Jedenfalls war das der Eindruck, den Pia im ersten Moment hatte.
Die Krieger oben auf der Stadtmauer gehörten ganz eindeutig zu den Barbaren, die sie in Hernandez’ Begleitung gesehen hatte, aber die brüllende, Waffen schwingende grüne Flut, die aus dem zerborstenen Tor quoll, war … etwas anderes. Pia konnte nicht einmal sicher sagen, ob es wirklich Menschen waren.
Sie waren riesig. Keiner von ihnen schien nennenswert kleiner zu sein als die drei Schattenelben, und soweit sie es über die große Entfernung hinweg und in ihrer Aufregung erkennen konnte, waren sie in barbarische Rüstungen und groteske Helme gehüllt, hatten grässlich entstellte Gesichter mit fürchterlichen Zähnen und waren bis an dieselben bewaffnet.
»Lauft, Gaylen!«, schrie Torman. In seiner Hand erschien wie hingezaubert ein gewaltiges Schwert, lang und bösartig wie Eiranns Zorn, nur dass seine Klinge nicht durchsichtig war, sondern von der Farbe der Nacht. »Flieht in die Schatten! Ich finde Euch, sobald wir die Orks geschlagen haben!«
Pia starrte ihn an. Orks? Hatte er gerade Orks gesagt?
Augenscheinlich hatte er das, und ebenso augenscheinlich war er wild entschlossen, seine Worte unverzüglich in die Tat umzusetzen, denn seine beiden Begleiter und er rammten ihren Pferden die Sporen in den Leib und sprengten den Angreifern entgegen.
In den knappen zwei Sekunden, die tatsächlich erst verstrichen war, seit der Pfeil Eiranns Raben vom Himmel gefegt hatte, war auf dem Platz vor dem Tor bereits ein verbissener Kampf entbrannt. Eine der beiden riesigen Torhälften war einfach verschwunden und hatte sich in einen Splitterregen verwandelt, der zwei von Istvans Soldaten und mindestens einen der schwarzen Reiter niedergestreckt hatte, der zweite Torflügel war zur Gänze umgefallen und hatte einen zweiten Reiter samt seinem Tier zerquetscht.
Die Überlebenden starben innerhalb der nächsten beiden Sekunden.
Die grüne Flut verschlang sie einfach. Wenn die Soldaten tatsächlich versuchten, so etwas wie Widerstand zu leisten, so sah Pia jedenfalls nichts davon. Die Orks überrannten sie einfach, ohne dabei auch nur langsamer zu werden. Blut stob wie aus schrecklichen roten Geysiren aus der heranrasenden grünen Meute, und sie glaubte zerborstene Waffen und abgeschlagene Körperteile davonfliegen zu sehen. Eine lebendige grüne Lawine donnerte auf sie zu und musste sie binnen weniger Sekunden ebenfalls erreichen und verschlingen.
Und wahrscheinlich wäre auch ganz genau das geschehen, hätte es Torman und seine beiden Begleiter nicht gegeben.
Die drei Schattenelben krachten wie eine stählerne Faust in die heranrasende Front und zerschlugen sie. Sie brachten die Orks nicht zum Stehen – dafür waren es einfach zu viele –, aber sie sprengten sie auseinander, sodass aus der lebenden Mauer ein wildes Durcheinander einzelner Körper und kleiner Gruppen wurde, die in verschiedene Richtungen auseinanderstoben. Etliche bewegten sich immer noch in ihre Richtung, und sie taten es immer noch entsetzlich schnell, aber es waren nicht mehr annähernd so viele wie zuvor, und auch von ihnen wandte sich ein guter Teil sofort wieder herum, um sich auf die drei Schattenelben zu stürzen.
Wie es aussah, rannten sie sehenden Auges in den Tod.
Die Klingen der drei Giganten wüteten fürchterlich unter ihnen. Jeder der drei Schattenelben hielt plötzlich zwei Schwerter in Händen, und diesmal war Pia sicher, abgeschlagene Köpfe und abgetrennte Gliedmaßen durch die Luft fliegen zu sehen. Wer den tödlichen Klingen entging, den zerschmetterten die wirbelnden Hufe der Schlachtrösser. Auch die drei Schattenelben wurden getroffen, aber die Äxte, Schwerter und Keulen der grünhäutigen Ungeheuer prallten einfach von ihren Rüstungen ab, ohne ihnen auch nur einen Kratzer zuzufügen.
Die drei Riesen wüteten dafür umso gnadenloser unter ihnen. Ork um Ork fiel, und einen Moment lang sah es beinahe so aus, als sollte es ihnen gelingen, die kreischende Meute ganz allein in die Flucht zu schlagen.
Möglicherweise wäre es ihnen sogar gelungen, hätte das Torgewölbe in diesem Moment nicht eine weitere Horde noch bizarrerer Ungeheuer ausgespuckt.
Es waren Orks, genau wie die brüllende Horde, die Torman und seine beiden Begleiter reihenweise niedermähten, doch anders als diese stürmten sie nicht zu Fuß herein, sondern ritten auf riesenhaften, grün geschuppten … ja, was eigentlich? Pferden? Dinosauriern? Pia wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie solche Geschöpfe nicht nur noch nie zuvor gesehen hatte, sondern diese auch einen ebenso schrecklichen wie Furcht einflößenden Anblick boten. Sie waren riesig, fast so groß wie die Schlachtrösser der drei Schattenelben, und bewegten sich auf vier muskulösen Beinen, die in breiten Krallenfüßen endeten, verfügten aber zusätzlich über einen langen, in einer natürlichen Keule endenden Schwanz und einen langen Schlangenhals, der von einem schrecklichen Reptilienschädel gekrönt wurde. Ihre schuppige Haut wurde durch zusätzliche, mit spitzen Metalldornen versehene Panzerplatten verstärkt, und mit einer einzigen Ausnahme wurden sie von ganz besonders großen und muskulösen Orks geritten, die sich ohne das geringste Zögern formierten und sich dem Angriff auf Torman und seine Begleiter anschlossen – wobei sie mehr als nur einen ihrer eigenen Brüder über den Haufen rannten, die nicht schnell genug zur Seite sprangen.
Diese eine Ausnahme war Hernandez.
Pia erkannte ihn sofort und ohne den geringsten Zweifel, obwohl auch er sich in eine ebenso barbarische wie groteske Rüstung gehüllt und seine Haut sogar grün angemalt hatte. Auch wenn er alles andere als klein war, wirkte er zwischen den anderen monströsen Reitern wie ein Zwerg.
Pia unterschätzte ihn jedoch keine Sekunde lang, und sie war auch kein bisschen überrascht, dass er sich als einer von sehr wenigen nicht dem Angriff auf die Schattenelben anschloss, sondern sich nur wild umsah – und dann direkt auf Istvan und sie zugaloppierte!
»Weg!«, keuchte sie. »Schnell!« Sie fuhr in der Sekunde herum, packte Istvan kurzerhand am Arm und zerrte ihn einfach hinter sich her, als sie losstürmte.
Sie registrierte kaum, dass der Stadtkommandant vor lauter Überraschung das Gleichgewicht verlor und fiel, sodass sie ihn gute zehn Meter weit einfach hinter sich herschleifte, bevor sie es endlich doch merkte und ihn mit einem weiteren und noch härteren Ruck einfach wieder auf die Füße riss. Gleichzeitig warf sie einen hastigen Blick über die Schulter zurück, und was sie sah, das ließ sie nur noch einmal schneller laufen; oder es wenigstens versuchen.
Hernandez und fünf oder sechs weitere Orks hatten ihre monströsen Reittiere herumgerissen und jagten hinter ihr her. Einer der drei Schattenelben hatte es wohl bemerkt und versuchte sein Pferd aus dem Kampfgeschehen zu lösen, um ihnen den Weg abzuschneiden, aber die übrigen Orks hinderten ihn ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben daran, und es waren einfach zu viele, um sie schnell genug zu erschlagen. Vier, fünf Echsenreiter rasten weiter auf sie zu, und Pia begriff, dass sie keine Chance hatte, den albtraumhaften Kreaturen davonzulaufen. Nicht so.
Kurz entschlossen packte sie zu, warf sich den völlig perplexen Istvan einfach über die Schulter und schlug einen blitzschnellen Haken, als sie spürte, wie etwas Riesiges und ungeheuer Starkes auf sie zuraste.
Ein schuppiger grüner Schemen jagte an ihr vorbei, krachte gegen eine Hauswand und einfach hindurch, und Pia hatte einen flüchtigen Eindruck von einem hässlichen grünen Gesicht, das einen Moment lang einfach nur verdutzt aussah und dann unter den Trümmern des zusammenbrechenden Hauses verschwand.
Pia beschloss, später darüber zu lachen, schlug einen weiteren Haken und jagte in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern, die ihr kaum Platz bot. Dem Echsenreiter hinter ihr nicht einmal annähernd.
Als die Echsenkreatur hinter ihr in die Gasse stürmte und darin stecken blieb wie ein Korken in einem zu engen Flaschenhals, hatte Pia zumindest das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen erbeben zu fühlen. Dem Reiter, der in hohem Bogen über den Hals der Kreatur hinweggeschleudert wurde, erging es beinahe noch schlechter, denn auch er blieb mit seinen breiten Schultern in der schmalen Gasse stecken, das aber mit dem Kopf nach unten. Waffen, Münzen und andere Dinge aus Metall, die er in seinen Taschen gehabt hatte, klimperten zu Boden, gefolgt vom Helm des Grünhäutigen, dann rutschte er noch ein Stück weiter nach unten und spießte sich an seinem eigenen Schwert auf. Immerhin war das Blut, das in Strömen über seine schartige Klinge lief, rot und nicht grün.
Pia beschleunigte ihre Schritte noch einmal, stürmte auf der anderen Seite aus der Gasse hinaus und fand sich wenigstens für den Moment in Sicherheit. Vor ihr lag eine schmale und vollkommen menschen- (und monster)leere Straße. Schreie und Kampflärm drangen von weit her an ihr Ohr, aber auch ein näheres und eher empörtes Ächzen und Keuchen, und erst in diesem Moment erinnerte sie sich wieder an Istvan, den sie noch immer über der linken Schulter trug. Hastig setzte sie ihn ab und bemühte sich um ein möglichst verlegenes Lächeln. »Tut mir leid, Kommandant«, sagte sie. »Aber es war das Einzige, was mir auf die Schnelle eingefallen ist.«
»Das war entwürdigend, Erhabene«, beschwerte er sich.
»Möglich, aber Ihr lebt noch, oder? Und ich werde es niemandem verraten, keine Angst.« Sie schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab, als er widersprechen wollte. »Wir müssen weg. Gibt es irgendwo in der Nähe ein sicheres Versteck?«
»Ein Versteck?«
»Oder einen Ort, an dem wir uns besser verteidigen können? Hier haben wir keine Chance!«
»Torman und seine Begleiter werden die Orks vernichten«, sagte Istvan überzeugt. »Niemand überlebt einen Kampf mit einem Schattenelben.«
Anscheinend hatte er gerade nicht richtig hingesehen, dachte Pia, und ganz gewiss kannte er Hernandez nicht. Trotzdem antwortete sie: »Das mag sein, aber ich würde es vorziehen, wenn ich dann noch am Leben wäre. Also?«
Istvan überlegte einen Moment. »Die Zitadelle«, sagte er dann. »Es ist nicht weit. Und dort sind meine Soldaten, die Euch verteidigen können.«
»Dann los«, sagte Pia. Als Istvan zögerte, fügte sie hinzu: »Ich kann Euch auch tragen, wenn Euch der Weg zu weit ist.«
Jetzt hatte es Istvan mit einem Male sehr eilig, herumzufahren und mit schnellen Schritten vorauszueilen.
Schreie und Schlachtengetümmel wurden lauter und schienen noch näher zu kommen, aber auf dem ersten Stück wurden sie nicht aufgehalten, und für den ersten Ork, der aus einer Seitenstraße stürmte und brüllend ein Schwert hob, dessen Klinge tatsächlich länger war als ganz Istvan, war der Anblick ihres schreckensbleichen Gesichtes zugleich auch das Letzte, was er in seinem Leben sah. Eine ganze Abteilung Stadtgardisten tauchte plötzlich wie aus dem Nichts rings um sie herum auf und machte ihn nieder. Noch im Zusammenbrechen tötete der grünhäutige Gigant zwei der Männer, aber die anderen stachen ihn mit ihren Hellebarden und Schwertern nieder und hackten, stachen und droschen auch dann noch rasend vor Wut auf ihn ein, als er sich schon lange nicht mehr rührte. Schließlich machte Istvan dem grausamen Geschehen mit einem scharfen Befehl ein Ende und scheuchte die Soldaten beiseite, ließ es sich aber trotzdem nicht nehmen, dem leblosen Ork selbst einen wuchtigen Fußtritt zu verpassen.
»Verdammtes Ungeheuer!«, knurrte er. Schon im nächsten Moment machte sich jedoch ein eher betroffener Ausdruck auf seinem Gesicht breit. »Er hätte nicht hier sein dürfen«, sagte er.
»Was meint Ihr damit, dass er nicht hier sein dürfte?«, fragte Pia ernst.
»Wir sind zu tief in der Stadt«, antwortete Istvan, der besorgt klang. »Es sind nur noch wenige Straßen bis zur Zitadelle. So weit hätten sie nicht kommen dürfen. Was bei Kronn treibt dieses verdammte Elbenpack dort?«
Verdammtes Elbenpack?, dachte Pia. Interessant. Laut sagte sie: »Ich werde Schwert Torman Eure Beschwerde ausrichten, Kommandant. Aber jetzt sollten wir versuchen die Zitadelle zu erreichen.«
Sie eilten weiter. Pia hatte längst ihr bisschen Orientierung verloren, aber sie registrierte immerhin, dass sie sich wieder in Richtung des Stadtzentrums bewegten. Ganz kurz hatte sie den unangenehmen Verdacht, dass Istvan mit dem Wort Zitadelle vielleicht einen gewissen schwarzen Turm meinte, der die strohgedeckten Dächer von WeißWald überragte, aber dann bogen sie in nahezu rechtem Winkel ab und näherten sich einem anderen Bereich der Stadtmauer. Weitere Soldaten gesellten sich zu ihnen, was sie eigentlich hätte beruhigen müssen, denn die vermeintlichen Operettensoldaten hatten ihr gerade bewiesen, dass sie durchaus imstande waren, selbst mit einem solchen Monstrum fertig zu werden. Aber gleichzeitig geschah auch etwas, das das trügerische Gefühl von Sicherheit mehr als nur negierte: Der Kampflärm wurde lauter und er kam ganz eindeutig näher. Pia konnte Istvans Bemerkung von gerade jetzt ein bisschen besser verstehen. Torman und seine beiden Mitstreiter machten ganz offensichtlich keinen besonders guten Job.
Wie schlecht er wirklich war, wurde ihr erst klar, als sie die Zitadelle fast erreicht hatten.
Pia hatte eine Festung oder etwas wie eine kleine Burg erwartet, aber das einzig Martialische an der Zitadelle war tatsächlich ihr Name. Das Gebäude war zweigeschossig und hatte ein flaches, zinnengesäumtes Dach, statt der hier ansonsten üblichen strohgedeckten Schrägen, unterschied sich darüber hinaus aber nicht von den anderen Gebäuden hier; einschließlich der Fensterscheiben aus Papier.
»Und hier sollen wir sicher sein?«, keuchte sie, während sie neben Istvan so schnell über den freien Platz vor der Zitadelle eilte, wie es gerade noch ging. Für sie. Istvan und seine Soldaten waren in einen ebenso schnellen wie kräftezehrenden Trab verfallen, den sie ganz bestimmt nicht sehr lange durchstehen würden.
»Das Verlies«, antwortete Istvan kurzatmig. »Ich nehme an, Ihr erinnert Euch noch daran?«
Vielleicht wäre der Turm des Hochkönigs doch keine so schlechte Alternative gewesen, dachte Pia schaudernd. »Wollt Ihr Hernandez und seinen Orks die Mühe abnehmen, uns in Ketten zu legen?«, fragte sie.
»Die Mauern sind dick, und die Türen halten selbst einem wütenden Ork stand«, behauptete Istvan. »Dort können wir uns auf jeden Fall halten, bis Torman und die beiden anderen kommen.«
»Falls sie noch leben.«
Istvan machte ein Gesicht, als hätte sie gerade etwas ebenso Unmögliches wie Absurdes gesagt, antwortete aber dennoch: »Selbst wenn. Der Kampf kann nicht unbemerkt geblieben sein. Das Heer ist schon auf dem Weg hierher.«
Ja, und ganz bestimmt gleich da, dachte Pia. In allerspätestens einer Stunde. Oder auch zwei. Bildete Istvan sich tatsächlich ein, diese lächerlichen Kellertüren würden eine der gewaltigen Kreaturen auch nur zehn Minuten lang aufhalten?
Wie sich zeigte, sollten sie es niemals herausfinden. Einer von Istvans Soldaten war vorausgeeilt, stürmte durch die Tür und stolperte im nächsten Augenblick rückwärts wieder heraus, allerdings nicht mehr in einem Stück. Sein Kopf, die rechte Schulter und der dazugehörige Arm fehlten, und aus den durchtrennten Arterien schoss Blut in einer Fontäne wie aus einem unter Hochdruck stehenden Wasserschlauch und verteilte sich als feiner roter Nebel in der Luft. Der verstümmelte Torso machte noch drei weitere komplette Schritte rückwärts, bis er wie vom Blitz getroffen zusammenbrach. Sein Mörder erschien mehr als zwei Meter groß und brüllend und mit rot besudeltem Schuppengesicht unter der Tür des Gebäudes.
Hinter ihm drängten weitere Orks aus der Zitadelle, und plötzlich erscholl auch auf der anderen Seite des Platzes ein kreischender Schrei, wie ihn keine menschliche Kehle jemals hervorbringen konnte, gefolgt vom Klirren von Waffen und den typischen Geräuschen eines losbrechenden Kampfes. Pia musste sich nicht herumdrehen, um zu wissen, dass sie in eine Falle gelaufen waren.
Sämtliche Fenster der Zitadelle barsten in einer einzigen Explosion aus Holz und zerfetztem Papier und schuppigen grünen Leibern, und ein weiteres halbes Dutzend Orks sprang auf die Straße heraus. Die Ungeheuer hatten sie erwartet. Das bedeutete nichts anderes, als dass sie schon vorher in der Stadt gewesen sein mussten.
Neben ihr riss Istvan mit einem Fluch sein Schwert aus dem Gürtel, und Pia hätte um ein Haar zu spät reagiert, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass er tatsächlich irre genug war, den mehr als zwei Meter großen Giganten vor sich mit einem besseren Brotmesser anzugreifen.
Aber er war es, und Pia konnte gerade noch im allerletzten Moment zupacken und ihn zurückreißen, als der Ork ihn mit seiner Axt der Länge nach zu spalten versuchte. Die doppelseitige Klinge bohrte sich zwischen Istvans Füßen tief genug in den Boden, um selbst den riesigen Ork nach vorne zu reißen, und Pia nutzte die Gelegenheit, der schuppigen Grünhaut das Knie mit solcher Gewalt ins Gesicht zu knallen, dass sie glaubte, das Geräusch brechender Knochen zu hören.
Vielleicht stimmte das sogar, aber wenn, dann waren es allerhöchstens ihre Knochen. Der Ork ließ nur ein ärgerliches Knurren hören, während sie selbst zu spüren glaubte, wie sich ihre Kniescheibe verschob und dann in mehrere Stücke zerbrach. Wimmernd vor Schmerz taumelte sie zurück, versuchte die Tränen wegzublinzeln und musste sich nun ihrerseits auf Istvan stützen, um nicht zu fallen, als ihr geprelltes Bein plötzlich nicht mehr in der Lage war, ihr Gewicht zu tragen.
Der Ork riss mit einem grunzenden Knurren seine Axt aus dem Boden, machte einen halben Schritt zurück und blinzelte auf sie herab. Anscheinend hatte sie ihn doch härter getroffen, als sie geglaubt hatte. Sein Gesicht wirkte ein bisschen verschoben, und aus seinem Mundwinkel tropfte Blut. Vielleicht hatte er sich ja an einem Splitter ihrer zertrümmerten Kniescheibe verletzt.
Pia sagte sich nicht nur selbst, dass dieser Gedanke ziemlich albern war, sondern fragte sich auch, wieso sie ihn überhaupt noch denken konnte. Immerhin war der Ork nicht allein.
Mit zusammengebissenen Zähnen sah sie sich gehetzt um. Sie erkannte, warum die anderen Orks die Gelegenheit nicht genutzt hatten, sich auf sie zu stürzen. Sie waren damit beschäftigt, Istvans Männer abzuschlachten.
Die Soldaten waren ihnen zahlenmäßig mindestens um das Dreifache überlegen, aber das zögerte ihren Tod allenfalls um wenige Augenblicke hinaus. Istvans Krieger wehrten sich mit dem Mut von Männern, die längst begriffen hatten, dass sie sterben würden, und mit ihren langen Hellebarden und Schwertern gelang es tatsächlich dem einen oder anderen, sich die schuppigen Riesen vom Leib zu halten oder ihnen auch tiefe blutende Wunden zuzufügen. Doch die Oks schienen keinen Schmerz zu kennen, und wenn, dann stachelte er ihre Wut allerhöchstens zu noch größerer Raserei an. Einer der grünen Giganten fiel, aber die anderen wüteten wie die Berserker unter den bedauernswerten Männern. Der ungleiche Kampf würde höchstens noch eine Minute dauern, wenn überhaupt, und spätestens dann war es um Istvan und sie geschehen … wenn der Ork mit der Axt sich nicht vorher wieder daran erinnerte, warum er das Ding mitgebracht hatte, und es benutzte.
Sie hatte nicht vor, so lange zu warten.
Ohne auch nur die geringste Rücksicht auf ihr verwundetes Knie zu nehmen, fuhr Pia herum und humpelte los, und diesmal musste sie Istvan nicht zwingen, ihr zu folgen.
Hinter ihnen erscholl ein wütendes Knurren und dann ein Geräusch, das sie an rostiges Metall denken ließ, das über Stein scharrte, aber sie verschwendete nicht einmal einen Sekundenbruchteil daran, hinter sich zu sehen. Ihre Fantasie reichte vollkommen, um ihr zu sagen, was sie gesehen hätte.
Fast wie durch ein Wunder erreichten sie eine der schmalen Straßen, die auf den Vorplatz der Zitadelle mündeten, während rings um sie die letzten Soldaten starben. Brandgeruch hing in der Luft, und die Schreie hier waren nicht die einzigen. Auch der Lärm des fernen Kampfes hatte noch einmal zugenommen, und er schien plötzlich aus verschiedenen Richtungen zugleich zu kommen. Das war kein Kampf zwischen drei Schattenelben und einer Handvoll Orks mehr, dachte sie entsetzt. Es war eine Schlacht und sie schien überall in der Stadt zu toben. Selbst wenn Torman und die beiden anderen Schattenelben so gut waren, wie Istvan behauptet hatte, würde das am Untergang der Stadt nichts mehr ändern. Die drei konnten schließlich nicht überall gleichzeitig sein.
»Da!«, keuchte Istvan plötzlich. »Da! Seht doch!«
Seine ausgestreckte Hand deutete nach vorne, und als Pias Blick der Geste folgte, sah sie tatsächlich schwarzen Rauch, der sich über die Dächer der Stadt erhob, und einen Moment später glosenden roten Feuerschein. Die Geräusche von Schreien und aufeinanderprallenden Waffen wurden lauter.
»Bei Kronn, sie … sie sind überall!«, keuchte Istvan. »Sie brennen die Stadt nieder!«
Da mochte etwas dran sein, dachte Pia, aber sie hatte keine besonders großen Hoffnungen mehr, die Antwort auf die Frage zu finden, ob WeißWald nun vom Feuer oder einer Meute randalierender Orks verwüstet werden würde. Aus einem Grund, den sie wohl niemals erfahren würde, hatte der Ork bisher darauf verzichtet, Istvan und sie zu verfolgen, aber das holte er jetzt nach. Der Boden unter ihren Füßen begann unter den stampfenden Schritten des Giganten zu zittern, und sein markerschütterndes Brüllen übertönte für einen Moment sogar das Tosen der Schlacht.
Pia riskierte nun doch einen Blick über die Schulter und bedauerte diese Idee sofort. Der Ork war mindestens viermal so schwer wie sie und wirkte ebenso grobschlächtig wie plump, aber zumindest Letzteres war er ganz und gar nicht. Und wenn, dann machte seine enorme Größe diesen Nachteil mehr als nur wett. Er stürmte mit gewaltigen Schritten hinter ihnen her und er war mindestens dreimal so schnell wie sie. Selbst doppelt so schnell, wie sie ohne ihr angeschlagenes Knie gewesen wäre. Pia blieben noch ein paar Sekunden, allerhöchstens.
Sie verschwendete keine Zeit damit, darüber nachzudenken, was sie mit diesen Sekunden anfangen sollte, sondern reagierte einfach. Blitzartig steppte sie nach links, rammte die erstbeste Tür kurzerhand mit der Schulter ein und zerrte Istvan hinter sich ins Haus. Ein kleines, spärlich möbliertes Zimmer nahm sie auf. Von seinen Bewohnern war gottlob keine Spur zu sehen, aber auf dem Tisch vor dem Kamin standen eine halb aufgegessene Mahlzeit und eine brennende Öllampe, und noch während sie hindurchstolperte, klammerte sich Pia an die verzweifelte Hoffnung, dass die Tür eigentlich viel zu schmal war, um eine so massige Kreatur wie den Ork durchzulassen.
Das war sie auch, und der Ork musste wohl zu demselben Schluss gekommen sein, denn er rannte kurzerhand durch die Wand.
Lehm, Stroh, Steinbrocken und Holzsplitter explodierten in einer gewaltigen Wolke nach innen, und in ihrem Zentrum erschien ein vor Wut brüllender Gigant, der eine noch weitaus gigantischere doppelklingige Axt schwang – die sich zu seinem Pech noch außenhalb des Gebäudes befand. Vom Türrahmen und dem ihn umgebenen Mauerwerk war nicht mehr besonders viel übrig geblieben, doch der kümmerliche Rest reichte noch, um die Axtschneide aufzufangen und den Ork unter der Wucht seines eigenen Hiebes zurückzureißen.
Mehr Zeit brauchte Pia nicht. Ihrer Hand war nichts im Weg, als sie nach der Öllampe griff und sie der Grünhaut ins Gesicht warf.
Der improvisierte Molotow-Cocktail funktionierte sogar noch besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Der dünne Tonkrug zerbarst und verschüttete seinen Inhalt über Gesicht, Schultern und Brustkorb des Orks, und der brennende Docht hatte es ausgesprochen eilig, das Öl in Brand zu setzen. Das Ergebnis war eine krachende Explosion, die nicht nur wie ein Pistolenschuss durch den winzigen Raum hallte und eine Woge intensiver Hitze über Istvan und ihr zusammenschlagen ließ, sondern ihre Augen auch mit unerträglich grellem Licht marterte.
Ihre Ohren musste die Explosion nicht quälen. Das erledigte der Ork.
Sein Brüllen erschütterte die ganze Stadt in ihren Grundfesten. Mindestens. Und diesmal kreischte er nicht vor Wut, sondern vor schierer Qual.
Pia fuhr auf dem Absatz herum, packte Istvans Arm und sprintete los.
Mehr durch Glück oder Zufall als aus irgendeinem anderen Grund stolperten sie durch eine zweite Tür, fanden sich in einem noch kleineren Raum wieder, und sie sah etwas vor sich, auf das sie kaum noch zu hoffen gewagt hatte: eine weitere Tür, durch deren Ritzen blasses Tageslicht schimmerte.
Hinter ihnen wurde das kreischende Brüllen des Orks noch lauter, und ein Geruch wie von schmorendem Fleisch lag mit einem Mal in der Luft, als sie weiterstürmten und sich in einem winzigen, an drei Seiten von verfallenen Mauern umgebenen Innenhof wiederfanden.
Pia flankte mit einer kraftvollen Bewegung über die Mauer und hatte im nächsten Moment das Gefühl, Istvan den Arm aus dem Gelenk zu reißen. Aber dennoch: Er schaffte es zwar nicht halb so elegant über die Mauer wie sie, doch er schaffte es, und sein Arm war auch noch (ungefähr) da, wo er sein sollte. Keuchend vor Schmerz sank er neben ihr auf die Knie, presste die Hand gegen seine Schulter, und Pia gewährte ihm zwei oder drei unendlich kostbare Sekunden – die sie ganz und gar nicht hatten –, um seinen Schmerz zu bewältigen und wieder halbwegs zu sich zu kommen.
Der kleine Mann fand seine Fassung deutlich schneller wieder, als sie erwartet hätte. Zwar noch immer mit zuckenden Mundwinkeln, aber erstaunlich kraftvoll stemmte er sich auf die Beine und zwang sich sogar zu so etwas wie einem Lächeln.
»Danke, Erhabene«, sagte er. »Ohne Euch wäre ich jetzt tot.«
Mit ihr auch, aber das begriff er wahrscheinlich nicht einmal mehr. Die Wand hinter ihm flog in einer Wolke aus Ziegelsteinen und Staub auseinander, und ein brennender Ork brach daraus hervor, schlug Istvan mit der bloßen Faust den Kopf von den Schultern und hätte auch sie einfach in den Boden getrampelt, wäre sie ihm nicht im allerletzten Moment mit einer verzweifelten Bewegung ausgewichen.
Pia verlor durch die hastige Bewegung das Gleichgewicht und fiel schwer (natürlich auf das verletzte Knie), und der Ork raste wie eine lebende Dampfwalze an ihr vorbei und krachte in die gegenüberliegende Wand. Seine Wucht reichte nicht aus, sie zu durchbrechen, aber immerhin, ihn selbst zurücktaumeln und benommen zu Boden sinken zu lassen.
Derselbe gehässige Teil ihres Unterbewusstseins, der sie schon seit Tagen mit ungewollt logischen Fragen malträtierte, fragte sie nun ganz sachlich, wer eigentlich zuerst wieder auf die Beine kommen würde, der Ork oder sie; eine Frage, die vielleicht nicht nur theoretisch über Leben und Tod entscheiden mochte.
Wie es aussah, lief es auf ein Unentschieden hinaus.
Pia mobilisierte jedes bisschen Willenskraft, das sie noch in ihrem geschundenen Körper fand, um sich herum- und auf Hände und Knie zu wälzen, und der Ork stemmte sich kaum zwei Meter neben ihr hoch und starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an, in denen Schmerz und blanke Mordlust einen stummen Kampf miteinander fochten, dessen Ausgang vielleicht noch nicht endgültig feststand, ohne dass sein Ergebnis irgendeinen Unterschied für sie gemacht hätte – er würde sie so oder so umbringen.
Pia kam zumindest als Erste wieder in die Höhe, was ihr nicht viel brachte, wie ihr ein einziger Blick in die Runde zeigte. Hinter der Wand, über die sie gerade so mühsam geklettert waren, lag eine weitere schmale Gasse, wie es sie hier zu Hunderten gab. Aber sie endete keine zehn Schritte hinter ihr vor einer fensterlosen Mauer, die sogar für sie entschieden zu hoch war, um sie ohne Hilfsmittel zu übersteigen, und der einzige Ausgang befand sich zehn oder zwölf Schritt entfernt am anderen Ende der Gasse. Hinter dem Ork.
Pia überschlug in Gedanken blitzschnell ihre Chancen, einfach mit einem beherzten Sprung über den Ork hinwegzusetzen, und kam zu einem Ergebnis, das deutlich unter null Prozent lag. Der grüne Koloss hatte sich auf Hände und Knie hochgestemmt, und sein gekrümmter Rücken befand sich nahezu auf der Höhe ihres Gesichts. Ohne ihr geprelltes Knie hätte sie sich diesen Satz möglicherweise zugetraut, auch wenn er nur den Arm auszustrecken brauchte, um sie zu packen, aber so? Diesmal saß sie tatsächlich in der Falle.
Aber es gab immer noch eine Sache, die sie tun konnte.
Hastig griff sie nach den Schatten, versuchte sie zu einem schützenden Mantel um sich zu weben und registrierte mit einem Gefühl von kaltem Entsetzen, dass es ihr nicht gelang.
Der Ork stöhnte grollend, begab sich wankend in eine kniende Position und drehte den Kopf in ihre Richtung. Er brannte nicht mehr, aber sein Oberkörper und sein Gesicht dampften, als wäre er gerade aus einer überhitzten Sauna in die Kälte hinausgetreten, und Pia sah, welch schreckliche Wunden ihm das Feuer zugefügt hatte. Von seinem Gesicht löste sich die Haut in großen, hässlichen Flecken, unter denen rotes, rohes Fleisch zum Vorschein kam, und eines seiner Augen war zu einer milchigen Kugel geworden. Auch wenn es vorher wahrscheinlich nicht anders gewesen war: Jetzt hatte sie von dieser verletzten Kreatur ganz bestimmt keine Gnade mehr zu erwarten.
Sie versuchte noch einmal die Schatten herbeizurufen, noch einmal vergeblich.
Panik machte sich in ihr breit. Irgendwie gelang es ihr, diese wenigstens weit genug zurückzudrängen, um noch halbwegs klar denken zu können. Sie machte einen hastigen Schritt zurück und sah sich mit immer größer werdender Verzweiflung um. Es war das zweite Mal, dass ihre magischen Kräfte sie im Stich ließen, und sie hatte sogar das Gefühl, eigentlich zu wissen, warum das so war, aber zugleich war sie auch viel zu sehr in Panik, um den Gedanken zu fassen und zu seinem logischen Ende zu verfolgen. Pia machte einen weiteren Schritt zurück und dann noch einen und …
… blieb verblüfft stehen, als ihr klar wurde, dass das fast ohne ihr eigenes Zutun geschehen war. Ihre Füße hatten sich ganz von selbst bewegt.
Genauer gesagt: ihre Stiefel.
Sie ließ sie gewähren, wich rasch weitere fünf, sechs Schritte vor dem Ork zurück und fragte sich, wohin ihre verzauberten Schuhe sie eigentlich führen wollten. Die Gasse endete wenige Schritte hinter ihr vor einer drei Meter hohen Mauer, und in den Wänden rechts und links gab es keine Fenster.
Sie leistete trotzdem keinen Widerstand, wich rückwärtsgehend weiter vor dem Ork zurück und stieß schließlich mit dem Rücken gegen die Wand. Der Ork knurrte, richtete sich zu seiner vollen Größe von mehr als zwei Metern auf und bückte sich noch einmal, um seine Axt aufzuheben, und Pia griff ganz instinktiv zum dritten Mal nach den Schatten, um sich darin zu verbergen, und diesmal eilten sie gehorsam herbei. Als sich der Ork wieder aufrichtete, erschien ein verwirrter Ausdruck in seinem verbliebenen sehenden Auge.
Pia hätte um ein Haar vor Erleichterung laut aufgestöhnt und sich damit gleich wieder verraten, als ihr klar wurde, was sie schon einmal begriffen und gleich wieder vergessen hatte. Die Gasse lag im hellen Sonnenlicht da, und dort funktionierte ihr Zauber nicht. Es musste Schatten geben, um in die Schatten zu fliehen, so wie hier am Fuß der Mauer. Noch einmal würde sie das ganz gewiss nicht vergessen.
Falls es ein noch einmal gab.
Der Ork machte einen einzelnen stampfenden Schritt, und Pia begriff, dass sie keineswegs außer Gefahr war. Das Ungeheuer sah sie nicht mehr, aber sie saß nach wie vor in der Falle. Wenn sie sich auch nur einen einzigen Schritt von der Wand entfernte, würde sie wieder sichtbar werden, und selbst wenn dem nicht so wäre: Die Gasse war so schmal, dass der verwundete Gigant sie fast zur Gänze mit seinen breiten Schultern ausfüllte. Selbst unsichtbar hätte sie keine Chance, unbemerkt an ihm vorbeizukommen.
Pia sah auf ihre Stiefel hinab. Irgendwelche Vorschläge?
Ihre Füße bewegten sich nicht, aber dafür kam der Ork jetzt mit tappend – schwerfälligen Schritten näher. Er schien es nicht besonders eilig zu haben, und auf seinem verheerten Gesicht lag noch immer ein verwirrter Ausdruck. Aber es wirkte auch … lauernd, und Pia glaubte regelrecht sehen zu können, wie es hinter seiner verbrannten Stirn arbeitete. Vielleicht witterte er sie, dachte sie, und vielleicht wusste er auch einfach, was sie getan hatte, und dass sie in Wahrheit immer noch da und nur seinen Blicken entzogen war. Das monströse Aussehen und die schlechten Umgangsformen dieses riesigen Geschöpfes führten dazu, dass sie es für ebenso dumm wie groß hielt … doch das musste keineswegs so sein. Vielleicht stand sie ja einem durchaus intelligenten Gegner gegenüber.
Ob intelligent oder nicht, eines war er auf jeden Fall: groß. Er machte einen weiteren tapsenden Schritt in die Richtung, in der sie gerade vor seinen Augen verschwunden war. Die Axtklinge schleifte scharrend hinter ihm her und riss Funken aus dem hart gefrorenen Boden, den anderen Arm hatte er halb zur Seite gestreckt, sodass seine Fingerspitzen an der Wand entlang schrammten. Pia überlegte einen Moment lang trotzdem, alles auf eine Karte zu setzen und einfach einen todesmutigen Sprint an ihm vorbei zu riskieren, verwarf den Gedanken aber auch beinahe sofort wieder. Es gab einen kleinen, jedoch entscheidenden Unterschied zwischen todesmutig und selbstmörderisch. Selbst wenn sie ihn damit überraschte, wie aus dem Nichts vor ihm aufzutauchen und loszurennen, würde er sie erwischen.
Ihre Gedanken rasten. Sie musste hier raus, egal wie … aber es gab kein wie. Der Ork füllte die Gasse vor ihr aus wie eine lebende Mauer aus grünen Schuppen und Muskeln und Wut und kam unerbittlich näher. Noch drei oder vier stampfende schwere Schritte und er hatte sie erreicht. Er sah sie immer noch nicht, wie sein hilfloser Blick verriet, aber er musste sie auch nicht sehen, um sie zu packen und zu Mus zu zerquetschen.
Ein krächzender Schrei wehte vom Himmel zu ihnen herab, und ein verschwommener Schatten huschte durch die Gasse, berührte die riesige Gestalt des Orks und verschwand wieder.
Pia und die gigantische Kreatur blickten gleichzeitig hoch und sahen einen gewaltigen schwarzen Raben, der so dicht über die spitzen Dächer hinweg flog, dass seine Flügelspitzen pulverfeinen Schnee aufstieben ließen, für einen Moment verschwand und dann zurückkehrte.
Es war nicht irgendein Vogel. Eirann hatte einen weiteren seiner Raben geschickt. Und er war nicht allein gekommen. Noch während er herumschwenkte und seine Flügel zu ihrer ganzen gewaltigen Spannweite von beinahe zwei Metern entfaltete, gesellten sich ein zweiter und dritter schwarzer Riesenrabe hinzu. Gemeinsam stießen die Tiere auf die schmale Gasse herab, bis es fast den Anschein hatte, als wollten sie den Ork angreifen. Im letzten Moment brachen sie ihren verwegenen Sturzflug ab und gewannen heftig mit den Flügeln schlagend wieder an Höhe, aber die schuppige Kreatur richtete sich mit einem zornigen Knurren zu ihrer ganzen gewaltigen Größe auf, schwang ihre Axt und versuchte sogar in die Höhe zu springen, um die frechen Angreifer zu erreichen. Es sah einigermaßen grotesk aus, doch dafür hatte Pia in diesem Moment keinen Blick übrig. Sie starrte die Schatten an, die die drei Riesenraben in die Gasse warfen. Es waren keine richtigen Schatten, jedenfalls keine der Art, wie sie sie sich gewünscht hatte; keine scharf abgegrenzten Bereiche zwischen Dunkelheit und Licht, und sie hielten nicht einmal still, sondern vollführten einen hektischen Tanz, verschmolzen miteinander, verschwanden und tauchten wieder auf, wie rauchige Schemen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun wirklich existierten oder nicht … aber es war eine Chance. Und gottlob blieb ihr nicht einmal die Zeit, wirklich darüber nachzudenken oder gar ihre Chancen abzuschätzen.
Als die Raben das nächste Mal auf den Ork herabstießen, löste sie sich von der Wand, machte einen raschen Schritt und wurde Teil des rasenden Tanzes. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie so etwas wie Erkennen in dem sehenden Auge des Giganten aufblitzen zu sehen, aber die Raben stießen erneut mit ihren Ehrfurcht gebietenden Schnäbeln nach ihm und peitschten mit den Flügeln, um das Ungeheuer abzulenken und die Schatten zu einem neuen, noch wilderen Tanz anzustacheln, und es hätte ohnehin kein Zurück gegeben. Sie sprang von Schatten zu Schatten, wurde eins mit den rauchigen Schemen und berührte sogar einmal die Hüfte des brüllenden Giganten, und dann war sie vorbei, machte einen letzten, verzweifelten Satz und sprang durch die Bresche, die der Ork gerade selbst in die Mauer gebrochen hatte.
Aus dem Haus dahinter quollen schwarzer Rauch und Feuerschein; der Ork war nicht das Einzige gewesen, das die Öllampe in Brand gesetzt hatte. Trotzdem zögerte sie nicht einen Sekundenbruchteil, sondern rannte im Gegenteil nur noch schneller, als sie ein gleichermaßen wütendes wie enttäuschtes Brüllen hinter sich hörte. Das Haus stand in Flammen, aber dort drinnen hatte sie wenigstens eine winzige Chance. Sie holte noch einmal tief Luft, um sich nicht die Lungen zu verbrennen, schlug die Kapuze ihres Mantels hoch und sprang geduckt durch die Tür. Hinter ihr erscholl ein Geräusch wie von zerberstendem Stein, das sie zu noch größerer Schnelligkeit anstachelte. Sie schätzte, dass sie unter den gegebenen Umständen die Luft vielleicht dreißig Sekunden lang anhalten konnte, aber das musste reichen. Wenn sie es nicht in dreißig Sekunden bis hinaus auf die Straße schaffte, dann war sie sowieso tot.
Vielleicht auch schon eher. Das erste Zimmer, durch das sie stürmte, war nur von schwarzem Rauch erfüllt, das andere jedoch stand in hellen Flammen. Die gesamte Wand, in der sich der Ausgang befand, war eine einzige orangerote und weiße Hölle, und die Hitze berührte ihr Gesicht wie eine unsichtbare glühende Hand. Unmöglich, da hindurchzukommen. Sie würde zu Asche verbrennen, wenn sie sich der Feuerwand auch nur näherte. Aber sie konnte auch nicht mehr zurück. Hinter ihr erscholl der mittlerweile schon fast vertraute Laut von zerberstendem Stein, und sie konnte die Nähe des vor Wut schnaubenden Orks beinahe körperlich spüren.
Hastig wandte sie sich nach links, in die einzige Richtung, die ihr noch blieb, stürmte die steile Treppe hinauf und sah den Ork unter sich genau an der Stelle durch die Wand brechen, an der sie eine Sekunde zuvor noch gestanden hatte. Er brüllte zwar vor Wut, Schmerz und Enttäuschung und riss die Arme in die Höhe, um sein Gesicht vor der grausamen Hitze zu schützen, setzte aber trotzdem sofort zur Verfolgung an, und Pia beschleunigte ihre Schritte noch einmal, obwohl ihre Lungen mittlerweile immer lauter nach Sauerstoff schrien.
Auch die Treppe stand längst in Flammen. Der Saum ihres Mantels fing Feuer, als sie die letzten drei oder vier Stufen hinaufsprang. Sie schlug sie im Rennen aus, stürmte blindlings durch die erstbeste Tür und fand sich in einem winzigen Zimmer mit nur einem einzigen schmalen Fenster wieder. Hinter ihr begann die Treppe zu ächzen, als ihr der Ork mit gewaltigen Sätzen nachstürmte, und sie wagte zum ersten Mal wieder zu atmen. Selbst hier oben war die Luft bereits heiß und schmeckte nach Rauch, und die Erleichterung, wieder atmen zu können, hielt nicht einmal so lange, wie der Sauerstoff brauchte, um ihre Lungen zu erreichen. Der Ork war keine fünf Schritt hinter ihr (noch während sie diesen Gedanken dachte, verringerte sich ihr Vorsprung vermutlich auf drei), und das Fenster war sogar für sie zu schmal, um sich hindurchzuquetschen, selbst wenn sie den Sprung in die Tiefe gewagt hätte. Zwar gab es Schatten in Hülle und Fülle, aber der Ork musste sie nicht sehen, um sie zu erwischen. Ein einziger Hieb mit seiner gewaltigen Axt reichte aus, um buchstäblich jeden Winkel des Zimmers zu erreichen.
Pia war mit zwei, drei schnellen Schritten am Fenster und drehte sich genau in dem Moment herum, in dem der grüne Koloss durch die Tür brach.
Der Ork brüllte triumphierend, und Pia verschmolz mit den Schatten. Das Ungeheuer schrie nur noch lauter, breitete die Arme aus und pflügte durch das Zimmer, und statt nach rechts oder links auszuweichen, womit er garantiert rechnete, ließ sie sich da fallen, wo sie stand, rollte sich zu einem Ball zusammen und versuchte sich gegen den zu erwartenden Anprall zu wappnen.
Er kam nicht. Die in rostigen Metallschienen steckenden Beine des Ork rasten heran und schienen für einen Sekundenbruchteil die Welt von einem Ende zum anderem auszufüllen, aber sie zermalmten sie nicht. Stattdessen prallte der Koloss über ihr mit ungeheurer Wucht gegen die Wand. Und hindurch.
Plötzlich wurde es hell. Frische, köstlich kalte Luft hüllte sie ein, und einen Sekundenbruchteil später wehte ein dumpfer Aufprall an ihr Ohr.
Pia stemmte sich hoch, starrte einen Moment lang auf das gut zwei mal zwei Meter messende Loch, das da in der Wand gähnte, wo gerade noch das Fenster gewesen war, und beugte sich dann behutsam vor, um hindurchzuspähen. Der Ork lag eine Etage tiefer inmitten eines Trümmerhaufens und begann sich genau in diesem Moment schon wieder stöhnend zu regen. Verdammt, waren diese Kerle eigentlich vollkommen unkaputtbar?
Pia beschloss es herauszufinden, ignorierte ihr immer noch heftig pochendes Knie und sprang hinter ihm her.
Sie landete mit beiden Füßen auf seinem Rücken und wurde mit dem erwarteten stechenden Schmerz belohnt, aber sie spürte auch voller grimmiger Befriedigung, wie irgendetwas in seinem Körper nachgab und zerbrach, und diesmal war das brüllende Grunzen, das über seine Lippen kam, ganz eindeutig ein Laut der Qual.
Den Schwung ihrer eigenen Bewegung ausnutzend, rollte sie sich ab und kam wieder auf die Füße. Der Ork versuchte sich hochzustemmen, schrie noch einmal und noch lauter und brach wieder zusammen, und hinter ihr sagte eine ehrlich erstaunt klingende Stimme: »Das war wirklich beeindruckend, Erhabene.«