XXVIII

Hinterher kam es ihr vor, als hätte es eine Stunde gedauert, in der sie einfach nur dagestanden und das so vertraute Gesicht unter dem stoppelkurz geschnittenen schwarzen Haar angestarrt hatte, auch wenn es in Wahrheit wohl nur ein paar Sekunden gewesen waren. Schließlich blinzelte der muskelbepackte Riese und zwang einen fragenden Ausdruck auf seine Züge. »Erhabene?«

»Du bist … Sie … Sie sind nicht …«, stammelte sie. »Jesus?« Allein die Frage zu stellen, kam ihr selbst schon beinahe absurd vor. Es war Jesus, daran gab es nicht den allermindesten Zweifel. Sie kannte jeden Quadratmillimeter seines Gesichts, jede Linie und winzige Falte darin, jede Pore seiner Haut. Es war sein Gesicht, es waren seine Augen und seine Stimme, und noch viel eindeutiger als das, was sie sah, war das, was sie fühlte. Es war Jesus.

Und zugleich war er es auch wieder nicht. Alles Vertraute an ihm war da, alles, was sie seit so vielen Jahren kannte und liebte, aber da war auch noch mehr, eine zusätzliche Komponente, die ihn nicht wirklich zu einem Fremden machte, aber seine Persönlichkeit um Facetten bereicherte, die es bei dem anderen Jesus nie gegeben hatte.

»Ter … Lion?«, murmelte sie.

Jesus/Ter Lion nickte. »Das ist mein Name. Mein Name und mein Rang. Eine gemeinsame Freundin hat mich gebeten, mich um Euch zu kümmern und dafür zu sorgen, dass Ihr sicher zur Küste gelangt.«

»Valoren?«, vermutete Pia. Es fiel ihr immer noch schwer, ihre Gedanken so weit zu ordnen, dass sie wenigstens reden konnte. Und es fiel ihr noch sehr viel schwerer, sich selbst davon zu überzeugen, dass der Zweimeterriese vor ihr nicht Jesus war.

»Sie hat Euch meinen Namen nicht genannt?«, fragte Ter Lion/Jesus und schenkte Nani gleichzeitig einen leicht vorwurfsvollen Blick. Nani wollte antworten, doch Pia kam ihr zuvor.

»Doch, das hat sie«, sagte sie rasch. »Ich hatte nur … jemand anderes erwartet.«

»Keinen Soldaten der Garde?« Lion lachte, und es war so genau Jesus’ vertrautes, gutmütiges Lachen, dass Pia für einen Moment die Augen schloss und fest davon überzeugt war, sich in ihrem Zimmer in den Favelas wiederzufinden, sobald sie die Lider hob.

Als sie es tat, stand Ter Lion noch immer vor ihr, und hinter ihm erhoben sich die blassen Stämme des Schlingwaldes, die im Schein des Mondlichts mehr denn je wie die gebleichten Knochen mythischer Urzeitwesen aussahen.

»Ich bin vieles, wenn Ihr es wünscht, Gaylen«, sagte er ernst. »Ich war nicht sicher, ob es Euch gelingt, die Stadt zu verlassen, sodass ich mir vorsichtshalber eine passende Verkleidung zugelegt habe.«

Pia blinzelte ein paarmal und stellte eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Ter Lion und seinem Doppelgänger aus der richtigen Welt fest: Beide waren mutig und zweifellos ebenso treu, aber manchmal auch ein wenig dämlich. Hatte er allen Ernstes gedacht, sich in der Verkleidung eines Gardesoldaten in eine Stadt zu schleichen, deren Bewohner im Schnitt gerade einmal halb so groß waren wie er?

Ein sonderbar keuchender Laut erinnerte sie daran, dass Alica auch noch da war. Sie wandte den Kopf und machte eine rasche Handbewegung, als Alica dazu ansetzte, etwas zu sagen.

»Frag erst gar nicht«, sagte sie.

Natürlich fragte Alica trotzdem. »Was … was sucht der denn hier?«, stammelte sie.

»Das erkläre ich dir später«, sagte Pia. »Aber er ist nicht der, für den du ihn hältst.«

»Das ist Jesus!«, sagte Alica überzeugt.

»Nein«, antwortete Pia. »Oder doch, ja, irgendwie schon. Aber eigentlich auch nicht.«

»Aha«, sagte Alica. Sie starrte Ter Lion aus aufgerissenen Augen an, schlug die Kapuze zurück und fuhr sich mehrmals und mit beiden Händen durch das Gesicht, woraufhin immerhin etwa ein Zehntel ihrer (schlammigen) Haut zum Vorschein kam.

»Eure Dienerin spricht unsere Sprache nicht?«, erkundigte sich Ter Lion. Immerhin bezeichnete er sie als Dienerin, nicht als Sklavin, was schon mal ein Fortschritt war. Trotzdem verbesserte ihn Pia schon fast automatisch: »Alica ist meine Freundin, nicht meine Dienerin.«

»Eure Freundin«, bestätigte er. »Gut. Sie weiß, wer ich bin?«

»Ja«, seufzte Pia. »Wahrscheinlich besser, als du ahnst.« Ter Lion sah sie verwirrt an, und Pia fügte mit einem hastigen Nicken hinzu: »Ja.«

»Gut«, sagte Lion noch einmal, setzte seinen albernen Helm wieder auf und deutete dann mit einer flatternden Handbewegung auf den stecken gebliebenen Wagen. »Und jetzt sollten wir sehen, dass wir dieses famose Gefährt wieder flottbekommen. Die anderen warten beim Tränensee auf uns, aber bis dorthin ist es noch ein weiter Weg, und ich möchte ihre Geduld nicht länger als unbedingt nötig strapazieren. Fangt an, ihn zu entladen.«

Nanis Söhne und auch Lasar machten sich unverzüglich ans Werk, und auch Pia hätte mit zugegriffen, doch Nani scheuchte sie mit einer fast empörten Geste zurück.

»Ich bitte Euch, Erhabene! Das ist nun wirklich keine Arbeit für Euch!«

»Aber ich …«

»Und außerdem wissen meine Söhne ohnehin besser, was zu tun ist«, schnitt ihr Nani das Wort ab, zwar durchaus ehrerbietig, aber zugleich in einem Ton, zu dem in seiner devoten Unverschämtheit nur Dienstboten fähig sind.

Pia sah ein, wie sinnlos es war, sich auf eine Diskussion über dieses Thema einzulassen, und trat gehorsam ein paar Schritte zurück.

»Und?«, fragte Alica spitz. »Würdest du mir jetzt verraten, was hier eigentlich los ist? Wer ist dieser Kerl? Das ist doch Jesus!«

»Das ist Ter Lion.«

»Und zugleich auch Jesus?«

»Irgendwie … schon«, gestand Pia. »Aber auch nicht. Ich erkläre es dir, sobald ich es selbst verstanden habe.«

»Hm«, machte Alica missmutig, sah sich noch missmutiger um und stapfte schließlich zu einer schlammigen Pfütze, vor der sie sich in die Hocke sinken ließ, um sich zwei Hände voll eiskaltes Schlammwasser ins Gesicht zu schöpfen. Anscheinend war sie der Meinung, dadurch sauberer zu werden.

Wie sich zeigte, hatte Nani durchaus die Wahrheit gesagt, als sie angedeutet hatte, dass Pias Hilfe nicht nur nicht nötig war, sondern sie höchstens stören würde. Ter Lion und ihre Söhne befreiten den Wagen in überraschend kurzer Zeit von gut der Hälfte seiner Ladung, und den Rest erledigte Lion auf seine ganz eigene Art und zugleich ganz genau so, wie sie es auch von Jesus erwartet hätte: Er scheuchte Lasar und die vier anderen Knirpse mit einer unwilligen Handbewegung weg, nahm hinter dem gestrandeten Wagen Aufstellung und zwängte die Hände unter dessen halb im Morast versunkenen Rand. Der Ochse am anderen Ende des Gefährtes stieß ein überraschtes Brüllen aus, als er seine gewaltigen Muskeln anspannte und den Wagen ganz allein aus dem Morast hob.

»So, so«, sagte Alica spöttisch. »Das ist also nicht Jesus, wie?«

Pia antwortete nicht darauf, sondern half lieber mit, den Wagen wieder zu beladen. Fast zu ihrer Überraschung schien Nani dagegen nichts einzuwenden zu haben, aber als Lasar und einer ihrer Söhne nach dem zusammengerollten Zelt greifen wollten, machte sie eine abwehrende Geste. »Im Grunde können wir den ganzen Kram hierlassen«, sagte sie. »Ich brauche es sowieso nicht mehr und das zusätzliche Gewicht hält uns nur auf.«

»Ein durchaus berechtigter Einwand«, sagte Lion, und sein Blick fügte hinzu: Auch wenn dir diese Idee vielleicht ein bisschen früher hätte kommen können. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Wir nehmen es trotzdem mit. Ich müsste mich sehr in Istvan täuschen, wenn er seine Männer nicht auf die eine oder andere Patrouille schickt. Sie könnten sich fragen, warum ihr euch die Mühe gemacht habt, diese Sachen bis hierherzuschleppen, nur um sie dann zurückzulassen.«

Niemand konnte wirklich etwas vorbringen, um dieses Argument zu entkräften, und so setzten Lasar und die anderen ihre Arbeit fort. Schon nach wenigen Minuten war auch das letzte Stück wieder verladen und – dank Ter Lions kritischen Blicken und einer gelegentlichen Anmerkung – deutlich sicherer verzurrt als zuvor. Pia ging ein paar Schritt weit auf dem Weg zurück, um ihr Bündel zu holen, das sie abgelegt hatte, damit sie beide Hände frei hatte. Nani bedachte es mit mindestens genauso neugierigen Blicken wie zuvor, und Ter Lion fragte ganz unverblümt: »Was ist das?«

»Etwas … Privates«, antwortete Pia.

Lion runzelte zwar die Stirn, gab sich aber mit dieser Antwort zufrieden, doch Alica sagte:

»Warum zeigst du es ihnen nicht? Früher oder später sehen sie es ja doch, und so hören sie wenigstens auf zu nörgeln.«

Wahrscheinlich hatte sie damit recht, dachte Pia. Der Gedanke gefiel ihr zwar immer noch nicht, aber sie zuckte trotzdem nur mit dem Achseln und schlug die zerschlissene Decke zurück, in die Lasar die gläserne Waffe gewickelt hatte … nachdem sie sich vorher genauestens überzeugt hatte, an welchem Ende sich der Griff befand. Die haarfeinen Schnitte in ihren Fingerspitzen taten zwar nicht mehr weh, aber sie hatte sie nicht vergessen, ebenso wenig wie den abgeschnittenen Bettpfosten und den armlangen Schnitt in der Wand ihres Schlafzimmers.

Sie hatte mit einer gewissen Reaktion gerechnet, als sie das Schwert auswickelte, aber nicht mit der, die sie dann tatsächlich bekam. Alica und Lasar kannten die Waffe. Alica reagierte gar nicht und in Lasars Augen leuchtete nur ein deutlicher Ausdruck von Stolz auf. Nanis Söhne jedoch fuhren eindeutig erschrocken zusammen und prallten zurück, und Nani selbst riss die Augen auf und schlug mit einem kleinen, überraschten Laut die flache Hand vor den Mund. Eine Sekunde später sank sie auf die Knie und senkte den Kopf so weit, dass ihre Stirn fast den Boden berührte.

»Erhabene«, hauchte sie.

Pia warf ihr einen leicht irritierten Blick zu und wandte sich dann zu Ter Lion um. Auch er wirkte überrascht und fast ein bisschen schockiert, hatte sich aber deutlich besser in der Gewalt als die Schaustellerin. »Woher habt Ihr das?«, fragte er nur.

»Ich habe es gefunden«, antwortete Pia (beinahe) wahrheitsgemäß.

»Gefunden? Und wo?«

»Im Thronsaal im Turm des Hochkönigs«, antwortete Pia. »Es lag einfach so da.«

Lion nickte. Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Ihr wisst, was Ihr da habt?«

»Das ist Eiranns Zorn«, antwortete Pia. »Ja, aber jetzt frag mich nicht, woher ich das weiß. Ich weiß es einfach.«

Ter Lion wirkte nicht überrascht. Doch der Blick, mit dem er sie maß, wurde noch einmal um mehrere Grade sonderbarer. »Aber du weißt nicht, was es wirklich ist.«

»Ein Schwert«, antwortete Pia. »Ein ganz besonders kostbares Schwert, nehme ich an.«

»Das ist nicht nur irgendein Schwert«, antwortete Lion ruhig.

»Das ist Eiranns Zorn«, flüsterte Nani. »Das wirkliche und echte Eiranns Zorn! Ihr seid es! Bei Kronn, Ihr seid es! Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr!« Sie verbeugte sich noch tiefer, und nach einem weiteren Atemzug sanken auch ihre Söhne einer nach dem anderem auf die Knie und verbeugten sich tief.

»He, Moment mal!«, sagte Pia. »Was soll denn der Unsinn? Ich dachte, über diese Phase wären wir hinaus!«

»Es ist kein Unsinn, Gaylen«, sagte Lion ernst. »Wenn das wirklich Eiranns Zorn ist, dann kann nur Eirann selbst es berühren – oder Prinzessin Gaylen, für die diese Waffe vor tausend Jahren geschmiedet worden ist.«

»Alica hat es ebenfalls berührt und Lasar auch«, sagte Pia.

»Aber keinem von ihnen hätte Eiranns Zorn seine Macht verliehen«, antwortete Lion.

»Und ich habe es nicht berührt«, sagte Lasar. »Es war schon in die Decke gewickelt, als ich es unter Eurem Bett gefunden habe.«

»Dann danke Kronn dafür, mein Junge«, sagte Lion. »Es heißt, dieses Schwert verzehrt die Seele eines jeden, der es unberechtigt zu führen versucht.«

Pia musste an das unheimliche Wispern und Locken denken, das sie tief in sich gespürt hatte, als sie das Schwert in der Hand gehalten hatte, verscheuchte den Gedanken dann beinahe erschrocken und hielt Ter Lion die Waffe hin. »Das ist Unsinn! Es ist ein ganz normales Schwert! Hier, überzeug dich selbst!«

Lion hatte nicht vor, sich von irgendetwas zu überzeugen, sondern prallte ganz im Gegenteil fast entsetzt einen Schritt zurück. Pia wäre nicht im Mindesten überrascht gewesen, wenn er sich bekreuzigt hätte. »O nein«, sagte er. »Ich werde es gewiss nicht anfassen. Niemand darf das, in dessen Adern nicht das Blut des alten Elfengeschlechts fließt! Der Preis wäre furchtbar!« Er deutete nervös auf Alica. »Wenn Eure Freundin es wirklich berührt hat, so hat sie großes Glück, noch am Leben und nicht ihrer Seele verlustig gegangen zu sein.«

Pia bezweifelte, dass Alica so etwas wie eine Seele hatte, aber sie schluckte die Bemerkung im letzten Moment hinunter.

»Was … hat er gesagt?«, fragte Alica nervös, der Lions erschrockene Reaktion nicht entgangen war.

»Äh … nichts«, sagte Pia. »Er hatte … ähm … Angst, dass du dich an der Klinge verletzt haben könntest. Sie ist sehr scharf.«

»Ja, wie eine von uns ja am eigenen Leib gespürt hat«, antwortete Alica, zwar spitz, aber auch in immer noch misstrauischem Ton.

»Wenn man es genau nimmt, habe ich das nicht gesagt«, sagte Ter Lion. »Aber ich verstehe, wenn du deine Freundin nicht beunruhigen möchtest.« Er deutete nervös auf das Schwert. »Vielleicht solltest du es wieder verbergen oder wenigstens unter deinem Mantel tragen. Sein Anblick könnte den einen oder anderen … nervös machen.«

Wie ihn zum Beispiel? Pia brachte es nicht über sich, die Waffe unter ihrem Mantel zu verbergen, wie Lion es vorgeschlagen hatte, aber sie griff die Alternative auf und wickelte Eiranns Zorn wieder in die Decke; was ihn zumindest halb zufriedenzustellen schien.

»Also gut«, sagte er, räusperte sich ebenso gekünstelt wie übertrieben und fuhr dann in verändertem Tonfall fort. »Wir haben jetzt wirklich genug Zeit verloren. Lasst uns aufbrechen.«

Nanis Söhne sprangen hastig auf, um seinem Befehl Folge zu leisten, während Nani selbst Mühe zu haben schien, wieder in die Höhe zu kommen. Pia wollte ganz instinktiv die Hand ausstrecken, um ihr aufzuhelfen, aber irgendetwas sagte ihr, dass das im Moment vielleicht die falscheste aller möglichen Reaktionen sei, und so bat sie Alica mit einem stummen Blick, es für sie zu tun.

»Du lernst schnell«, sagte Lion anerkennend.

Pia wartete ganz bewusst, bis Alica der alten Frau aufgeholfen und sie sich weit genug entfernt hatten, um nicht mehr jedes Wort zu verstehen. Sie wartete auch ab, bis sich der Wagen ein kleines Stück entfernt hatte, bevor sie ihm folgte.

»Das ist wohl das Mindeste, was ich ihr schuldig bin«, sagte sie. Lion runzelte die Stirn, aber sie konnte nicht sagen, ob sein fragender Blick tatsächlich ihren Worten galt oder vielleicht vielmehr dem bitteren Ton, der sich plötzlich in ihre Stimme geschlichen hatte.

»Du machst dir Vorwürfe«, vermutete er. »Wegen dem, was mit ihrem Mann geschehen ist.«

»Du weißt davon?«

»Jedermann weiß, was geschehen ist«, antwortete Lion. »Flammenhuf ist zurückgekommen. Und jedermann weiß, wer dafür gesorgt hat.«

»Dann weißt du ja auch, dass es meine Schuld ist.«

»Dass diesem edelsten aller Tiere die Freiheit zurückgegeben wurde?«

»Dass ihr Mann tot ist!«, antwortete sie. » Nur, falls es dir entgangen sein sollte: Er ist ums Leben gekommen, als ich Flammenhuf die Freiheit wiedergegeben habe. Ihr Mann ist tot, ihr Geschäft ist ruiniert, und Nani und ihre Söhne werden mit ein bisschen Pech für den Rest ihres Lebens auf der Flucht vor Istvans Soldaten sein. O ja, ich lerne wirklich schnell. Gibt es einen Weg, wie ich noch schneller und noch mehr Schaden anrichten kann?«

»Schaden?« Lion sah ein bisschen hilflos aus. »Du hast sie glücklich gemacht! Hast du denn nicht gesehen, wie sie auf den Anblick des Schwertes reagiert hat?«

»Eines Schwertes, von dem niemand weiß, ob es echt ist oder nur eine Fälschung.« Lion wollte antworten, doch Pia fuhr in noch schärferem Ton fort: »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich wirklich die bin, für die mich jeder hier zu halten scheint! Was ist, wenn ich es nicht bin?«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Lion.

»Wie?«

»Für Nani«, antwortete er. »Sie hat mehr erreicht, als sie sich jemals zu erträumen gewagt hätte. Seht sie Euch an, Gaylen! Sie ist eine verbitterte alte Frau, der das Leben sehr wenig geschenkt hat, aber dafür umso mehr genommen.«

»Wie ihren Mann zum Beispiel?«, fragte Pia.

»Sie hat nicht mehr lange zu leben«, fuhr Lion ungerührt fort. »So oder so bleiben ihr nur noch wenige Jahre. Was hätten diese Jahre für sie bereitgehalten?«

»Ein friedliches Leben?«

»Ein Leben als Betrügerin«, sagte Lion. »Sie und ihr Mann sind über die Jahrmärkte gezogen, jahrein, jahraus und von Stadt zu Stadt. Sie haben in einem schmutzigen Zelt gelebt, gehungert und gefroren und den Menschen einen falschen Pegasus gezeigt.«

»Er war nicht falsch!«

»Was sie nicht wussten.« Ter Lion schüttelte den Kopf und brachte sie mit einer zusätzlichen Geste zum Schweigen, aber das Lächeln, das noch immer irgendwo tief in seinen Augen war, wurde weicher. »Es spielt keine Rolle, ob sie die ganze Zeit über den wirklichen König Pegasus in ihrer Gewalt hatten oder nicht. Sie haben geglaubt, es sei ein Betrug, und jeder, der in ihr Zelt genommen ist, auch.«

»Und?«, fragte Pia verwirrt.

»Denkt Ihr nicht, dass sie darunter gelitten hat, Erhabene?«, fragte Lion, wobei er das Wort Erhabene auf eine ganz besondere Art betonte.

»Gelitten?«

»Ich glaube nicht, dass es ein schönes Gefühl ist, sein Leben als Betrüger zu fristen«, sagte Lion. »Das erstaunt Euch, wie ich sehe? Ihr glaubt, ein Betrüger hätte kein Anrecht auf ein Gewissen?«

»Nein«, antwortete Pia. »Ich meine: doch, natürlich. Aber wenn ihr das Gewissen so sehr zu schaffen macht, warum hat sie es dann getan?«

»Weil sie keine andere Wahl hatte?«, schlug Lion vor. »Ich weiß nicht, woher Ihr kommt, Prinzessin Gaylen, und wie die Menschen dort leben. Aber hier müssen sie das nehmen, was das Schicksal ihnen zuweist. O nein, sie hatte kein leichtes Leben. Die wenigsten hier haben das. Und dann, als es schon fast vorüber scheint, als sie sich längst damit abgefunden hat, dass es nur noch schlimmer werden kann und das Leben nicht mehr für sie bereithält als noch mehr Schmerz und Leid, dann kommt Ihr. Seit tausend Jahren warten wir auf die Rückkehr der verschollenen Elfenprinzessin … und dann kehrt sie zurück, und Nani ist es, die sie findet. Ihr habt sie glücklich gemacht, Gaylen. Ich weiß nicht, warum Ihr Euch weigert, es zuzugeben, aber Ihr habt dieser alten Frau das größte Geschenk gemacht, das ein Mensch einem anderen machen kann.«

»Und wenn sich herausstellt, dass ich es nicht bin?«

»Dann spielt das auch keine Rolle«, antwortete Lion. »Was auch immer geschehen mag und was auch immer irgendjemand zu ihr sagt, für sie werdet Ihr stets Gaylen bleiben. Und für Nani ist es gut so.« Er lachte leise. »Warum wehrt Ihr Euch so sehr gegen den Gedanken, etwas Gutes getan zu haben?«

»Weil ich nicht sicher bin, ob es wirklich gut ist«, antwortete Pia ernst. »Und weil es vielleicht gelogen ist.«

»Gelogen?« Lion machte ein gewichtiges Gesicht. »Ein großes Wort. Unsere Welt besteht aus Lügen, Gaylen. Die, aus der Ihr kommt, nicht?«

»Hm«, machte Pia.

Lion lächelte knapp. »Ist das ein Wort aus Eurer Muttersprache, das Ja bedeutet?«

»Und du?«, fragte Pia, statt ihm direkt zu antworten. »Glaubst du auch, dass ich die echte Gaylen bin?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Lion mit unerwarteter Offenheit. »Etwas … ist an Euch anders, so viel ist klar. Ihr seid nicht die Erste, die behauptet, die wiedergeborene Gaylen zu sein.«

»Das habe ich nie behauptet!«

»Und auch nicht die Erste, die tatsächlich glaubt, es zu sein. Wir werden herausfinden, ob Ihr es seid oder nicht. Sobald Ihr mit Eirann gesprochen habt …«

Pia blieb mitten im Schritt stehen und riss die Augen auf. »Eirann?!«

»Keine Sorge!« Lion hob beruhigend die Hand. »Jedes zweite dahergelaufene Spitzohr nennt sich Eirann. Er wartet auf uns am Ufer des Tränensees. Er war es, der Valoren beauftragt hat, nach Euch zu suchen.«

»Spitzohr?«, wiederholte Pia. »Du meinst er ist ein … Elf?« Sie versuchte, sich an zwei schmale und sehr ähnliche Gesichter zu erinnern, das eine aus Fleisch und Blut, das andere aus schwarzem Stein gemeißelt. Keines davon hatte spitze Ohren gehabt.

Sie gingen weiter, im ersten Moment schweigend, und Lion maß sie lange und mit nachdenklichen Blicken.

»Was?«, fragte sie schließlich.

»Ihr wisst entweder wirklich nicht, wovon ich rede, oder seid eine ganz außergewöhnlich gute Lügnerin«, sagte er. »Ich bin nicht ganz sicher, welcher Gedanke mir angenehmer ist.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Pia eingeschnappt. »Aber beantworte mir doch bitte eine Frage: Wenn dieser Eirann, oder wie immer er wirklich heißen mag, doch so besorgt um mein Wohl war, warum ist er dann nicht selbst gekommen, um mich zu retten?«

Lion lachte leise. »Wie gesagt, Ihr schauspielert entweder ganz ausgezeichnet oder wisst wirklich nichts.«

»Nimm an, es wäre so.«

»Wie?«

»Lion!«

»Schon gut.« Lions Blick streifte kurz das Schwert, das sie wieder in die Decke eingerollt hatte und unter dem linken Arm trug. »Kein Elf kann sich WeißWald auch nur nähern«, sagte er. »Es gibt einen Schutzzauber, der das verhindert. Die Spitzohren ertragen es nicht, auch nur in Sichtweite vom Turm des Hochkönigs zu gelangen.«

Pia tat diese Erklärung als genauso lächerlich ab, wie sie sich anhörte, aber dann fiel ihr doch irgendetwas daran auf, und sie dachte einen Moment lang intensiver darüber nach. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um den Fehler darin zu entdecken.

»Wenn das so ist«, fragte sie, »wie konnte ich dann in WeißWald leben? Und sogar den Turm des Hochkönigs betreten?«

»Weil dieser Zauber natürlich nicht auf die wirkt, die das alte Blut in sich tragen«, antwortete Lion. »Oder auf Betrüger.«

»Danke, das habe ich verstanden«, sagte Pia spitz.

Lion lächelte nur. »Euch habe ich nicht damit gemeint, Gaylen«, sagte er.

Pia glaubte ihm. Es war nicht nur seine unheimliche Ähnlichkeit mit Jesus, die sie zu der Überzeugung brachte, dass er sie nicht belog. Er strahlte etwas aus, das sie nicht wirklich in Worte kleiden konnte, das aber auch nicht die Spur eines Zweifels aufkommen ließ. Etwas wie … Wahrhaftigkeit. Diese Mann hatte es nicht nötig, zu lügen.

»Es scheint dir nicht besonders viel auszumachen«, sagte sie.

»Was?«

Sie war sicher, dass er ganz genau wusste, was sie meinte. »Die Möglichkeit, dass ich es doch sein könnte.«

»Die wirkliche Gaylen?«

Pia nickte. »Nicht dass ich behaupten will, ich wäre es …Aber ich habe das Gefühl, dass du nicht gerade vor Ehrfurcht auf die Knie sinken würdest, sollte sich herausstellen, dass ich es tatsächlich bin.«

»Möchtet Ihr das denn, Erhabene?«, fragte Lion. Er gab sich nicht einmal mehr Mühe, anders als spöttisch zu klingen.

»Nein«, antwortete Pia. Im Gegenteil. Es tat gut, zur Abwechslung einmal auf einen Menschen zu treffen, der nicht vor Ehrfurcht erstarrte, wenn er ihren Namen hörte.

Oder versuchte sie umzubringen.

»Ich wundere mich nur ein bisschen, das ist alles. Immerhin halten die meisten hier diese Gaylen für so etwas wie die wiedergeborene Jungfrau Maria. Dich scheint das alles nicht sonderlich zu beeindrucken.«

»Ja, das ist wohl so«, antwortete Lion nach kurzem Zögern. »Vielleicht ist die Legende von Gaylen und Eirann wahr, vielleicht auch nicht. Es interessiert mich nicht. Dieses Land leidet seit einem Jahrtausend unter der Tyrannei Apulos, und es wird Zeit, dass die Menschen ihre Freiheit zurückbekommen. Wenn es Gaylen gibt und wenn sie uns hilft, dieses Ziel zu erreichen, so will ich alles in meiner Macht Stehende tun, um sie dabei zu unterstützen.«

»Und dabei wäre es dir gleich, ob sie nun die echte Gaylen ist oder nicht. Was zählt, ist, dass die Menschen an sie glauben, nicht wahr?«

Ter Lion antwortete genau so, wie sie es erwartet hatte: gar nicht. Allenfalls mit einem angedeuteten Lächeln, von dem sie nicht einmal sicher war, ob sie es sich nur einbildete.

Erst nach einiger Zeit sagte er: »Macht Euch keine Sorgen. Es spielt keine Rolle, wofür ich Euch halte oder was Ihr seid oder nicht. Mein Auftrag lautet, Euch zu beschützen, und das werde ich tun.«

»Ich weiß«, sagte Pia. Und auch das war ernst gemeint.

Eine geraume Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Es war längst so dunkel geworden, dass selbst der Ochsenkarren kaum einen halben Steinwurf vor ihnen nicht mehr als einer von zahllosen Schatten war, der sich allenfalls von den anderen unterschied, weil er sich dann und wann bewegte und in fast regelmäßigen Abständen ein mühsames Ächzen und Knarren hören ließ. Zwei noch substanzlosere Schemen bewegten sich daneben – Alica und Nani, vermutete sie, konnte sich aber nicht einmal dessen vollkommen sicher sein –, und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, schien es mit jedem Schritt kälter zu werden, den sie sich von der Stadt entfernten. Die Nacht war sternenklar, doch obwohl es nur noch zwei Tage bis Vollmond waren, war es sehr viel dunkler, als es sein sollte. Dennoch glaubte Pia die unendliche Weite, die sie umgab, geradezu körperlich spüren zu können.

Sie fühlte sich … fremd. Abgesehen von WeißWald selbst und seinem kuscheligen Vorgarten aus menschenfressenden Bäumen kannte sie diese Welt nicht. Nichts von dem, was sie darüber gehört hatte, musste wahr sein, aber immerhin begriff sie beinahe mit jedem Schritt und trotz der nahezu vollkommenen Dunkelheit mehr und mehr, wie groß die Unterschiede zu der Welt waren, aus der Alica und sie kamen. Irgendwie hatte sie tief in sich einfach vorausgesetzt, dass WeißWald und seine Menschen und überhaupt dieses ganze Land so etwas wie ein magisches Spiegelbild der Wirklichkeit sein mussten, doch wenn das stimmte, dann hatte der Spiegel ein paar gehörige Risse. Rio de Janeiro war eine Millionenstadt, in der das Leben vielleicht auch nicht immer perfekt war, aber pulsierte wie an kaum einem anderen Ort auf der Welt, und WeißWald ein Kaff mit bestenfalls ein paar tausend Einwohnern, von denen wahrscheinlich kaum eine Handvoll tatsächlich wussten, was das Wort Leben wirklich bedeutete. Wo die vor lebendigem Grün nur so berstenden Felder und Urwälder Brasiliens sein sollten, da erstreckte sich hier eine Winterlandschaft, die seit einem Jahrtausend auf den nächsten Frühling wartete, und die freundliche Landbevölkerung schien zum allergrößten Teil aus kaum kniehohen Zwergen zu bestehen, von denen die eine Hälfte ihr am liebsten die Füße küssen würde und die andere vermutlich angestrengt darüber nachdachte, wie sie sie ihr abschneiden konnte – am besten irgendwo dicht unterhalb ihres Kinns. Und der einzige Mensch in diesem wahr gewordenen Albtraum, den sie kannte, war gar nicht der, für den sie ihn gehalten hatte … oder vielleicht doch, aber zugleich auch wieder nicht, und es war …

Auf jeden Fall ziemlich verwirrend.

»Ich erinnere Euch an jemanden, habe ich recht?«, drang Ter Lions Stimme in ihre Gedanken.

Pia schrak heftiger zusammen, als ihr lieb war, rettete sich in ein verlegenes Lächeln und brachte es gerade noch fertig, sich nicht vollends zur Närrin zu machen, indem sie etwa den Kopf schüttelte. Stattdessen sagte sie: »Wie kommst du darauf?«

»Weil ich ein guter Beobachter bin«, sagte Lion ernst, »und Ihr mich ständig auf eine ganz besondere Art anstarrt.«

Pia sagte nichts dazu.

»Der Mann, an den ich Euch erinnere, muss ein sehr guter Freund von Euch sein«, fuhr Lion fort. Er war ein guter Beobachter. Vielleicht war seine Beobachtungsgabe sogar besser ausgeprägt als ihre Gefühle, dachte sie. Jesus war ein guter Freund. Vielleicht der Einzige, den sie je gehabt hatte.

»Ja«, sagte sie nur.

»Aber Ihr wollt nicht über ihn sprechen?«, vermutete Lion. Allmählich begann er ihr fast unheimlich zu werden.

»Nein«, sagte sie. »Aber über dich.«

»Über mich?« Lion wirkte ehrlich überrascht. »Da gibt es nicht viel Interessantes zu erzählen. Ich bin nur ein einfacher Mann, der tut, was man ihm aufgetragen hat.«

»Immerhin bist du ziemlich groß«, sagte Pia und legte demonstrativ den Kopf in den Nacken, um in sein Gesicht zu sehen.

»Ja, das ist wahr«, sagte Lion. »Wenn auch vielleicht nur in diesem Teil des Landes.«

»Nur in diesem Teil des Landes?«

»Die Menschen hier sind klein.«

»Ja, das ist mir aufgefallen«, sagte Pia amüsiert. »Du willst damit sagen, dass sie nicht überall so klein sind?«

»Bei Kronn, natürlich nicht«, antwortete Lion lachend. Seine linke Hand landete mit einem klatschenden Laut auf dem bronzefarbenen Harnisch, der zu seiner Rüstung gehörte. »Was glaubt Ihr, woher ich das habe? Aber Ihr habt recht: Ich gehöre selbst in meiner Heimat nicht unbedingt zu den kleinsten Männern.«

»Und wo ist deine Heimat?«

Ter Lion machte eine ausholende Geste. »Hier.«

»Aha.«

»Nein, das war kein Scherz«, sagte Lion. Ihr hilfloser Blick war ihm nicht entgangen. »Würde ich es wagen, Scherze mit jemandem wie Euch zu treiben?«

»Niemals«, sagte Pia ernst.

»Seht Ihr?«, bestätigte Lion ebenso ernst. Nur das spöttische Funkeln verschwand nicht aus seinen Augen. Er wiederholte seine Geste, die überall und nirgends zugleich hinzudeuten schien. »Das alles hier ist unsere Heimat. So weit Euer Auge reicht. Und noch ein gutes Stück weiter.«

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Pia begriff, was er meinte. »Ihr seid Nomaden«, vermutete sie.

Das Wort schien Lion nichts zu sagen.

»Ihr habt keine Heimat«, erklärte sie. »Keinen Ort, an dem ihr dauerhaft lebt, meine ich.«

»Das ist richtig«, bestätigte er. »Ich bin der Ter meiner Sippe. Vor mir war es mein Vater, und nach mir wird es mein Sohn sein … wenn ich irgendwann die richtige Frau treffe, die mir einen Sohn schenkt, heißt das.«

Pia musste sich nicht anstrengen, um Überraschung zu heucheln. »Du willst mir nicht wirklich weismachen, dass ein Mann wie du keine Frau findet«, sagte sie.

Lion machte zwar ein geschmeicheltes Gesicht, schüttelte aber noch einmal den Kopf. »Es liegt weniger am Können als am Wollen«, sagte er. »Bisher ist mir noch nicht die Richtige begegnet … und wenn ich ehrlich zu mir selbst wäre, dann müsste ich wohl zugeben, dass ich auch noch nicht wirklich danach gesucht habe. Die Stellung eines Ter lässt einem Mann nicht viel Zeit für private Dinge.«

»Du klingst nicht so, als wärst du besonders unglücklich darüber.« Pia wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort und bekam auch jetzt wieder nur dieses sonderbare Lächeln. Vielleicht ging sie einfach zu weit, und vielleicht verleitete sie seine schon fast unheimliche Ähnlichkeit mit Jesus (ein Teil von ihr beharrte immer noch darauf, dass er es war, basta) dazu, mehr Vertraulichkeit von ihm zu erwarten, als ihr zustand.

Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Ganz gleich, wie bekannt und vertraut er ihr auch vorkommen mochte, für ihn war sie eine Fremde. Wie kam sie also auf die Idee, dass er mit ihr über derart intime Dinge reden wollte?

Weil ein Teil von dir es will, flüsterte eine Stimme in ihren Gedanken. Mach dir nichts vor. Er ist Jesus. Genau der Jesus, den du dir insgeheim immer gewünscht hast.

Sie verscheuchte auch diesen Gedanken.

»Dieses Wort«, knüpfte sie ein wenig unbeholfen an ihre eigene Frage an. »Ter … Es bedeutet Anführer?«

»Fast«, antwortete er. »Lasst das ›An‹ weg … auch wenn es nicht einmal ganz falsch ist. Wir haben keinen Anführer. Der Ter kennt die Wege und geheimen Pfade. Er weiß, wo die Wasserstellen sind und die Furten über die Flüsse, und er gibt Ratschläge oder warnt. Aber niemand sagt der Herde, wo sie hingehen soll. Wir folgen den Tieren, nicht sie uns, und es wäre auch fatal, wäre es andersherum.«

»Wieso?«

Lion lächelte, als hätte sie eine ziemlich dumme, wenngleich auch verständliche Frage gestellt. »Diese Tiere leben hier, seit sich die Sonne das erste Mal über die Berge erhoben hat«, sagte er. »Wie könnten wir uns anmaßen, dieses Land besser zu kennen als sie?«

»Aber ihr führt sie von Stadt zu Stadt«, gab Pia zu bedenken. »Und dort werden sie geschlachtet.«

»Nur manche«, antwortete er. »Und die anderen wissen es schließlich nicht. Wir nehmen nie mehr, als die Herde verkraften kann, und wir beschützen sie im Gegenzug vor Raubtieren und bringen ihnen Futter, wenn die Winter zu hart sind. Und Ihr täuscht Euch. Wir führen sie nicht zu den Städten. Die Städte sind zu ihnen gekommen.«

Auch jetzt verging wieder eine kleine Weile, bis Pia der Sinn dieser scheinbar albernen Behauptung aufging. »Du meinst, die Menschen haben sich entlang ihrer Wanderwege angesiedelt?«

»Wer weiß? Ich war nicht dabei.« Lion lachte leise. »Aber Ihr werdet wohl recht haben. Ehrlich gesagt, ich habe noch niemals darüber nachgedacht. Eine interessante Frage.« Er maß sie mit einem Blick, als dächte er gerade über etwas ganz anderes nach, das ihm bisher auch noch nicht in den Sinn gekommen war. »Ihr stellt überhaupt eine Menge Fragen.«

»Das war schon immer mein größter Fehler«, bekannte sie seufzend.

»Zu viele Fragen zu stellen?«

»Zu neugierig zu sein. Manchmal hilft es, aber manchmal handelt man sich auch schnell eine Menge Ärger ein, wenn man seine Nase in Dinge steckt, die einen nichts angehen.« Wie zum Beispiel jetzt, dachte sie. Vielleicht wäre nichts von alledem hier passiert, wenn sie ihre Nase nicht in ein gewisses Drogengeschäft gesteckt hätte, dessen eigentliche Betreiber ziemlich humorlos auf diese Einmischung reagiert hatten. O ja, und wenn der Comandante nicht gewesen wäre …

»Eine ziemlich hübsche Nase, wenn ich das bemerken darf«, sagte Lion. Pia blinzelte verwirrt, und er fuhr mit einem Lächeln fort, in dem sie vergebens nach der auch nur winzigsten Spur von Verlegenheit suchte: »Ihr seid eine sehr schöne Frau, Gaylen, und Eure Freundin scheint genauso schön zu sein …soweit man das unter all dem Schmutz auf ihrem Gesicht beurteilen kann, heißt das. Sind alle Frauen dort so schön, wo Ihr herkommt?«

Pia war nun vollkommen perplex. Konnte es sein, dass dieser Kerl sie anbaggerte?

Und was hast du erwartet?, fuhr die lautlose Stimme in ihrem Kopf fort. Sie klang nun unüberhörbar spöttisch. Du sendest keine Signale aus, du lässt gerade Feuerwerksraketen steigen, und davon jede Menge.

»Habe ich … etwas Falsches gesagt?«, fragte Lion. »Ich wollte nicht anmaßend sein.«

»Nein, ganz im Gegenteil«, antwortete Pia hastig. »Ich war nur … ein wenig überrascht, dass es dir aufgefallen ist, das ist alles.«

Und außerdem hatte er recht. Zumindest im Vergleich zu allen Frauen, die sie bisher in WeißWald gesehen hatte, brauchten Alica und sie nicht einmal für die Wahl zur Miss Universum zu kandidieren. Sie könnten sich den Preis auf der Stelle abholen.

»Ich müsste schon mit Blindheit geschlagen sein, um das nicht zu sehen«, antwortete Lion. »Aber Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«

»Die meisten«, sagte Pia – auch wenn das nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. Gut, im direkten Vergleich mit den Schönheiten von WeißWald vielleicht schon. »Und viele sind noch sehr viel schöner.«

»Dann ist das eine Welt, die ich gerne einmal kennenlernen möchte«, feixte Lion.

Pia stimmte ganz automatisch in sein Grinsen ein, schüttelte aber nach einer Sekunde den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Weil die Männer dort auch so viel besser aussehen als hier?«

Pia dachte flüchtig an Esteban. »Kaum. Aber ich bin sicher, dass es dir dort nicht gefallen würde.« Sie war gar nicht einmal mehr sicher, ob esihr dort noch gefallen würde. Es war seltsam, aber eines wurde ihr genau in diesem Augenblick mit vollkommener Gewissheit klar: Sie gehörte hierher. Sie wusste so gut wie nichts von Lions Welt, und im Grunde hatte diese bisher nichts als Schrecken, Schmerz und Gefahr für sie bereitgehalten. Sie war zum Umfallen müde, jeder einzelne Knochen im Leib tat ihr weh und sie fror noch immer zum Gotterbarmen … aber siegehörte hierher.

»Weißt du, was mir gerade einfällt?«, fragte sie.

»Woher?«

»Leute wie dich gibt es bei uns auch«, fuhr sie fort. »Man nennt sie Cowboys. Oder jedenfalls hat es sie früher einmal gegeben.«

»Und was ist geschehen, dass es sie nicht mehr gibt?«

Wer stellte jetzt viele Fragen?, dachte sie spöttisch. Aber sie antwortete trotzdem. »Ein paar gibt es noch, aber nicht mehr viele. Die Welt hat sich weiterentwickelt.«

»Und jetzt ist in Eurer Welt kein Platz mehr für …« Lion suchte einen Moment lang nach dem Wort, das sie gerade benutzt hatte. »… Cowboys?«

Pia hob nur die Schultern.

Für einen Moment machte sich unbehagliche Stille zwischen ihnen breit. Das knirschende Geräusch ihrer Schritte auf dem hart gefrorenen Boden schien lauter zu werden, und die Schatten eilten plötzlich ganz ohne ihr Zutun herbei und versuchten sie in einen Mantel zu hüllen, den sie nicht tragen wollte; nicht jetzt und nicht in seiner Nähe.

Der Gedanke ließ sie lächeln. Sie verscheuchte die Schatten genauso mühelos, wie sie sie schon ein paarmal herbeigerufen hatte (und ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich tat), und machte unbewusst einen winzigen Schwenk nach rechts, sodass sie nun so dicht neben ihm herging, dass sich ihre Schultern beinahe berührten. Lion zog die linke Augenbraue hoch, und sie war nicht ganz sicher, ob sie nicht die Andeutung eines Lächelns in seinen Mundwinkeln entdeckte.

Vielleicht sah sie ja auch nur, was sie sehen wollte.

»Wie weit ist es bis zu unserem Treffpunkt?«, fragte sie nach einer Weile und eigentlich nur, um die Stille nicht übermächtig werden zu lassen.

»Als wir uns getroffen haben, hätte ich gesagt, zwei Stunden«, antwortete Lion. »Jetzt denke ich eher …« Er bedachte den mühsam dahinrumpelnden Ochsenkarren mit einem langen, stirnrunzelnden Blick. »… bis Sonnenaufgang.«

Sonnenaufgang? Pia empfand fast so etwas wie Entsetzen. Ihrem subjektiven Empfinden nach war die Sonne gerade erst untergegangen.

»Wir wären schneller ohne Nani und den Wagen«, fuhr er fort. »Aber ich nehme nicht an, dass Ihr sie zurücklassen wollt?«

Pia antwortete nicht einmal darauf.

»Ja, das dachte ich mir«, seufzte Lion. »Aber es ist vielleicht auch ganz gut so. Es mag sein, dass Nani und ihre Familie Euch noch von Nutzen sein werden.«

»Und wieso?«

»Eirann«, antworte Lion. Irgendwie klang das geheimnisvoll, dachte Pia, auf eine Art, als hätte er das Wort aus keinem anderen Grund genauso betont, als sie zu beunruhigen.

»Ich dachte, dieser Eirann steht auf unserer Seite?«, fragte sie.

»Er ist ein Spitzohr«, erwiderte Lion. »Spitzohren stehen auf niemandes Seite, außer auf ihrer eigenen.« Er machte zwar ein grimmiges Gesicht, zugleich aber auch eine beruhigende Geste. »O nein, Erhabene. Ihr seid bei ihm so sicher, wie es nur geht. Man kann gegen diese Spitzohren sagen, was immer man will, aber sie stehen zu ihrem Wort. Wenn sie einmal eine Aufgabe übernommen haben, dann lassen sie sich eher in Stücke reißen, bevor sie versagen. Aber es wäre möglich, dass Ihr Euch nach einer Weile nach … menschlicher Gesellschaft sehnt. Sie sind ein eigenartiges Völkchen, diese Elfen.«

Wenn er sie damit beruhigen wollte, dann hatte er das genaue Gegenteil erreicht, dachte Pia.

Oder ganz genau das, was er gewollt hatte.

»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte sie nachdenklich, »dann könnte ich glatt auf den Gedanken kommen, dass Ihr eifersüchtig seid, Ter Lion.«

Und wer sagt dir, dass ich es nicht bin?, fragte sein Blick. »Auf einen Elf? Wie könnte ich das?«

Na zum Beispiel genau so, wie du es gerade tust, mein Freund, dachte sie spöttisch. »Das heißt, dass du uns nicht begleitest«, vermutete sie.

»Bis zum Tränensee«, antwortete er. »Wenn ich Euch in die Obhut des Elfen übergeben habe, ist meine Aufgabe erfüllt. Ich muss zurück zu meinem Clan. Man braucht mich dort.«

Beinahe hätte sie gesagt: Aber ich brauche dich auch!, konnte die Worte aber im letzten Moment zurückhalten. »Ja, das stimmt vermutlich.«

»Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Erhabene«, sagte Lion noch einmal. »Der Elf wird gut auf Euch achtgeben.«

»Und dann? Ich meine: Was geschieht dann mit mir … mit uns?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Lion. »Ich soll Euch zu ihm bringen, das ist alles, was man mir aufgetragen hat. Ich nehme an, er wird Euch außer Landes bringen … auf jeden Fall aber an einen Ort, wo Ihr in Sicherheit seid. Ihr seid nicht die Erste, die die Elfen unter ihren Schutz stellen.«

Das hatte jetzt ganz eindeutig zum Ziel, sie zu beruhigen, und es bewirkte auch jetzt wieder das genaue Gegenteil. Lions Worte hatten mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, und ihre Beunruhigung begann allmählich zu etwas anderem und wirklich Unangenehmem zu werden – doch sie wollte jetzt nicht über Eirann reden. Wenn Lions Vermutung zutraf, dann würde sie wohl noch sehr viel mehr Zeit haben, mit dem und über den Elfenkrieger zu sprechen, als ihr lieb war.

Wieder kehrte für eine Weile Stille zwischen ihnen ein, aber diesmal eilten keine Schatten herbei, um sie einzuhüllen, und das Schweigen war nicht unangenehm, sondern von einer sehr vertrauten Art; das Schweigen zwischen Freunden, die einfach ein Stück nebeneinander hergingen und sich jeweils in der Nähe des anderen so sicher und geborgen wussten, dass es nicht notwendig war, irgendetwas zu sagen. Pia vergrößerte die Distanz zwischen ihm und sich um ein kleines Stück, nicht weil ihr seine Nähe plötzlich nicht mehr angenehm gewesen wäre (das genaue Gegenteil war der Fall), sondern um ihn noch einmal und genauer (und ganz unverhohlen) zu betrachten. Die Ähnlichkeit mit Jesus verblüffte sie noch immer, doch dann verbesserte sie sich in Gedanken. Es war keine Ähnlichkeit. Er war Jesus, ein Jesus aus einer anderen (was eigentlich? Dimension? Realität? Zeit? Traum?) Welt, der alles hatte, was sie an Jesus so gut kannte und liebte, aber auch noch mehr. Ganz plötzlich wurde ihr der Unterschied klar. Der Jesus, den sie bis jetzt gekannt hatte, war ihr Freund gewesen, vielleicht der beste und treueste Freund, der ihr im Laufe ihres Lebens begegnet war, aber dennoch nur ein Freund; etwas wie der große Bruder, den sie niemals gehabt hatte.

Dieser Jesus war ein Mann. Er hatte all das, was sie an dem anderen Jesus immer vermisst hatte, ohne es sich selbst jemals einzugestehen.

Sie spürte, wie ihr Körper auf eine Weise auf diese Erkenntnis reagierte, die ihr eigentlich peinlich sein sollte, und wunderte sich ein bisschen, dass das nicht der Fall war, sondern die angenehme Wärme in ihrem Schoß ganz im Gegenteil sogar noch angenehmer wurde, versuchte diesen Gedanken aber hastig zu verscheuchen und sich zu etwas zu zwingen, was sie wenigstens selbst für einen sachlichen Ton hielt.

»Hast du eigentlich keine Angst, Ärger mit Istvan zu bekommen, wenn er herausfindet, dass du uns geholfen hast?«

»Früher oder später mag ihm aufgehen, wer euch dabei geholfen hat, aus der Stadt zu kommen, aber mich wird er kaum verdächtigen. Warum sollte er?«

»Jemand könnte gesehen haben, wie du uns mit dem Wagen geholfen hast.«

»Dann hat er einen Mann in der Uniform seiner eigenen Soldaten gesehen«, antwortete Lion.

»Einen sehr großen Mann.«

»Was auf so ziemlich jeden zutrifft, der nicht in diesem Teil des Landes geboren ist«, erwiderte Lion. »Und selbst wenn. Ich bin der Ter meines Clans. Niemand legt sich mit den Clans an. Er könnte mich festnehmen, aber daran hätte er wenig Freude, glaub mir. Am Schluss würden wir um die Wette hungern, wenn WeißWald die Fleischlieferungen ausgehen. Das wagt er nicht, glaubt mir.« Er zog fragend die linke Augenbraue hoch. »Ist das eine Marotte von Euch? Euch ständig Sorgen um andere zu machen?«

»Eigentlich nicht«, antwortete sie. »Aber in letzter Zeit ist so ziemlich jeder zu Schaden gekommen, der das Pech gehabt hat, mir zu nahe zu kommen.«

»Um den einen oder anderen ist es vielleicht nicht allzu schade«, sinnierte Lion.

»Ich möchte trotzdem nicht, dass es zu einer schlechten Angewohnheit wird.«

»Dann gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten«, sagte Lion. »Ihr geht jedem Menschen aus dem Weg, dem Ihr nichts Schlechtes wünscht, oder Ihr sucht die Nähe Eurer Feinde. Wenn Eure Befürchtung zutrifft, dann erledigt sich das Thema nach und nach von selbst.«

»Ja, das ist eine sehr gute Idee«, sagte Pia säuerlich. Sie hätte glatt von dem anderen Jesus stammen können.

Sie marschierten eine Stunde lang nebeneinander her, redeten über dies und das und schwiegen manchmal endlose Minuten. Pia erzählte – sehr wenig – über ihre Heimat und stellte dafür umso mehr Fragen nach der Lions, die er geduldig und in aller Ausführlichkeit beantwortete. Sie erfuhr eine Menge; vieles, das ihr so banal und vertraut erschien, dass sie sich eines leisen Gefühles der Enttäuschung nicht erwehren konnte, aber auch das eine oder andere Detail, das ihr so aufregend vorkam, dass sie sich insgeheim fragte, ob mit Lion entweder die Fantasie durchging oder er sich über sie lustig zu machen versuchte.

Am meisten interessierten sie die Geschichten, die Lion über sein Volk und das Leben der Clans zu erzählen hatte. Wie es aussah, hatten die Clans tatsächlich keine Heimat – oder die größte, die man sich nur vorstellen konnte, das kam ganz auf den Standpunkt an. Sie folgten den Rinderherden auf ihren Zügen durch das Land, die sie über Wege führten, die sie möglicherweise schon seit Jahrmillionen benutzten, und lagerten nur ein einziges Mal im Jahr für zwei Wochen am selben Fleck, um irgendein traditionelles Fest zu feiern, das von großer Bedeutung für sie zu sein schien, auch wenn Pia es nicht genau verstanden hatte, allen geduldigen Erklärungsversuchen Lions zum Trotz. Das Ergebnis, so hatte er lachend erklärt, war jedes Mal ein gewaltiger kollektiver Kater und ein noch gewaltigeres Chaos, wenn die Clans versuchten, die Herden wieder einzuholen, und erneut von ihnen als Begleiter akzeptiert wurden. Lion machte nur eine einzige beiläufige Bemerkung, was das anging, aber Pia meinte trotzdem nach und nach aus seinen Worten herauszuhören, dass die Herden den Clans nicht im eigentlichen Sinne gehörten, sondern die Tiere eher in einer Art Symbiose mit ihnen lebten, bei denen beide Seiten ebenso viel gaben wie nahmen. Die Clans beschützten die gewaltigen Herden vor ihren natürlichen Feinden und versuchten auch schon einmal, behutsamen Einfluss auf ihren Kurs zu nehmen, um sie zu einem saftigeren Weidegrund oder einer ungefährlicheren Flusspassage zu dirigieren (was nicht immer gelang), und die Tiere ihrerseits ließen es zu, dass sich die Menschen von ihnen ernährten und dann und wann einige Tiere verkauften, um sich im Gegenzug mit Dingen des täglichen Bedarfs einzudecken, die die Herde und die Natur nicht liefern konnten. Die Clans verkauften niemals sehr viele Tiere, wie Lion ausdrücklich betonte, sondern allerhöchstens ein paar Dutzend, deren Verlust die Herde kaum bemerkte. Das erklärte auch die erstaunliche Anzahl an Karawanen, die sich vor den Toren der Stadt eingefunden hatte. Pia hatte im ersten Moment geglaubt, sich geirrt zu haben, als sie Tausende von Tieren zu sehen meinte, aber wahrscheinlich hatte sie die Anzahl eher zu niedrig angesetzt. Es mussten mindestens ein Dutzend unterschiedlicher Clans sein, die sich vor den Toren von WeißWald versammelt hatten, und aus jeder Herde wurden tatsächlich nur einige wenige Tiere verkauft. Ökonomisch wahrscheinlich eine glatte Katastrophe, aber die Naturschützer hätten ihre reine Freude an diesem Modell gehabt. Und es schien zu funktionieren. Nach Lions Aussage wurden die Herden von Jahr zu Jahr größer.

»Ja, das klingt nach einer guten Idee«, seufzte Pia. »Schade, dass bei uns niemand so denkt.«

»Es gibt bei Euch keine Clans?« Lion klang beinahe ungläubig.

»Irgendwo in der äußeren Mongolei vielleicht«, seufzte Pia. Lion sah nur noch verwirrter aus, und Pia lächelte schmerzlich und antwortete etwas ernster: »Früher gab es sie einmal.«

»So große wie hier?«

»Größer«, behauptete Pia. »Angeblich waren es so viele, dass sie das Land von einem Horizont zum anderen bedeckt haben und man eine Herde einen ganzen Tag an sich vorüberziehen sehen konnte, ohne dass ihr Ende auch nur in Sicht kam.«

»Das ist groß«, sagte Lion beeindruckt. »Aber Ihr habt gesagt: früher. Was ist geschehen?«

»Wir haben sie ausgerottet.«

Lion riss ungläubig die Augen auf. »Ausgerottet? Alle?«

»Einige gibt es noch«, sagte Pia. »In ein paar Nationalparks oder Zoos. Aber die großen Herden sind verschwunden. Und sie kommen auch nicht zurück, fürchte ich.«

»Ihr habt sie alle ausgerottet?«, fragte Lion noch einmal. »Aber warum denn? Ist euer Volk so groß, dass ihr so viel Fleisch braucht?«

»Um das Fleisch ging es nicht«, antwortete Pia, »oder jedenfalls nur am Rande. Sie wollten ihre Felle. Das Fleisch haben sie den Geiern überlassen. Aber ich schätze, nicht mal die haben es geschafft.«

Lion sah sie nur noch zweifelnder an. »Ihr macht Euch über mich lustig. Kein Volk wäre so dumm.«

»Du würdest dich wundern, wie dumm ein Volk sein kann«, antwortete Pia.

»Wenn das wahr ist, dann muss Eure Heimat wirklich sehr … sonderbar sein.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du ein anderes Wort im Sinn hattest«, antwortete Pia amüsiert. »Und du hättest recht damit. Ich könnte dir ein paar Geschichten erzählen, die du bestimmt noch viel weniger glaubst. Aber lassen wir das.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wo wir schon bei traurigen Geschichten sind: Mir fallen gleich die Füße ab, und mein Rücken dürfte in wenigen Minuten einfach durchbrechen. Ist es noch weit?«

»Wir sind erst seit drei Stunden unterwegs«, sagte Lion leicht verwundert.

»Das letzte Mal, dass ich drei Stunden am Stück unterwegs gewesen bin, habe ich in einem Flugzeug gesessen«, sagte Pia, erntete den erwarteten verständnislosen Blick und fügte hinzu: »Ich bin es nicht gewohnt, so weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Und die letzten Tage waren jedenfalls ziemlich anstrengend.«

Lion sah ganz so aus, als wollte er eine Diskussion über die genaue Definition des Begriffs weite Strecken mit ihr beginnen, aber dann hob er stattdessen die Schultern und nickte; wenn auch wenig begeistert. »Wir können eine Rast einlegen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind wir weit genug von der Stadt entfernt, um es zu riskieren. Dort hinten ist ein kleines Wäldchen. Schafft Ihr es noch bis dahin?«

Pia sah eine Sekunde lang in die Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies, erkannte dort nichts als Dunkelheit und zuckte die Achseln. »Ich denke schon. Und wenn nicht, dann habe ich ja einen großen, starken Beschützer, der mich im Notfall trägt, nicht wahr?«

»Wenn Ihr es wünscht, Erhabene.« Lion nickte vollkommen ungerührt und eilte voraus, um mit Nani zu sprechen. Pia ließ ganz bewusst noch einige Augenblicke verstreichen, bevor sie ihm folgte und zu Alica aufschloss.

Der Empfang war ganz genau so, wie sie es erwartet hatte. »Oh, schau an«, sagte Alica schnippisch. »Euer Durchlaucht geben dem gemeinen Volk auch einmal die Ehre.«

»Gemein trifft es ganz gut«, antwortete Pia. »Gibt es sonst noch irgendwelche Neuigkeiten, die ich wissen müsste?«

»Jede Menge«, antwortete Alica. »Ich hatte eine lange und wirklich interessante Konversation mit einer ganz reizenden älteren Dame. Das Problem ist nur, dass ich kein Wort verstanden habe, aber ansonsten habe ich mich ausgezeichnet unterhalten. Danke der Nachfrage.«

»He, jetzt reg dich wieder ab«, sagte Pia besänftigend. »Ich dachte, dir wäre auch daran gelegen, ein paar Informationen zu bekommen.«

»Informationen worüber?«

»Über alles hier. Wer Ter Lion ist und wohin er uns bringt, zum Beispiel.« Sie berichtete Alica ausführlich, was sie von Lion erfahren hatte, und zu ihrer Überraschung versuchte sie nicht ein einziges Mal, sie zu unterbrechen oder auch nur eine boshafte Bemerkung beizusteuern. Aber sie blickte sie noch immer genauso missmutig an wie zuvor, als Pia zu Ende gekommen war.

»Das heißt, wir sind von einem waschechten Cowboy gerettet worden«, sagte Alica. »Ich bin beeindruckt. Sind wir jetzt richtige Squaws? Wenn ja, dann muss ich mir unbedingt eine Adlerfeder suchen und sie mir ins Haar stecken.« Sie funkelte sie an. »Und über diesen Elf hat er nichts weiter gesagt?«

»Nicht mehr, als ich dir erzählt habe«, antwortete Pia. »Ich glaube, sehr viel mehr weiß er auch nicht.«

»Aber so, wie es sich anhört, scheint Jesus der Zweite ihn nicht besonders zu mögen. Und du?«

»Ich? Ich kenne ihn doch so wenig wie …«

»Was hältst du von der Idee? Ich meine: Irgendwie ist die Vorstellung schon ein bisschen abenteuerlich, unser Schicksal in die Hände eines Mannes zu legen, den wir gar nicht kennen.«

»Hast du eine bessere Idee?«

Wenn, dann kam Alica nicht dazu, sie ihr vorzutragen, denn in diesem Moment kam Lion zurück, und etwas am schaukelnden Ächzen des Ochsenkarrens änderte sich, als das Gefährt seinen Kurs änderte.

»Wir legen eine kurze Rast ein«, sagte er. »Nani ist müde, und auch das Zugtier braucht eine Pause. Eine Stunde sollte reichen.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica. Pia übersetzte, und auch Alica war ihre Erleichterung deutlich anzumerken. »Wunderbar«, seufzte sie. »Ein Drive-in oder vielleicht sogar ein Motel? Wenn sie ein Zimmer mit Kabelfernsehen haben, dann melde ich hiermit schon einmal vorsorglich Anspruch darauf an!«

»Einverstanden. Und ich nehme das mit Whirlpool und Massagebett … auch wenn ich fürchte, dass wir mit einem Stück Waldboden vorliebnehmen müssen.«

»Solange die Bäume nicht versuchen uns aufzufressen, soll es mir auch recht sein. Wenn ich noch zehn Minuten weiterlaufen muss, fangen meine Füße ganz von selbst an zu brennen.«

Sie brauchten nicht zehn, sondern gute zwanzig Minuten, um den Wald zu erreichen, aber Alica hinterließ keine brennenden Fußspuren, Pias Rücken brach nicht in der Mitte durch, und zu ihrer beider Erleichterung entpuppten sich die Bäume auch nicht als menschenfressende Ungeheuer, die sich nur als Nadelbäume mit erstaunlich dicken Stämmen tarnten, sondern als ganz normale Bäume.

Lion dirigierte den Wagen gute zwanzig Meter tief in den Wald hinein, bis sie eine halbrunde Lichtung erreichten. In ihrer Mitte befand sich eine mit Steinen grob eingefasste Feuerstelle, die aber offenbar schon seit Längerem nicht mehr benutzt worden war. Die Büsche an ihrem Rand wuchsen irgendwie seltsam, als wären sie so oft immer wieder geknickt und nachgewachsen und wieder abgebrochen worden, bis die Natur schließlich kapituliert und sie in sonderbar falschen Winkeln hatte wachsen lassen. Offensichtlich wurde diese Lichtung nicht zum ersten Mal als Lagerplatz benutzt. Dieser Ort entsprach nicht unbedingt Pias Vorstellung von einem idealen Versteck.

Sie äußerte ihre Bedenken auch laut, aber Lion schüttelte den Kopf. »Wenn wir verfolgt würden, dann hätte ich das gemerkt«, sagte er überzeugt. »Und selbst wenn nicht, hätten sie uns längst eingeholt. Aber ich sehe mich gerne um, wenn Ihr es wünscht.«

»Das ist nicht nötig«, sagte sie, ebenso hastig wie auch ein bisschen schuldbewusst. Lion war sicher in weitaus besserer Form als Alica und sie, aber er hatte genau wie sie einen dreistündigen Fußmarsch hinter sich und ihm stand eine kleine Rast genauso zu.

Doch es war bereits zu spät. »Ihr habt vollkommen recht, Erhabene«, sagte er. »Ich bin für Eure Sicherheit verantwortlich. Ich werde mich ein wenig umsehen. Ruht Euch in der Zwischenzeit aus. Ihr könnt etwas essen, aber macht kein Feuer. Das wäre zu gefährlich.« Und damit verschwand er, schnell und trotz des dicht wachsenden Unterholzes so gut wie lautlos.

»Wohin geht er?«, erkundigte sich Alica. »Für kleine Cowboys?«

»Keine Ahnung«, antwortete Pia kühl. »Willst du ihm hinterher und nachsehen?«

Alica zog eine Grimasse, antwortete aber nicht mehr, sondern suchte sich einen frei stehenden Baum, beäugte ihn einen Moment lang sehr misstrauisch und setzte sich dann. Sie schloss die Augen und lehnte sich mit einem tiefen Seufzen gegen den glatten Stamm.

»Wenn das Ding plötzlich Augen und Zähne entwickelt und mich aufzufressen versucht, weck mich nicht«, murmelte sie. »Vielleicht geht es ja schnell.«

Pia sah sich einen Moment lang suchend um, ging dann zu einem anderen Baum und lehnte sich auf dieselbe Weise dagegen. Sie fühlte sich unendlich müde, aber auf eine sehr seltsame Art, als würde sie nicht einschlafen, wenn sie jetzt nachgab. Ganz im Gegenteil. Da war eine Unruhe in ihr, die mit jedem Moment stärker zu werden schien und deren wahren Grund sie zwar noch verleugnen konnte, das aber bestimmt nicht mehr lange. Sie war auch gar nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte.

Nach einer Weile kam Lasar zu ihnen. Pia hatte nichts von irgendwelchen Vorbereitungen bemerkt, aber er hielt zwei reichlich ramponierte Blechteller in den Händen, auf denen sich eine kalte Mahlzeit befand, die unappetitlich aussah und noch schlechter schmeckte. Alica stellte den Teller nach dem ersten Bissen empört ab, doch Pia dachte daran, dass keiner von ihnen wusste, was der morgige Tag bringen würde und wann sie die nächste Mahlzeit bekämen, und zwang sich, den Teller vollkommen zu leeren – auch wenn sie sich mit jedem Bissen, den sie hinunterwürgte, ernsthafter fragte, ob sie Nanis Mann nicht letzten Endes einen Gefallen erwiesen hatte, falls das ihre normalen Kochkünste waren …

Lasar kam und holte nicht nur das schmutzige Geschirr, sondern brachte ihr auch einen Becher mit Wasser, das ausnahmsweise ausgezeichnet schmeckte. Trotzdem hätte sie in diesem Moment ohne zu zögern ihre Seele verkauft für eine einzige Tasse Kaffee … oder doch wenigstens die Alicas.

Der Gedanke zauberte ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen und ließ sie zugleich den Kopf drehen – Alica hatte jetzt lange genug geschmollt, und es wurde allmählich Zeit, dass sie sich wieder vertrugen –, doch Alica war nicht mehr da. Pia entdeckte sie nach einem kurzen Moment auf der anderen Seite der Lichtung. Sie war vor einem Busch in die Hocke gegangen und tat irgendetwas, das sie nicht genau erkennen konnte.

Pia leerte sorgfältig ihren Becher, stellte ihn noch sorgfältiger neben sich auf den Boden und ging zu ihr. Alica war nicht vor einem Busch in die Hocke gegangen, sondern vor einer schlanken Pflanze mit gut halbmeterlangen, faserigen Blättern, die ein bisschen wie fettes Farn aussah. Pia sah sie fragend an.

»Das könnte funktionieren«, sagte Alica nachdenklich. »Ich bin nicht ganz sicher, was die Konsistenz angeht, aber wenn man sie trocknet und eine Weile liegen lässt …«

»Du gibst wohl nie auf, wie?«, fragte Pia.

»Aufgeben? Ich habe noch nicht einmal angefangen, wie könnte ich da aufgeben?«

»Meinst du nicht, dass du dich allmählich lächerlich machst?«, fragte Pia sanft.

Offenbar war es trotzdem der falsche Tonfall gewesen, denn Alica funkelte sie einen Moment lang fast hasserfüllt an. »Das sagst ausgerechnet du?«, fauchte sie. Ihre Finger strichen weiter an dem vermeintlichen Farnblatt entlang. »Du bist doch schuld daran, dass meine gesamten Zigarettenvorräte zum Teufel sind!«

»Es war genau eine Zigarette«, antwortete Pia.

»Trotzdem war es alles, was ich noch hatte«, beharrte Alica. »Jetzt kann ich sehen, wie ich an Nachschub komme!«

Pia gab auf. Es gab Dinge, über die konnte man mit Alica nicht sprechen. Eigentlich über eine ganze Menge Dinge, wenn sie es recht bedachte.

Sie sah ihr noch ein paar Sekunden lang zu, wandte sich dann um und ließ ihren Blick über den Rand der Lichtung wandern. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

»Darf ich fragen, wo du hingehst?«, erkundigte sich Alica, als sie sich in Bewegung setzte.

»Ach, nirgendwohin. Ich will nur sehen, ob ich vielleicht ein paar Haschischpflanzen finde.«

Alica knurrte irgendeine Antwort, von der es vermutlich besser war, dass sie sie nicht verstand, und Pia bog vorsichtig das Unterholz auseinander und folgte der Spur aus geknickten Zweigen und niedergetrampeltem Unterholz, die Lion hinterlassen hatte. Wenn sie bedachte, wie vollkommen lautlos er sich bewegt hatte, dann hatte er eine eigentlich schon erstaunlich deutliche Spur hinterlassen. Pia war völlig unerfahren in solchen Dingen, aber selbst ihr fiel es leicht, seiner Spur zu folgen.

Ungefähr hundert Schritt weit, dann löste sich eine dunkle, sehr hochgewachsene Gestalt aus den Schatten des Waldes und vertrat ihr den Weg.

»Ich wusste, dass du kommst«, sagte Lion.

Загрузка...