V

Alica ließ ihr mit Swarovski-Steinen besetztes Zippo aufspringen, nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und verdrehte übertrieben genießerisch die Augen, bevor sie die Packung in Pias Richtung schüttelte. »Auch eine?«

Die stärkste Droge, die Pia in ihrem ganzen Leben jemals probiert hatte, war das nahezu alkoholfreie Cerveja, das es in den umliegenden Cantinas gab. Ihrer Meinung nach waren Zigaretten nicht nur ungesund, teuer und widerlich, sondern auch einfach dumm.

Trotzdem hätte sie um ein Haar zugegriffen, ganz einfach, weil es eine so vertraute und fast freundschaftliche Geste war, und sie das Gefühl hatte, gerade im Moment eine Freundin dringend gebrauchen zu können. Natürlich tat sie es nicht, aber sie zögerte doch lange genug, um ihre Ablehnung nicht zu rüde erscheinen zu lassen.

»Nein danke«, sagte sie, während sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr, um die letzten Tränen wegzuwischen. Seltsamerweise war ihr der Gedanke, minutenlang in Alicas Armen gelegen und hemmungslos geweint zu haben, nicht im Geringsten peinlich.

Alica hob die Schultern und ließ die Packung aus der gleichen Bewegung heraus und mit den Worten »Stimmt, du rauchst ja gar nicht« in der Tasche ihrer hautengen Jeans verschwinden … wobei hauteng in diesem Zusammenhang wörtlich zu nehmen war. Pia verstand nicht wirklich, wie Alica es schaffte, irgendetwas in die Taschen zu stecken, das nennenswert dicker als eine Briefmarke war. Das Ding sah aus, als hätte man es ihr auf den nackten Leib gemalt. Dasselbe galt übrigens auch für das schwarze Etwas, das sie darüber trug und von dem sie vermutlich als einziger Mensch auf der Welt ernsthaft glaubte, es wäre ein Top.

Pia fragte sich, ob die junge Frau sich nur so kleidete und herausputzte, um Esteban zu gefallen, oder ob es einfach ihre Art war … oder sie sich dieses Outfit ganz bewusst ausgesucht hatte, um sich von ihr zu unterscheiden. Alica war nicht die erste von Estebans wechselnden Freundinnen, die Pia verblüffend ähnlich war. Anders als sie, die langes, glatt bis weit über den Rücken fallendes blondes Haar hatte, das, je nachdem, wie das Licht fiel, manchmal weiß oder sogar silbern schimmerte, trug sie ihr Haar kurz geschnitten in einer schon vor fünfzig Jahren aus der Mode gekommenen Pagenfrisur und schwarz gefärbt, pflegte sich so übertrieben zu schminken, dass es gerade eben noch nicht ordinär aussah, und empfand Kleidung als offensichtlich umso schicker, je knapper sie war.

Dennoch hätten sie Schwestern sein können. Alica und sie waren derselbe Typ. Die junge Frau behauptete, achtzehn zu sein (Pia wusste, dass das nicht stimmte und sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag schon vor Monaten erlebt hatte), und war damit genau in ihrem Alter. Niemand, auch Esteban nicht, kannte Pias genauen Geburtstag. Als sie damals zu ihm gebracht wurde, ein Findelkind, das krank, halb verhungert und von einer großen Angst vor der Welt und den Menschen erfüllt irgendwo am Straßenrand gefunden worden war, hatte er mehr oder weniger willkürlich entschieden, genau diesen Tag zu ihrem vierten Geburtstag zu erklären, und Pia vermutete, dass das auch ungefähr hinkam. Einmal hatte sie ein Foto von Alica gesehen, das sie etwa im gleichen Alter zeigte, und war verblüfft über die Ähnlichkeit mit Bildern von ihr selbst gewesen. Hätte Alica sich anders gekleidet, ihr Haar anders getragen und auf die eine oder andere Monatspackung Spachtelmasse und ein paar Pfund Farbe im Gesicht verzichtet, sie hätten Zwillinge sein können. Sie hatte Alica erst kennengelernt, als die schon mehrere Wochen mit Esteban liiert gewesen war, und da hatte sie bereits so ausgesehen, und trotzdem überlegte Pia nicht zum ersten Mal, ob Alica sich vielleicht ganz bewusst anders darstellte, um nicht in einen Konkurrenzkampf mit ihr zu treten, den sie verlieren musste. Die Blicke, mit denen Esteban Pia manchmal maß, wenn er glaubte, sie merke es nicht, konnten der jungen Frau ebenso wenig verborgen geblieben sein wie ihr selbst.

Alica nahm einen weiteren Zug aus ihrer Zigarette und blies eine übel riechende graue Wolke in ihre Richtung, und Pia musste sich jetzt wirklich beherrschen, um nicht angewidert das Gesicht zu verziehen. Sie war nicht ganz sicher, ob es ihr gelang.

Wahrscheinlich nicht, denn Alica ging wortlos zum Fenster, stieß es auf und rauchte gegen das Fensterbrett und die Dunkelheit gelehnt, die dahinter heranstürmte, weiter.

»Danke«, sagte Pia.

»Kein Problem«, antwortete Alica. »Ich finde das Zeug selbst widerlich. Ich komme nur nicht davon los.« Wie zum Beweis nahm sie einen weiteren und noch tieferen Zug und begann prompt zu husten … was nach ein paar Sekunden in ein gequältes Lachen überging, dessen Grund Pia nicht ganz nachvollziehen konnte. Trotzdem stand sie auf und nahm einen überquellenden Aschenbecher vom Tisch, um ihn Alica zu bringen. Die nahm ihn dankbar entgegen, dachte allerdings gar nicht daran, ihre Zigarette darin auszudrücken, sondern stellte ihn nur neben sich auf die Fensterbank.

»Wenn du einen guten Rat von einer älteren Frau annehmen willst, Kleines«, sagte sie, immer noch halb hustend, halb lachend, »fang nie mit diesem Scheiß an.« Dann lachte sie noch lauter. »Aber wem erzähle ich das?«

»Das hatte ich auch nicht vor«, antwortete Pia. »Und wie meinst du das überhaupt?«

»Nun, immerhin hast du gerade Koks im Wert von einer Millionen geklaut. Was überhaupt?«, fragte Alica, »Pesos? Rubel?«

»Euro«, antwortete Pia automatisch. Die Globalisierung war auch an der Drogenmafia nicht spurlos vorübergegangen; Drogendeals und andere illegale Geschäfte wurden schon seit Jahren prinzipiell in Euro getätigt. »Und ich hatte nicht vor, das Zeug anzurühren. Oder zu verkaufen.«

»Warum hast du es dann mitgenommen?«, wollte Alica wissen. Die Vorstellung schien sie zu amüsieren.

»Weil …« Pia presste die Lippen aufeinander und schluckte den Rest der ärgerlichen Antwort hinunter, der ihr auf der Zunge lag. Ja, sie hatte sich an Alicas Schulter ausgeweint, und sie war auch gerne bereit zuzugeben, dass es ihr gutgetan hatte – aber das bedeutete noch lange nicht, dass Alica sich jetzt alle Vertraulichkeiten herausnehmen konnte.

»Es ist alles ein bisschen anders gelaufen, als es geplant war«, sagte sie dennoch. »Ich hatte nicht vor, das Koks mitzunehmen. Ich hasse das Zeug.«

»Ja, da sagt Esteban auch.«

»Dass er Drogen hasst?«

»Dass du sie nicht ausstehen kannst. Bist du deshalb auf die Idee gekommen, ausgerechnet einen Drogenkurier auszunehmen?«

»Kennst du jemanden, der es mehr verdient hätte?«

»Auf jeden Fall eine ganze Menge Jemands, mit denen ich mich eher anlegen würde als ausgerechnet mit der Peralta-Familie«, antwortete Alica.

Diesmal brauchte Pia noch länger, bis sie in der Lage war, einigermaßen ruhig zu antworten. Von den wenigen Pluspunkten, die Alica in den vergangenen Minuten gesammelt hatte, hatte sie die allermeisten schon wieder aufgebraucht. »Gibt es irgendetwas, was du nicht weißt?«

»Nicht viel«, antwortete Alica ungerührt. »Die Wände hier sind dünn. Und Esteban hat keine Geheimnisse vor mir. He – ich stehe auf deiner Seite, Süße! Mir ist es völlig egal, was du dir alles einfallen lässt, um Esteban zu beeindrucken. Solange du Esteban damit nicht in Gefahr bringst, kannst du meinetwegen den Papst verführen.«

»Und genau das habe ich deiner Meinung nach getan«, vermutete Pia.

Alica sah sie an, als überlege sie, ob sie das Gespräch überhaupt noch fortsetzen sollte. Pia an ihrer Stelle hätte es nicht getan. Sie spürte selbst, wie aggressiv und unfair sie im Moment war, und ermahnte sich in Gedanken zur Mäßigung.

»Nein«, antwortete Alica schließlich. »Wahrscheinlich nicht. Ich habe mit Esteban gesprochen, und er meint, er kriegt die Sache schon wieder hin. Du kennst ihn doch. Es gibt nicht viel, was er nicht irgendwie wieder hinkriegt. Aber er macht sich Sorgen um dich, wenn du es genau wissen willst.«

Um sie? Und warum lag Jesus dann im Krankenhaus und rang mit dem Tod? »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen«, sagte sie ruppig.

»Der Meinung schien Esteban nicht zu sein«, antwortete Alica gelassen. Sie schnippte ihre Zigarettenasche aus dem offenen Fenster, als gäbe es den Aschenbecher neben ihr gar nicht, warf einen Blick über die Schulter nach draußen und fuhr erst dann fort: »Jedenfalls hat er ein paar Männer kommen lassen, um auf dich aufzupassen.«

Pia machte ein fragendes Gesicht, wartete zwei oder drei Sekunden lang vergebens auf eine Antwort und trat dann neben sie ans Fenster. Im allerersten Moment fiel es ihr schwer, dort draußen überhaupt etwas zu erkennen. Mitternacht musste schon lange vorüber sein, und die Nacht war außergewöhnlich dunkel. Unter ihnen erstreckte sich ein deplatzierter Sternenhimmel aus unzähligen weißen und gelben und roten Funken, zwischen denen sich Schatten bewegten. Zwei davon bewegten sich nicht, und Pia nahm ihre Anwesenheit überhaupt erst zur Kenntnis, als die rote Glut einer Zigarette unter ihr aufglomm. Erst danach registrierte sie die gedämpften Stimmen, die unter ihnen flüsterten.

»Keine Angst.« Alica versuchte aufmunternd zu klingen und erreichte damit eher das genaue Gegenteil. »Die sind nur für alle Fälle da … sagt Esteban.«

»Und welche Fälle wären das?«, wollte Pia wissen.

Darauf antwortete Alica nicht mehr, sondern hob nur die Schultern und sah sie mit leicht schräg gehaltenem Kopf an.

Pia schluckte die wütenden Worte hinunter, die ihr plötzlich auf der Zunge lagen, setzte sich auf Alicas mit rosa Plüsch bezogenes Bett und zog die Knie an den Körper, um sie mit den Armen zu umschlingen und das Kinn darauf zu stützen; eine Haltung, die sie schon als kleines Kind angenommen hatte, wenn sie über irgendetwas nachdenken wollte. Esteban hatte sich immer gutmütig darüber lustig gemacht und sie ihre Denkerhaltung genannt, und Pia hatte ihm niemals widersprochen; auch wenn das nur die halbe Wahrheit war. Sie fühlte sich in dieser Haltung geborgen, sicher vor einer Welt, die mehr Gefahren für sie bereithielt, als sie auch nur ahnte.

»Du machst dir Sorgen um Jesus, habe ich recht?«, fragte Alica nach einer Weile. Pia registrierte beiläufig, dass sie ihre Zigarette in den Aschenbecher drückte und sich fast sofort eine weitere anzündete. Irgendwie mussten ihr schon wieder ein paar Minuten abhanden gekommen sein, in denen sie einfach dagesessen und ins Leere gestarrt hatte. Wahrscheinlich war das auch der Grund, aus dem Alica sie nach Jesus fragte. Pia nahm an, dass Esteban sie beauftragt hatte, sie ein wenig im Auge zu behalten. Sie wünschte, Alica würde sie einfach in Ruhe lassen.

»Sollte ich das nicht?«, fragte sie spröde.

»Doch«, antwortete Alica. »Aber du solltest dir keine Vorwürfe machen, Süße. Was passiert ist, ist nun mal passiert. Es ändert nichts, wenn du dich selbst fertigmachst, weißt du? Jesus wird es schon schaffen. Er ist stark.«

Das hatte auch Alvarez gesagt, und es war dasselbe, was Pia sich die ganze Zeit über einzureden versuchte. Es durfte gar nicht anders sein. Sie schwieg beharrlich weiter.

»Du hängst wirklich sehr an Jesus, wie?«, fragte Alica. »Ich meine: Ihr beide klebt schließlich zusammen wie Pech und Schwefel. Seid ihr ein Paar?«

»Ein Paar?«

»Du weißt, was ich meine. Tut ihr es?«

»Jesus und ich?« Beinahe hätte sie gelacht. »Nein.«

»He, Kleine, wir sind hier unter uns. Du musst mir nichts vormachen. Jesus war …« Sie verbesserte sich hastig. »… ist ein gesunder junger Mann, und du bist auch nicht gerade hässlich, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Erzähl mir nicht, er hätte es niemals versucht.«

»Und wenn es ganz genauso ist?« Pia wusste zwar nicht, was Alica das anging – fragte sie sie etwa nach ihren Bettgeschichten mit Esteban? –, aber sie fuhr trotzdem fort: »Wir sind nur Freunde, das ist alles.« Genau genommen waren sie mehr, sehr viel mehr sogar. Pia hatte in ihm immer den großen Bruder gesehen, den sie niemals gehabt hatte, und er in ihr seine kleine Schwester. Jesus und sie? Das war lächerlich. Und er hatte tatsächlich niemals versucht, mehr für sie zu sein als ihr Freund und Beschützer …

… oder hatte er es, und sie hatte es nur niemals gemerkt, weil diese Möglichkeit so sehr jenseits ihrer Vorstellungskraft lag?

»Na ja, geht mich ja auch eigentlich nichts an«, sagte Alica, nachdem sie eine geraume Weile ihrem unbehaglichen Schweigen gelauscht hatte. »Ich dachte ja nur, dass …« Sie unterbrach sich, runzelte die Stirn und drehte sich dann wieder zum Fenster, um hinauszusehen. Ihre Haltung drückte plötzliche Anspannung aus.

Pia war mit einem Satz aus dem Bett und mit zwei schnellen Schritten neben ihr. »Stimmt etwas nicht?«

Alica zuckte mit den Achseln und schwieg, und Pia schob sie kurzerhand zur Seite und beugte sich vor, um hinauszusehen. Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Die Favela lag so dunkel und gleichzeitig erleuchtet unter ihnen wie vorher. Ein Flugzeug donnerte in kaum zweihundert Metern Höhe vorbei und steuerte den Flughafen am anderen Ende der Stadt an, und für einen Moment übertönte das Dröhnen der angeblich achsoleisen Flüstertriebwerke jeden anderen Laut. Man konnte sogar den Luftzug des landenden Jumbos spüren. Als es endlich vorbei war, schien die Stille nur noch tiefer zu sein. Alles war ruhig.

Zu ruhig, begriff sie plötzlich. Soweit sie die Umgebung überblicken konnte, rührte sich rings um das Haus gar nichts.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie lauschte in sich hinein und zugleich in die Schatten hinaus und spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist los?«, fragte Alica.

Pia hob erschrocken die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und deutete aus der gleichen Bewegung heraus nach unten. Alica beugte sich gehorsam vor und folgte der Geste, aber ihr Gesichtsausdruck wurde nur noch fragender.

»Die Wache ist nicht mehr da«, sagte Pia, wobei sie ihre Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern dämpfte.

»Und? Wahrscheinlich drehen sie nur eine Runde oder müssen aufs Klo.«

»Zu zweit?« Wahrscheinlich gab es noch ein Dutzend anderer logischer Erklärungen, aber Pias Beunruhigung explodierte regelrecht. Siewusste, dass irgendetwas faul war, basta.

»Warte hier!«, sagte sie, während sie sich bereits vom Fenster abwandte und mit schnellen Schritten zur Tür ging. »Rühr dich nicht von der Stelle!«

»Aber klar doch«, schnaubte Alica. »Supergirl im Einsatz, wie konnte ich das bloß vergessen?«

Pia verdrehte die Augen, aber sie sparte es sich, zu antworten. Alica hatte ja recht. »Also gut, aber dann sei wenigstens still … und mach die verdammte Zigarette aus! Man riecht das Ding bis nach Miami!«

Behutsam öffnete sie die Tür, wobei sie die flache Hand gegen das Holz drückte, um jeden verräterischen Laut zu vermeiden. Alica schepperte hinter ihr herum, als hätte sie es darauf angelegt, nicht nur das ganze Haus, sondern auch noch die drei umliegenden Blocks zu wecken, aber sie drückte immerhin ihre Zigarette in den Aschenbecher und kam dann so leise näher, wie es auf ihren modischen Stöckelschuhen möglich war. Pia verdrehte noch einmal die Augen und sagte weiterhin nichts. Auch wenn es ihr schwerfiel.

Vorsichtig zog sie die Tür weiter auf und lauschte. Blasser Lichtschein drang aus dem Erdgeschoss herauf, und es war still. Auch hier viel zu still für ihren Geschmack.

Sie bedeutete Alica mit einer Geste (die diese ignorieren würde), zurückzubleiben, schlüpfte auf den Flur hinaus und blieb nach zwei Schritten stehen, um erneut zu lauschen. Sie hörte immer noch nichts, aber alle ihre Sinne schrien: Gefahr! Sie lauschte. Im ersten Moment war da rein gar nichts außer dem immer schneller werdenden Hämmern ihres eigenen Pulsschlags und des Heidenspektakels, den Alica bei ihrem Versuch veranstaltete, möglichst leise zu sein, aber dann …

… geschah etwas mit ihren Sinnen.

Es war, als wäre tief in ihr ein unsichtbarer Schalter umgelegt worden, von dessen Existenz sie bisher noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Plötzlich waren die Schatten dunkler, war das Licht heller, waren die Gerüche deutlicher und die Geräusche lauter. Ihre Sinne schienen regelrecht Amok zu laufen. Sie glaubte sogar, Alicas Herzschläge hinter sich zu hören und ihren nach Zigarettenrauch und Pfefferminz riechenden Atem zu spüren. Fast erschrocken drehte sie sich um, sah zu ihr zurück und stellte fest, dass sie noch mindestens drei Meter hinter ihr stand. Aber verdammt, sie konnte ihren Atem riechen! Was geschah hier?

Was?, formulierten Alicas Mund und ihr fragender Blick, ohne dass auch nur der mindeste Laut über ihre Lippen kam.

Nichts, antwortete Pia auf dieselbe lautlose Art. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Alica die wortlose Kommunikation auch verstanden hatte, ging zur Treppe und blieb noch einmal kurz stehen, bevor sie den Fuß auf die erste Stufe setzte. Es kam ihr selbst fast unglaublich vor, aber sie konnte Atemzüge dort unten hören, Atemzüge von mindestens zwei, wenn nicht mehr Männern … und einen sonderbaren Geruch vernehmen, fremdartig und zugleich auf eine sonderbare, erschreckende Art vertraut.

Sie machte einen einzelnen Schritt, zog den Fuß dann wieder zurück und streifte aus einem plötzlichen Impuls heraus die Schuhe ab, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Die Atemzüge wurden deutlicher, und sie hörte ein gedämpftes Schleifen und Poltern. Ein Klirren. Metall?

Noch vorsichtiger bewegte sie sich weiter, hielt auf dem letzten Absatz an und versuchte, das nebelige Dunkel unter sich mit Blicken zu durchdringen. Geizig, wie Esteban war, brannte im Hausflur nur eine trübe Zehn-Watt-Birne, und das funzelige Licht reichte nicht einmal ihrem plötzlich auf so erstaunliche Weise gesteigerten Sehvermögen, mehr als vage Schatten und Umrisse zu erkennen. Immerhin sah sie, dass der verwinkelte Hausflur leer war. Eigentlich spürte sie es.

Die Tür zu Estebans Büro stand offen, und das Licht dahinter war heller. Pia lauschte einen Moment auf die diversen Geräusche, die an ihr Ohr drangen, und versuchte, die unterschiedlichen Richtungen zu bestimmen, aus denen sie kamen, aber so magisch scharf waren ihre Sinne denn doch noch nicht geworden. Immerhin war sie jetzt sicher, dass mindestens zwei Leute hier waren, die hier nichts zu suchen hatten.

Hinter ihr polterte Alica die Treppe herunter (Pia nahm an, dass sie sich alle Mühe gab, leise zu sein, aber leise bedeutete für sie plötzlich etwas vollkommen anderes als noch vor wenigen Augenblicken), und Pia gestikulierte heftig mit beiden Händen, leiser zu sein, und legte dann das letzte halbe Dutzend Stufen auf nackten Füßen und vollkommen lautlos zurück. Irgendetwas polterte, aber das Geräusch kam aus einem der anderen Räume hier unten. Pia glitt auf Zehenspitzen durch den Flur und roch das Blut, noch bevor sie die Tür ganz aufgeschoben hatte und hindurch gehuscht war. Trotzdem konnte sie nur mit Mühe einen erschrockenen Schrei unterdrücken.

Esteban lag mit eingeschlagenem Schädel hinter seinem Schreibtisch, mit dem Gesicht nach unten in einer Lache seines eigenen Blutes. Er lebte noch – sie konnte seine Atemzüge hören –, war aber schwer verletzt. Sein Schreibtisch stand nicht mehr so, wie Pia es in Erinnerung hatte, und der fünfzig Jahre alte Bürostuhl würde seinen einundfünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben, denn er war in Stücke gebrochen.

Hinter ihr wurden klappernde Schritte laut, und dann kam Alica herein und hatte sich nicht ganz so gut in der Gewalt wie sie, denn sie erstarrte zwar für eine geschlagene Sekunde mitten in der Bewegung, schlug aber dann die Hand vor den Mund, um einen kleinen, halblauten Schrei auszustoßen. Pias Versuch, es irgendwie zu verhindern, kam zu spät.

Die Reaktion erfolgte unmittelbar.

Hinter ihnen erscholl ein sonderbar rauer, gutturaler Schrei, dann näherten sich rasche, sehr schwere Schritte, begleitet von demselben metallenen Klirren, das sie gerade schon gehört hatte.

Sie dachte nicht mehr, sondern reagierte. Jeder Fluchtversuch wäre sinnlos gewesen, und in dem kleinen, fast leeren Raum gab es nichts, wo sie sich hätten verstecken können … also ergriff sie Alica kurzerhand bei den Schultern und zerrte sie in die einzige Deckung, die es hier drinnen überhaupt gab, so lächerlich sie auch sein mochte: hinter die Tür und in den Schatten, den sie warf.

Nur einen Atemzug später stürmten zwei Männer herein, wie Pia sie sich bizarrer in diesem Moment kaum hätte vorstellen können: Beide waren sehr groß und hatten langes Haar, das schmutzig und verfilzt bis weit über den Rücken hing. Pia konnte nur eines der beiden Gesichter erkennen, das von einem mindestens ebenso ungepflegten Bart beherrscht wurde, und sie wusste, dass das des anderen genauso aussah. Es war nicht das erste Mal, dass sie Männer wie diese zu Gesicht bekam.

Es waren zwei der drei Kerle, die sie in dem unheimlichen Haus in den Schatten gesehen hatte. Der dritte rumorte irgendwo im Haus herum – sie konnte seine stampfenden Schritte und ein lautstarkes Klirren und Scheppern hören –, und aus der Nähe und bei Licht betrachtet, boten sie einen noch viel schlimmeren Anblick als vergangene Nacht. Sie waren tatsächlich in Felle gekleidet, die sie sich wie einfache Umhänge um die Schultern geschlungen hatten, und trugen darunter grobe Hosen ohne Taschen. Ihre Oberkörper und Füße waren ebenfalls nackt. Alles an ihnen starrte vor Schmutz, und ihre Gesichter waren mit barbarischen Tätowierungen übersät. Und das war auch das einzige Wort, das Pia im Zusammenhang mit ihnen passend erschien: Es waren Barbaren. So verrückt ihr der Gedanke auch vorkommen mochte. Beide waren bewaffnet, der eine mit etwas, das eine Machete hätte sein können, wäre der Griff nicht völlig falsch gewesen, der andere zu Pias fassungslosem Erstaunen mit einer Keule.

Hinter ihr erklang ein halb ersticktes Ächzen, und als Pia den Kopf drehte, wurde ihr klar, dass sie Alica noch immer die Hand auf den Mund presste und ihr kaum Luft zum Atmen ließ. Behutsam lockerte sie ihren Griff; allerdings erst, nachdem sie Alica einen warnenden Blick zugeworfen und diese mit einem angedeuteten Nicken darauf geantwortet hatte. Ein einziger verräterischer Laut, und es war um sie beide geschehen.

Nicht dass das noch einen großen Unterschied machen würde. Sie standen vollkommen deckungslos an der Wand hinter der Tür. Sollte einer der Männer auch nur den Kopf drehen, dann musste er sie einfach sehen. Pia blickte sich instinktiv nach irgendetwas um, das sie als Waffe benutzen könnte, doch da war nichts. Sie wusste zwar, dass Esteban eine Pistole in seiner Schreibtischschublade verwahrte, aber das war eben das Problem: im Schreibtisch, und somit hätte sie genauso gut auf der Rückseite des Mondes liegen können. Es war vorbei. In einer Sekunde musste sich einer der beiden Eindringlinge umdrehen und sie sehen.

Es dauerte nicht einmal eine Sekunde.

Als wäre ihr Gedanke ein Stichwort gewesen, versetzte der größere der beiden Barbaren dem bewusstlosen Esteban einen frustrierten Tritt in die Seite und hob dann den Kopf, und Pia tat ganz instinktiv dasselbe, was sie schon einmal getan hatte: Sie griff nach den Schatten und verwandelte sie in einen schützenden Mantel, den sie dicht um Alica und sich wickelte. Der Barbar führte seine begonnene Bewegung zu Ende und sah sie an, aber auf seinem Gesicht erschien weder Überraschung noch Schrecken, sondern … gar nichts.

Er sah sie nicht, begriff Pia. Er sah Alica und sie direkt an, aber er sah sie nicht, weil die Schatten sie vor seinem Blick verbargen!

Der Bursche versetzte Esteban einen weiteren, noch derberen Tritt und hob seine Machete, und Pia wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass er seine schreckliche Waffe niedersausen ließ und Esteban endgültig tötete, aber dann gab er nur einen schnaubenden Grunzlaut von sich und wandte sich in einer Sprache an seinen Kameraden, die sich kaum artikulierter anhörte. Der andere lachte – wenigstens glaubte Pia, dass das raue Bellen so etwas wie ein Lachen sein sollte –, drehte sich einmal um sich selbst und ließ seinen Blick dabei aufmerksam durch den Raum gleiten. Er sah sie ebenso wenig wie der andere.

Etwas … zupfte an dem unsichtbaren Mantel, der sie umgab. Pia spürte, wie die Schatten entgleiten wollten, griff hastig und fester danach und zog sie wieder enger um Alica und sich. Der Blick des Mannes wanderte weiter, ohne sie zu erfassen, und nachdem er seine Drehung beendet hatte, ging er zu einem der mit Akten und Papierstapeln vollgestopften Holzregale an der Wand und zertrümmerte es mit einem einzigen, wütenden Tritt. Sein Kamerad lachte noch einmal auf dieselbe bellende Art, stieg mit einem übertrieben ausholenden Schritt über den bewusstlosen Esteban hinweg und deutete zur Tür. Nach einer letzten, aus nur wenigen Worten in ihrer gutturalen UnSprache bestehenden Unterhaltung drehten sich beide um und gingen.

Und beinahe hätte es sogar geklappt.

Der Barbar mit der Keule verließ den Raum, sein Kamerad folgte ihm dichtauf, blieb mitten in der Bewegung stehen – und sah sie an.

Pias Herz machte einen erschrockenen Sprung. Sie konnte spüren, wie Alica hinter ihr zusammenfuhr und ein gnädig gesonnenes Schicksal sie vor Schrecken einfach erstarren ließ. Der Barbar kam näher, stand jetzt kaum noch auf Armeslänge entfernt vor ihr und sah ihr direkt ins Gesicht. Sein Blick blieb leer, aber sie konnte sein Misstrauen beinahe riechen, und das Zupfen und Zerren an den Schatten nahm zu.

Dann begann er zu schnüffeln.

Pia war im ersten Moment einfach nur perplex. Auch aus der Nähe bot der Barbar keinen wirklich erfreulicheren Anblick als von Weitem, sondern schien ganz im Gegenteil mehr und mehr von seiner Menschlichkeit zu verlieren. Und er schnüffelte tatsächlich; wie ein Hund, der Witterung aufnahm.

Vielleicht roch er Alicas billiges Parfüm.

Pia konzentrierte sich wieder, hüllte den Mantel aus Schatten enger um sich und hielt den Atem an, und der Barbar zog noch einmal tief die Luft durch die Nase ein, machte ein leicht angewidertes Gesicht und trat einen Schritt zurück, und gerade als er sich endgültig umwenden und gehen wollte, gab Alica ein helles Wimmern von sich, und Pia konnte spüren, wie der Mantel aus beschützender Dunkelheit zerriss, der sie beide umgab.

Nicht dass sie auch nur den leisesten Schimmer gehabt hätte, was sie da tat oder gar, warum – aber sie reagierte eindeutig schneller und mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst wohl am meisten überrascht hätte, hätte sie in diesem Moment einen Sekundenbruchteil Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Der Barbar fuhr herum und machte einen halben Schritt auf sie zu, und jetzt war Erkennen in seinen Augen und so etwas wie eine Mischung aus Überraschung und wildem Triumph.

Es hielt genau so lange an, wie Pia brauchte, um ihm in nackter Todesangst beide Hände mit aller Kraft vor die Brust zu stoßen.

Sie hatte das Gefühl, dass ihre Handgelenke zu feinem Staub und Knochensplittern zerbröselten, aber die Wucht des doppelten Schlages reichte aus, um den Mann haltlos zurück und mit solcher Gewalt gegen die Schreibtischkante taumeln zu lassen, dass das schwere Möbelstück in allen Fugen ächzte.

Draußen auf dem Flur erklang ein überraschter Schrei. Pia warf die Tür zu, registrierte mit grimmiger Zufriedenheit, dass sie auf halbem Wege gegen ein Hindernis prallte, das mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel, und stürzte hinter dem Barbaren her. Mit einer einzigen fließenden Bewegung flankte sie über den Schreibtisch, riss die Schublade auf und stöhnte vor Enttäuschung laut, als sie sah, dass diese nichts außer einigen Papieren und irgendwelchem Kleinkram enthielt. Estebans Waffe musste in der anderen Schublade liegen. Fast schon verzweifelt fuhr sie herum, registrierte aus den Augenwinkeln, dass sich auch der Barbar längst wieder gefangen hatte und mit erschreckend behänden Bewegungen um den Tisch herumkam, und riss die zweite Schublade auf – allerdings nur zur Hälfte, dann krachte diese mit solcher Wucht gegen die Hüfte des Angreifers, dass er zum zweiten Mal ein schmerzerfülltes Grunzen ausstieß und wankte. Die Waffe lag ganz oben in der Schublade, aber der Griff war leer, das Magazin, falls es überhaupt geladen war, lag daneben. Esteban war eben ein vorsichtiger Mensch, gerade was den Umgang mit Waffen anging.

Allein der Gedanke, in die Schublade greifen, die Pistole und das Magazin herausnehmen und die Waffe anschließend auch noch laden, entsichern und auf Fred Feuersteins hässlichen Bruder richten zu wollen, war völlig lächerlich, aber welche Wahl hatte sie schon? Sie griff zu, und ganz wie sie es erwartet hatte, packte der Bursche seinerseits ihr Handgelenk, und das mit solcher Gewalt, dass ihr vor schierem Schmerz die Tränen in die Augen schossen.

Aber er griff unglaublicherweise nach ihrer linken Hand, nicht nach der, mit der sie nach der Pistole angelte.

Pia beschloss, sich später zu wundern und dieses unerwartete Himmelsgeschenk einfach anzunehmen, riss die Waffe heraus und knallte sie dem Burschen mit solcher Kraft ins Gesicht, dass sie hören konnte, wie sein Nasenbein mit einem trockenen Knacken brach. Heulend vor Schmerz ließ er ihren Arm los, schlug die Hände vors Gesicht und taumelte zwei Schritte zurück, und Pia griff hastig nach dem Magazin und sprang ihrerseits drei oder vier Schritte nach hinten, bevor sie es in den Griff rammte, den Sicherungshebel umlegte und beidhändig auf den Barbaren zielte.

»Beweg dich nicht!«, keuchte sie. »Einen Schritt näher, und du bist tot! Alica! Komm her zu mir!«

Der Angreifer reagierte gar nicht, sondern ließ nur die Hände sinken und funkelte sie beinahe hasserfüllt an, und auch Alica antwortete nicht. Als Pia einen Blick in ihre Richtung riskierte, sah sie, dass der zweite Mann ebenfalls wieder hereingekommen war und Alica von hinten gepackt und mit beiden Armen umschlungen hatte. Sie gab keinen Laut von sich, wahrscheinlich, weil ihr der brutale Griff einfach die Luft abschnürte, gebärdete sich aber wie wild und strampelte mit den Beinen.

Dann stampfte sie wuchtig mit dem rechten Fuß auf.

Ihr Stöckelabsatz durchbohrte den nackten Fuß des Angreifers mühelos und grub sich auch noch knirschend ein gutes Stück tief in die Fußbodenbretter.

Der Barbar brüllte vor Schmerz, ließ Alica los und krümmte sich, und sie war nicht nur geistesgegenwärtig genug, sich endgültig loszureißen, sondern auch aus dem Schuh zu schlüpfen und hastig an Pias Seite zu humpeln. Der Barbar brüllte noch lauter vor Wut und Schmerz, versuchte ihr zu folgen und fiel dann endgültig auf die Nase, anscheinend hatte er vergessen, dass sein Fuß noch am Boden festgenagelt war.

»Bleib hinter mir!«, stieß Pia hervor. »Gut gemacht. Und du rührst dich nicht von der Stelle, ist das klar?«

Der letzte Satz galt dem Barbaren, dem sie die Nase gebrochen hatte. Sie unterstrich ihre Warnung noch, indem sie die Waffe fester mit beiden Händen umgriff und mit durchgedrückten Armen und leicht gespreizten Beinen auf ihn zielte, eine Haltung, die eigentlich jeder erkennen musste, der schon einmal einen amerikanischen Action-Film gesehen hatte, die ihn aber nicht sonderlich zu beeindrucken schien. Er wischte sich mit dem Unterarm das Blut aus dem Gesicht, zog lautstark die Nase hoch – und legte dann unglaublicherweise seine Machete auf den Tisch, bevor er mit fliegenden Schritten und sehr grimmigem Gesicht näher kam. War der Kerl verrückt geworden?

»Bleib stehen!«, sagte Pia. »Bleib stehen oder ich schieße! Ich meine es ernst!«

Er kam einen weiteren Schritt näher, und Pias Gedanken begannen sich schier zu überschlagen. Sie wollte nicht schießen. Sie konnte nicht auf einen Menschen schießen, nicht einmal jetzt, und vielleicht verstand der Kerl ja auch einfach nicht, was sie sagte. Sie hatte seine Sprache ja auch nicht verstanden. Hastig wich sie zusammen mit Alica so weit zurück, bis sie gegen die Wand prallten, senkte die Waffe und feuerte eine Kugel in den Boden unmittelbar vor seinen Füßen, als er noch drei Schritte entfernt war.

In der Enge des Zimmers dröhnte der Schuss wie die Explosion einer Handgranate. Der Mann prallte zurück, allerdings mehr überrascht als wirklich erschrocken; und wenn überhaupt galt sein Schrecken wohl eher dem unerwarteten Knall. Kaum einen Atemzug später hatte er sich wieder gefangen und drang nur umso entschlossener auf sie ein.

Diesmal feuerte Pia nicht mehr auf den Fußboden.

Die Waffe war nicht besonders schwer, hatte keinen nennenswerten Rückstoß und auch kein besonders großes Kaliber. Die Kugel schlug in die Schulter des Barbaren und riss ihn zwar herum, schleuderte ihn jedoch nicht zu Boden und hielt ihn nicht einmal wirklich auf. Er keuchte vor Schmerz und Überraschung und sah plötzlich wirklich erschrocken aus, aber sein eigener Schwung brachte ihn weiter vorwärts. Pia wich ihm mit einer hastigen Bewegung aus, doch Alica war nicht schnell genug. Der Angreifer prallte hart gegen sie und riss sie mit sich zu Boden, als er endlich stürzte. Pia reagierte abermals mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst überraschte, versetzte ihm einen Tritt, der ihn von Alica hinunterrollen ließ, und zog die junge Frau grob auf die Füße. Beinahe gleichzeitig wirbelte sie herum und richtete die Pistole auf den anderen Kerl, der seinen Fuß jetzt zwar losgerissen hatte und halb aufgesprungen war, dann aber mitten in der Bewegung erstarrte. Möglicherweise hatten diese sonderbaren Männer noch nie in ihrem Leben eine Schusswaffe gesehen, aber sie besaßen zumindest eine schnelle Auffassungsgabe. Sein Blick flackerte zwei- oder dreimal zwischen dem unscheinbaren silbernen Degen in Pias Hand und seinem Kameraden hin und her, der sich stöhnend auf dem Boden wälzte und die Hand gegen seine heftig blutende Schulter presste, dann ließ er sich demonstrativ wieder auf die Knie hinabsinken.

Die Tür flog auf, und ein dritter Mann mit langem Haar, verfilztem Bart und einem wehenden Umhang stürzte herein. Er hatte die Schüsse gehört, aber anders als seine beiden Begleiter hatte er noch keine Ahnung, was der Lärm bedeutete.

Sein Pech. Pia schoss ihm ins Bein, sprang über ihn hinweg, noch während er mit einem überraschten Keuchen zusammenbrach, und zerrte Alica einfach hinter sich her. Ohne zurückzusehen, rannten sie durch den Flur und aus dem Haus, und hätte Alica nicht plötzlich in Panik aufgeschrien und sie jäh zurückgerissen, dann wäre Pia vielleicht direkt in das Schwert des vierten Barbaren gerannt, der unmittelbar vor dem Haus stand und auf sie wartete.

Sie konnte nicht sagen, wer erschrockener war. Seine Bewegung war wohl kaum mehr als ein Reflex gewesen, denn als die Schwertklinge gerade mal einen Fingerbreit neben ihr in den Türrahmen fuhr, erschien ein Ausdruck von purem Entsetzen in seinen Augen. Er hätte sie in diesem Moment ohne Probleme mit der anderen Hand packen und niederringen können, aber aus irgendeinem Grund verzichtete er darauf.

Pia kannte solche Hemmungen nicht.

Sie verzichtete zwar ihrerseits darauf, abzudrücken, rammte ihm aber den Pistolenlauf mit solcher Wucht in den Leib, dass ihm die Luft wegblieb. Der Mann fiel nicht, sondern stolperte einen halben Schritt zurück, und Pia half mit einem wuchtigen Schulterstoß nach. Seine Hand ließ das Schwert los, das noch immer im Holz des Türrahmens steckte, und er kippte mit hektisch rudernden Armen nach hinten und fiel auf den Rücken. Sie wartete erst gar nicht, bis er sich wieder hochstemmte, steppte blitzschnell nach links und an ihm vorbei in die beschützende Dunkelheit hinein, wobei sie Alica einfach hinter sich herzerrte.

Die beiden kamen kaum ein halbes Dutzend Schritte weit, bevor Alica stolperte, das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinschlug. Pia ließ zwar ihre Hand früh genug los, um nicht mit ihr zu Boden gerissen zu werden, aber als sie stehen bleiben wollte, um sich zu ihr herumzudrehen, stolperte sie selbst über irgendetwas und fiel schwer auf die Knie. Beinahe hätte sie die Pistole fallen gelassen.

Es gelang ihr nicht nur, die Waffe zu behalten, sondern auch, die andere Hand auszustrecken und ihrem Sturz so die schlimmste Wucht zu nehmen, aber sie griff in irgendetwas Weiches, Großes, Warmes und widerlich Klebriges und musste einen plötzlichen Brechreiz unterdrücken, als ihr intensiver Blutgeruch in die Nase stieg.

»Ist … dir was passiert?«, drang Alicas Stimme aus der Dunkelheit an ihr Ohr. Pia versuchte sie zu sehen oder wenigstens die Richtung auszumachen, aus der ihre Stimme kam, aber weder das eine noch das andere wollte ihr gelingen. So übertrieben scharf ihre Sinne gerade gewesen waren, so stumpf und unsensibel schienen sie plötzlich zu sein; als müsste sie den Preis für das bezahlen, was sie gerade vermeintlich geschenkt bekommen hatte.

»Nein«, antwortete sie. »Aber sprich verdammt noch mal leise! Und zieh den bescheuerten Schuh aus!« Sie wusste nicht einmal, ob Alica wirklich wegen ihres fehlenden Schuhs gestolpert war, aber der scharfe Tonfall zeigte Wirkung. Alica sagte nichts mehr, und irgendwie … spürte Pia, wie sie sich beruhigte.

»Bleib, wo du bist.« Sie stand auf, fasste mit halb ausgestreckten Armen in die ungefähre Richtung, aus der Alicas Stimme kam, und ertastete plötzlich etwas, das sich nach ihrem Gesicht anfühlte. Die junge Frau stieß ein ärgerliches Schnauben aus.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Pia.

»Sicher.« Alica schnaubte lauter. »Hast du noch eine blödere Frage auf Lager?«

Pia musste zwar ein Lächeln unterdrücken, schob aber trotzdem mit der linken Hand die Pistole unter den Hosenbund und tastete mit der anderen weiter an Alicas Gesicht hinab, bis sie ihre Schulter und schließlich ihren Oberarm fühlte und sie mit sanfter Gewalt umdrehte. Sie wollte nicht, dass Alica die Leichen der beiden Männer sah, die Esteban zu Pias Schutz abkommandiert hatte. »Weiter.«

Während der ersten Schritte war sie vermutlich genauso blind wie Alica. Sie stolperte einfach los und hoffte, dass sie instinktiv die richtige Richtung wählte. Ihre Sinne funktionierten immer noch nicht. Sie sah kaum mehr als Schatten und war nicht sicher, ob das, was sie hörte, auch wirklich real war. Wahrscheinlich sah und hörte Alica in diesem Moment mehr als sie, aber Pia hatte nun einmal die Initiative übernommen und konnte jetzt nicht mehr zurück. Sie liefen weiter, stolperten nebeneinander und im gleichen Augenblick über die knöchelhohe Mauer aus weiß angestrichenen Steinen, die Estebans Grundstück begrenzte, und hasteten über die schlammige Straße. Hinter ihnen gellte ein Schrei durch die Nacht. Etwas knallte – kein Schuss, sondern ein anderer, dunklerer Laut – und Schatten bewegten sich hektisch hin und her, schienen sich zu einem irrsinnigen Reigen zusammenzufinden und trieben wieder auseinander, bevor sie endgültig Gestalt annehmen konnten. Die Luft roch nach Schnee.

»Pia?«

Alica rüttelte so heftig an ihrer Schulter, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und es wehtat. Pia fegte ihre Hand zur Seite und funkelte sie an.

»Was soll der Unsinn?«

»Das frage ich dich«, antwortete Alica. »Du warst weggetreten. Ist alles in Ordnung?«

»Weggetreten?«

»Mindestens eine Minute«, bestätigte Alica. »Was ist los mit dir?«

»Nichts«, antwortete Pia unwirsch. Weggetreten? Aber sie hatte doch nur … »Nichts«, sagte sie noch einmal. »Wir müssen weiter. Los!«

Alica sah sie zweifelnd an, beließ es aber bei einem wortlosen Achselzucken und machte eine fragende Geste. Los, begriff Pia, war im Prinzip eine gute Idee. Die Frage war nur, wohin. Und was sollte das heißen: Sie war eine Minute weggetreten gewesen?

Pia schüttelte den Gedanken mit einer neuerlichen Anstrengung ab, schenkte Alica ein flüchtiges, aber ehrlich gemeintes Lächeln und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Augenscheinlich hatte Alica mit ihrer Behauptung recht, dass sie für eine Weile abwesend gewesen war. Sie hatten sich mindestens zwei- oder dreihundert Meter von Estebans Haus entfernt, und Pia konnte beim besten Willen nicht sagen, wie. Die unheimlichen Angreifer schienen sie nicht zu verfolgen.

»Und wohin gehen wir jetzt?«, fragte Alica.

Pia überlegte einen Moment. »Irgendwohin«, sagte sie schließlich. »Ganz egal. Nur zu niemandem, den wir kennen.«

»Warum nicht?«

»Weil sie uns da zuerst suchen werden.«

»Ja, wahrscheinlich«, sagte Alica, nachdem sie einen Moment lang stirnrunzelnd über dieses Argument nachgedacht hatte. »Und wohin gehen wir dann?«

Eine gute Frage, dachte Pia. Sie nahm sich fest vor, sie auch zu beantworten. Sobald ihr selbst die Antwort eingefallen war.

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