier gebracht, und er trank mit kleinen, vorsichtigen Schlucken. Vermutlich tat ihm jede Bewegung weh. Wenigstens hoffte Pia, dass es so war.

»Dann müsst ihr bis zum nächsten Frühjahr warten«, sagte Istvan. Pia versuchte vergeblich, in seiner Miene zu lesen. Sein Gesicht war wie Stein. »Es ist ein weiter Weg bis zur Küste. Ihr werdet keinen Kapitän finden, der sich auf unbekannte Gewässer hinauswagt, wenn die ersten Herbststürme bevorstehen. Nicht ohne Entgelt.«

»Wir haben Geld.« Brack schenkte ihr einen weiteren, verstohlenen Blick, der vorsichtige Erleichterung signalisierte, und Pia zog den Lederbeutel unter dem Mantel hervor, den sie Brasil abgenommen hatte, und legte ihn vor sich auf den Tisch. Brasil starrte sie hasserfüllt an. Istvan nahm den Beutel, warf einen Blick hinein und schüttelte den Kopf.

»Das wird nicht ausreichen, um ein Schiff zu bezahlen.«

»Meine Familie ist nicht arm«, sagte Pia. »Den Kapitän, der uns nach Hause bringt, wird eine großzügige Belohnung erwarten.«

»Trotzdem müsst ihr bis zum Frühjahr hierbleiben«, antwortete Istvan. Er machte keine Anstalten, ihr den Geldbeutel zurückzugeben, sondern schloss die Finger darum. »Was sagen deine Schuhe dazu?«

»Sie haben mich hergebracht«, erwiderte Pia. »Bislang wollen sie nicht wieder weg.«

»Dann solltest du auf sie hören.« Der Lederbeutel verschwand wie weggezaubert unter Istvans Mantel, und Alica legte gleichermaßen missbilligend wie überrascht die Stirn in Falten. Pia schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie wenigstens in diesem Moment klug genug war, die Klappe zu halten. »Wenigstens so lange, bis ich mir darüber klar geworden bin, was ich von deiner Geschichte zu halten habe«, fügte Istvan hinzu. Obwohl er nicht einmal in ihre Richtung gesehen hatte, schien er Alicas Blicke zu spüren, denn er wandte langsam den Kopf und sah sie ebenso stumm wie herausfordernd an.

Eine Herausforderung, die Alica nur zu gerne annehmen würde, wie Pia wusste.

Brack schien das wohl ebenso zu sehen, denn er fragte fast hastig: »Dann können sie bleiben?«

»Vorerst«, antwortete Istvan, wenn auch erst nach einer kurzen unangenehmen Pause. »Aber wovon wollen sie leben?« Der Blick, mit dem er Pia dabei maß, war nicht mehr anzüglich zu nennen. Dafür hätte man ein neues Wort erfinden müssen.

»Das wird schon«, sagte Brack hastig. »Ich habe bereits darüber nachgedacht. Vorerst können sie bei mir wohnen. Alica kann in der Küche helfen, und Gaylen …« Er hob die Schultern. Der Blick, den er Pia verstohlen zuzuwerfen versuchte, wurde beinahe flehend. »Vielleicht sollten wir damit beginnen, sie nicht mehr Gaylen zu nennen.«

»Aber das ist doch ihr Name?«, sagte Istvan lächelnd.

»Schon, aber es könnte doch zu gewissen …«, Brack bemühte sich um ein verlegenes Gesicht und ein ebensolches angedeutetes Schulterzucken, »… peinlichen Verwechslungen führen. Du hast einen zweiten Vornamen, wie du mir vorhin verraten hast?«

Pia beließ es bei einem Nicken. Hätte sie versucht, ihren Namen zu nennen, hätte sie doch wieder nur Gaylen gesagt.

»Pia«, sagte Brack. »Das war er doch, oder?«

Sie nickte auch jetzt nur wortlos. Istvan runzelte die Stirn, und Brack wirkte schon wieder ein wenig hilflos, raffte sich aber zu einem Lächeln auf. »Und wir werden ein wenig an ihrem Aussehen verändern müssen.«

Pia konnte Istvan regelrecht ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sie war nicht imstande, seine Gedanken nachzuvollziehen, aber ziemlich sicher, dass sie ihr ganz bestimmt nicht gefallen würden.

Am Nebentisch leerte Brasil lautstark seinem Bierkrug, rülpste noch lauter und stand umständlich auf, um mit leicht unsicher wirkenden Schritten um den Tisch herumzugehen und schließlich hinter der Theke zu verschwinden. So wie er sich bewegte, hätte man meinen können, dass ihn dieser eine Krug Bier schon betrunken gemacht hatte, in Wahrheit aber, das wusste Pia, bereitete ihm vermutlich jede noch so kleine Bewegung Schmerzen.

Auch Alica hatte Brasil keinen Sekundenbruchteil aus den Augen gelassen, jetzt aber wandte sie sich mit leicht verärgertem Gesichtsausdruck an Pia. »Was sucht der Kerl hier?«

»Was sagt deine Sklavin?«, fragte Istvan, und Pia war plötzlich sehr froh, dass Alica seine Worte nicht verstand.

»Sie wundert sich ein wenig, dass er hier ist«, antwortete sie diplomatisch. Istvan legte fragend den Kopf auf die Seite, und sie fügte fast hastig hinzu: »Nach allem, was heute Morgen passiert ist, hätte ich eher damit gerechnet, dass er uns … nun ja, aus dem Weg geht.«

»Warum sollte er?«, fragte Istvan. »Er wohnt hier.«

Alica blickte nur noch fragender, und Pia wandte sich ehrlich überrascht an Brack. »Ist das wahr?« Ohne Bracks Antwort abzuwarten, übersetzte sie Istvans Antwort für Alica, die noch verstörter wirkte. Erst danach wurde sie vom Wirt mit einem leicht verwunderten Nicken belohnt.

»Ich kann mir meine Gäste nicht aussuchen«, sagte er.

»Womit wir wieder beim Thema wären«, mischte sich Istvan ein. Er klang jetzt ein bisschen ungeduldig. »Ihr scheint gewisse Schwierigkeiten zu haben, euch an unserer Gesetze und Regeln zu halten.« Pia wollte antworten, doch Istvan brachte sie mit einer harschen Geste zum Verstummen. Eine der Regeln, mit denen sie garantiert die eine oder andere Schwierigkeit bekommen würde, war offensichtlich die, nach der Gespräche hier geführt wurden. »Was immer zwischen Brasil und euch auch vorgefallen sein mag, solange es sich außerhalb der Stadtmauern WeißWalds abgespielt hat, spielt es keine Rolle. Weder für ihn noch für euch. Er wird euch nichts antun, dafür stehe ich mit dem Wort des Stadtkommandanten gerade.« Er sah sie an, und nach zwei oder drei Atemzügen verstand Pia, was er von ihr erwartete, und nickte. Das schien Istvan allerdings nicht auszureichen, denn er machte eine entsprechende Geste zu Alica hin, und Pia wiederholte seine Worte. Der Ausdruck auf Alicas Gesicht wurde zu purer Fassungslosigkeit, und auch Istvan sah ein wenig verwirrt aus, die erwartete Übersetzung mit genau denselben Worten zu hören, die er selbst gerade ausgesprochen hatte.

»Du«, fügte Istvan, an Brack gewandt und in fast schon ein wenig drohend klingendem Tonfall hinzu, »bist mir dafür verantwortlich, dass auch Brasil das nicht vergisst. Wenn er noch einmal Ärger macht, könnte es gut sein, dass er den Sommer über ein anderes Quartier bezieht.«

Brack beeilte sich zu nicken. Alica sah den Stadtkommandanten auf eine sehr sonderbare Art an, schürzte dann die Lippen und stand fast gemächlich auf. Istvan schien etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber anders und runzelte nur die Stirn, als die junge Frau langsam um den Tisch herumging und in derselben Richtung verschwand wie Brasil. Pia fragte sich leicht besorgt, was sie dort draußen wollte.

»Sie ist also deine Sklavin«, fuhr Istvan fort, nachdem Alica gegangen war. Er schüttelte den Kopf. »Ist es bei euch üblich, dass sich Sklavinnen das Gesicht bunt anmalen?«

»Ähm … nicht alle«, antwortete Pia unsicher. »Es hat etwas mit ihrem Status zu tun. Je geringer er ist, desto mehr schminken sie sich. Damit man sie von den freien Frauen bei uns unterscheiden kann.« Jetzt war sie wirklich sehr froh, dass Alica nicht mehr in Hörweite war.

Istvans Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, was er von dieser Antwort hielt oder ob er sie überhaupt glaubte, aber er ging auch mit keinem weiteren Wort darauf ein, sondern starrte sie nur noch einen weiteren endlosen Herzschlag lang an und stand dann mit einer irgendwie mühsam wirkenden Bewegung auf. Pia konnte im letzten Moment den Impuls unterdrücken, aus lauter Höflichkeit ebenfalls aufzustehen. Selbst jetzt, wo Istvan sich vor sie hingestellt hatte, konnte sie ihm beinahe auf gleicher Höhe in die Augen sehen. Istvan hätte es vermutlich nicht geschätzt, den Kopf in den Nacken legen zu müssen, um weiter mit ihr zu reden. Warum mussten die Leute hier auch alle so klein sein?

»Also gut, Brack, wir haben uns verstanden«, sagte der Stadtkommandant. »Ich muss in Ruhe nachdenken, wie wir weiterverfahren, und so lange bist du mir für diese beiden Frauen verantwortlich.«

»Selbstverständlich«, sagte Brack hastig. »Macht Euch keine Sorgen, Istvan.«

»Nein, gewiss nicht«, erwiderte Istvan. »Wenn überhaupt, dann solltest du dir Sorgen machen. Dein Gasthaus sollte nicht noch einmal in Verruf geraten. Anderenfalls müsste ich mir ernsthaft überlegen, es zu schließen.«

Und mit diesen – zweifellos sorgsam gewählten – Worten drehte er sich endgültig um und verließ zusammen mit den beiden Wachsoldaten den Schankraum. Ein eisiger Windstoß fauchte herein und ließ Pia unter ihrem Mantel frösteln, als die Männer die Tür hinter sich zuzogen.

Brack starrte die geschlossene Tür noch eine geraume Weile an. Pia konnte seine Sorge spüren. Bei diesem Besuch war es nicht nur um Alica und sie gegangen. Die Spannung zwischen den beiden Männern war unübersehbar gewesen. Etwas war zwischen ihnen vorgefallen; etwas gar nicht Gutes, und Brack war ganz zweifellos nicht der Sieger dabei gewesen. Sie wollte etwas sagen, einfach nur um die unangenehme Stille zu unterbrechen, aber Brack bedeutete ihr nur ein Kopfschütteln mit den Augen und starrte weiter die Tür an, als wäre er fest davon überzeugt, Istvan im nächsten Moment zurückkommen zu sehen.

Stattdessen ging die Tür hinter der Theke auf, und Alica kehrte zurück. Etwas wie die Andeutung eines nicht ganz unterdrückten, sehr zufriedenen Lächelns lag auf ihren Lippen, und als sie näher kam, fiel Pia auf, dass sie sich die Knöchel der rechten Hand mit der linken massierte.

»Wo bist du gewesen?«, fragte sie alarmiert.

»Oh, nur ein bisschen draußen, frische Luft schnappen«, antwortete Alica. »Ist unser Besuch schon gegangen?«

Brack sah sie einen Moment lang verwirrt an, und Pia hoffte schon, dass dieser Ausdruck nur seinem Versuch entsprang, Alicas für ihn unverständliche Worte zu verstehen, dann aber erschien etwas anderes in seinem Blick, und er sprang hastig auf und verschwand beinahe schon rennend hinter der Theke.

»Du hast nicht etwa …?«, begann Pia.

»Was?«, fragte Alica harmlos. »Ich habe mich nur ein bisschen mit Brasil unterhalten. Eigentlich ist er ein ganz netter Kerl … wenn man die richtigen Argumente hat.«

Pia verzichtete darauf, irgendetwas zu erwidern. Sie bedeutete Alica mit einer Kopfbewegung, sich wieder zu setzen, und überzeugte sich dann mit einem schnellen Blick in die Runde, dass sie allein waren. Wenn Lasar sie belauschte, dann tat er es so geschickt, dass sie nichts davon bemerkte. »Ich fürchte, das wird allmählich kompliziert«, sagte sie.

Alica schnaubte. »Wir sollten von hier verschwinden, bevor es etwas ganz anderes wird als nur kompliziert.«

»Gute Idee«, stimmte ihr Pia zu. »Und wohin?«

Alica setzte zu einer sichtlich noch schärferen Antwort an, aber dann schien sie sich daran zu erinnern, was heute Morgen passiert war, und machte nur ein ärgerliches Gesicht.

»Wo wir gerade von kompliziert sprechen«, fuhr sie fort, »täusche ich mich, oder hast du diesem Halsabschneider gerade unser ganzes Geld gegeben?«

»Genau genommen hat er es sich genommen«, antwortete Pia.

»Und wovon«, fragte Alica, »sollen wir jetzt leben?« Sie schien zumindest eine der örtlichen Gewohnheiten bereits angenommen zu haben, nämlich die, Fragen zu stellen und sie auch gleich selbst zu beantworten. »Wir könnten natürlich einen kleinen Ausflug nach draußen machen und darauf hoffen, dass ein weiterer Blödmann auf die Idee kommt, uns zu überfallen. Scheint sich ja zu lohnen.« Sie machte ein noch ärgerlicheres Geräusch. »Nur falls es dir nicht aufgefallen ist, Süße – wir sind jetzt pleite.«

Bevor Pia antworten konnte, kam Brack zurück. Er wirkte gleichermaßen erschrocken wie zornig.

»Was hast du getan?«, wandte er sich an Alica.

Alica sah ihn an, lächelte und hob dann in einer perfekt geschauspielerten Ich-verstehe-dich-leider-nicht-Geste die Schultern. Brack wirkte nur noch zorniger.

»Schon gut«, sagte Pia hastig. »Ich rede mit ihr.«

»Ach?«, fragte Alica harmlos. »Worüber?«

»Das würde ich dir auch raten«, sagte Brack aufgebracht. »Du hast Istvan gehört. Er ist für die Sicherheit hier in WeißWald verantwortlich, und er nimmt diese Aufgabe sehr ernst.«

»Und er ist nicht unbedingt dein Freund«, vermutete Pia.

»Istvan ist niemandes Freund«, antwortete Brack. »Nicht einmal sein eigener. Dass er euch gestattet, vorerst hierzubleiben, ist schon beinahe mehr, als ich erwartet habe. Und er hat dir nicht geglaubt.«

»Die Geschichte von meiner Heimat?«, vermutete Pia.

»Kein Wort«, bestätigte Brack. »Danke Kronn dafür, dass er nicht weiß, wo ich euch vorhin aufgegriffen habe. Wenn er es erfährt, findet ihr euch schneller im Kerker wieder, als ihr euch das nur vorstellen könnt.«

»Der Turm des Hochkönigs? Ich wusste nicht, dass es verboten ist, dorthin zu gehen.«

»Das ist es auch nicht«, sagte Brack. »Aber niemand geht dorthin. Es ist ein schlechter Ort. Die Menschen fürchten ihn. Istvan könnte auf falsche Gedanken kommen, wenn er erfährt, dass ihr euch dafür interessiert.«

»Wir sind fremd hier«, erinnerte Pia. »Wir interessieren uns für alles.«

Aus irgendeinem Grund schienen diese Worte Brack eher zu erschrecken, statt zu beruhigen. »Und das solltet ihr noch viel weniger sagen.« Er machte eine Bewegung, wie um sich zu setzen, überlegte es sich dann anders und trat lediglich auf die andere Seite des Tisches, weiter weg vom Kamin, dessen Wärme ihm offensichtlich unangenehm war. »Ihr habt Istvan gehört. Ihr seid jetzt meine Gäste, und damit bin ich für euch verantwortlich. Für alles, was ihr tut oder sagt. Wenn du mir also Schwierigkeiten machen willst, dann nur weiter so.«

Natürlich war das nichts anderes als ein durchsichtiger Versuch, an ihr schlechtes Gewissen zu appellieren, wie Pia sehr wohl begriff – aber er funktionierte. »Das liegt nicht in meiner Absicht.« Alica setzte schon wieder dazu an, etwas zu sagen, und Pia fuhr eine Spur lauter fort: »Vielleicht ist es das Beste, wenn Alica und ich jetzt auf unser Zimmer gehen und uns eine Weile beraten.«

»Beraten?«, fragte Alica. »Worüber?«

Pia ignorierte sie.

»Das ist vielleicht eine gute Idee«, sagte Brack. »Ich … muss auch über das eine oder andere nachdenken. Vielleicht ist es am besten, wenn ihr nach oben geht.« Sein Blick irrte zur Theke, genauer gesagt zu der Tür, die sich in den Schatten dahinter verbarg. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber Pia entging seine Besorgnis keineswegs.

»Das passiert nicht noch einmal«, versprach sie. »Und was Brasil angeht …«

»Mach dir um diesen Dummkopf keine Sorgen«, unterbrach sie Brack. Er unterstrich seine Worte mit einer wegwerfenden Geste, die Pias Meinung nach ein bisschen zu überzeugt ausfiel. »Ich habe ihm klargemacht, dass es besser für ihn ist, wenn er diesen kleinen Zwischenfall … äh … vergisst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm daran gelegen ist, wenn ganz WeißWald davon erfährt.«

Pia lächelte zwar flüchtig, dennoch war sie ziemlich sicher, dass Alica draußen auf dem Hof gerade nicht nur Brasil mit Füßen getreten hatte. Sie signalisierte Brack noch einmal mit einem stummen Blick, sich um die Angelegenheit zu kümmern, bedeutete Alica mit einer sehr viel unwilligeren Geste, vorauszugehen, und steuerte dann die Treppe an. Alica tat zwar ihr Möglichstes, um sie mit Blicken aufzuspießen, aber sie gehorchte ihr auch.

Bis sie ihr Zimmer im ersten Stockwerk erreicht hatten, hieß das. »Sklavin, wie?«, fauchte sie. Die Worte gingen beinahe in dem Knall unter, mit dem sie die Tür hinter sich zuwarf.

»Das … hast du verstanden?«, murmelte Pia betroffen.

»Ich verstehe jedes Wort, das Ihr sagt, Prinzessin Gaylen«, erinnerte Alica spöttisch. Der Blick, mit dem sie Pia dabei maß, war allerdings alles andere. Sie brodelte innerlich vor Wut.

Ein bisschen konnte Pia ihre Reaktion ja sogar verstehen, fand sie aber zugleich auch hoffnungslos übertrieben. »Alica, bitte«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Meinst du nicht, dass wir im Moment Wichtigeres zu tun haben, als uns über diesen Unsinn zu streiten?«

»Ganz wie Ihr befehlt, Prinzessin«, erwiderte Alica und machte einen übertriebenen Hofknicks. Ziemlich gekonnt, fand Pia.

»Das Ganze hier könnte in einer Katastrophe enden«, sagte sie ernst. »Das ist dir doch klar, oder?«

»Könnte?«, ächzte Alica. Sie machte eine empört wirkende Geste zum Fenster hin. »Also, wenn du das da draußen nicht als Katastrophe bezeichnest, dann müssen wir uns vielleicht erst einmal über die genaue Bedeutung dieses Wortes unterhalten!«

»Damit hast du vollkommen recht«, sagte Pia.

»Ach?«

»Aber es wird nicht besser, wenn wir uns gegenseitig an die Kehle gehen«, fuhr sie fort. »Wir müssen jetzt vor allem einen klaren Kopf bewahren. Du hast diesen Istvan gesehen, und du hast gehört, was er gesagt hat.«

»Gehört schon, aber nicht verstanden«, entgegnete Alica. »Dafür habe ich umso deutlicher gesehen, wie er dich angestarrt hat.«

»Was meinst du damit?«

»Noch nie mit einem Blinden gesprochen?«

»Wie?«, fragte Pia verwirrt.

»Der hätte es dir erklären können«, fuhr Alica mit einem bekräftigenden Nicken fort. »Wenn der eine Sinn ausfällt, dann werden die anderen dafür umso schärfer.« Sie machte eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger zum Ohr. »Ich bin im Moment vielleicht ein bisschen taub, aber noch lange nicht blind!« Alica machte ein obszönes Geräusch. »Der Kerl hat dich mit Blicken doch regelrecht ausgezogen! Und jetzt erzähl mir bitte nicht, das wäre dir gar nicht aufgefallen!«

Aber das war es nicht. Istvan hatte sie sonderbar angesehen, das stimmte … doch ganz und gar nicht so, wie Alica anzunehmen schien. Außerdem … Pia sah an sich hinab und schüttelte den Kopf, um ihre eigene Einschätzung noch einmal zu bekräftigen. Sie bot im Moment nun wirklich keinen verführerischen Anblick. Der zerschlissene Umhang, den sie trug, hätte bei ihnen zu Hause allenfalls noch Verwendung als Hundedecke gefunden (für einen Hund, den dessen Besitzer nicht besonders leiden konnte), und darüber hinaus verbarg er ihre Figur nicht nur vollständig, sondern entstellte sie regelrecht. Sie trug noch immer das Kopftuch, das das Schönste an ihr – ihr Haar – versteckte, und obwohl sie nicht in einen Spiegel gesehen hatte, wusste sie einfach, dass ihr Gesicht ebenso müde wie schmutzig aussah. Ihre Finger waren aufgerissen und verschorft, und die dunklen Ränder unter ihren Fingernägeln waren zu einem Gutteil eingetrocknetes Blut, von dem sie selbst nicht genau sagen konnte, von wem es stammte. Die Säume ihrer Jeans, die darunter hervorlugten, waren zerrissen, völlig verdreckt. Vielleicht hatte Istvan vorhin ja gar nicht ihre Stiefel so nachdenklich angestarrt …

Dann wurde ihr klar, was für einen Unsinn sie dachte, und sie musste selbst darüber lachen.

»Was ist so komisch?«, wollte Alica wissen.

»Nichts«, antwortete Pia. Ihr Lächeln erlosch so schnell, wie es gekommen war, und ließ ein Gefühl von Leere zurück, das beinahe körperlich wehtat. »Nichts«, sagte sie noch einmal, streifte den Umhang ab und warf ihn achtlos aufs Bett, während sie wieder an das schmale Fenster trat und hinausblickte.

Das Bild dort unten hatte sich nicht verändert, allenfalls der Anteil von Weiß darin war größer geworden. Es hatte den ganzen Vormittag über leicht geschneit, und die Straßen waren jetzt von einer dünnen Schicht aus gefrorenem Morast bedeckt, die das lautlose weiße Rieseln vom Himmel schneller erneuerte, als die wenigen Passanten, die es im Moment dort unten gab, sie zertreten konnten. Pias Blicke tasteten beinahe ohne ihr Zutun kurz und prüfend jede einzelne Gestalt ab, aber sie erblickte nichts Verdächtiges.

In Wahrheit sah sie weder die bizarr geformten, schmalen Häuser noch die kleinwüchsigen Gestalten, die sich zwischen ihnen bewegten. Viel … unheimlicher war das, was sie spürte.

Es war genau wie beim ersten Mal, als sie an diesem Fenster gestanden und hinausgeblickt hatte, nur war das Gefühl jetzt ungleich intensiver, und sie war sich seines sehr viel bewusster. Sie war noch nie hier gewesen. Noch vor einem Tag hätte sie nicht einmal von einem solchen Ortgeträumt. Und doch war ihr alles hier vertraut; nicht in der Art eines Ortes, den sie kannte, aber eines Ortes, an den sie gehörte. So absurd es ihr selbst vorkam: Sie fühlte sich hier zu Hause.

Und wenn alles wahr ist?, dachte sie. Wenn Prinzessin Gaylen und ich …

Zornig auf sich selbst drehte sie sich mit einem Ruck vom Fenster weg und brach den Gedanken ab, der erstens vollkommen unsinnig war und den sie zweitens auch gar nicht denken wollte.

Alica deutete ihre Reaktion falsch: »Sag nicht, da ist schon wieder einer von den Kerlen.«

Pia verstand auf Anhieb nicht einmal, wovon sie sprach. Dann schüttelte sie umso heftiger den Kopf. »Nein. Keine Angst. Sie sind nicht hier.«

»Und woher willst du das wissen?«, fragte Alica.

Weil ich es spüren würde. Was voll und ganz der Wahrheit entsprach … aber Alica diese Antwort zu geben, hätte die fruchtlose Diskussion von heute Morgen nur wieder neu entfacht. Sie hob die Schultern. »Warum hätte der Kerl uns allein verfolgen sollen, wenn seine Kumpels hier wären?«

»Vielleicht hat er uns ja einfach unterschätzt. Zwei hilflose junge Frauen, die es ganz bestimmt nicht mit einem gestandenen Mann aufnehmen können?« Alica lachte, leise und ohne echten Humor. »Und jetzt ist er tot. Dumm gelaufen.«

Dieses Mal stimmte Pia nicht in ihr Lächeln ein. Doch sie konnte Alica verstehen. Der Fremde hätte sie umgebracht, ohne mit der Wimper zu zucken – oder ihnen Schlimmeres angetan –, und sie hatte ihn ja nicht einmal selbst getötet. Warum fühlte sie sich dann so, als hätte sie es getan?

»Vielleicht sollten wir zuerst einmal herausfinden, wer die Kerle überhaupt sind und was sie von dir wollen.« Alica gähnte ungeniert, ließ den Umhang mit einer achtlosen Bewegung von den Schultern zu Boden gleiten und setzte sich auf das vom Morgen noch ungemachte Bett. Als Pia sich wieder zum Fenster drehte, konnte sie hören, wie sie sich nach hinten sinken ließ und noch einmal und noch ausgiebiger gähnte.

»Woher willst du eigentlich so genau wissen, dass sie hinter mir her sind, und nicht hinter dir?«

»Weil ich niemandem zwei Millionen geklaut habe«, antwortete Alica. »Außerdem: Wer ist denn hier die verschollene Elfenprinzessin? Du oder ich?«

»Ich«, antwortete Pia. »Aber nur, wenn du dann auch wirklich meine Sklavin bist.«

Sie bekam keine Antwort, und als sie sich nach einigen Sekunden wieder vom Fenster abwandte, sah sie, dass Alica eingeschlafen war, in derselben unbequemen Haltung, in der sie sich gerade zurückgelehnt hatte: beide Füße noch auf dem Boden und mit überdehntem Nacken. Wenn sie in dieser Haltung länger als ein paar Minuten schlief, dann würde sie mit grässlichen Rücken- und Nackenschmerzen aufwachen und vermutlich noch schlechter gelaunt sein. Kopfschüttelnd und mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, dessen sie sich nicht einmal bewusst war, bugsierte Pia sie in eine Position, aus der sie wenigstens nicht mit dem Gefühl aufwachen würde, eine Woche auf einer mittelalterlichen Streckbank verbracht zu haben; und das so behutsam, dass Alica dabei nicht wach wurde. Sie bewunderte Alica beinahe dafür, sich in einem Moment wie diesem einfach hinlegen und schlafen zu können, als wäre gar nichts geschehen, empfand zugleich aber auch einen dünnen Stich von Neid. Sie selbst würde wahrscheinlich für die nächsten drei Monate kein Auge mehr zutun können …

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