Das Chaos auf dem Marktplatz begann sich schon wieder zu legen, als sie den Rückweg antraten. Hier und da versuchte eines der sonderbaren Miniaturrinder zwar, seine so unerwartet gewonnene Freiheit noch für ein Weilchen zu behalten, die meisten Tiere aber waren bereits eingefangen worden, und auch die eingerissenen Gatter standen wieder. Pia hatte das Gefühl, dass so etwas hier nicht zum ersten Mal passierte und die Männer und Frauen eine gewisse Übung darin besaßen, entlaufene Tiere wieder einzufangen, und den kleinen Zwischenfall vielleicht nicht gerade mit einem Übermaß an Humor hinnahmen, aber immerhin ohne allzu großen Groll.
Sie wurde allerdings das Gefühl nicht los, dass die guten Leute hier Alica und ihr die Schuld an dem gaben, was passiert war. Niemand sagte etwas, aber die Blicke, die ihnen folgten, während sie den Rindermarkt in umgekehrter Richtung überquerten, waren deutlich unfreundlicher als vorhin, und es hatte ein bisschen etwas von einem Spießrutenlauf. Pia war fast erleichtert, als sie den Marktplatz verließen und die beiden Soldaten erblickten.
Die Männer wirkten ziemlich nervös und eindeutig erleichtert, Alica und sie wiederzusehen; vermutlich deutlich erleichterter als umgekehrt Alica und sie. Pia amüsierte sich einen kleinen Moment lang an der Vorstellung, wie Istvan wohl reagieren mochte, wenn diese allein in den Weißen Eber zurückkamen und ihm beichten mussten, dass ihnen ihre Schützlinge inmitten einer Herde durchgehender Rindviecher abhanden gekommen waren.
Allerdings nur so lange, bis einer der beiden auf sie zutrat und sie in rüdem Ton anfuhr: »Wo seid ihr gewesen? Der Kommandant hat strengsten Befehl gegeben …«
»Uns nicht aus den Augen zu lassen?«, fiel ihm Pia eisig ins Wort. »Nun, wenn das so ist, dann habt ihre eure Aufgabe nicht besonders gewissenhaft erfüllt, nicht wahr?« Der Soldat wurde bleich und holte dann Luft zu einer wütenden Antwort. Pia zwang ein zuckersüßes Lächeln auf ihre Lippen und fügte gönnerhaft hinzu: »Aber keine Sorge. Wenn ihr es ihm nicht sagt, von uns wird er es ganz bestimmt nicht erfahren.«
Der Kerl japste nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und Pia bedeutete Alica mit einer knappen Geste, weiterzugehen. Sie sah ganz bewusst nicht hin, aber sie war trotzdem sicher, ein spöttisches Funkeln in den Augen des zweiten Soldaten zu sehen.
»Nicht, dass ich es diesem Blödmann nicht gönne«, sagte Alica, »aber findest du es klug, die beiden gegen uns aufzubringen?«
»Nein«, antwortete Pia und besann sich gerade noch rechtzeitig darauf, dass die beiden Soldaten vielleicht nicht Alica, sie selbst aber sehr wohl verstanden, und senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. »Aber spätestens morgen früh ist das doch sowieso egal, oder?«
»Du bist als immer noch entschlossen, zu diesem konspirativen Treffen zu gehen?«, fragte Alica.
»Konspiratives Treffen?«, wiederholte Pia anerkennend. »Ich wusste gar nicht, dass du so komplizierte Worte kennst.«
Alica schnitt ihr eine Grimasse und fuhr nach einem raschen Blick auf ihre beiden Begleiter deutlich leiser fort: »Du hast dich also entschlossen, ihr zu vertrauen?«
»Valoren?« Pia schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe mich entschlossen, ihr erst einmal nicht zu misstrauen.« Und das war schon deutlich mehr, als sie von jedem anderen hier in der Stadt behaupten konnte; Brack eingeschlossen.
»Spannend«, sagte Alica. »Aber trotzdem nur Wortklauberei. Okay, du bist also fest entschlossen, mit diesem Kerl mitzugehen?«
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Pia, auch wenn es nicht die Wahrheit war. Alica wusste so gut wie sie, dass ihnen vermutlich gar keine andere Wahl blieb. »Irgendetwas müssen wir tun, oder nicht?«
»Wie wahr«, seufzte Alica. »Und was … nur für den Fall, dass du dich aus mir natürlich vollkommen unbegreiflichen Gründen dazu entschließen solltest, eine unwürdige Sklavin wie mich in deine Pläne einzuweihen … was hast du danach vor, wenn ich fragen darf?«
Pia war im Moment nicht nach Alicas Sarkasmus. »Erst einmal gar nichts«, sagte sie und überlegte einen Moment. »Vielleicht sollten wir herausfinden, was an dieser …«
»He!«, brüllte eine aufgebrachte Stimme hinter ihnen. »Da ist ja dieser elende kleine Dieb!«
Pia registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und konnte gerade noch einen hastigen Schritt zur Seite tun, um nicht einen Kopf kürzer gemacht zu werden, als der Soldat hinter ihr seine Hellebarde fallen ließ und mit unerwarteter Schnelligkeit an Alica und ihr vorbeisprintete. Kurz bevor er die nächste Abzweigung erreichte, sah sie eine kleinwüchsige Gestalt mit wehendem schwarzem Haar dahinter verschwinden.
»Bleib sofort stehen, verdammt!«, brüllte der Gardist. »Gib mir mein Geld zurück!« Dann war auch er verschwunden.
Der Mann legte zwar ein ganz erstaunliches Tempo an den Tag, aber Pia hatte vorhin gesehen, wie schnell der Kleine war. Der Gardist hatte keine Chance, ihn einzuholen. Andererseits tat ein kleiner Schrecken dem Nachwuchs-Taschendieb vielleicht ganz gut. Pia erinnerte sich an die eine oder andere Gelegenheit aus ihrer eigenen Kindheit, bei der sie in der Rolle des Knirpses gewesen war. Ein paarmal war es ziemlich knapp gewesen, auch wenn sie es damals verständlicherweise nicht so gesehen hatte. Sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie Lasar von ihrer Jugend in verschiedenen Kinderbanden erzählt hatte, aber ein wichtiges Detail für sich behalten: Die meisten ihrer ehemaligen Bandenmitglieder saßen heute entweder im Gefängnis oder waren tot.
»Fast wie zu Hause, wie?«, feixte Alica, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Wollen wir wetten, ob er wieder auf die Nase fällt oder der Kleine ihm einfach davonläuft?«
»Drei zu eins auf Davonlaufen«, sagte Pia. »Der Knirps ist schnell.«
»Die Wette halte ich«, sagte Alica. »Ich bin sicher, dass er ihn zuerst noch ein bisschen tanzen lässt. Die Verliererin zahlt den Rückflug nach Hause.«
Pia bekundete mit einem Lachen ihr Einverständnis, und noch während sie hinter dem Soldaten um die Ecke bogen, konnte Pia spüren, wie das Lächeln auf ihren Lippen zu einer erschrockenen Grimasse gefror. Keiner von ihnen würde den Rückflug bezahlen müssen, aber der wahre Verlierer war wohl der Junge. Vielleicht hätte sie ihm doch Glück wünschen sollen statt eines kleinen Schreckens, der ihn dazu bewegen hätte sollen, in sich zu gehen und über sein Leben zu philosophieren.
Sie konnte nicht sagen, was genau passiert war. Vielleicht war der Junge gestolpert oder gegen einen Passanten geprallt, oder er hatte tatsächlich versucht, seinen Verfolger noch ein bisschen zu foppen, und war ihm dabei zu nahe gekommen – auf jeden Fall bekam er gerade einen weitaus größeren Denkzettel als den, den Pia ihm insgeheim gegönnt hatte. Einen ziemlich schmerzhaften Denkzettel. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bauch und strampelte verzweifelt mit Armen und Beinen, um sich loszureißen, was aber vollkommen aussichtslos war. Der Soldat kniete mit einem Bein auf seinem Rücken und hatte die linke Hand in sein Haar gekrallt, um seinen Kopf brutal in den Nacken zu reißen. Der Junge keuchte vor Angst und Schmerz, und sein Gesicht war blutüberströmt. Mit der anderen Hand grub der Soldat hektisch in den Taschen des Jungen.
»Ich glaube, das reicht«, sagte Pia scharf. »Du hast dein Geld wieder, oder?« Sie musste sich auf die Zunge beißen, um den Kerl nicht anzuschreien. Seinen Ärger konnte sie ja durchaus verstehen – niemand ließ sich gerne bestehlen –, nicht aber seine vollkommen übertriebene Brutalität.
»Der Bursche hat mich bestohlen!«, antwortete der Soldat wütend. »Er bekommt nur, was ihm zusteht!« Mit einem triumphierenden Laut holte er den Lederbeutel mit seiner Barschaft unter der Kleidung des Jungen hervor, steckte ihn ein und zog in der gleichen Bewegung einen Dolch aus dem Gürtel, mit dem er dem Jungen die Kehle durchschnitt.
Pia war viel zu schockiert, um irgendetwas zu tun. Sie sah, was passierte, aber ein Teil von ihr weigerte sich einfach zu glauben, was sie sah.
Dann überwand sie ihren Schock, sprang mit einem Schrei vor und versetzte dem Kerl einen Fußtritt ins Gesicht, der ihn kreischend vom Rücken des Jungen schleuderte und Blut sowie abgebrochene Zähne spucken ließ. Noch bevor er auf dem Rücken landete, fiel Pia neben dem Jungen auf die Knie und drehte ihn herum.
Sie sah sofort, dass sie zu spät gekommen war. Der Junge lebte noch, aber seine Augen waren nicht nur voller ungläubigem Entsetzen und Schmerz, sondern auch schon von etwas anderem und Dunklerem erfüllt, das darunter heranwuchs und rasend schnell stärker wurde. Seine Lippen bewegten sich, als er ebenso verzweifelt wie vergeblich zu atmen versuchte, dann ergoss sich ein Schwall aus hellrotem, schaumigem Blut über seine Lippen und vereinigte sich mit dem warmen Strom, der aus seiner durchschnittenen Kehle quoll. Er bäumte sich auf, krallte die Hände im Pias Umhang und starb.
Und irgendetwas in Pia schien mit ihm zu sterben. Noch immer viel zu schockiert, um mehr als dumpfes Entsetzen und pure Verweigerung zu empfinden … war in ihrem Innersten doch ein brodelndes Feuer, das ebenso langsam wie unaufhaltsam emporstieg, eine ohnmächtige Wut, die sie lähmte. Sie saß einfach da, starrte den toten Jungen an und weigerte sich immer noch zu begreifen, was sie gerade gesehen hatte. Und vielleicht wäre das sogar so geblieben, hätte sich der Soldat nicht in diesem Moment torkelnd in die Höhe gestemmt. Die untere Hälfte seines Gesichts war beinahe genauso blutig wie die des Jungen, und seine Lippen schwollen so schnell an, dass man tatsächlich dabei zusehen konnte. In seinen Augen schimmerten Tränen, aber da war auch ein Zorn, den er kaum noch beherrschen konnte.
»Was fällt dir ein, du verdammtes Miststück!«, heulte er. »Du hast mir die Zähne eingetreten! Dafür bezahlst du, und es ist mir auch vollkommen egal, wer du bist oder zu sein behauptest!«
Er spuckte einen Klumpen blutigen Schleim und weitere Zahnsplitter aus, wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen und torkelte weiter auf sie zu, und das nächste, woran Pia sich erinnerte, war, dass sie auf ihm saß, seine Arme mit den Knien gegen den Boden presste und ihm abwechselnd die rechte und die linke Faust ins Gesicht schlug, zweimal, dreimal, viermal, immer und immer wieder, obwohl er schon nach dem zweiten oder dritten Hieb aufhörte sich zu wehren, und nach dem fünften oder sechsten auch, sich zu bewegen.
Eine schmale Hand schloss sich um ihr Handgelenk und versuchte sie festzuhalten, aber sie war nicht stark genug. Pia riss sich los, schlug noch einmal und mit noch größerer Wucht zu und spürte die Nase des Mannes brechen; nicht zum ersten Mal.
»Pia, verdammt noch mal, hör auf!« Alica versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die grellen Schmerz vor Pias Augen explodieren ließ und ihren Mund mit dem Geschmack ihres eigenen Blutes füllte. Aber sie riss sie auch in die Wirklichkeit zurück. Die lodernde Wut war noch immer in ihr, doch es gelang ihr nun, sie zu beherrschen und sogar ein wenig zurückzudrängen. Nicht annähernd weit genug, damit sie ihre Gedanken nicht weiter mit purer Mordlust überschwemmte – aber Pia hörte wenigstens auf, weiter wie von Sinnen auf den Soldaten einzuprügeln.
»Verdammt noch mal, was ist denn in dich gefahren?«, fauchte Alica. »Wolltest du den Kerl umbringen?«
Pia blickte auf die reglose Gestalt und fragte sich, ob sie das nicht bereits getan hatte. Der Mann rührte sich nicht und gab auch nicht mehr den geringsten Laut von sich. Sie konnte nicht einmal mehr erkennen, ob er noch atmete. Es war ihr auch vollkommen egal. »Hast du gesehen, was der Kerl gemacht hat?«, fragte sie tonlos.
»Ja«, antwortete Alica. »Und wenn du ihn nicht niedergeschlagen hättest, dann hätte ich es getan. Aber ihn umzubringen wäre nicht besonders klug. Ich glaube nicht, dass Istvan besonders viel Verständnis dafür hätte.« Sie streckte die Hand aus, und Pia ließ sich von ihr aufhelfen und registrierte erst jetzt, dass der zweite Soldat auch nicht mehr auf den Beinen stand, sondern zwei Schritte entfernt auf den Knien hockte und sich die blutende Nase hielt.
»Schätze, er wollte seinem Kumpel zu Hilfe eilen«, sagte Alica achselzuckend. »Aber das konnte ich leider nicht zulassen.«
Pia lächelte knapp, und hinter ihr sagte eine ihr nur zu vertraute Stimme: »Ich sehe, du hast nichts verlernt, trotz all der Zeit.«
Pia fuhr erschrocken herum und klammerte sich für den kurzen Moment, den sie für die Bewegung brauchte, noch an die verzweifelte Hoffnung, sich zu täuschen, obwohl sie die Stimme zweifelsfrei erkannt hatte.
Sie hatte sich nicht getäuscht.
»Aber eigentlich hättest du dem armen Kerl da zu Hilfe kommen müssen«, fuhr Hernandez mit einem dünnen Lächeln und an Alica gewandt fort. »Was allerdings auch keinen Unterschied gemacht hätte, fürchte ich.«
Damit trat er an Alica vorbei, grub die Hand in das Haar des knienden Soldaten und tat dasselbe, was dessen Kamerad gerade mit dem wehrlosen Jungen gemacht hatte: Er zog einen Dolch aus dem Gürtel und schnitt ihm die Kehle durch. Noch während der Mann zur Seite fiel und röchelnd an seinem eigenen Blut erstickte, beugte sich Hernandez zu dem zweiten Soldaten hinab und verfuhr mit ihm genauso.
Pia sah ihm zu, erfüllt von lähmendem Entsetzen. Sie hätte erwartet, dass es ihr nichts ausmachte nach dem, was der Gardist gerade mit dem wehrlosen Jungen getan hatte, aber der Tod der beiden Männer entsetzte sie ebenso sehr wie der des Kindes. Auf eine gewisse Art vielleicht sogar noch mehr, denn der Soldat hatte zumindest einen Grund für das gehabt, was er getan hatte, während Hernandez beinahe gelangweilt wirkte.
Sorgsam wischte er die blutige Klinge am Mantel des Toten ab und schob sie unter seinen Gürtel zurück, bevor er sich wieder zu Alica und ihr herumdrehte.
»Du hast recht«, sagte Alica mit belegter Stimme. »Es ist tatsächlich Hernandez.« Sie maß den hochgewachsenen Mann mit einem kalten Blick. »Wollen Sie die Toten nicht ein wenig fleddern, Comandante? Ich glaube, der eine hat einen Beutel mit Münzen dabei.«
»Im Prinzip ist das keine schlechte Idee«, antwortete Hernandez lächelnd. »Aber leider wird die hiesige Währung dort, wo ich hingehe, nicht akzeptiert.«
»Ich wusste, dass Sie ein Schwein sind, Hernandez«, sagte Alica. »Aber für einen kaltblütigen Mörder habe ich Sie bisher nicht gehalten.«
Hernandez sah ein bisschen beleidigt aus, fand aber nach zwei oder drei Sekunden wieder zu seinem maliziösen Lächeln zurück. »So groß ist der Verlust nicht«, sagte er achselzuckend. »Istvan hätte sie sowieso getötet, wenn er erfahren hätte, mit wem ihr euch gerade getroffen habt.«
Alica sah ihn mit schlecht gespielter Ratlosigkeit an, während Pia erst gar nicht versuchte ihren Schrecken zu verhehlen. Wieso wusste Hernandez, was gerade auf dem Viehmarkt geschehen war? Gehörten Valoren und er am Ende sogar …?
Nein. Sie gestattete sich nicht einmal, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Sie wusste so gut wie nichts über ihre seltsame Verbündete, aber die bloße Vorstellung, dass Henandez und sie zusammengehören sollten, war vollkommen absurd.
»Nun, Prinzessin Gaylen«, fuhr Hernandez spöttisch fort. »Habt Ihr über die Frage nachgedacht, die ich Euch gestern Abend gestellt habe?«
»Welche Frage?«, erkundigte sich Alica misstrauisch.
»Jetzt bin ich ein bisschen enttäuscht«, sagte Hernandez. »Ich dachte, ihr wärt Freundinnen. Und du hast ihr etwas so Wichtiges verschwiegen?«
»Was hast du mir verschwiegen?«, fragte Alica.
»Gar nichts«, antwortete Pia. »Nur seinen Vorschlag, ihn zu begleiten.«
»Ja, das war schon immer mein Traum«, sagte Alica. »Zusammen mit einem durchgeknallten Killer von hier wegzugehen. Ich könnte mir kaum etwas Schöneres vorstellen, Hernandez.«
»Nur Nandes bitte«, erwiderte Hernandez. »Dieser Name … weckt gewisse Erinnerungen, die mir nicht besonders angenehm sind.«
»Das sollte doch eigentlich jeder einzelne Blick in den Spiegel auch tun«, antwortete Alica spitz.
Hernandez – Nandes – machte ein amüsiertes Gesicht. »Hast du hier schon einen Spiegel gesehen, seit ihr hergekommen seid?«, fragte er und beantwortete seine eigene Frage gleich mit einem Kopfschütteln. »Es hat auch einen oder zwei Vorteile, in einer derart rückständigen Gesellschaft zu leben. Nicht besonders viele, ich gebe es zu, aber immerhin ein paar. Und um auf dein Argument zu antworten: Ich fürchte, euch bleibt keine andere Wahl, als meine Einladung anzunehmen.« Er deutete auf die beiden Toten. »Istvan wird nicht besonders begeistert sein, dass ihr zwei seiner Männer getötet habt.«
»Wir?!«, ächzte Alica.
»Wer sollte es sonst getan haben?«, erkundigte sich Hernandez. »Ich bin gar nicht da.«
Alica setzte zu einer scharfen Antwort an, sah sich rasch nach rechts und links um und machte dann ein betroffenes Gesicht, und auch Pia fiel plötzlich auf, dass sie vollkommen allein auf der Straße waren. Vom Markt her drangen noch immer die durcheinander hallenden Stimmen zahlreicher Menschen und das Blöken und Wiehern von Vieh an ihr Ohr, aber hier war es vollkommen still. Pia konnte die verstohlenen Blicke, die sie musterten, geradezu körperlich spüren, doch zu sehen war niemand. Wahrscheinlich hatte Nandes recht, dachte sie missmutig. So fremd und bizarr ihr diese Welt vorkommen mochte, es gab vermutlich mehr Parallelen als Unterschiede. Ganz egal, wie viele neugierige Augenpaare sie auch beobachten mochten, niemand würde sich melden, wenn sie nach einem Entlastungszeugen suchten.
»Ich fürchte, wir müssen Ihre Einladung trotzdem ablehnen, Comandante«, sagte Alica. »So gern ich es täte, aber wir haben leider schon andere Termine.«
»Und ich fürchte, ich muss darauf bestehen«, sagte Hernandez. Er schnippte mit den Fingern, und hinter ihm erschienen wie aus dem Nichts drei Gestalten, von denen Pia zwar vollkommen sicher war, ihnen noch nie zuvor im Leben begegnet zu sein, die ihr aber trotzdem auf ziemlich unangenehme Art bekannt vorkamen.
Alle drei waren sehr groß – nicht nur für hiesige Verhältnisse, für die sie wahre Riesen sein mussten, sondern auch nach Pias Maßstäben. Selbst der Kleinste der drei überragte sie um zwei oder drei Zentimeter, der Größte nahezu um Haupteslänge. Alle drei hatten langes, schmutziges Haar und noch längere verfilzte Bärte und trugen zerfetzte Umhänge aus schmutzigem Fell.
»Oh«, murmelte Alica. »Ich wusste doch, dass wir etwas vergessen haben.«
Pia brachte sie mit einer unwilligen Geste zum Schweigen und versuchte zugleich, die Gesichter der drei Kerle genauer zu erkennen. Unter all den Haaren und dem Schmutz war das gar nicht so einfach, und sie hatte ja auch die Gesichter der drei anderen Kerle niemals deutlich gesehen; jedenfalls nicht deutlich genug, um sie sich einzuprägen. Dennoch war sie sicher, dass es sich nicht um dieselben Männer handelte, die Alica und sie gejagt hatten. Aber sie konnten gut ihre Brüder sein.
Zumindest im Geiste.
Und ihre Umgangsformen waren auch nicht viel besser. Zwar machte keiner der drei irgendwelche Anstalten, sich sofort auf Alica und sie zu stürzen (womit sie eigentlich gerechnet hätte), doch alle drei zogen in einer fast synchronen Bewegung ihre Waffen unter den Mänteln hervor.
»Ähm … Pia?«, fragte Alica unsicher. »Ich will ja nicht penetrant erscheinen, aber sollten wir nicht … von hier verschwinden, zum Beispiel?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Hernandez. »Und bitte, Alica – unsere Zeit wird allmählich knapp. Ihr könnt freiwillig mitkommen oder meine Männer zwingen euch dazu. Entscheide dich. Jetzt.«
»Ihre Männer«, wiederholte sie. »Dann waren es auch Ihre Männer, die uns letzte Woche quer durch Rio gehetzt haben?«
»Letzte Woche?« Hernandez lächelte schmerzlich. »Für mich war es vor zwölf Jahren. Und nein, damals … standen wir noch nicht auf derselben Seite. Das ist … eine etwas komplizierte Geschichte. Aber wir werden noch genug Zeit haben, um sie zu erzählen.« Er machte eine befehlende Geste, und Pia hörte ein Rasseln und Schleifen hinter ihrem Rücken und fragte sich, ob es denn überhaupt lohnte, sich herumzudrehen. Sie tat es trotzdem. Hinter ihnen standen jetzt zwei in schmutzige Fetzen gekleidete Neandertaler, die nur aus Muskeln, scharf geschliffenem Eisen und furchtbar schlechten Zähnen zu bestehen schienen.
»Okay«, seufzte Pia. »Was sollen wir tun? Die Hände heben und euch unauffällig aus dem Stadttor folgen?«
Hernandez gab dem Burschen hinter sich einen knappen Wink, und der Bärtige machte eine unwillige Bewegung mit dem rostigen Schwert, das er unter seinem Mantel hervorgezogen hatte, und knurrte eine Antwort, die Pia nicht verstand. Aber er klang eindeutig wütend.
»Schon gut«, sagte Pia hastig. »Wir kommen mit.«
»Einfach so?«, fragte Alica.
Pia hob unglücklich die Schultern. »Sieht nicht so aus, als hätten wir eine große Wahl, oder? Immerhin versuchen sie nicht, uns gleich an Ort und Stelle umzubringen.« Wahrscheinlich würden sie das später erledigen, irgendwo außerhalb der Stadt und in aller Ruhe. Und ganz langsam.
Der Bärtige ließ ein weiteres unwilliges Grunzen hören und Alica warf ihr einen fast schon flehenden Blick zu. »Du hast nicht zufällig irgendeine geniale Idee? Irgendetwas mit den …Schatten … vielleicht?«
Pia verstand, was sie damit meinte, aber sie konnte nur bedauernd den Kopf schütteln. Auch wenn sie bis jetzt nicht wirklich verstanden hatte, wie es ihr bei ihrem ersten Zusammentreffen mit diesen unheimlichen Kerlen gelungen war, Alica und sich praktisch unsichtbar zu machen, so wusste sie doch trotzdem, dass ihnen dieser Ausweg gerade nicht zur Verfügung stand. Es hatte irgendetwas mit dem Licht zu tun. Der Sonne. Mehr konnte sie im Moment nicht sagen.
»Dann haben wir ein Problem«, seufzte Alica.
Der Bärtige machte eine drohende Bewegung mit dem Schwert, und Pia drehte sich gehorsam um und setzte sich in Bewegung. Hernandez sah sie plötzlich sehr nachdenklich an, und Pia wünschte sich, Alica hätte das mit den Schatten nicht gesagt.
Zumindest auf dem ersten Stück führten die Männer sie nicht in Richtung der Stadtmauer, sondern davon weg, in Richtung des monströsen schwarzen Turms im Zentrum der Stadt.
Nun ja, einen geeigneteren Ort, um sie in aller Ruhe umzubringen, würden sie wohl kaum finden.
Pias Gedanken kreisten immer schneller. Ganz egal, wohin diese Kerle sie auch schleppen wollten: Sie mussten ihnen entkommen, bevor sie ihr Ziel erreichten, wenn nicht etwas ganz und gar Schreckliches geschehen sollte; etwas, bei dem weit mehr auf dem Spiel stand als nur Alicas und ihr Leben.
Sie erreichten das Ende der Straße, bogen ab, und Hernandez blieb so abrupt stehen, dass Pia gegen den Kerl unmittelbar vor ihr prallte. Auch die anderen hielten mitten im Schritt inne, und Pia konnte ihre Überraschung spüren. Irgendetwas lief nicht so, wie sie es geplant hatten. Sie tauschte einen verstohlenen Blick mit Alica, und diese antwortete mit einem kaum angedeuteten Nicken.
Vor ihnen lag eine weitere schmale Straße, von der Hernandez wohl angenommen haben mussten, dass sie ebenso verlassen war wie die, in der sie ihnen aufgelauert hatten.
Sie war es nicht. Ganz im Gegenteil schien sie im ersten Moment von Menschen nur so zu wimmeln, auch wenn dieser Eindruck keinem zweiten Blick standhielt und nur daher kam, dass die Handvoll Gestalten kunterbunt gekleidet waren und aufgeregt durcheinander wuselten. Hätten sie sich nicht genau in die entgegengesetzte Richtung bewegt, Pia hätte geschworen, dass sie wieder auf dem Gauklermarkt angekommen waren. Nur ein paar Schritte entfernt tollten zwei Kinder in bunten Clownskostümen herum und vollführten allerlei Faxen. Hinter ihnen jonglierte ein spindeldürrer Kerl mit gleich vier bunten Holzkeulen, und hinter diesem wiederum ließ eine junge Frau in einem schäbigen Kleid eine Peitsche knallen, zu deren Takt ein schwarzer Hund auf den Hinterpfoten tanzte. Von irgendwoher kam gedämpfte Musik – oder zumindest ein Durcheinander jener misstönenden Laute, die man hier für Musik hielt –, und da waren auch noch andere Gaukler und Schausteller. Zumindest eine von ihnen kannte Pia.
Es war Nani, die Frau des Mannes, der von Flammenhuf getötet worden war.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Hernandez misstrauisch.
Pia deutete nur ein Schulterzucken an, warf Alica aber zugleich einen verstohlenen Blick zu. »Hier stimmt etwas nicht«, flüsterte sie. »Sei auf der Hut.«
Alica nickte, und der Bursche unmittelbar neben Pia grunzte ein einzelnes Wort in seiner sonderbaren Sprache und machte eine zusätzliche befehlende Geste. Sein Begleiter griff unter das schmuddelige Fell, das er als Mantel trug, und Pia spürte, wie einer der anderen Kerle so dicht hinter sie trat, dass ihr sein ranziger Gestank in die Nase stieg. Etwas bohrte sich hart zwischen ihre Schulterblätter. Auch Alica fuhr zusammen und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Sei still«, fuhr Hernandez sie an und wandte sich dann an Nani, die neben einem Mädchen mit Hund stand und zum Takt ihrer Peitschenschläge in die Hände klatschte. Pia versuchte irgendwie ihren Blick einzufangen, aber entweder gelang es ihr nicht oder Nani wollte sie nicht sehen. Der Bärtige neben Hernandez raunzte sie rüde in seiner unverständlichen Sprache an und griff erneut unter seinen Mantel, und Nani wandte sich lachend zu ihm um, machte eine besänftigende Geste mit beiden Händen und schien Hernandez dann als Anführer der Gruppe auszumachen. »Mein Herr, ich bitte Euch!«, sagte sie. »Seid fröhlich und lacht ein wenig mit uns! Wir üben für die große Vorstellung heute Abend! Kommt und tanzt ein wenig mit mir!«
Sie griff nach Hernandez’ Arm, wie um ihn tatsächlich an sich zu ziehen und das Tanzbein zu schwingen, und der Kerl neben ihm versetzte ihr einen Stoß mit der flachen Hand vor die Brust, der sie zwei Schritte zurück- und gegen das Mädchen mit der Peitsche stolpern ließ. Nani keuchte vor Schrecken, und das Mädchen verlor mit einem überraschten Laut die Kontrolle über ihre Peitsche, deren geflochtenes Ende plötzlich nicht mehr über dem tanzenden Hund in der Luft knallte, sondern sich um das Handgelenk des Kerls wickelte und ihn mit einem so derben Ruck aus dem Gleichgewicht brachte, dass er auf die Knie fiel. Währenddessen prallte der Hund mit einem erschrockenen Jaulen zurück, fuhr herum und erschrak noch einmal, als er plötzlich einen Berg aus verfilztem Haar und purer Wut über sich aufragen sah, und das so heftig, dass er ganz instinktiv zuschnappte. Aus dem wütenden Knurren des Bärtigen wurde ein keuchender Schmerzensschrei, als sich die Zähne des Tieres so tief in sein Handgelenk gruben, dass hellrotes Blut aus seiner zerrissenen Arterie schoss. Auch der Jongleur verlor nunmehr endgültig die Kontrolle über seine Bewegungen und sein Werkzeug. Zwei der bunt bemalten Kegel klapperten zu Boden, die beiden anderen schienen sich irgendwie selbstständig zu machen. Pia sah, wie der Kerl hinter Alica wie vom Blitz getroffen zusammenbrach, als der abgerundete Kopf des Kegels gegen seine Stirn knallte, der andere sauste so dicht an ihrem Gesicht vorbei, dass sie ein leises Zupfen am Ohrläppchen spürte. Ein gurgelnder Schrei erklang, und der Druck zwischen ihren Schulterblättern verschwand.
Pia vergeudete keine Zeit damit, hinter sich zu sehen und den angerichteten Schaden zu begutachten, sondern verwandte ihre Energie lieber darauf, selbst welchen anzurichten. Mit aller Kraft trat sie dem Kerl rechts von sich in die Kniekehle und stieß ihm die flachen Hände gegen den Rücken, als er erwartungsgemäß nach vorne stolperte. Alica versuchte etwas ganz Ähnliches mit dem letzten Burschen anzustellen, aber es war gar nicht mehr nötig. Auch die beiden Kinder (die gar keine Kinder waren, sondern kleinwüchsige Männer) kamen in all dem Durcheinander aus dem Takt ihrer sorgsam einstudierten Choreografie. Der eine landete mit den Füßen voran in Hernandez’ Bauch, der zweite stellte sich noch viel ungeschickter an, stolperte irgendwie über seine eigenen Füße und krachte mit beiden Knien in Hernandez’ Gesicht, als dieser keuchend auf den Rücken fiel. All das dauerte etwas weniger als eine Sekunde.
»Erhabene! Lauft!«, schrie Nani. »Wir halten sie auf! Bringt Euch in Sicherheit!«
Pia beschloss, sich später zu wundern, griff nach Alicas Arm und rannte los. Der Kerl, den sie zu Boden gestoßen hatte, rappelte sich bereits wieder hoch und versuchte nach Alicas Bein zu greifen, aber Nani war mit einem einzigen Schritt neben ihm und trat ihm so wuchtig vor die Schläfe, dass er benommen zurücksank. Irgendetwas zischte mit einem hässlichen Geräusch an ihnen vorbei, fetzte ein Stück aus ihrem Mantel und grub sich in die Wand vor ihnen, und Pia schlug einen blitzartigen Haken und riskierte nun doch einen Blick über die Schulter.
Die beiden Kerle, die hinter ihnen gestanden hatten, waren zuverlässig ausgeknockt und rührten sich nicht mehr – jedenfalls nicht sehr –, aber die drei anderen wirkten dafür umso wütender. Der Anführer war schon wieder aufgesprungen, ohne dass der Hund seinen Arm losgelassen hätte. Das Tier musste gut und gerne dreißig Kilo wiegen, was der Bursche aber nicht einmal zu spüren schien. Er riss den wütend knurrenden Hund einfach mit sich in die Höhe und bewegte den Arm dann ruckartig zur Seite, wodurch das Tier gegen die Wand neben ihm geschmettert wurde. Was bislang geiferndes Knurren gewesen war, wurde ein kurzes, schrilles Jaulen, dann ließen seine Kiefer endlich das Handgelenk des Burschen los und er fiel reglos zu Boden. Aus dem zerfetzten Handgelenk des Bärtigen spritzte hellrotes Blut wie aus einem durchtrennten Hochdruckschlauch, und Pia merkte, wie seine Wut mit jedem Tropfen Blut, den er verlor, nur noch weiter stieg. Sein unverletzter Arm glitt unter den Mantel und kam mit einem schartigen Schwert wieder zum Vorschein, und mehr musste sie nicht sehen.
»Erinnere mich daran, dass ich nie wieder ohne die Pistole aus dem Haus gehe!«, keuchte sie, schlug einen weiteren Haken und zerrte Alica noch schneller hinter sich her.
Nur ein paar Schritte vor ihnen flog eine Tür auf.
»Erhabene! Hierher!«
Pia reagierte ganz instinktiv, fuhr mitten in der Bewegung herum und zog gerade noch rechtzeitig genug den Kopf ein, um nicht gegen den niedrigen Türsturz zu knallen.
Ein ebenso niedriger, nur unzureichend erleuchteter Gang nahm sie auf, und Pia hatte einen flüchtigen Eindruck von einem breitflächigen Gesicht und heftig wedelnden Armen, dann wurde die Tür mit einem Knall hinter ihnen zugeworfen, und es wurde so dunkel, dass sie im ersten Moment beinahe gar nichts mehr sahen. »Auf den Hof, Erhabene!«, stieß eine gehetzt klingende Stimme hervor. »Hinter dem Brunnen ist ein Tunnel!«
Sie stürmten durch den Gang und eine weitere Tür wieder ins helle Sonnenlicht hinaus. Pia warf die Tür mit einem Knall hinter sich ins Schloss, der nahtlos in ein weitaus lauteres Bersten überging, mit dem die Tür am anderen Ende des Flures auseinanderflog. Pia glaubte einen gedämpften Schrei zu hören und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es nicht ihr geheimnisvoller Retter war, der seine Hilfsbereitschaft mit dem Leben bezahlte, aber ihnen blieb keine Zeit, sich davon zu überzeugen. Sie hatten allerhöchstens ein paar Sekunden, um den Keller zu erreichen … wenn es ihn denn gab.
Sie verschwendete eine dieser kostbaren Sekunden, um sich zu orientieren, ohne dass sie sich hinterher sonderlich schlauer fühlte. Der Hof war winzig – kaum fünf Schritt im Quadrat und mit Brennholz, ausrangierten Möbeln, Kisten und Fässern und allem möglichen Krempel nur so vollgestopft –, aber von einem Brunnen konnte sie gar nichts entdecken. Es war Alica, die einfach weiterrannte und auf ein vollkommen ungesichertes Loch im hart gefrorenen Boden zusprintete, über dem ein hölzerner Eimer an einem wackeligen Dreibein hing. Daneben lag eine rostige Axt mit einem kurzen Stiel, und dahinter befand sich eine rechteckige Platte mit schweren rostigen Scharnieren, die vermutlich nicht nur so aussah, als müsste sie mindestens eine halbe Tonne wiegen.
Alica flankte mit einem wagemutigen Satz über den ungesicherten Brunnenschacht hinweg, fiel neben der Klappe auf die Knie und bestätigte Pias Vermutung, indem sie vergebens daran zerrte, ohne sie auch nur einen Zentimeter in die Höhe zu bekommen.
Pia vergeudete eine weitere unendlich kostbare halbe Sekunde, indem sie ihr zu helfen versuchte, aber die Klappe rührte sich nicht. Wahrscheinlich waren die Scharniere schlichtweg festgefroren.
Pias Gedanken rasten. Aus dem Haus drang ein keuchender Schrei, gefolgt von den unverkennbaren Geräuschen eines Kampfes, über dessen Ausgang es nicht den geringsten Zweifel gab. Ihnen blieben allerhöchstens noch Sekunden, bevor ihre Verfolger hier waren. Selbst wenn es ihnen gelang, die Klappe zu öffnen, hatten sie keine Chance, unerkannt in dem darunterliegenden Keller zu verschwinden.
Pia reagierte, ohne nachzudenken (was ihnen vermutlich das Leben rettete), ließ die hölzerne Klappe los und griff stattdessen mit der linken Hand nach dem Seil, das über dem improvisierten Brunnen hing, umschlang mit dem anderen Alicas Hüfte und ließ sich einfach nach hinten fallen.
»Bist du wahnsinnig geworden?!«, kreischte Alica. »Was zum…«
Der Rest ihrer Worte wurde zu einem unartikulierten Kreischen, als sie nebeneinander in den Brunnenschacht stürzten. Pia versuchte das raue Seil mit aller Gewalt zu packen, um ihren Sturz auf diese Weise zu verlangsamen oder womöglich ganz aufzufangen, was sich als keine besonders gute Idee erwies; der grobe Strick schnitt wie ein rot glühendes Reibeisen in ihre Handfläche und ließ sie vor Schmerz aufstöhnen. Aber selbst wenn es ihr gelungen wäre, ihren Sturz auf diese Art aufzufangen, hätte ihr der Ruck vermutlich den Arm ausgekugelt oder Schlimmeres verursacht; immerhin trug sie zusätzlich noch Alicas gesamtes Gewicht im anderen Arm.
Gottlob fielen sie kaum zwei Meter tief.
Der keuchende Schmerzlaut, mit dem Alica den Bruchteil einer Sekunde vor ihr aufschlug, ging in dem berstenden Laut unter, mit dem die Hoftür aufgestoßen oder gleich in Stücke geschlagen wurde, dann hatte auch Pia das Gefühl, von einem Dampfhammer unter beiden Füßen gleichzeitig getroffen zu werden, und das mit einer solchen Wucht, dass sie glaubte, ihre Hüftgelenke würden im nächsten Moment durch ihre Achselhöhlen schießen.
Nebeneinander sanken sie zu Boden. Alica wimmerte leise, und auch Pia konnte einen Schmerzlaut nicht mehr ganz unterdrücken. Alles drehte sich um sie, und sie drohte das Bewusstsein zu verlieren. Vielleicht gewann sie den Kampf gegen Ohnmacht und Schmerz nur, weil sie spürte, dass ihre Chancen nicht schlecht standen, nie wieder aufzuwachen.
Pia zwang sich mit einer gewaltigen Willensanstrengung, die Augen wieder zu öffnen, und fand sich in einem engen, halbdunklen, runden Schacht wieder. Der Brunnen war nicht ausgetrocknet, wie sie instinktiv angenommen hatte, sondern komplett eingefroren; der stahlharte Widerstand, der ihrem Sprung auf so brutale Art ein vorzeitiges Ende bereitet hatte, war ein massiver Pfropfen aus Eis, der den Brunnenschacht zur Gänze ausfüllte.
»Na, das war ja wieder mal eine echte Glanzleistung«, stöhnte Alica neben ihr. Ihre Stimme bebte vor Schmerz und hörte sich an wie die eines Menschen, der sich mit letzter Kraft ans Bewusstsein klammerte und mehr als nur Gefahr lief, diesen Kampf zu verlieren.
Pia wollte antworten, brachte aber nur ein schmerzerfülltes Grunzen zustande, und zu Schwindelgefühl und Schmerz gesellte sich auch noch eine heftige Übelkeit. Saurer Speichel füllte ihren Mund, und für zwei oder drei Sekunden musste sie all ihre Willenskraft aufbieten, um sich nicht zu übergeben.
»Und was … jetzt?«, brachte Alica mühsam hervor. »Wir …«
»Still!«, zischte Pia. Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber das Wunder geschah: Alica schwieg.
Doch es wurde nicht still. Über ihnen polterten Schritte, und aufgeregte Stimmen redeten und schnatterten wild durcheinander. Ein Schatten legte sich über den Brunnenschacht und verschwand wieder, und sie glaubte Hernandez fluchen zu hören, war aber nicht ganz sicher, weil das Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren nahezu jeden anderen Laut übertönte.
Pia drängte Panik und Schmerzen und Übelkeit zurück und drehte den Kopf, um sich umzusehen.
Nicht dass es etwas zu sehen gegeben hätte. Der Schacht war so eng, dass Alica und sie fest gegeneinander gepresst wurden, und seine mit einem schimmernden Eispanzer überzogenen Wände hätten ihren Händen nicht einmal dann Halt geboten, wenn sie Platz genug gehabt hätte, um sich zu bewegen … was sie nicht hatte. Es gab auch keinen verborgenen Tunnel oder Seitengang, wie sie in Spielfilmen oder Romanen regelmäßig auftauchten, wenn die Helden sich in einer anscheinend auswegslosen Situation befanden. Was Gemeinheiten anging, war die Wirklichkeit allen Drehbuchautoren der Welt offensichtlich überlegen.
Etwas knisterte; ein leises, aber sehr beunruhigendes Geräusch, das Pia im ersten Moment nicht einordnen konnte, das ihr aber nicht gefiel, doch in diesem Moment wurden auch die Stimmen über ihnen lauter, und erneut legte sich ein Schatten über den Brunnenschacht. Panik explodierte in Pias Gedanken und wollte sie aufschreien lassen, aber sie kämpfte sie nicht nur nieder, sondern griff auch ganz instinktiv nach den Schatten und schlang sie wie eine schützende Decke um Alica und sich, und sie hatte es kaum getan, da erschien Hernandez’ Gesicht in der Öffnung über ihnen. Pia spürte, wie ihr Herz für einen Schlag aussetzte und dann rasend schnell und unregelmäßig weiterhämmerte.
Im ersten Moment hätte sie Hernandez kaum wiedererkannt. Sein Gesicht war nicht nur blutüberströmt und begann bereits sichtbar anzuschwellen, sondern war vor Wut auch zu einer Grimasse verzerrt, die es zusätzlich entstellte. Was sie in seinen Augen las, das war pure Mordlust. So viel zu seiner Behauptung, er hätte sich geändert. Sie stimmte. Er war noch viel schlimmer geworden.
Und er starrte sie direkt an.
Allerdings sah er sie nicht.
In seinem Blick lieferten sich Wut und Schmerz ein immer verbisseneres Duell, und er sah ihr so direkt in die Augen, wie es überhaupt nur ging, kaum mehr als eine Armeslänge entfernt, aber in seinen Augen war kein Erkennen, sondern allerhöchstens so etwas wie eine vage Verwirrung. Er sah irgendetwas, begriff Pia. Doch was immer es sein mochte, es waren nicht Alica und sie, und er konnte mit dem Gesehenen nichts anfangen.
Sie spürte, wie Alica neben ihr vor Schrecken erstarrte und für einen Moment sogar das Atmen einstellte. Hernandez runzelte misstrauisch die Stirn und griff nach dem Seil, um sich daran festzuhalten, während er sich noch weiter vorbeugte, um aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen in den Brunnenschacht zu starren.
»Ich weiß, dass du da irgendwo bist«, sagte er. »Versuch ruhig dich zu verstecken, aber auf die Dauer werden dir deine kleinen Tricks nichts nutzen. Ich finde dich schon, verlass dich drauf!«
Das Knistern wiederholte sich und schien diesmal eine Spur lauter zu sein, und Hernandez beugte sich noch weiter vor; für eine einzelne, aber durch und durch schreckliche Sekunde war Pia fest davon überzeugt, dass er nun auch mit der anderen Hand nach dem Seil greifen und zu ihnen herabsteigen würde, um den zugefrorenen Brunnenschacht Zentimeter für Zentimeter abzusuchen.
Vielleicht hätte er es sogar getan, wäre nicht in diesem Moment einer der bärtigen Krieger neben ihm aufgetaucht.
»Wir müssen gehen, Herr«, grummelte er kaum verständlich. »Jemand hat die Garde alarmiert. Sie sind gleich hier.«
Hernandez funkelte den Mann so wütend an, als gäbe er ihm ganz allein die Schuld an den schlechten Nachrichten, die er überbrachte, richtete sich mit einem Ruck wieder auf und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um das Blut wegzuwischen. »In Ordnung«, grollte er. »Wir verschwinden. Geht der Wache aus dem Weg. Wir können uns einen Kampf im Augenblick nicht leisten. Und sucht diese verdammte Hexe!«
Damit verschwand er.
Pia blieb noch einen Moment vollkommen reglos hocken und wartete darauf, dass die Schritte und hektisch polternden Geräusche verklangen, bevor sie es wagte, sich vorsichtig zu entspannen und dann erleichtert aufzuatmen.
»Das war knapp«, seufzte Alica neben ihr. »Warum hast du das nicht eher gemacht? Dann säßen wir jetzt vielleicht nicht hier drinnen fest.«
»Keine Ahnung«, gestand Pia. Sie wollte mit den Schultern zucken, aber selbst dafür reichte der Platz hier drinnen nicht aus. »Vielleicht funktioniert es im Sonnenlicht nicht.« Die Wahrheit lautete, dass sie schlichtweg gar nicht auf die Idee gekommen war. Alica hatte vollkommen recht. Wäre sie drinnen im Hausflur in die Schatten geflohen, dann säßen sie nicht hier fest.
»Und wie kommen wir jetzt raus?«, fragte Alica.
Statt zu antworten, sah Pia wieder nach oben und rüttelte prüfend an dem Seil, das sie noch immer mit der rechten Hand umklammerte. Es war glitschig von ihrem Blut, und schon die Hand fester darumzuschließen, tat grässlich weh. Außerdem bezweifelte sie, dass ihre Kraft ausreichen würde, nicht nur ihr eigenes Gewicht nach oben zu ziehen, sondern auch noch das Alicas, und noch dazu nur mit einem Arm.
Sie versuchte es trotzdem. Das Ergebnis war eine Explosion aus grellem Schmerz, die ihr die Tränen in die Augen schießen ließ.
»Tja, das dachte ich mir«, sagte Alica. Ihre Stimme klang immer noch flach und ein wenig atemlos, aber sie fand offensichtlich schon wieder zu ihrer gewohnten Form zurück. »Und wie kommen wir jetzt wirklich hier raus, Durchlaucht?«
Bevor Pia antworten konnte, erklang das knisternde Geräusch erneut, und diesmal war es nicht nur merklich lauter, sondern wurde auch von einem sachten Vibrieren unter ihren Füßen begleitet.
»O nein«, murmelte Alica. »Sag mir, dass das nicht das bedeutet, was ich glaube.«
Pia sagte es nicht. Sie kam nicht mehr dazu.
Die Eisdecke, auf der sie standen, war wohl doch nicht ganz so dick gewesen, wie sie geglaubt hatte …