II

Die Sonne war auf die Sekunde pünktlich untergegangen, und mit der Dunkelheit war Wind aufgekommen, der Pia gehörig auf die Nerven ging.

Er war warm genug, um sich wie eine sanft streichelnde Hand auf dem Gesicht anzufühlen, und es war nicht der typische Geruch der Favelas, den er mit sich trug, der sie so gestört hätte: eine schwer in Worte zu fassende Mischung aus rußenden Brikett- und Holzkohlefeuern, moderndem Wasser und faulendem Holz, aus zu vielen Menschen auf zu wenig Raum, die sich zu selten wuschen, aus Schwarzbrennereien und Benzin und den tausend anderen Aromen, die den typischen Geruch der Favelas ausmachten (mancher hätte ihn als den Gestank einer bewohnten Müllkippe bezeichnet; aber der Letzte, der das laut in ihrer Hörweite getan hatte, hatte Bekanntschaft mit Jesus’ Fäusten gemacht), oder die Ahnung von Kälte, die er von den verschneiten Berggipfeln im Westen mit sich brachte. All das kannte und liebte Pia, denn es war einfach Teil der letzten zwanzig (und somit beinahe aller) Jahre ihres Lebens. Sie nahm es nicht einmal mehr wirklich zur Kenntnis.

Was sie nervös machte, das waren die Geräusche. Der Wind wehte nicht beständig – und schon gar nicht beständig aus einer Richtung –, sondern hüpfte ununterbrochen hin und her, brach manchmal ganz ab, um sie dann aus der entgegengesetzten Richtung und mit doppelter Kraft wieder anzuspringen, und er brachte tausend unterschiedliche Geräusche und Laute mit sich: das Raunen und Wispern der Favelas auf der anderen Straßenseite, den fernen Verkehrslärm der Stadt, Gelächter und Gezänk, das Heulen der landenden und startenden Flugzeuge – Boten aus einer fremden, ihr unverständlichen und von ihr ungeliebten Welt, die manchmal so tief über die Dächer der Stadt hinwegglitten, dass man meinte, ihre Flügelspitzen mit den ausgestreckten Armen berühren zu können –, Musikfetzen und das Weinen eines Kindes und Fragmente unzähliger anderer Laute. Nichts davon hatte Bestand oder dauerte auch nur lange genug an, um es eindeutig zu identifizieren, und das war es, was an ihren Nerven zerrte. Sie hatte das Gefühl, einem Radio zuzuhören, dessen Empfänger mit dem Laufrad eines ganz besonders nervösen Hamsters verbunden war.

Pia war immer – zu Recht – stolz auf ihr scharfes Gehör gewesen. In einer Umgebung, die sie auch nur einigermaßen kannte, vermochte sie sich normalerweise binnen weniger Sekunden selbst mit geschlossenen Augen zurechtzufinden, doch jetzt fühlte sie sich eines ihrer wichtigsten Sinne beraubt, beinahe wie verkrüppelt.

Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst.

Im Moment trug der Wind die Geräusche der Cantina heran, in der sie noch eine gute Stunde gesessen und Bier auf des Comandantes Kosten getrunken hatten – wahrscheinlicher auf die des Wirtes, was ihr aber ziemlich gleichgültig war. Etliche der Einkehrer waren geblieben, und aus einem Feierabendbier waren deren viele geworden, und sicher auch der eine oder andere Cachaça. Vor Minuten erst hatte es dort drüben hörbar geklirrt, und dem Geräusch von zerbrechendem Glas war ein Schatten gefolgt, der aus der offen stehenden Tür geflogen und auf den Gehweg gestürzt war, wo er einen Moment benommen liegen blieb, bevor er sich aufrappelte und betrunken davontorkelte. Die Schlägerei, auf die sie mit angehaltenem Atem gewartet hatte, war jedoch nicht ausgebrochen. Immerhin etwas.

Sie sollten trotzdem nicht hier sein.

Pia brachte die mahnende Stimme in sich mit einer bewussten Anstrengung zum Verstummen und konzentrierte sich wieder auf das Baustellengelände. Das ruhig brennende Licht der Petroleumlampe war im gleichen Maße heller geworden, in dem das Rot des Sonnenuntergangs verblasst war, und vor einer halben Stunde hatte der greise Nachtwächter seine letzte Runde für heute gedreht und schlief vermutlich schon. Alles so pünktlich, wie sie es erwartet hatte.

Wer nicht pünktlich war, war die Streife.

Der Wagen hätte schon vor gut zehn Minuten auftauchen sollen, aber bis jetzt war keine Spur von ihm zu sehen, und Pias Nervosität und das schlechte Gefühl in ihr stiegen mit jeder Sekunde, die verging. Vielleicht hätte sie auf Jesus hören und die ganze Aktion um eine Woche und einen Tag verschieben sollen.

Ein gedämpftes Scharren drang in ihre Gedanken, ein Geräusch, das weder besonders laut noch in irgendeiner Weise alarmierend war, aber einfach nicht hierhergehörte. Dass sich der Wind in diesem Augenblick wieder einmal drehte und es ihr auf diese Weise zusätzlich schwer machte, die Richtung zu bestimmen, aus der es gekommen war, beunruhigte sie zusätzlich. Sie hasste es, wenn irgendetwas geschah, von dem sie nicht genau wusste, was es bedeutete.

Sie ging das Risiko ein und trat einen Schritt aus dem schwarzen Schlagschatten heraus, den Jesus und sie sich schon vor Tagen als perfektes Versteck erwählt hatten, um nach der Ursache des Geräusches Ausschau zu halten, und auch das war nicht nur ungewöhnlich genug für sie, sondern hätte ihr ganzes Vorhaben um ein Haar zum Scheitern gebracht, noch bevor es überhaupt richtig begonnen hatte, denn genau in diesem Moment tauchte ein Scheinwerferpaar am anderen Ende der Straße auf und kam so schnell näher, dass Jesus sie gerade noch packen und grob unter den Torbogen zurückzerren konnte. Er tat ihr dabei ziemlich weh, aber Pia verbiss sich jeden Schmerzenslaut und sah mit klopfendem Herzen zu dem näher kommenden Scheinwerferpaar hin.

Es war die Streife. Pia erkannte das charakteristische Quietschen des ausgeleierten Keilriemens, noch bevor der Wagen zehn Meter entfernt anhielt und das von den Häuserwänden reflektierte Streulicht der Scheinwerfer die Karosserie beleuchtete. Die beiden Beamten stiegen gleichzeitig aus und ließen nicht nur die Türen offen stehen, sondern auch den Motor laufen – eines der ungeschriebenen Gesetze, an die sich hier jedermann hielt, lautete, dass niemand einen Polizeiwagen stahl – und näherten sich dem Tor im Maschendrahtzaun. Eine Taschenlampe flammte auf und strich über das rostige Drahtgeflecht, um schließlich an dem uralten Vorhängeschloss hängen zu bleiben.

Pia runzelte die Stirn. Normalerweise ließen es die Männer bei einer flüchtigen Inspektion bewenden, und sie hätte eher darauf gewettet, dass sie es heute noch kürzer machten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen – mittlerweile waren sie eine gute Viertelstunde zu spät –, aber nun griff einer von ihnen in die Tasche, und sie hörte das Klimpern eines Schlüsselbundes.

Also gut, dachte sie, wenn der Bursche jetzt das Schloss aufsperrte, um die Baustelle zum ersten Mal gründlich zu inspizieren, dann würde sie auf Jesus (und ihre eigene innere Stimme) hören und abbrechen.

Die Hand mit dem Schlüsselbund kam wieder aus der Tasche, und Pia setzte dazu an, Jesus im Flüsterton ihre Entscheidung mitzuteilen. In diesem Moment summte das Celular des zweiten Mannes. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu melden, sondern klappte das Gerät wortlos auf und hielt es schweigend für wenige Sekunden ans Ohr, dann steckte er es wieder ein und gab seinem Begleiter aus der gleichen Bewegung heraus ein Zeichen, kehrtzumachen. Nur einen Moment später knallten die Türen zu, und der Wagen jagte mit kreischenden Reifen los. Kurz bevor er das Ende der Straße erreichte und abbog, begann das Blaulicht auf seinem Dach zu flackern.

»Was war das denn?«, murmelte Jesus.

»Glück?«, schlug Pia vor.

Jesus schwieg, und sie wusste auch, warum. Das hatte er nicht gemeint.

Sie ließ vorsichtshalber noch eine weitere Minute verstreichen, dann warf sie einen sichernden Blick nach rechts und links und trat aus ihrem Versteck in den Schatten heraus. Der Wind drehte sich und trug Musik und Gesprächsfetzen aus der Cantina an ihr Ohr, und für einen winzigen Augenblick hatte sie einen Eindruck von schattenhafter Bewegung über sich, aber sie ging trotzdem mit so schnellen Schritten weiter, wie sie es gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, streckte die Arme nach oben und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über das Tor. Die altersschwache Konstruktion zitterte leicht unter ihrem Gewicht; dann ächzte sie hörbar und bog sich ein Stück weit durch, als Jesus ihr auf dieselbe Weise folgte. Nicht einmal dreißig Sekunden nachdem sie ihr Versteck verlassen hatten, schmiegten sie sich nebeneinander in den Schatten eines der großen Baufahrzeuge und wurden erneut vollkommen unsichtbar.

Und jetzt hieß es warten. Wenn alles so ablief wie die letzten drei Mal, als sie die Übergabe beobachtet hatten, dann würde der Kurier irgendwann innerhalb der nächsten Stunde auftauchen; eine lange Zeit, wenn man wartete, und eine Ewigkeit, wenn man darauf wartete, dass etwas schiefging.

Pia runzelte abermals die Stirn, verwirrt über ihre eigenen Gedanken. Während sie reglos und bewusst flach atmend in der Dunkelheit kauerte, Jesus’ Wärme und das beruhigende Wissen um seine bloße Gegenwart genoss und ihren Blick dabei über die Landschaft aus Schatten und ineinanderfließenden Umrissen und unheimlichen … Dingen vor sich tasten ließ, gestand sie sich ein, dass sie ganz genau das tat: Sie wartete darauf, dass etwas schiefging.

Das war neu. Und es war sehr beunruhigend.

Pia hatte nach dem dritten oder vierten Mal, als sie mit Jesus zusammen unterwegs gewesen war, aufgehört zu zählen. Sie hatten eine stattliche Anzahl Dinger zusammen gedreht, etliche klein, manche größer, und einige ihrer nächtlichen Raubzüge hatten sie sogar auf die Titelseite der Lokalzeitung gebracht (einer geradewegs in Hernandez’ Bett, aber das war auch der einzige Ausreißer in einer langen Erfolgsgeschichte gewesen, und außer dem Comandante und ihr selbst wusste niemand etwas davon). Doch eines hatte sie nie getan: gezweifelt. Sie hatte stets gewusst, wann eine Sache Aussicht auf Erfolg hatte und wann nicht, und prinzipiell die Finger von Letzterem gelassen.

Beging sie heute ihren ersten wirklichen Fehler?

Die Antwort, wie sie sich bekümmert eingestand, lautete ganz eindeutig vielleicht, und ein Vielleicht war von einem klaren Nein eigentlich zu weit entfernt, um akzeptabel zu sein. Was zum Teufel also tat sie hier?

Wieder hörte sie ein Geräusch; dasselbe gleichzeitig metallisch wie irgendwie … lebendig wirkende Scharren, das sie schon einmal vernommen und als so sonderbar unpassend für diesen Moment empfunden hatte, und diesmal war es zu deutlich, um es als bloße Einbildung abzutun. Und außerdem kam es ganz eindeutig von oben.

Pia sah so erschrocken auf, dass auch Jesus neben ihr zusammenfuhr und sie spüren konnte, wie er sich anspannte. Ihr Blick suchte den Himmel ab, der selbst jetzt, lange nach Dunkelwerden, noch nach dem erstickenden Smog des Tages aussah, und während sie es tat, lief ihre Fantasie zwar nicht unbedingt Amok, gaukelte ihr aber dennoch die verrücktesten Dinge vor, und nicht wenige davon waren flach und rund und hatten ein winziges rot glühendes Auge in der Mitte.

Es konnte nicht die Drohne sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Die Dinger flogen nicht nachts. Seit sie in den ersten Nächten gleich reihenweise gegen Wände, Dächer, Stromleitungen und Antennenmasten geprallt und ebenfalls reihenweise abgestürzt waren und sich herausgestellt hatte, dass die preiswerten chinesischen Infrarot-Augen noch weniger funktionierten als der Rest, kehrten die fliegenden Spitzel pünktlich mit Einbruch der Dämmerung in ihre Garagen zurück. Außerdem durfte es nicht die Drohne sein, ganz einfach deshalb, weil Jesus und sie dann gründlich im Arsch wären.

Sie war es auch nicht, aber es war Jesus, der die Ursache des Geräusches entdeckte und sie mit einer entsprechenden Geste darauf aufmerksam machte.

Der Rabe saß nahezu direkt über ihnen auf einem der stählernen Baggerzähne, und obwohl er sich nur als schwarze Silhouette gegen den Nachthimmel abhob und Pia seine Augen nicht erkennen konnte, spürte sie ganz deutlich, dass er Jesus und sie anstarrte.

Nein. Sie verbesserte sich in Gedanken.

Nicht Jesus und sie.

Sie.

Sie versuchte zwar, sich selbst davon zu überzeugen, dass dieser Gedanke nichts als blühender Unsinn war, aber er blieb hartnäckig, und er löste ein eisiges Frösteln der Furcht aus, das auf Millionen dürren Insektenbeinen über ihren Rücken lief. Der Rabe war riesig, mindestens einen Meter groß, wenn nicht mehr, und er saß nicht einfach nur so da, sondern beobachtete sie aus wachen, unsichtbaren Augen.

Jesus berührte sie erneut an der Schulter und deutete nach links. Dort saß der zweite Rabe, so schwarz und stumm wie der erste und sogar noch größer. Und auch er starrte sie an.

»Was sind das für Viecher?«, murmelte Jesus, und Pia hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung und ohne das mindeste Zögern antworten:

»Eiranns Raben.«

»Wie?«, fragte Jesus.

»Ähm …irgendwelche Raben eben«, antwortete Pia. Eiranns Raben? Wie kam sie auf dieses Wort? Sie war sicher, es noch nie zuvor gehört zu haben, aber es klang ungemein vertraut und einfach … passend. Eine Spur lauter und mit dem (verunglückten) Versuch eines Lachens fügte sie hinzu: »Wahrscheinlich haben sich die beiden nur verflogen und wissen jetzt nicht mehr, wie sie nach Hause kommen. Pass bloß auf, dass sie dich nicht für eine fette Ratte halten.«

Jesus schenkte ihr einen schrägen Blick und setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment klimperte es vorne am Tor, und für eine halbe Sekunde blitzte der Strahl einer Taschenlampe auf, um gleich wieder zu erlöschen. Jesus erstarrte zur Salzsäule, und auch Pia drängte sich enger an ihn, während sie versuchte, noch weiter in den Schatten zurückzuweichen und gänzlich unsichtbar zu werden. Sie vergaß die Raben. Oder versuchte es wenigstens.

Die Taschenlampe blitzte noch einmal – länger – auf, und das Klimpern wiederholte sich und wurde dann zum metallischen Rasseln einer Kette. Das Tor schwang auf, und zwei, dann drei schattenhafte Gestalten huschten hindurch und kamen lautlos näher.

Drei? Nicht dass es nötig gewesen wäre, aber Pias ungutes Gefühl bekam noch mehr neue Nahrung. Bisher waren sie immer zu zweit gewesen, der Kurier meistens allein hereingekommen, sein Begleiter als Wache vorn am Tor zurückgeblieben. Wieso zum Teufel waren sie heute zu dritt?

Pia tröstete sich damit, dass sie schließlich niemand dazu zwang, mehr zu tun, als in ihrem Versteck zu sitzen und zuzusehen. Einer der Schatten blieb auch tatsächlich am Tor zurück, das er hinter sich schloss, drehte sich um und behielt die Straße im Auge, während die beiden anderen näher kamen. Die Taschenlampe flammte abermals auf und blieb diesmal an, und der zitternde Lichtstrahl huschte über den Boden, kletterte am Ausleger des Baggers empor und strich über den aufgehängten Betonkübel, um dann eine plötzliche, ruckhafte Bewegung nach rechts zu machen und einen gefiederten schwarzen Dämon aus der Dunkelheit zu reißen. Pia korrigierte ihre Einschätzung, die Größe des Rabens betreffend, noch einmal ein gutes Stück nach oben – wäre sie ein Adler gewesen, dann hätte sie es sich vermutlich zweimal überlegt, sich mit einem Gegner wie diesem anzulegen –, und auch das Verhalten des Vogels blieb sonderbar. Jedes andere Tier an seiner Stelle wäre spätestens jetzt davongeflogen. Der Rabe hingegen legte den Kopf auf die Seite und starrte in das Licht der Taschenlampe, ohne auch nur zu blinzeln. Er gab keinen Laut von sich.

Eine raue Stimme sagte etwas, das Pia nicht verstand, und ein noch raueres Lachen antwortete darauf. Der Lichtstrahl ließ den Raben für einen Moment los und kam dann zurück, strich diesmal aber nur über das rostige Eisen der stählernen Drachenzähne. Der Rabe war verschwunden, und das war beinahe noch unheimlicher.

Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie hatten im Moment wirklich andere Probleme als schwarze Riesenvögel, deren Navisystem durcheinandergekommen war. Eines davon war zumindest in derselben Farbe gekleidet und stand mit verschränkten Armen vor dem Tor. Sie mussten improvisieren.

Oder auch nicht, denn als sie sich zu Jesus umdrehen wollte, war er nicht mehr da. Pia hatte nicht einmal gemerkt, dass er aufgestanden und davongeschlichen war.

Der Lichtstrahl kehrte zu seinem ursprünglichen Ziel zurück, tastete misstrauisch über das rostige Metall des Kübels und dann noch aufmerksamer über das Drahtseil, an dem er aufgehängt war; ein guter Meter rostige Trosse, und somit nicht nur doppelt so lang wie an einem der anderen sieben Tage, sondern auch das vereinbarte Zeichen, dass die Lieferung an Ort und Stelle war. Pia spannte sich innerlich. Was sollte sie tun? Wo war Jesus?

Die Frage blieb vorerst unbeantwortet, aber zu dem ersten Lichtstrahl gesellte sich ein zweiter, der den Ausleger herunterwanderte und einige Sekunden wie ziellos umhertastete, bis er an einem Schaltkasten mit drei auffälligen Knöpfen hängen blieb. Der Mann ging hin, betätigte den obersten Knopf, und der Kübel setzte sich mit einem asthmatischen Ächzen in Bewegung und kletterte weiter in die Höhe, bevor er seinen Fehler korrigierte und das Kabel in umgekehrter Richtung abspulte. Pia fragte sich zum zweiten Mal, wo Jesus war. Sie hasste es, zu improvisieren, aber das bedeutete nicht, dass sie es nicht konnte. Es wäre jedoch hilfreich, zu wissen, ob sie Jesus in ihren improvisierten Plan B mit einbeziehen könnte …

Der Betonkübel berührte mit einem hohlen Dröhnen den Boden, und das Geräusch übertönte den anderen, seufzenden Laut, der vom Tor herüberwehte. Als Pia hinsah, schien sich dort nichts verändert zu haben; allenfalls, dass der Posten dort jetzt einen weißen Anzug trug statt eines schwarzen. Nun richteten sich beide Taschenlampen auf den Metallkübel, den der Mann mit der Fernsteuerung so zu Boden gelassen hatte, dass er den halb aufgeweichten Morast so gerade eben berührte. Sein Kumpan fing an, ihn hin und her zu schaukeln, bis er zu kippen begann und nur deshalb nicht umfiel, weil der andere das Drahtseil in diesem Moment wieder straffer zog. Der Kübel stand jetzt so schräg, dass der Kurier halbwegs bequem hineingreifen und den Deckel des doppelten Bodens öffnen konnte.

Pia seufzte. Sie wären heute Abend gar nicht hier, und alles wäre sehr viel einfacher und ungefährlicher gewesen, wenn es Jesus und ihr gelungen wäre, das verborgene Fach zu öffnen. Sie hatten es versucht, mehr als einmal, aber der Mechanismus war so kompliziert, dass sie ihn wohl höchstens mit einem Schneidbrenner aufbekommen hätten, und das wäre selbst hier mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben.

Zwei, drei, schließlich ein halbes Dutzend durchsichtiger, mit braunem Klebeband umwickelter Plastikbeutel fielen aus dem Fach, jeder ein gutes Pfund schwer, schätzte Pia. Gut doppelt so viel wie die fünf Mal zuvor, als sie die Übergabe beobachtet hatte … was bedeutete, dass die Männer wohl auch die doppelte Summe in das Geheimfach legen würden. Kein Wunder, dass sie Verstärkung mitgebracht hatten. Vielleicht war sie doch gut beraten gewesen, nicht auf ihre innere Stimme zu hören und alles abzublasen, sondern zu improvisieren. Wie es aussah, gab es heute die doppelte Beute.

Sie wartete, bis der Bursche die Drogenpäckchen an seinen Begleiter weitergegeben hatte, der sie in einen schmucklosen Leinenbeutel stopfte, den er über der rechten Schulter trug, griff unter die Jacke und trat im gleichen Moment aus ihrem Versteck heraus, in dem der Bursche noch einmal in seinen Beutel griff und zwei weitere in Plastik eingewickelte Päckchen hervorzog, die allerdings kein weißes Pulver enthielten, sondern sorgsam gebündelte Geldscheine. Im buchstäblich letzten Augenblick, bevor sie sichtbar wurde, zog sie beide Hände aus den Taschen. In der linken hielt sie eine weiße Karnevalsmaske mit nur angedeuteten menschlichen Zügen, die sie sich vor das Gesicht hielt, in der anderen einen plumpen Revolver mit einem vollkommen überdimensionierten Schalldämpfer. Der Schalldämpfer funktionierte schon lange nicht mehr, und die Trommel war mit Platzpatronen geladen, aber das wussten die beiden ja nicht.

»Spar dir die Mühe«, sagte sie ruhig. »Leg das Geld einfach wieder in die Tasche und stell sie vorsichtig ab.«

Beide Männer reagierten ganz genau so, wie sie es erwartet hatte: Der am Kübel fuhr wie von der berühmten Tarantel gestochen herum und griff unter seine Jacke, während der andere mitten in der Bewegung erstarrte und dann ganz langsam die Hände hob; er war ihr nahe genug, um nicht nur die unheimliche Karnevalsmaske deutlich erkennen zu können, sondern auch die Mündung des Schalldämpfers, die direkt auf sein Gesicht wies.

»Du kannst mich jetzt wahrscheinlich erschießen«, sagte Pia, an den anderen gewandt, jedoch ohne den Burschen vor sich aus den Augen zu lassen, »aber dann bleibt mir immer noch Zeit genug, um deinen Kumpel umzulegen. Und auf diese Entfernung kann ich ihn gar nicht verfehlen.«

Ihre Stimme klang genauso verzerrt und dumpf unter der Plastikmaske hervor, wie sie es sich gewünscht hatte, und sie war von einer Ruhe und Selbstsicherheit erfüllt, die sie beinahe selbst überraschte. Sie hatte diesen Bluff nicht geplant und hätte es auch niemals. Typen, die völlig gewissenlos Menschen erschossen, kamen in Action-Filmen mindestens ebenso häufig wie in der Wirklichkeit selten vor, vor allem in einer Situation wie dieser: Der Kerl mit der Geldtasche stand schön brav in der Schusslinie seines Kumpels, sodass dessen Chancen, ihn zu treffen, fast genauso groß waren wie die, sie zu erwischen. Und selbst wenn nicht, musste er damit rechnen, dass sie seinen Freund erledigte und vielleicht sogar noch die Zeit fand, auf ihn zu schießen. Jetzt irgendetwas zu riskieren, wäre dumm.

Aber die Welt wimmelte von dummen Menschen, und vielleicht war der Kerl ja auch völlig durchgeknallt oder drehte einfach vor Angst durch. Verdammt, wieso hatten sie auch zu dritt kommen müssen! Alles wäre so viel einfacher gewesen, wenn sie nur zu zweit gewesen wären und Jesus direkt neben ihr gestanden hätte, ein Berg von einem Mann, der jeden potenziellen Gegner allein durch seine bloße Erscheinung einschüchterte!

Aber der gefährliche Moment verging, ohne dass irgendjemand schoss, und die Mischung aus Schrecken, Überraschung und Beinahe-Panik im Gesicht des Burschen mit der Geldtasche verwandelte sich in etwas anderes. Es gefiel ihr nicht besonders, führte aber trotzdem dazu, dass sie unter ihrer Maske erleichtert aufatmete. Ganz langsam ließ er die Hand sinken, die das Geldpäckchen hielt, und Pia machte eine rasche, drohende Geste mit dem Revolver.

»Ich habe gesagt, du sollst dich nicht rühren!«

»Ganz genau hast du gesagt, dass ich das Geld wieder in die Tasche legen und sie dir geben soll«, antwortete er. Seine Stimme klang rau, aber auch sehr fest. Pia lauschte vergeblich auf Angst darin. Er sah die Waffe und war sich vermutlich auch darüber im Klaren, dass sie sie benutzen würde, wenn er irgendetwas Unbedachtes tat. Dennoch spürte sie nur Trotz in ihm.

»Stell sie hin«, sagte sie ruppig. Er gehorchte, und Pia fügte mit einem auffordernden Wedeln des Revolvers in ihrer rechten Hand hinzu: »Und jetzt sag deinem Freund, er soll die Waffe weglegen.«

»Und wenn nicht?«, fragte er. »Erschießt du mich dann?« Er beantwortete seine eigene Frage, indem er überzeugt den Kopf schüttelte. »Du siehst nicht aus wie jemand, der einen anderen einfach so umlegt. Ist nicht leicht, jemanden zu erschießen, weißt du? Schon gar nicht, wenn er mit erhobenen Händen vor dir steht.«

»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Pia. Sie senkte die Waffe, nur ein wenig und eigentlich hauptsächlich, weil sie so schwer war und sie nicht wollte, dass der Kerl sah, wie ihre Hand unter dem Gewicht langsam zu zittern begann. Für ihren Geschmack hatte er ohnehin schon viel zu viel gesehen. Sie hatte nicht vorgehabt, so lange mit den Kerlen zu reden. Wäre es nach ihrem ursprünglichen Plan gegangen, wären sie jetzt schon längst wieder weg, und die beiden Typen würden bis zum Hintern im Schlamm stecken.

»Ich erschieße dich nicht«, sagte sie noch einmal, »aber ich habe kein Problem damit, dir ins Knie zu schießen.«

Sie konnte ihrem Gegenüber ansehen, dass er diese Drohung ernst nahm. Er war ein dunkelhaariger, drahtiger Bursche Mitte zwanzig, der nicht einmal unsympathisch aussah und durchaus in ihr Beuteschema gepasst hätte, wären sie sich unter anderen Umständen begegnet – und hätte es Jesus nicht gegeben. Schade eigentlich.

»Geh einen Schritt zur Seite, und ich lege den Knirps um«, sagte sein Begleiter. »Das ist doch nur ein Kind!«

»Ein Kind mit einer Waffe«, erwiderte der Dunkelhaarige. Er schüttelte erneut den Kopf, was diesmal aber nicht Pia galt. »Lass den Quatsch. Das lohnt sich nicht.«

»Würde auch nicht funktionieren«, sagte eine dritte Stimme.

Pia ließ den Dunkelhaarigen nicht eine Sekunde aus den Augen, aber sie sah trotzdem, wie ein weißer Schemen hinter dem anderen Typen auftauchte, dann hörte sie ein Ächzen und ein knirschendes Geräusch, als würde ein nasses Holzscheit in einen Schraubstock gespannt. Der Dunkelhaarige wandte hastig den Kopf und sah ziemlich erschrocken aus, und auch Pia riskierte einen schnellen Blick. Allem Anschein nach hatte sie Jesus unterschätzt; oder doch zumindest sein Improvisationstalent. Der Bursche mit der Pistole hatte jedenfalls keine Pistole mehr, sondern hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien und umklammerte seine rechte Hand. Jesus’ linke Hand umklammerte seinen Nacken und sorgte dafür, dass er nicht auf dumme Ideen kam, mit der anderen drückte er eine Karnevalsmaske vor sein Gesicht, die wie Pias aussah, aber ungefähr doppelt so groß war.

»Tja, da haben wir euch wohl unterschätzt«, seufzte der Dunkelhaarige. In seiner Stimme war immer noch nicht die mindeste Spur von Furcht zu hören, was Pia ziemlich beunruhigend fand. Er hob die Schultern und versetzte dem Leinenbeutel einen Tritt, der ihn zielsicher durch den Morast bis vor Pias Füße schlittern ließ.

»Ich hoffe, ihr wisst, was ihr da tut, Freunde«, sagte er.

»Euch ausrauben?«, fragte Pia.

»Uns?« Der Dunkelhaarige lachte. »Wohl kaum. Ihr legt euch gerade mit den Leuten an, denen das Zeug hier gehört. Ich an eurer Stelle hätte nicht die Chuzpe. Ihr müsst entweder gewaltige Colhões haben, oder ihr sei total bescheuert.« Er legte den Kopf schräg und sah Pia aus kalt glitzernden Augen an, noch immer ohne eine Spur von Angst, aber auf eine plötzlich sehr nachdenkliche Art … als wäre ihm klar geworden, dass sie gar keine Colhões hatte. Pia fühlte sich unter ihrer Maske von Sekunde zu Sekunde unwohler. Das hier lief überhaupt nicht so, wie es sollte. Ihre Verkleidung war alles andere als perfekt, und sie war auch nicht dafür gedacht gewesen, länger als die Schrecksekunde zu halten, die sie ihren beiden potenziellen Opfern zugedacht hatten.

»Hör auf zu quatschen«, sagte sie ruppig. »Hast du eine Waffe?«

»Sicher.«

»Dann nimm sie heraus und leg sie auf den Boden. Ganz langsam.«

Der Bursche gehorchte und richtete sich dann unaufgefordert und mit erhobenen Händen wieder auf. Zu Pias Verwirrung lächelte er, als fände er die ganze Situation aus irgendeinem Grund äußerst amüsant.

»Was ist so komisch?«, fragte sie.

»Eigentlich nichts«, antwortete er. »Mein Boss wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn ich ihm erzähle, was passiert ist. Ehrlich gesagt, möchte ich nicht wirklich in meiner Haut stecken, wenn er es erfährt … aber noch sehr viel weniger in eurer.« Sein Lächeln erlosch. »Ihr seid tot, das ist dir doch klar, oder?«

»Ach? Ist das so?«

Der Dunkelhaarige antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem fragenden Blick an Jesus. »Was hast du mit Miguel gemacht? Lebt er noch?«

Jesus war klug genug, nicht laut zu antworten, sondern nur zu nicken, und der Dunkelhaarige drehte sich wieder ganz zu ihr herum. »Dann habt ihr noch eine Chance«, sagte er sehr ernst. »Packt eure Kanonen ein und verschwindet. Du hast mein Wort, dass wir euch nicht verfolgen. Und niemand wird erfahren, was hier gerade passiert ist.«

»Wie großzügig«, sagte Pia spöttisch. »Und warum sollte ich dir glauben?«

»Weil du anscheinend keine Ahnung hast, mit wem du dich da gerade anlegst, Kleiner«, erwiderte der Dunkelhaarige ernst. »Weder Miguel noch Antonio oder ich haben Lust, unserem Boss zu erklären, wie es zwei Amateuren wie euch gelungen ist, uns zu übertölpeln, und ihr beide wollt doch auch ganz bestimmt noch ein bisschen am Leben bleiben, oder? Also, warum tun wir nicht alle einfach so, als wäre das hier gar nicht passiert, und jeder kümmert sich wieder um seine eigenen Angelegenheiten?«

»Aber genau das tue ich doch gerade«, antwortete Pia. Sie wedelte auffordernd mit der mit Platzpatronen geladenen Waffe. »Geh ein paar Schritte zurück.« Eine letzte, sehr unangenehme Sekunde verstrich, in der der Trotz in den Augen ihres Gegenübers nicht nur die Furcht eindeutig überwog, sondern sie sich auch fast verzweifelt fragte, was sie eigentlich tun sollte, wenn er einfach stehen blieb. Mit Platzpatronen auf ihn schießen? Dann gewann – zu ihrer Erleichterung – die Vernunft doch die Oberhand. Der Dunkelhaarige ließ zwar die Arme ein gutes Stück sinken, machte aber gehorsam einen Schritt nach hinten, und dann noch einen, als sie ihre auffordernde Geste wiederholte. Jesus mobilisierte ein weiteres Prozent seiner Körperkräfte, um den anderen am Nacken in die Höhe zu ziehen. Der Anblick erinnerte Pia an eine Katze, die ein störrisches Junges trägt.

»Und noch ein Stückchen«, sagte Pia. »Nur Mut. Ist nicht sehr weit.«

Diesmal vergingen mehrere Sekunden, bis der Bursche begriff – und auch dann gehorchte er nicht sofort, sondern starrte sie nur aus großen Augen an. »Das ist nicht dein Ernst!«, krächzte er. Sein Blick irrte zwei- oder dreimal unstet zwischen dem schwarzen Schlund der Baugrube und der Maske vor ihrem Gesicht hin und her.

»Eigentlich schon«, antwortete Pia. Die lautlos mahnende Stimme hinter ihrer Stirn wurde immer drängender. Jede Sekunde, die sie mit Reden verschwendete, kostete nur unnötig kostbare Zeit. »Aber es ist deine Entscheidung. Dein Knie oder ein Schlammbad. Soll ja angeblich sehr gesund sein.«

»Ganz wie du willst«, antwortete er. »Es ist schließlich eure Beerdigung.« Aber er drehte sich gehorsam um und ging zum Rand der Baugrube. Jesus bugsierte sein zappelndes Katzenjunges neben ihn. In der Nacht, in der es reichlich Smog und den Widerschein der unzähligen Lichter der Stadt auf den tief hängenden Wolken gab, aber keinen nennenswerten Mond, wirkte das schwarze Rechteck der Baugrube bodenlos, ein Abgrund, der nur darauf wartete, jeden zu verschlingen, der dumm genug war, ihm zu nahe zu kommen. Aber Pia wusste auch, dass sie in Wirklichkeit nicht einmal ganz zwei Meter tief und fast hüfthoch mit dem zähen Schlamm gefüllt war, in den der Dauerregen der letzten Tage den Boden verwandelt hatte. Ziemlich kalt, ziemlich ekelig, mehr aber auch nicht. Die beiden würden mit Sicherheit ihre Schuhe, mit einiger Wahrscheinlichkeit ihre Strümpfe und ganz bestimmt einen Großteil ihres Stolzes einbüßen, aber sonst weiter nichts.

O ja, und zumindest der Bursche, mit dem sie gesprochen hatte, einen Gutteil seines Hinterkopfs.

Er explodierte in einer fast lautlosen Wolke aus Blut, Knochensplittern und Gehirnmasse, die in alle Richtungen davon spritzte und Pias Brust und Schultern, ihre Hand und die Plastikmaske vor ihrem Gesicht besudelte, und das alles, bevor sie das weiche Plopp des schallgedämpften Schusses hörte, der den Mann getroffen hatte. Fast ohne Kopf, trotzdem stocksteif und mit immer noch halb erhobenen Armen kippte er nach vorne und verschwand in der Baugrube, und noch bevor er mit einem schmatzenden Laut in dem Morast dort drinnen aufschlug, erscholl das geflüsterte Plopp noch einmal, und auch der Bursche vor Jesus wurde nach vorne gerissen und verschwand in der Tiefe, wahrscheinlich schon tot, sein Hals eine einzige grauenhafte Wunde. Wer immer auf die Männer geschossen hatte, dachte Pia mit schon fast hysterischer Sachlichkeit, benutzte ein ziemlich großes Kaliber.

Erst dann begriff sie wirklich, was gerade vor ihren Augen geschehen war, und tatsächlich erst danach schlug die Angst zu, verspätet, aber dafür mit doppelter Wucht. Sie fuhr herum, ließ die Plastikmaske fallen und riss den Revolver mit beiden Händen in die Höhe, vollkommen gleichgültig, ob er nur mit Platzpatronen geladen war oder nicht, hielt in blinder Angst nach einem Ziel Ausschau und fand sich längst auf der falschen Seite der Grenze zu echter Panik.

Sie sah nichts, worauf sie zielen konnte, und kaum eine Sekunde später sah sie überhaupt nichts mehr, als zwischen den Baumaschinen ein grelles Scheinwerferlicht aufflammte und sich direkt auf ihr Gesicht richtete. Das sonderbare Ploppen wiederholte sich, und unmittelbar vor ihren Füßen spritzte der Boden auf.

»Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt die Waffe runternehmen, Liebling«, sagte eine Stimme, die ihr auf schreckliche Weise bekannt vorkam. Als sie weitersprach, klang sie fast ein bisschen amüsiert. »Außerdem weiß ich, dass sie nicht geladen ist. Du hast doch in deinem ganzen Leben noch keine einzige scharfe Patrone in der Hand gehabt, habe ich recht?«

Und damit trat Comandante Juan Hernandez ins Licht des Scheinwerfers und auf sie zu.

Pia schloss die Augen und presste die Lider für einen Moment so fest aufeinander, dass bunte Sterne über ihre Netzhaut flimmerten. Sie sollte in Panik geraten, und im allerersten Moment hatte sie auch geglaubt, sie wäre es, doch nun wurde ihr klar, dass sie etwas ganz anderes, sehr viel Schlimmeres verspürte: ein kaltes Entsetzen, das mit dem vollkommenen und zweifelsfreien Wissen um ihre Niederlage einherging. Sie hatten verloren. Sie hätte auf ihre innere Stimme – und auf Jesus! – hören und verschwinden sollen, solange sie es noch konnten. Jetzt war es zu spät.

Vielleicht, dachte sie albern, half es ja, wenn sie einfach die Augen schloss und sich weigerte, seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Es half nicht. Das Licht wurde plötzlich so grell, dass es selbst durch ihre geschlossenen Lider drang und dem grellen Funkeln auf ihrer Netzhaut neue, noch grellere Schmerzblitze hinzufügte, und sie öffnete widerwillig die Augen. Hernandez stand unmittelbar vor ihr, ein vollkommen unpassendes, fast jungenhaftes Grinsen im Gesicht und ein tückisches Funkeln in den Augen.

»Du hättest auf mich hören sollen, Piamaria«, sagte er kopfschüttelnd, während er die Hand ausstreckte und ihr den Revolver abnahm. »Ich habe dir gesagt, dass ich dein Freund bin, und ich habe das wirklich ernst gemeint. Warum hast du nur nicht auf mich gehört?« Er seufzte, tief und hoffnungslos theatralisch. »Jetzt weiß ich allmählich auch nicht mehr, wie ich dir und deinem Freund noch helfen soll.«

Pia sagte das Einzige, was ihr einfiel – nämlich nichts –, und versuchte, trotz des schmerzhaft grellen Lichts hinter Hernandez irgendetwas zu erkennen. Viel konnte sie nicht sehen, aber sie identifizierte immerhin zwei oder drei schattenhafte Gestalten, die sich hinter dem Comandante bewegten, vermutlich mehr. Und sie musste sich nicht eigens umdrehen, um zu wissen, dass auch hinter ihr Männer aufgetaucht waren; entweder viele oder bewaffnete. Vermutlich beides. Jesus hatte bisher keinen Laut von sich gegeben.

»Also, was soll ich jetzt deiner Meinung nach mit dir tun, Pia?«, fragte Hernandez, als er endlich einsah, dass sie nicht von sich aus sprechen würde.

»Warum erschießen Sie mich nicht einfach?«, erwiderte Pia trotzig. Ein Teil von ihr fragte sie fast hysterisch, ob sie den Verstand verloren hatte. »Das haben Sie doch sowieso vor, und so muss ich mir wenigstens diese dummen Sprüche nicht mehr länger …«

Hernandez schlug zu. Der Hieb war so schnell, dass sie ihn nicht einmal kommen sah, und hart genug, um ihren Kopf in den Nacken zu werfen und ihre Unterlippe aufplatzen zu lassen. Sie stolperte, fühlte plötzlich nichts mehr unter ihrem rechten Fuß und wäre wahrscheinlich rücklings in die Baugrube und zu den beiden Toten hinabgestürzt, hätte Hernandez sie nicht mit derselben Hand, mit der er sie gerade geschlagen hatte, blitzschnell festgehalten und wieder auf sicheren Boden zurückgezerrt. Der Schmerz trieb ihr endgültig die Tränen in die Augen, aber sie tat ihm nicht den Gefallen, auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, sondern wischte sich nur mit dem Handrücken das Blut vom Kinn.

»Das war jetzt nicht besonders nett von dir«, fuhr Hernandez fort, beinahe im Plauderton. »Ich meine: Versuch dir doch nur vorzustellen, wie ich mich jetzt fühlen muss! Ich mag dich wirklich. Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um dich zu warnen! Es gibt ein paar einflussreiche Leute, die schon lange ein Auge auf dich und deinen großen Freund geworfen haben, und ich habe die ganze Zeit über meine schützenden Hände über euch gehalten. Ich riskiere nicht nur meinen Job und mein Ansehen für euch, sondern sogar mein Leben – und zum Dank unterstellst du mir, dass ich dich umbringen will? Das verletzt mich wirklich!«

Pia schwieg. Hernandez würde sie so oder so umbringen, das war ihr klar, aber sie würde ihm nicht die Genugtuung lassen, sie weinen und um ihr Leben betteln zu hören.

Jedenfalls noch nicht.

Hernandez seufzte noch einmal und noch tiefer, machte einen Schritt nach hinten und wedelte gleichzeitig mit der freien Hand, und Pia wagte es zum ersten Mal, hinter sich und zu Jesus hinzusehen. Immerhin war er am Leben, auch wenn sie nicht vorherzusagen wagte, wie lange noch. Sein Anzug war fast ebenso sehr mit Blut besudelt wie ihre Jacke und Hände, und er stand in einer schon fast komisch aussehenden Haltung da – die Hände erhoben und den Kopf so weit in den Nacken gelegt, dass er eigentlich nach hinten hätte umfallen müssen. Richtig komisch wäre sein Anblick allerdings erst ohne den Kerl gewesen, der vor ihm stand und ihm den Doppellauf einer abgesägten Schrotflinte unter das Kinn drückte.

»Keine Sorge«, sagte Hernandez. »Deinem Freund passiert nichts … solange er vernünftig ist und keine Dummheiten versucht.«

»Dummheiten?« Pia wollte nicht mit ihm sprechen. Sie wusste, dass es nicht klug war, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Aber wenn sie kluggewesen wäre, dann wäre sie jetzt gar nicht hier. »Wie am Leben zu bleiben, zum Beispiel?«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass niemand hier vorhat, dir und deinem Freund etwas zu tun?«, seufzte Hernandez. »Ganz im Gegenteil. Ich weiß allmählich selbst nicht mehr, warum ich das eigentlich tue, aber ich will euch immer noch helfen. Auch wenn es ziemlich schwierig wird, nach dem Mist, den ihr zwei gerade gebaut habt.«

Er hob die Waffe, die er ihr abgenommen hatte, und betrachtete sie einen Moment lang scheinbar interessiert. Dann ließ er die Trommel herausspringen, schüttelte sich die Platzpatronen in die offene Linke und steckte sie ein. Aus der anderen Jackentasche zog er eine Handvoll vollkommen gleich aussehender Patronen (mit dem kleinen Unterschied, dachte Pia, dass diese mit Sicherheit scharf waren) und begann die Trommel umständlich damit zu laden. Was hatte er vor? Jesus und sie mit ihrer eigenen Waffe erschießen?

Statt das zu tun, machte Hernandez einen weiteren Schritt zur Seite und wiederholte seine wedelnde Geste. Pia hörte Geräusche und Schritte und erwartete, Jesus neben sich auftauchen zu sehen, doch stattdessen erschien ein weiterer von Hernandez’ Handlangern, der einen halb benommenen Mann in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug vor sich her scheuchte. Sein Gesicht war angeschwollen, wo ihn Jesus’ Faust getroffen hatte, und Pia glaubte nicht, dass er schon wieder so weit bei sich war, um wirklich zu verstehen, wie ihm geschah.

Er sollte es auch nie wieder werden. Hernandez dirigierte ihn mit einer unwilligen Kopfbewegung zum Rand der Baugrube, hob den Revolver und schoss ihm aus kaum zwei Metern Entfernung ins Gesicht.

Ganz wie Pia erwartet hatte, funktionierte der Schalldämpfer der Waffe nicht mehr. Statt das Schussgeräusch zu verschlucken, löste er sich in glühende Stücke und Rauch auf und schien den peitschenden Knall sogar noch zu verstärken. Der Effekt war so spektakulär, dass er sogar das weit entsetzlichere Bild überlagerte, mit dem die Kugel den unglückseligen Mann traf und rücklings in die Baugrube schleuderte. Vielleicht wollte sie es auch nur nicht sehen.

»Warum … warum haben Sie das getan?«, flüsterte sie entsetzt.

»Ich?« Hernandez brachte es fertig, ehrlich verblüfft auszusehen. »Aber wie kommst du denn darauf, Kind?« Noch immer perfekt den Überraschten spielend, trat er an ihr vorbei an den Rand der Baugrube und feuerte rasch hintereinander auch noch die fünf anderen Kugeln aus der Trommel ab.

»Ich fürchte eher, dass dein Freund und du etwas ziemlich Schlimmes getan habt«, sagte er. »Ich meine: Das ist doch deine Waffe, oder? Jedenfalls hat ein gewisser Hehler hoch und heilig versichert, er hätte sie dir verkauft … natürlich«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, während er in die Tasche griff und eine zusammengefaltete Plastiktüte herausnahm, in die er den Revolver gleiten ließ, »kann man einem solchen Kriminellen nicht glauben, schon gar nicht, wenn sein Wort gegen das einer ehrbaren Bürgerin wie dir steht.«

»Natürlich nicht«, sagte Pia mit belegter Stimme.

Hernandez schloss die Tüte sorgfältig mit einem Clip, steckte sie ein und maß sie mit einem langen, bedauernden Blick, bei dem seine Augen so kalt wie Eis blieben. »Unglückseligerweise, fürchte ich, hat er die Geldscheine aufgehoben, mit denen du die Waffe angeblich bezahlt haben sollst. Selbstverständlich glaube ich ihm kein Wort … aber sollten sich deine Fingerabdrücke auf den Geldscheinen finden, haben wir ein Problem.«

»Warum erschießen Sie mich nicht einfach?«, fragte Pia erneut.

Hernandez schien einen Moment lang ernsthaft über diesen Vorschlag nachzudenken, doch dann schüttelte er den Kopf, drehte sich auf dem Absatz herum und ging zu dem Leinenbeutel zurück. Bedächtig ließ er sich davor in die Hocke sinken, griff hinein und nahm jedes einzelne Päckchen heraus, um es kurz zu begutachten, bevor er es wieder zurücklegte. Er wirkte sehr zufrieden.

»Und?«, fragte Pia. »Hat es sich gelohnt?«

»Eine Million in bar, schätze ich«, antwortete Hernandez, während er aufstand, »und noch einmal dasselbe in Drogen – doppelt so viel, wenn wir es ein wenig verschneiden und in kleinen Portionen auf den Markt werfen statt auf einmal. Ja, man könnte sagen, dass es sich gelohnt hat. Aber ihr habt ein Problem, fürchte ich. Die Leute, denen das Zeug gehört, werden ein bisschen verärgert sein.«

»Außer natürlich, Sie präsentieren ihnen unsere Leichen«, vermutete Pia.

»Das wäre dumm«, erwiderte Hernandez. Er gab einem seiner Begleiter ein Zeichen, woraufhin sich dieser den Beutel schnappte und ihn über die Schulter hängte. Der Mann kam Pia vage bekannt vor, und nach einer Sekunde erinnerte sie sich auch. Sie hatte ihn schon einmal gesehen; nur hatte er da eine Polizeiuniform getragen. Ganz allmählich begann das alles hier einen Sinn zu ergeben.

»Ja, das wäre dumm«, bestätigte sie. »Sie würden sich fragen, wo ihr Geld geblieben ist und ihre Ware. Deswegen ist es besser, wenn wir einfach verschwinden.«

»Viel besser«, bestätigte Hernandez. »Zumal da auch noch die Bilder der Überwachungskamera sind, die beweisen, wie eindringlich ich versucht habe, dich zur Vernunft zu bringen. Ich fürchte, dein Freund und du müsst für eine Weile untertauchen. Wir bringen euch aus der Stadt, und ihr bekommt genug Geld, um woanders neu anzufangen.« Er hob die Schultern. »Natürlich ist es eure Entscheidung, aber ich an eurer Stelle würde so schnell nicht zurückkommen. Die Leute, denen das alles hier gehört, verstehen nicht viel Spaß, fürchte ich.«

Er anscheinend schon, dachte Pia bitter. Er würde Jesus und sie aus der Stadt schaffen, alle Spuren verwischen und ihnen auch noch genug Geld geben, damit sie woanders neu anfangen könnten? Sicher. Und die Erde war eine Scheibe.

Pias Gedanken überschlugen sich. Selbstverständlich würde Hernandez dafür sorgen, dass sie verschwanden, und zwar spurlos und für alle Zeiten, aber sie bezweifelte dennoch, dass er es hier tun würde. Ihre Leichen waren so ziemlich das Letzte, was er gebrauchen konnte. Und das bedeutete, dass sie noch eine Chance hatten.

»Also, was soll ich jetzt tun?«, fragte Hernandez erneut.

»Wir könnten wirklich verschwinden«, sagte sie nervös.

Hernandez blinzelte. »Wie?«

»Sie müssen uns nicht umbringen«, fuhr sie fort. Ihre Stimme zitterte hörbarer, als ihr lieb war, aber sie konnte es nicht unterdrücken. »Ich meine, ein … ein Mord ist immer ein Risiko, das wissen Sie doch besser als ich. Irgendwas kann immer schiefgehen, und wenn man noch so gründlich plant. Sie gehen kein Risiko ein, wenn sie uns am Leben lassen.«

»Sicher nicht«, sagte Hernandez spöttisch.

»Wem sollten wir schon davon erzählen?«, beharrte Pia. Sie musste Zeit gewinnen, und wenn Hernandez sie für feige oder naiv oder einfach nur verrückt hielt, umso besser. »Keiner würde uns die Geschichte glauben. Sie haben den Revolver mit meinen Fingerabdrücken, und die Drohne vorhin hat unser Gespräch aufgezeichnet, habe ich recht?«

»Kluges Kind.«

»Wir …wir wollen nicht einmal Geld«, fuhr Pia fort. »Lassen Sie uns einfach gehen. Wir verschwinden aus der Stadt und kommen nie wieder zurück.«

»Da bin ich mir sogar ganz sicher«, sagte Hernandez.

Ihre Furcht wurde zu etwas … anderem. Sie würden sterben, begriff Pia. Jesus und sie würden sterben, nicht hier und jetzt, aber bald. Vielleicht in einer Stunde, vielleicht etwas später. Dieser Gedanke war beinahe noch schlimmer.

Und irgendetwas … geschah.

Pia konnte das Gefühl nicht in Worte kleiden, denn es war etwas, das sie noch nie zuvor gespürt hatte, und es war durch und durch grässlich; als hätte sich das Gewebe der Realität verändert und stülpe sich von innen nach außen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es entsetzlich kalt, und die Luft, die sie zu atmen versuchte, schien sich in etwas anderes, etwas Blitzendes zu verwandeln. Unsichtbare Bänder schmiegten sich um ihre Glieder und verwandelten jede noch so winzige Bewegung in eine gewaltige Kraftanstrengung, und irgendetwas stimmte plötzlich mit den Schatten nicht mehr.

»Was ist das?«, fragte sie erschrocken.

»Netter Versuch«, sagte Hernandez, »aber du glaubst doch nicht wirklich, dass ich …«

Alles geschah gleichzeitig, als wäre irgendetwas mit der Zeit passiert, sodass die Dinge in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und zum Teil parallel zueinander abliefen und auch die Gesetze von Ursache und Wirkung keine Gültigkeit mehr zu haben schienen. Über ihnen gerann ein Stück der Nacht zu geflügelter Schwärze, Klauen und einem Ehrfurcht gebietenden Schnabel und stürzte auf Hernandez herab, und im gleichen Sekundenbruchteil erscholl auch hinter ihr ein krächzender Schrei und dann das dumpfe Krachen eines Gewehrs. Hernandez taumelte mit wirbelnden Armen zurück und versuchte irgendwie, sein Gesicht vor den Krallen des riesigen schwarzen Raben zu schützen, der ihn mit heftig schlagenden Flügeln attackierte, während Pia endlich nicht nur ihren Schrecken überwand, sondern all ihren Mut zusammenraffte, herumfuhr und sich gegen den Anblick Jesus’ wappnete, der mit weggeschossenem Gesicht auf dem Rücken lag.

Jesus lag nirgendwo, sondern war verschwunden, und der Bursche, der ihn in Schach gehalten hatte, wälzte sich schreiend am Boden und hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Hellrotes Blut quoll so dünnflüssig wie Wasser zwischen seinen Fingern hindurch. Das Gewehr lag ein gutes Stück neben ihm im Schlamm, und der schwarze Riesenvogel hatte sich bereits wieder in die Luft geschwungen, flatterte mit zornig schlagenden Flügeln kaum eine Handbreit über sie hinweg und stürzte sich krächzend auf ein anderes Opfer. Hinter ihr schrien plötzlich Stimmen durcheinander. Glas zerbrach.

Pia war mit einem einzigen Satz neben dem schreienden Burschen, verpasste ihm einen wuchtigen Tritt in die Rippen und stieß gleich darauf noch einmal mit dem Fuß zu, um das Gewehr davon zuschleudern. Einen der beiden Tritte bedauerte sie sofort, als ihr in den Sinn kam, dass sie im Moment eine Waffe ganz gut gebrauchen könnte, aber es war zu spät. Die Schrotflinte verschwand bereits über den Rand der Baugrube.

Zwei schlammverkrustete, riesige Pranken tauchten aus der Tiefe auf, krallten sich in den weichen Lehm und hievten ein gewaltiges Schulterpaar und das zornigste Gesicht nach oben, das Pia jemals gesehen hatte. Trotzdem hätte sie vor Erleichterung beinahe laut aufgejauchzt. Ohne auch nur einen Gedanken an das zu verschwenden, was hinter ihr geschah, fiel sie auf die Knie, krallte die Hände in Jesus’ Jacke und zog und zerrte mit aller Kraft. Wie lächerlich. Wahrscheinlich behinderte sie ihn weitaus mehr, als sie ihm half, aber sie zerrte und riss weiter mit aller Gewalt und ignorierte die kreischende Stimme in ihrem Kopf, die ihr immer hysterischer zuschrie, wegzulaufen, solange sie es noch konnte.

Zwei- oder dreimal rutschten Jesus’ Hände in dem aufgeweichten Lehm ab, aber schließlich gelang es ihm, sich über den Rand in die Höhe zu ziehen. Keuchend vor Anstrengung brach er auf die Knie, blieb eine Sekunde lang vornübergebeugt sitzen und sprang dann mit einem Ruck vollends auf die Füße. Plötzlich war er es, der Pia hochriss, statt umgekehrt.

Hinter ihnen tobte ein bizarrer Kampf. Die beiden schwarzen Riesenvögel attackierten Hernandez und seine beiden verbliebenen Schläger mit hackenden Schnäbeln und wild schlagenden Flügeln, und obwohl es nur Tiere und die Männer bewaffnet waren, vermochte Pia ganz und gar nicht zu sagen, wer diesen ungleichen Kampf gewinnen würde. Hernandez hockte auf den Knien und hatte beide Hände über den Kopf geschlagen. Er schrie. Sein Gesicht war voller Blut, die gewaltigen Krallen des Raben hatten seine Jacke aufgeschlitzt und auch in der Haut darunter tiefe blutige Furchen hinterlassen. Der Rabe stieß immer wieder auf ihn herab, hackte mit seinem schrecklichen Schnabel nach ihm, fuhr aber auch immer wieder herum, um den zweiten Mann zu attackieren, der die Tasche mit den Drogen und der gebündelten Million von der Schulter genommen hatte und irgendwie versuchte, sich das riesige Tier damit vom Leib zu halten. Der andere Vogel machte kreischend und mit peitschenden Schwingen Jagd auf Hernandez’ dritten Mann, der zumindest im Moment vergessen zu haben schien, dass er achtzig Kilo schwerer war als das Tier und außerdem bewaffnet.

Sosehr ein Teil von ihr den Anblick genoss, war Pia zugleich klar, wie schnell sich das Blatt wenden konnte. Irgendwann würde sich einer der Männer darauf besinnen, dass er eine Waffe hatte …

»Weg hier!«, schrie sie. »Schnell!«

Jesus grunzte zustimmend, legte ihr beschützend die Hand auf die Schulter – und tat etwas ziemlich Verrücktes.

Statt loszurennen, stürmte er in die entgegengesetzte Richtung, entriss dem Schläger den Leinenbeutel und versetzte ihm zusätzlich einen Stoß, der ihn zwei Schritte zurücktaumeln und dann schwer auf den Rücken fallen ließ. Der Rabe stieß ein fast triumphierend klingendes Kreischen aus, stürzte sich auf ihn und machte sich mit Schnabel und Klauen an seinem Gesicht zu schaffen, und Jesus fuhr herum und nutzte den Rückweg, um Hernandez eine Kopfnuss zu verpassen, die ihn endgültig nach vorne und mit dem Gesicht in den Schlamm schleuderte.

»Nichts wie weg hier!«, brüllte er, packte Pia grob am Arm und schleifte sie einfach mit sich. Mit fünf, sechs gewaltigen Schritten war er beim Tor und sprengte es einfach mit einem Fußtritt auf, raste nach links, und erst nach einem halben Dutzend weiterer Schritte gelang es ihr überhaupt, halbwegs wieder zu sich zu kommen und sich loszureißen.

Schwer atmend blieb sie stehen, lehnte sich mit den Schultern gegen eine Wand und wartete darauf, dass die Welt aufhörte, sich wie ein außer Kontrolle geratenes Kettenkarussell um sie zu drehen. Hinter ihnen gellten noch immer Schreie durch die Nacht, und darunter war ein aggressives Krächzen zu hören; und ein Geräusch wie das Schlagen gewaltiger schwarzer Schwingen. Irgendetwas stimmte immer noch nicht mit den Schatten, und sie konnte immer noch nicht sagen, was.

»Was … was war das denn?«, keuchte Jesus. »Ist … ist das gerade wirklich passiert?«

Pia hätte eine Menge dafür gegeben, diese Frage beantworten zu können. Alles war … unwirklich. Und zugleich auf eine schon beinahe schmerzhaft intensive Art real. Die Schatten waren zu tief, das Licht zu grell und alle Geräusche zu laut, als wäre sie in einem Teil der Welt gestrandet, in dem alles hundertmal intensiver und aufdringlicher war … oder ihre Sinne plötzlich sehr viel schärfer geworden.

Hinter ihnen peitschte ein einzelner Schuss durch die Nacht, gefolgt vom schrillen Schrei eines Vogels, der gleichermaßen wütend wie schmerzerfüllt klang, und das Geräusch riss sie abrupt in die Wirklichkeit zurück, die für ihren Geschmack selbst genug von einem Albtraum hatte.

Die Schüsse waren nicht ungehört geblieben. Die Musik in der Cantina war verstummt, und vor dem Eingang zeichneten sich die schattenhaften Umrisse eines Dutzends Männer ab, die herausgelaufen waren und aufgeregt in ihre Richtung gestikulierten. Stimmen schrien durcheinander. Das unverwechselbare Geräusch sorgte dafür, dass niemand wagte näher zu kommen, aber Pia war sich schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass sie trotz der Dunkelheit deutlich zu sehen – und zu erkennen! – sein mussten. Jesus’ Anzug war zwar mittlerweile mehr schlammbraun als weiß (dasselbe galt für sein Gesicht), aber das verbliebene Weiß leuchtete wie ein Nylonhemd in einer Disco, und auch ihre schlanke Gestalt war vermutlich unverkennbar. Ganz genau das, was Hernandez sich wahrscheinlich gewünscht hatte, dachte sie zornig. Die Männer da drüben hatten Schüsse und Schreie gehört, und jetzt sahen sie sie davonlaufen, mit einer sichtlich schweren Tasche im Gepäck. Wunderbar. Sie hätte das Schrotgewehr doch mitnehmen sollen, und sei es nur, um sich gleich selbst damit in den Kopf zu schießen …

»Weiter!«, befahl sie.

Jesus wischte sich den Rest Schlamm aus dem Gesicht und rückte den Beutel auf seiner Schulter zurecht, setzte sich dann aber gehorsam in Bewegung. Sie überquerten die Straße, hielten instinktiv auf die tiefsten Schatten zu und rannten noch ein kurzes Stück, bevor sie die ersten heruntergekommenen Hütten erreichten und in eine der schmalen Gassen schlüpften.

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