Entgegen ihrer eigenen Erwartung war Pia am Ende dieses Tages (der genauso lang und anstrengend gewesen war, wie sie es befürchtet hatte) nicht nur nach wenigen Augenblicken eingeschlafen, sondern erwachte am nächsten Morgen auch wieder von selbst mit dem ersten Sonnenstrahl, und das ausgeruht und so frisch, wie sie sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Und wieder lag Alica nicht mehr neben ihr. Als Pia mit der Hand über das Bett tastete, fühlte sich das Laken so kalt wie Eis an und ein bisschen feucht. Alica musste schon vor einer ganzen Weile aufgestanden sein.
Sie stand auf, stellte sich der allmorgendlichen Herausforderung, sich unter freiem Himmel und mit Wasser zu waschen, von dem sie erst einmal eine Eisschicht hacken musste, und begriff, dass es Dinge gab, an die sie sich weder gewöhnen konnte noch wollte. Vielleicht würde sie etwas wie die Zentralheizung neu erfinden und damit zum WeißWalder Äquivalent einer Multimillionärin werden.
Erst als sie in den Schankraum zurückkam, fiel ihr auf, dass Alica an einem der Tische saß. Sie war nicht allein, sondern in ein hauptsächlich aus heftigem Gestikulieren und Grimassenschneiden bestehendes Gespräch mit einer dicklichen Frau vertieft, in der Pia zu ihrer Überraschung niemand anderes als die Schneiderin erkannte, die gestern so wütend aus dem Haus gerannt war.
»Sieht so aus, als hätte deine Freundin ein kleines Wunder vollbracht, nicht wahr?«, fragte Brack, der in diesem Moment die Treppe herunterkam und schon wieder geradezu unverschämt ausgeruht und frisch aussah. Alica sah kurz auf und lächelte, bedeutete ihr aber zugleich mit einem Blick, nicht näher zu kommen. Pia antwortete auf dieselbe lautlose Art und warf zugleich einen neugierigen Blick auf das Durcheinander auf dem Tisch vor ihr; die kläglichen Ergebnisse ihres gestrigen Versuchs, sich als Hobby-Schneiderinnen zu betätigen.
»Ich habe Aressa noch nie so wütend erlebt wie gestern«, fuhr Brack fort. »Kronn allein weiß, wie es deiner Freundin gelungen ist, sie wieder zu besänftigen.« Er trat hinter die Theke und hob ein Tablett mit kleinen Tonbechern darauf, die er mit einem nicht besonders sauber wirkenden Lappen (und ohne einen Tropfen Wasser) zu polieren begann. Pia trat nach kurzem Zögern neben ihn, nahm ihm den Lappen ab und versuchte wenigstens die Flecken wieder zu entfernen, die er gerade selbst fabriziert hatte.
Sie entdeckte eine Schale mit Wasser auf der Theke, tauchte das Tuch hinein und wrang es sorgfältig aus, bevor sie daranging, die Trinkbecher noch einmal auszuwischen. Brack sah ein bisschen verwirrt aus, fast als wäre ihm nicht ganz klar, was sie da tat.
»Wie war das Geschäft gestern Abend?«, fragte sie – obwohl sie sich flüchtig erinnerte, dabei gewesen zu sein, und die Antwort somit kannte.
»Es waren mehr Gäste da als am Tag zuvor, sagte Brack ernst und zog ein Gesicht, als könne er sich kaum eine größere Katastrophe vorstellen. Dann grinste er plötzlich wieder. »Und heute Abend kommen wahrscheinlich noch mehr Gäste. Ich habe Lasar losgeschickt, um Bier zu holen. Gestern Abend wäre es mir schon beinahe ausgegangen.«
»Mir bricht das Herz«, sagte Pia spöttisch. Sie würde mit Alica reden müssen. Ihre Idee, mit Brack über eine Umsatzbeteiligung zu verhandeln, war vielleicht nicht die schlechteste.
Sie sprachen noch eine kurze Weile über Belanglosigkeiten, dann verschwand Brack in einem Nebenraum und kam mit einem riesigen geflochtenen Korb zurück, in dem sich ungefähr hundert weitere Trinkgefäße aus Ton befanden. Sie sahen nicht so aus, als wären sie jemals sauber gemacht worden, seit sie den Brennofen verlassen hatten. Pia seufzte tief.
Sie war halb damit fertig, als Alica und die Schneiderin ihr einseitiges Gespräch beendeten. Die dicke Frau räumte Stoff und Nähutensilien zusammen, stopfte alles in einen grauen Leinenbeutel und verließ sichtlich gut gelaunt das Lokal. Alica kam mit sehr zufriedenem Gerichtsausdruck heran geschlendert. »Einen Piccolo bitte«, sagte sie. »Und ein Glas frisch gepressten Orangensaft.«
Pia zog die linke Augenbraue hoch und schwieg.
»Ich nehme das meiste von dem zurück, was ich gestern über Aressa gesagt habe«, fuhr Alica fort. »So schlimm ist sie eigentlich gar nicht.«
»Und du hast über Nacht die Sprache hier gelernt?«, erkundigte sich Pia.
»So schwer ist es gar nicht, sich auch ohne Worte zu verständigen. Wenn zwei Künstler zusammenarbeiten, dann sind Worte nicht unbedingt nötig.«
»Künstler?«, wiederholte Pia, während sie weiter ihre Trinkbecher polierte.
»Künstler«, bestätigte Alica. Sie wedelte mit einem Tuch, das sie bisher hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte. »Hier. Ein Geschenk von Aressa für dich.«
Pia betrachtete das Tuch stirnrunzelnd. Ein helles Stück Stoff, rechteckig und vielleicht ein wenig asymmetrisch geschnitten und kunstvoll mit Spitze umsäumt. Und? Was war daran so besonders?
»Ein neues Kopftuch für dich«, sagte Alica, der ihr fragender Blick nicht entgangen war. »Leg es an und dann knotest du es genau so und so und so … « Ihre Hände taten irgendetwas unter Pias Kinn, das sie nicht erkennen konnte, das aber ziemlich kitzelte. »Und wenn du jetzt den Kopf nach hinten wirfst und das Kinn bewegst, dann fällt es ganz zufällig hinunter und man sieht deine Haare. Probier es aus.«
Pia fand allein den Vorschlag albern, aber sie tat ihr den Gefallen, und es funktionierte tatsächlich. Der Knoten, den Alica angebracht hatte, löste sich anscheinend ganz von selbst, und ihr Haar ergoss sich wie ein weißblonder Wasserfall aus Seide über ihre Schultern. »Und?«
»Und?«, wiederholte Alica verblüfft. »Kleines, was glaubst du wohl, warum die Leute hierherkommen? Um Bracks überteuertes Bier zu genießen?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Betrunkene sehen die Jungs hier genug, schätze ich. Eine leibhaftige Elfenprinzessin schon seltener.«
Es dauerte noch einen Moment, bevor Pia begriff. »Und jetzt meinst du, ich sollte öfter mal mein Kopftuch verlieren?«, vermutete sie.
»Nicht öfter mal«, antwortete Alica. »Einmal am Abend, höchstens zweimal. Man muss die Jungs doch schließlich bei Laune halten.«
»Ich verstehe«, sagte Pia, hob den Kopf und sah aufmerksam nach rechts und links.
»Was suchst du?«, fragte Alica.
»Eine passende Stelle, an der wir die Stange anbringen können«, antwortete Pia. »Aber zuerst muss sich Brack um die Theke kümmern. Auf dem wackeligen Ding tanze ich bestimmt nicht.«
Alicas Miene verfinsterte sich. »He, jetzt bleib mal auf dem Teppich, Süße! Ich erwarte schließlich nicht, dass du hier einen Striptease hinlegst …«
»Noch nicht?«
»… einmal ganz davon abgesehen, dass Istvan der Schreckliche das niemals zulassen würde. Die Leute hier sind ziemlich komisch, was das angeht. Aber irgendwas müssen wir schließlich tun, um über die Runden zu kommen, oder?«
»Wir?«
»Wir«, bestätigte Alica. »Du bist nun mal diejenige von uns, die wie Galadriel aussieht. Ich habe nichts dagegen, dass du deine Zauberkräfte entfesselst und uns nach Hause bringst, aber bis es so weit ist, müssen wir von irgendwas leben. Die Leute wollen dich sehen, also stehst du einfach hier und siehst toll aus, und ich bin deine Managerin.«
»Managerin?«
»Für die üblichen fünfzig Prozent«, bestätigte Alica.
»Fünfzig Prozent? Das ist …«
»Viel zu wenig, ich weiß, normalerweise nehme ich mindestens siebzig.« Alica grinste flüchtig, wurde dann wieder ernst und wechselte das Thema. »Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, dann könntest du mich auf den Markt begleiten«, sagte sie.
»Auf den Markt? Um diese Zeit?« Pia ließ den Becher sinken, den sie gerade polierte.
»Die guten Leute hier stehen früh auf«, bestätigte Alica. »Und ich will sehen, ob ich noch einen Rest von dem Stoff ergattern kann, den wir gestern gekauft haben. Aressa hat zwar fast der Schlag getroffen, als sie meine Entwürfe gesehen hat, aber nachdem sie wieder zu Atem gekommen ist, haben sie ihr gar nicht mal so schlecht gefallen, glaube ich.« Sie blinzelte verschwörerisch. »Wer weiß, vielleicht kreieren wir am Ende ja noch eine neue Mode, wenn die guten Leute hier erst einmal begreifen, dass einen nicht sofort ein Strahl göttlicher Verbannung trifft, wenn sie mehr als zwei Quadratzentimeter nackter Haut zeigen.«
Pia bezweifelte das. Sie bezweifelte auch, dass es eine gute Idee war, noch einmal auf den Markt zu gehen, aber sie kannte Alica inzwischen gut genug, um zu wissen, wie sinnlos es war, sie von etwas abbringen zu wollen, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Außerdem war es vermutlich immer noch besser, als hier zu bleiben und weiter Becher zu putzen.
Und es gab auf dem Markt den einen oder anderen Stand, den sie sich noch einmal genauer ansehen wollte; auch wenn sie bezweifelte, ob Istvans Wachen das zulassen würden. Sie war nicht einmal sicher, dass sie Alica und ihr gestatten würden, den Weißen Eber überhaupt zu verlassen.
Zumindest in diesem Punkt jedoch erlebte sie eine Überraschung … Die beiden Männer standen nicht nur noch immer auf der dem Eingang gegenüberliegenden Straßenseite, sondern es handelte sich tatsächlich um dieselben Männer wie gestern, und somit kam sie in den Genuss, zum ersten Mal zwei Einwohner WeißWalds zu sehen, die nicht nur müde waren, sondern wortwörtlich Mühe hatten, nicht im Stehen und auf ihre Speere gestützt einzuschlafen. Vielleicht hatte Istvan ja doch von ihrer kleinen Verfehlung von gestern erfahren und sie zur Strafe dazu verdonnert, eine zweite Wache zu schieben.
Vielleicht war er auch einfach nur ein Widerling.
So oder so, die beiden Gardisten versuchten nicht, sie am Verlassen des Weißen Ebers zu hindern, schlossen sich ihnen an und folgten ihnen mit einem knappen Dutzend Schritten Abstand, als sie sich auf den Weg zum Marktplatz machten. Pia war im ersten Moment ein wenig verärgert darüber, aber dieses Gefühl entsprang wohl nur reiner Gewohnheit – sie mochte es eben nicht, wenn sie beobachtet und gegängelt wurde.
Obwohl sie dieses Mal keinen Führer dabeihatten, bereitete es ihr nicht die geringste Schwierigkeit, den Weg zum Marktplatz zu finden. WeißWald war ihr nach wie vor fremd, und seine verwinkelten schmalen Gassen kamen ihr mehr denn je vor wie ein Labyrinth, in dem man sich schon durch bloßes Hinsehen verirren konnte … aber sie fand ihren Weg trotzdem mit fast schon traumwandlerischer Sicherheit. Alica sagte nichts dazu, doch die komischen Blicke, mit denen sie sie maß, blieben Pia keineswegs verborgen.
Mit dem Markt war es wie mit der gesamten Stadt: Auch hier waren die meisten schon auf den Beinen, die nervöse Hektik von gestern fehlte jedoch fast vollkommen. Ganz WeißWald schien zu gähnen und müde die Glieder zu strecken, und Pia hätte gerne dasselbe getan – um sich anschließend in ein warmes Bett zu kuscheln und für die nächsten zehn oder zwölf Tage durchzuschlafen. Leider war das nächste wirklich warme Bett etliche Dutzend Meilen und eine ganze Welt entfernt.
Sie fand den Stand vom vergangenen Tag nach kurzem Suchen wieder. Nur eine der drei jungen Frauen war da, und sie sah sehr müde aus, schien sie aber sofort wiederzuerkennen. Ihr Gesicht hellte sich auf, und jegliche Spur von Müdigkeit verschwand schlagartig unter einem durch und durch professionellen Lächeln. »Ah, da seid ihr ja wieder!«, sagte sie. »Das scheint mir ein gutes Zeichen zu sein, dass ihr wiederkommt. Ihr wart also mit unserer Ware zufrieden? Was kann ich heute für euch tun?«
»Wie wäre es mit einem doppelten Espresso?, schlug Pia vor. »Oder einem Milchkaffee?«
»Und einer Stange Marlboro«, fügte Alica hinzu. »Red, nicht die Lights.«
Die Marktfrau blinzelte irritiert, und Pia machte eine rasche Handbewegung. »Es geht um den Stoff, den wir gestern gekauft haben«, sagte sie.
»Ich habe euch gesagt, dass er …«
»Du verstehst mich falsch«, sagte Pia rasch. »Wir hätten gerne noch mehr davon. Einen ganzen Ballen, wenn es geht.«
»Mehr?«, wiederholte die Marktfrau verwirrt. »Aber du weißt, dass er minderwertig ist?«
Pia wollte antworten, doch Alica kam ihr zuvor, indem sie unter ihren Mantel griff und einen schmalen Stoffbeutel hervorzog, in dem es hörbar klimperte, als sie ihn bewegte. Pia dachte vorsichtshalber erst gar nicht darüber nach, woher er stammen mochte. Die Marktfrau zog flüchtig die Augenbrauen zusammen, lächelte aber im nächsten Moment schon wieder und verschwand hinter ihrem Stand.
»Siehst du?«, sagte Alica. »Es gibt eine universelle Sprache, die jeder versteht.«
Bevor Pia antworten konnte, kam die Marktfrau zurück, beladen mit einem ganzen Ballen des merkwürdigen weißen Stoffs, den sie gestern Abend erstanden hatten. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Pia nur zu gut kannte. Sie hatte ihn oft genug gesehen, auch wenn es ihr vorkam, als wäre das in einem anderen Leben gewesen: das nicht vollkommen unterdrückte zufriedene Grinsen eines Straßenhändlers, der einen leichtgläubigen Touristen an der Angel hatte, dem er irgendeinen vollkommen überteuerten Schrott andrehen wollte. »Ich sage euch noch einmal, dass dieser Stoff von minderer Qualität und eigentlich zu nichts zu gebrauchen ist«, sagte sie, während sie den Ballen ächzend vor sich ablud. »Aber wenn ihr ihn unbedingt haben wollt … ich bin ehrlich gesagt froh, das Zeug loszuwerden. Deswegen gebe ich ihn euch für fünf Kupferstücke.«
»Was sagt sie?«, fragte Alica.
»Dass sie uns einen Sonderpreis macht«, antwortete Pia. »Fünf Stücke … was immer das sein mag.«
»Also will sie in Wahrheit drei und ich werde ihr eines bieten«, sagte Alica.
»Du willst mit ihr feilschen?«, fragte Pia.
»Warum nicht?«
»Ohne ihre Sprache zu sprechen?«
»Also dafür braucht man das wirklich nicht zu können«, antwortete Alica feixend und kramte eine einzelne Münze aus ihrem Beutel, um sie mit einer fast zeremoniellen Bewegung vor sich auf den Stoffballen zu legen.
»Also, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee …«, begann Pia.
Alica unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Lass mich nur machen, Piaschätzchen«, sagte sie. »Ich komme hier schon klar. Warum siehst du dich nicht einfach ein bisschen um? Aber lauf nicht zu weit weg. Nicht, dass wir am Ende wieder verhaftet werden.«
Pia schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und beließ es bei einem angedeuteten Schulterzucken. Wenn Alica sich unbedingt blamieren wollte, wer war sie denn, sie davon abhalten zu wollen? Und schließlich war sie ja auch nicht nur hergekommen, um Stoff zu kaufen.
Sie trat ein paar Schritte zurück und sah eine Weile zu, wie Alica mit Händen und Füßen zu gestikulieren begann, schüttelte schließlich den Kopf und warf ihren beiden übermüdeten Begleitern einen wenig hoffnungsvollen Blick zu. Die beiden sahen so erschöpft aus, dass sie ihr ehrlich leidtaten – aber sie glaubte dennoch nicht, dass es ihr gelingen würde, ihnen irgendwie zu entwischen, ohne sich ganz offen auf einen Wettlauf mit ihnen einzulassen. Und der Markt war zu dieser frühen Stunde nicht annähernd so gut besucht wie gestern. Keine Chance, unerkannt in der Menge unterzutauchen. Also, warum nicht ganz offen?
Sie überzeugte sich mit einem Blick davon, dass Alica damit beschäftigt war, mit der jungen Händlerin zu feilschen (und es wahrscheinlich auch noch eine geraume Weile bleiben würde), und wandte sich dann in die Richtung, in die sie der Junge gestern gelockt hatte. Diesmal hatte sie keinen Führer, und der Marktplatz kam ihr beinahe noch unübersichtlicher und verwirrender vor als bei ihrem ersten Besuch; als hätten sich sämtliche Dimensionen und Winkel seither auf geheimnisvolle Weise verschoben. War sie bei der zweiten oder dritten Gasse abgebogen? Und danach?
Natürlich war es wie immer: Je angestrengter sie darüber nachdachte, desto weniger vermochte sie sich zu erinnern. Also versuchte sie es auf gut Glück. Verirren konnte sie sich jedenfalls kaum. Im schlimmsten Fall gab es ja jemanden, der sie zurückbringen würde, denn einer der beiden Gardisten folgte ihr in mittlerem Abstand.
Ausnahmsweise war das Glück einmal auf ihrer Seite. Sie fand das Zelt der Wahrsagerin zwar nicht – ganz einfach, weil es nicht mehr da war –, erreichte aber schon nach wenigen Minuten die Stelle, an der es gestanden hatte. Über Nacht hatte es leicht geschneit, und vor ihr markierte ein gut fünf Schritte durchmessender Kreis aus unberührtem Weiß im allgegenwärtigen Matsch die Stelle, an der es gestanden hatte. Pia war enttäuscht, obwohl sie sich selbst einzureden versuchte, dass sie gar keinen Grund dafür hatte. Selbst wenn Valoren noch da gewesen wäre, hätte ihr schweigsamer Begleiter wohl kaum zugelassen, dass sie noch einmal mit ihr sprach.
Sie blieb noch einen Moment lang unschlüssig stehen, dann machte sie kehrt und ging so gerade und schnell auf ihrer eigenen Spur zurück, dass ihr Bewacher einen hastigen Schritt zur Seite machte, wohl aus Angst, dass sie ihn ansonsten einfach über den Haufen rennen würde. Pia hätte sich um ein Haar ganz automatisch bei ihm entschuldigt, es gelang ihr aber, diesen Impuls im letzten Moment zu unterdrücken. Schließlich konnte man es mit dem guten Willen auch übertreiben.
Sie war schon auf halbem Weg zurück zu Alica, als ihr Blick an einem großen, bunt und golden verzierten Zelt hängen blieb. Zunächst konnte sie nichts damit anfangen, aber dann erinnerte sie sich: Es war das Zelt, in dem sie gestern den nachgemachten Pegasus gesehen hatte. Neugierig (und davon überzeugt, dass ihr Schatten sie sowieso daran hindern würde) trat sie näher heran und stellte fest, dass der Eingang verschlossen war. Dahinter war kein Laut zu hören, doch sie erkannte Stallgeruch, und da war noch etwas: ein unsichtbarer Hauch, den sie weder spüren noch hören oder riechen konnte und der etwas tief in ihr zu berühren schien.
Pia zog noch einmal prüfend an der Plane – sie war von innen verschlossen und bewegte sich nicht –, warf einen Blick über die Schulter zurück und stellte fest, dass ihr Bewacher augenscheinlich nichts gegen das hatte, was sie tat. Er stand einfach da, hatte sich auf seinen Speer gestützt und versuchte, nicht im Stehen einzuschlafen.
Sie zog noch einmal an der Plane, wartete vergebens auf irgendeine Reaktion und ging schließlich um das Zelt herum. Dahinter erwartete sie ein Anblick, der ihr auf sonderbare Weise trotz aller Fremdartigkeit vertraut vorkam: ein kleiner, halbrunder Platz, der von der Rückseite des Zeltes, zwei kleinen, an einfache Wohnwagen erinnernden Gefährten und einem etwas größeren Wagen gebildet wurde, auf dem sich ein aus schweren Eisenstäben bestehender Gitterkäfig erhob. Etwas bewegte sich darin, aber Pia konnte nicht genau erkennen, was es war. Alles war mit einer dünnen Schicht aus frisch gefallenem Schnee überpudert, und sowohl die Wagen als auch das halbe Dutzend stämmiger Ponys, das in ein paar Schritten Abstand angebunden stand, waren gerade eine Spur zu klein, um ihr nicht sofort das Wort niedlich zu entlocken. Von dem verkleideten Pferd von gestern war nichts zu sehen.
Pia wollte schon kehrtmachen und zu Alica zurücklaufen, als ihr eine schmale Öffnung an der Rückseite des Zeltes auffiel; kein zweiter Eingang, sondern einfach eine beschädigte Stelle, die schlampig geflickt und vor langer Zeit wieder aufgegangen war. Sie ging hin, bückte sich vorsichtig hindurch und fand sich in fast vollkommener Dunkelheit wieder. Im ersten Moment sah sie rein gar nichts, aber sie hörte ein gedämpftes Schnauben, und der Stallgeruch, den sie schon draußen wahrgenommen hatte, war hier drinnen ungleich stärker; ein warmes Aroma nach Heu und Stroh und frischem Pferdemist, das nicht annähernd so unangenehm war, wie sie es sich vorgestellt hätte, hätte man es ihr beschrieben. Etwas bewegte sich in den Schatten vor ihr, und plötzlich war auch jenes sonderbare Gefühl von gerade eben wieder da, so als würde sie irgendetwas tief am Grund ihrer Seele berühren.
Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und die Schatten flossen zu einem hellen Schemen zusammen. Pia spürte, dass sie angestarrt wurde, aber es war nichts Unangenehmes an diesem Gefühl. Nach einer Weile spürte sie nicht nur, sondern sah, dass sie aufmerksam angestarrt wurde, aus einem Paar sanfter rehbrauner Augen, das in ein weißes Pferdegesicht eingebettet war. Nur waren es keine Pferdeaugen. Das hieß, selbstverständlich waren es Pferdeaugen, und zwar die mit Abstand wunderschönsten, die sie jemals gesehen hatte, aber sie waren zugleich auch mehr, sehr viel mehr. Da war eine Klugheit, die weit über die eines Tieres hinausging, aber auch nicht die eines Menschen war, sondern … anders. Zarter. Verwundbarer.
Ohne dass sie sich der Bewegung selbst bewusst gewesen wäre – geschweige denn etwas dagegen hätte tun können –, ging sie zu dem angebundenen Pferd hin und streckte die Hand aus, um dem Hengst über die Nüstern zu streicheln, wagte es jedoch nicht, die Bewegung auch wirklich zu Ende zu führen, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, dass sie unangemessen gewesen wäre. Vielleicht weil im Blick des Hengstes noch mehr war, jetzt, als sie ihm aus der Nähe begegnete.
Schmerz. Schmerz und eine unendlich tiefe Trauer, viel zu schlimm, als dass sie ihre Größe auch nur annähernd erfassen konnte.
»Was haben sie dir angetan, mein Freund?«, murmelte Pia.
Der Hengst schnaubte, wie um ihre Frage zu beantworten, und nun war er es, der seinen Kopf gegen ihre Hand stieß, als wolle er sie aufmuntern statt umgekehrt. Seine Haut fühlte sich rau und irgendwie ein bisschen fiebrig an, auch wenn Pia nicht einmal wusste, was bei einem Pferd die normale Temperatur war.
Ihre Augen gewöhnten sich immer besser an das schwache Licht, sodass sie nun erkennen konnte, in welch erbärmlichem Zustand sich der Hengst befand. Er musste einmal ein wirklich prachtvolles Tier gewesen sein, riesig – nicht nur für die Verhältnisse dieser Welt, sondern selbst für Pia – und muskulös; ein Tier, das so aussah, als wäre das Wort Stolz eigens erfunden worden, um es zu beschreiben.
Jetzt bot es einen Anblick des Jammers. Es war so schrecklich abgemagert, dass man nicht nur seine Rippen unter der Haut sehen konnte, sondern es nahezu unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen drohte. Sein Fell war stumpf, begann überall auszufallen und war mit zahlreichen entzündeten Wunden übersät – und noch sehr viel mehr schlecht verheilten Narben. Der Besitzer dieses schrecklichen Etablissements hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihm die riesigen künstlichen Flügel abzunehmen, die den Hengst mit ihrem Gewicht zusätzlich zu Boden zu reißen versuchten.
»Was für ein Ungeheuer …?«, murmelte Pia, trat mit einem raschen Schritt an die Seite des Hengstes und streckte die Hand aus, um nach dem Tragegestell zu suchen, an dem die Flügelattrappen befestigt waren. Doch sie führte auch diese Bewegung nicht zu Ende.
Da war kein Tragegestell.
Die Flügel waren echt.
Pia stand eine geschlagene Minute einfach nur da und starrte die gewaltigen Flügel an, die jetzt traurig, möglicherweise sogar gebrochen zu Boden hingen, ausgebreitet aber eine Spannweite von mindestens sechs oder sieben Metern haben und einen geradezu fantastischen Anblick bieten mussten.
Flügel.
Echte Flügel.
Vor ihr stand ein leibhaftiger Pegasus!
»Aber das ist doch … unmöglich«, murmelte sie schließlich. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren fremd und belegt. Hätte sie in diesem Moment einen Spiegel gehabt, dann hätte sie wahrscheinlich in ein Gesicht geblickt, das ebenso bleich wie das Fell des fahlen Hengstes gewesen wäre.
Das Tier schnaubte, und Pia riss sich mit einiger Mühe vom Anblick der unmöglichen Flügel los und streckte nun doch die Hand aus, um sein edles Gesicht zu berühren, nicht in der Art, mit der man ein Tier gestreichelt hätte, sondern in einer durch und durch freundschaftlichen Geste.
Der Hengst schnaubte erneut. Seine Ohren bewegten sich aufmerksam, und wieder begegnete sie dem Blick seiner großen, so beunruhigend wissenden Augen. Aber diesmal verstand sie den Schmerz besser, den sie darin las. Es waren nicht nur die Schläge und der Hunger, die er erdulden musste. Viel schlimmer war das Gefangensein. Sie stand einem Geschöpf gegenüber, das für die Freiheit geschaffen war, für die unendlichen Weiten der Steppe und die noch viel unendlicheren Weiten des Himmels.
Kalte Wut ergriff Pia. Mit einer raschen Bewegung ließ sie sich in die Hocke sinken und versuchte das Seil aufzuknoten, mit dem die Vorderläufe des Hengstes zusammengebunden waren, als hinter ihr eine scharfe Stimme fragte: »Was bei Kronn tust du da?«
Pia drehte sich in der Hocke herum und fand ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem einer selbst für hiesige Verhältnisse kleinen (und außergewöhnlich hässlichen) Frau, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sie so wütend anfunkelte, dass sie vermutlich erschrocken zurückgeprallt wäre, wäre sie in diesem Moment nicht selbst noch viel wütender gewesen.
»Wir haben noch geschlossen, und außerhalb der Öffnungszeiten hat hier drinnen niemand etwas zu …«
»Ist das dein Pferd?«, unterbrach Pia sie kühl.
Die grauhaarige Frau stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften. »Ich wüsste nicht, was dich das …«
»Ich habe dich gefragt, ob das dein Tier ist«, fiel ihr Pia erneut ins Wort; nicht einmal wirklich lauter, aber hörbar schärfer. Die Grauhaarige sog zwar hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, aber irgendetwas an Pias verändertem Ton musste sie wohl gewarnt haben, denn sie antwortete nicht sofort, und als sie es nach ein paar Sekunden schließlich doch tat, fehlte ihren Worten gerade jene winzige Spur von Sicherheit, die sie wirklich überzeugend gemacht hätte.
»Und wenn es so wäre?«
Bevor sie etwas erwiderte, stand Pia auf und registrierte zufrieden das fast unmerkliche Zusammenzucken der Grauhaarigen, als sie sah, wieweit sie über ihr aufragte. »Dann würde ich bezweifeln, dass das die Wahrheit ist«, sagte sie.
Die Grauhaarige setzte zu einer wütenden Antwort an, doch bevor sie dazu kam, ging eine schmale Klappe hinter ihr in der Zeltplane auf, und ein schäbig gekleideter Mann trat ein. Er hatte ein verlebtes Gesicht und war ebenso groß wie die Grauhaarige klein, aber so dürr, dass Pia sich nicht gewundert hätte, hätte sie seine Knochen klappern gehört. »Gibt es ein Problem, Nani?«, fragte er.
»Das kannst du wohl sagen!«, schimpfte die Grauhaarige. Diese …«
»Gib acht, was du sagst, Nani«, unterbrach sie der Mann, wandte sich dann direkt an Pia und zwang sich zu einem wenig überzeugenden Lächeln.
»lch bin Kerenetat«, sagte er, »der Besitzer dieses Unternehmens. Was kann ich für Euch tun?«
»Mir dieselbe Frage beantworten, die ich deiner Frau schon gestellt habe.« Pia deutete auf den Hengst. »Woher kommt dieses Tier?«
»Flammenhuf?« Kerenetat tat geschmeichelt. »Nun, ich sehe, Ihr versteht etwas von Pferden«, sagte er. »Gefällt er Euch denn?«
»Das würde er zweifellos, wenn ihr ihn nicht fast zu Tode geschunden hättet«, antwortete Pia kühl.
»Ich bitte Euch!«, sagte Kerenetat. Nani gab ein abfälliges Geräusch von sich, und ihr Mann fuhr fort: »Diese Tiere sind sehr schwer zu halten, wie Ihr vielleicht wisst. Und mein Unternehmen wirft nicht genug ab, um eine große Koppel anzuschaffen oder einen Stall und eine Menge Pfleger.«
»Ein wenig Freiheit würde vielleicht schon genügen.« Flammenhuf wieherte leise und zustimmend, und Kerenetat fiel es nun sichtbar schwer, weiter die Fassung zu bewahren. Irgendwie gelang es ihm.
»Ich wüsste zwar nicht, was Euch das anginge«, sagte er, »aber dies hier ist Flammenhuf.«
Er schien zu erwarten, dass dieser Name Pia etwas sagte, was aber nicht der Fall war. Sie sah ihn nur weiter kühl an, und schließlich fuhr er fort: »Der echte Flammenhuf. Nicht irgendeine weiße Mähre, der jemand ein Paar künstlicher Flügel angeklebt hat! Wo sollte er hingehen?«
»Ich glaube, überall wäre besser als hier«, antwortete Pia.
»Er würde sofort wieder eingefangen oder gar getötet werden«, behauptete Kerenetat. »Und bei den meisten hätte er es nicht so gut wie bei Nani und mir!« Er machte ein seltsames Geräusch, das sich nicht besonders angenehm anhörte. »Und jetzt muss ich Euch bitten zu gehen. Wir haben noch viel zu tun, bevor die nächste Vorstellung beginnt.«
Pia schluckte alles hinunter, was ihr auf der Zunge lag, und verzichtete sogar darauf, ihrem ersten Impuls nachzugeben und den Kerl einfach in der Mitte durchzubrechen. Einen Moment lang starrte sie ihn einfach nur an. Dann tat sie etwas, von dem sie ziemlich sicher war, dass sie es später bereuen würde. Trotzdem spürte sie, dass es in diesem Moment das Richtige war: Bevor sie antwortete, wandte sie sich zum Ausgang und schlug die Plane zurück, sodass helles Licht ins Zelt drang. Kerenetats Augen wurden groß, und Nani sog fast entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein. Pia musterte die beiden kühl und nacheinander, dann schlug sie die Kapuze ihres Umhangs zurück, ließ ganz bewusst zwei oder drei weitere Sekunden verstreichen und löste dann auch den Knoten ihres Kopftuchs.
Diesmal gelang es weder Nani noch ihrem Mann, ein erschrockenes Keuchen zu unterdrücken.
»Ich fürchte, es wird keine weitere Vorstellung mehr geben«, sagte sie ruhig. »Ihr werdet dieses Tier auf der Stelle losbinden.«
Flammenhuf wieherte leise. Seine großen, schlaff herunterhängenden Flügel bewegten sich unruhig und verursachten dabei ein Geräusch, das ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Jetzt, bei Licht betrachtet, sah sie erst, in welchem bemitleidenswerten Zustand sich das Tier wirklich befand. So schlaff und kraftlos, wie seine Flügel zu Boden hingen, schien es kaum vorstellbar, dass diese Schwingen jemals in der Lage gewesen sein sollten, ein Tier dieser Größe in die Luft zu heben. Und der Schmerz, den sie in seinen Augen las, wurde für einen Moment zu ihrem eigenen und explodierte regelrecht. Sie empfand nichts als Kummer. Und das Gefühl eines unendlich großen Verlustes. Alles, was das Leben dieses Geschöpfes ausgemacht hatte, war ihm genommen worden. Es existierte noch, aber es lebte nicht mehr. Jede Stunde, die es weiter in dieser Hölle verbrachte, verlängerte seine Qual.
»Wer … wer seid Ihr?«, stammelte Kerenetat schließlich.
Pia wollte antworten, doch Nani kam ihr zuvor. »Ich weiß, wer das ist!«, keifte sie. Ihr Zeigefinger stieß anklagend wie ein knochiger Dolch in Pias Richtung »Das ist die Betrügerin, von der alle erzählen! Sie gibt sich für die wiedergekehrte Gaylen aus, aber Kronn allein weiß, wer sie wirklich ist!«
»Bindet ihn los!«, verlangte Pia noch einmal.
Der dürre Mann fand seine Fassung nun endgültig wieder. »Selbst wenn ich das tun würde – was ich ganz gewiss nicht werde –, würde ich ihm damit nicht die Freiheit schenken, sondern nur den Tod.«
Pia fragte sich, ob er vielleicht recht haben mochte. Der Hengst sah nicht so aus, als könnte er mehr als ein Dutzend Schritte aus eigener Kraft gehen, ganz zu schweigen vom Fliegen. Sie machte trotzdem eine befehlende Geste auf die zusammengebundenen Vorderhufe des Tieres. »Bindest du ihn los, oder zwingst du mich, es selbst zu tun?«
»lch glaube nicht, dass Ihr mich dazu zwingen könnt«, sagte Kerenetat kalt. »Dieses Tier ist mein legitimes Eigentum, und hier in WeißWald herrschen noch immer Recht und Ordnung, soviel ich weiß!«
»Wirf sie raus, Keri!«, verlangte Nani. »Sie ist nichts als eine kleine Betrügerin!«
»Was ist hier los?«, fragte eine scharfe Stimme vom Eingang her. Pia fuhr erschrocken herum und war zum ersten Mal erleichtert, einen von Istvans Soldaten zu erblicken; den Mann, der sie vom Stoffstand hierherbegleitet hatte. Er sah nervös aus und er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
»Gut, dass Ihr kommt, Herr!«, sagte Nani. »Diese Betrügerin verlangt, dass wir unseren Hengst herausgeben! Dabei ist er unser rechtmäßiges Eigentum!«
»Was … hat das zu bedeuten?«, fragte der Gardist verwirrt.
»Werft sie raus!«, keifte Nani. »Sie hat hier nichts zu suchen! Und uns schon gar nichts zu befehlen!«
Auch wenn der Gardist nach wie vor so hilflos aussah, dass er ihr beinahe schon leidtat, vermutete Pia doch bekümmert, dass er schlussendlich genau so entscheiden würde.
Wortlos trat sie zu ihm, zog den Dolch aus seinem Gürtel und brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen, als er protestieren wollte.
Noch immer schweigend ging sie vor Flammenhufs Vorderläufen in die Hocke und durchtrennte das morsche Seil, das sie zusammenband. Nani ächzte, als hätte die Messerklinge sie selbst verletzt, versuchte ganz instinktiv (und zu spät) Pias Hand zurückzureißen, dabei stieß sie der Hengst so unsanft mit der Schnauze an, dass sie mit einem überraschten kleinen Schrei nach hinten stolperte und mit einem zweiten – deutlich lauteren – Schrei auf ihrem wohlgepolsterten Hinterteil landete. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig:
Kerenetat kam anscheinend auf die Idee, sich als Gentleman der alten Schule zu erweisen und seine Ehegattin zu verteidigen. Nani kreischte, als hätte der Hengst sie nicht einfach nur umgeschubst, sondern ihr jeden Knochen im Leib gebrochen. Der Posten sagte irgendetwas, was niemanden interessierte, und Pia ließ gedankenschnell den Dolch fallen, nur um nicht ganz aus Versehen jemanden umzubringen, und hob gleichzeitig den linken Arm, um Kerenetat abzuwehren.
Und Flammenhuf explodierte.
Seine Vorderhufe zischten so dicht an Pias Gesicht vorbei, dass sie sich nicht nur einbildete, den scharfen Luftzug zu spüren, trafen Kerenetats Brust mit solcher Gewalt, dass sie hören konnte, wie seine Rippen brachen, und katapultierten ihn regelrecht aus dem Zelt. Praktisch gleichzeitig bäumte sich der Hengst auf, stieß ein schrilles Wiehern aus und schlug mit den Flügeln, die mit einem Mal gar nicht mehr schwach und kraftlos wirkten. Seine rechte Schwinge traf den Gardisten vor die Brust und ließ ihn mit einem erstickten Keuchen rücklings aus dem Zelt taumeln, das sich eine halbe Sekunde später komplett um einen halben Meter in die Höhe hob und sich dann rings um sie herum zusammenfaltete, von einem gewaltigen Hieb der anderen Schwinge getroffen.
Das alles dauerte ungefähr eine halbe Sekunde.
Pia brauchte die andere Hälfte, um instinktiv den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, und dann eine weitere, um sich neu zu orientieren … was auch nötig war, denn ihre Umgebung hatte sich radikal verändert.
Das Zelt war verschwunden beziehungsweise zu einem unförmigen Haufen aus Stoff geworden, unter dem sich irgendetwas bewegte und mit einer schrillen Stimme keifte, die der Nanis ähnelte. Kerenetat lag irgendwo, erschreckend weit weg, auf der anderen Seite des Platzes, spuckte mal Blut und schrie dann wieder aus Leibeskräften, und der Wachsoldat war vollkommen verschwunden. Flammenhuf hatte sich endgültig losgerissen und trabte schnaubend und zornig wiehernd im Kreis. Mehrere Männer waren herbeigeeilt – vermutlich schon zuvor angelockt vom Geschrei und der Aufregung, die aus dem Zelt gedrungen waren – und versuchten den Hengst zu bändigen, wurden aber von seinen heftig schnappenden Zähnen und ausschlagenden Hufen auf respektvollem Abstand gehalten. Überall waren Schreie zu hören und hastig trappelnde Schritte näherten sich.
Pia rappelte sich benommen auf, suchte nach dem Wachsoldaten und entdeckte ihn nur ein paar Schritte entfernt. Er hatte sich aufgesetzt und wirkte eher verdattert als verletzt – was man von Flammenhufs unglückseligem Besitzer nicht sagen konnte. Er hatte aufgehört zu schreien und wälzte sich jetzt stöhnend in einer allmählich größer werdenden Lache seines eigenen Blutes, das ihm nicht nur aus Mund und Nase, sondern auch aus den Ohren schoss. Der Anblick schnürte ihr schier die Kehle zu. Der Kerl war war ihr alles andere als sympathisch gewesen, und sie hätte ihm einen kleinen Denkzettel gegönnt (vielleicht auch einen etwas größeren, da war sie nicht wählerisch), aber sie begriff, dass er wirklich sehr schwer verletzt war, möglicherweise sterben würde. Und das hatte sie ganz gewiss nicht gewollt.
Pia überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass es dem Hengst auch weiterhin gelang, die Männer auf Abstand zu halten, die ihn wieder einzufangen versuchten, ging zum Verletzten und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Kerenetat wimmerte leise. Schaumiges hellrotes Blut quoll aus seinem Mund, und sie konnte riechen, dass er die Kontrolle über alle seine Körperfunktionen verloren hatte. Er war nicht nur schwer verletzt, begriff sie schaudernd. Er starb. Jetzt. Und irgendwie war es ihre Schuld.
Ohne dass sie selbst genau hätte sagen können, was sie eigentlich tat, beugte sie sich vor, legte die Hand auf seine Stirn und lauschte in ihn hinein.
Sein Schmerz explodierte in ihr wie ihr eigener. Etwas in ihm war zerbrochen und wühlte nun wie abgebrochene Messerklingen in seinem Leib, und sie konnte beinahe sehen, wie seine Lebensflamme – die ihr Ende ohnehin fast erreicht hatte – kleiner und blasser wurde. Es war nicht nur die Verletzung. Nicht nur der grausame Schmerz, den ihm zerschmetterte Knochen und zerrissene Organe bereiteten. Darunter war etwas anderes, Schlimmeres, eine schleichende Fäule, die seit Jahren in ihm fraß und ihn verzehrte. Und etwas … regte sich in Pia, griff wie mit einer unsichtbaren warmen Hand in den Sterbenden hinein und linderte seinen Schmerz. Es lag nicht in ihrer Macht, ihn zu retten. Die Verletzungen waren zu schwer, der Schaden viel zu groß, als dass irgendeine Macht dieser Welt sie noch heilen konnten. Aber sie betäubte seinen Schmerz, schon weil es in diesem Moment auch ihr eigener war und sie sich nicht erinnern konnte, jemals solche Pein erlebt zu haben, berührte etwas tief in seiner Seele und löschte auch die Furcht aus, die ihn quälte. Kerenetats Wimmern erstarb. Seine Augen, die trüb vor Schmerz gewesen waren, klärten sich, und an die Stelle der Furcht darin trat ein Ausdruck unendlich großen Erstaunens.
»Ihr seid …«
»Nicht sprechen«, unterbrach ihn Pia. »Versuch nicht zu reden. Das strengt dich zu sehr an.« Sie kam sich bei diesen Worten beinahe lächerlich vor. Was hatte er schon zu verlieren außer ein paar Sekunden, in denen der Schmerz vielleicht die einzige Verbindung war, die er noch zum Leben hatte?
»Ihr …«, stöhnte Kerenetat. Noch mehr und helleres Blut quoll über seine Lippen, und der Rest dessen, was er hatte sagen wollen, ging in einem qualvollen Hustenanfall unter. Pia spürte, wie der Schmerz zurückkam, griff abermals in ihn hinein und betäubte ihn endgültig.
Plötzlich wurden hinter ihr Schritte laut, dann gellte ein spitzer Schrei auf, und Kerenetats Frau stieß sie so grob zur Seite, dass sie in der Hocke das Gleichgewicht verlor und halb in die Blutlache stürzte, in der der Sterbende lag.
»Keri!«, rief Nani. »Bei Kronn, Keri! Was hat sie dir angetan?« Schreiend warf sie sich über ihren sterbenden Mann, schloss ihn in die Arme und presste ihn an sich. »Keri! Sie hat dich getötet! Bei Kronn! Sie hat ihn umgebracht!«
Pia stemmte sich mühsam hoch und wäre in der Pfütze aus glitschigem Blut beinahe wieder ausgeglitten. Erschrocken registrierte sie, wie sich die Aufmerksamkeit der Menschen ringsum von dem immer noch aufgeregt im Kreis laufenden Hengst auf sie hin verlagerte. Vier oder fünf Männer kamen näher, und auf den meisten Gesichtern war im ersten Moment nichts als Verwirrung und Schrecken zu erkennen, hier und da aber auch Zorn.
»Nani, ich habe nicht …«, begann sie, doch die kleinwüchsige Frau unterbrach sie, indem sie mit einer blutbesudelten Hand auf sie deutete und noch einmal und noch lauter schrie:
»Sie hat ihn umgebracht! Sie …«
Kerenetat hob mühsam eine Hand und versuchte ihren Arm hinunterzudrücken. Seine Kraft reichte dazu nicht mehr aus, doch Nani hörte zumindest auf zu schreien und wandte das Gesicht wieder ihrem Mann zu. Pia fühlte sich entsetzlich. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, und ihr Herz schlug immer schneller und heftiger. Mühsam stand sie auf und blickte auf ihre Hände hinab, die rot von Kerenetats noch warmem Blut waren. Es war nicht ihre Schuld, versuchte sie sich einzuhämmern. Der Hengst hatte den Mann getötet, nicht sie. Aber es waren ihre Hände, an denen sein Blut klebte, nicht nur wortwörtlich, sondern auch und vielleicht umso mehr im übertragenen Sinne. Wenn sie nicht gekommen wäre, wenn sie sich nicht in Dinge eingemischt hätte, die sie rein gar nichts angingen, wäre all das nicht passiert.
»Das …es tut mir leid«, murmelte sie. »Das wollte ich nicht.«
Nani warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, aber sie sagte nichts, sondern beugte sich nur noch tiefer über ihren sterbenden Mann, dessen Lippen sich lautlos zu bewegen schienen, als versuche er ihr etwas zu sagen, ohne dass seine Kraft dafür noch reichte.
Jemand berührte sie sacht an der Schulter. Pia fuhr erschrocken herum und blickte ins Gesicht des Gardisten, der aufgestanden und unbemerkt näher gekommen war. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir jetzt gehen«, sagte er unsicher.
Die Menschenmenge, die sie umgab, war mittlerweile auf mindestens ein Dutzend angewachsen und wurde immer noch größer. Die meisten starrten sie einfach nur an – um präzise zu sein, eigentlich ihr Haar –, aber in etlichen Gesichtern waren auch Zorn und Wut zu lesen, und zumindest in einem Augenpaar blanker Hass.
»Ich … war das nicht«, murmelte sie lahm.
»Ich weiß«, antwortete der Soldat. »Aber es wäre trotzdem besser, wenn wir gehen.«
Wenn es dafür nicht zu spät war, dachte Pia. Die Menge wuchs immer rascher. Es mussten schon mindestens zwei Dutzend Männer sein, die sie wie eine lebende Mauer umgaben, und sie konnte spüren, wie die Stimmung kippte. Und was sollten sie auch denken? Keiner von ihnen war im Zelt dabei gewesen. Sie sahen nur das Blut an ihren Händen und auf ihrem Mantel, den sterbenden Mann und seine Frau, die sich über ihn beugte und sie beschuldigte. Der Soldat hatte recht. Sie mussten weg hier. Schnell.
Pia drehte sich herum und blieb nach einem einzigen Schritt wieder stehen, als ihr gleich zwei kleinwüchsige, aber kräftig gebaute Männer den Weg vertraten. Beide waren bewaffnet und einer blickte grimmiger drein als der andere.
»Was hast du mit Naninaranats Mann gemacht?«, grollte der Größere. Andere Stimmen murmelten drohend, und das Gefühl von Gefahr wurde so intensiv, dass Pia fast meinte, es anfassen zu können.
»Ich habe gar nichts gemacht«, antwortete Pia, so ruhig sie konnte. »Es war ein Unfall.« Als wäre sie nicht die letzte Person in gleich zwei Welten, von der sie Beistand erwarten konnte, sah sie zu Nani hin, aber die blickte nicht einmal in ihre Richtung, sondern hatte sich noch tiefer über ihren Mann gebeugt und ihr Ohr ganz dicht an seinen Mund gebracht, um zu lauschen. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass Pia irgendetwas hörte, und er hustete Blut, das Nanis Wange und Kinn besudelte.
»Ein Unfall, so?«, fuhr der Kerl fort. Zwei weitere Burschen gesellten sich zu ihm, und Pia spürte, wie auch hinter ihr mindestens zwei Männer auftauchten, wenn nicht mehr. »Für mich sieht es eher so aus, als hättest du versucht, ihnen Flammenhuf zu stehlen.«
»Für mich auch«, pflichtete ihm eine Stimme aus der Menge bei.
»Das reicht!« Der Soldat trat mit einem schnellen Schritt zwischen sie und die Männer und legte demonstrativ die rechte Hand auf den Schwertgriff, während sich die andere fester um den Stiel seiner Hellebarde schloss. »Verschwindet! Diese Frau steht unter Istvans persönlichem Schutz.«
Was niemanden sonderlich zu beeindrucken schien. Der Kreis aus bewaffneten Männern schloss sich nur noch enger um sie.
»Sie hat einen von uns umgebracht«, fuhr der Mann fort, der zuerst gesprochen hatte.
»Das hat sie nicht«, antwortete der Soldat. »Es war so, wie sie gesagt hat. Der Hengst hat ihn getreten. Ich war dabei und habe es gesehen.«
»Trotzdem ist einer von uns ums Leben gekommen«, beharrte der Mann. »Und so etwas regeln wir hier unter uns. Geh aus dem Weg, wenn du nicht auch zu Schaden kommen willst!«
»Lasst sie in Ruhe!«
Pia war nicht die Einzige, die sich verwirrt herumdrehte und ein erstauntes Gesicht machte, als Nanis Stimme erscholl. Sie war laut und durchdringend und schrill wie immer, aber etwas war anders geworden, ohne dass Pia sagen konnte, was. Nani kniete noch immer neben Kerenetat, dessen Kopf zur Seite gerollt war. Seine Augen waren geschlossen, und in dem rosafarbenen Schaum vor seinem Mund erschienen keine frischen Bläschen mehr. Als Pia genauer hinsah, stellte sie fest, dass seine Brust aufgehört hatte, sich zu heben und zu senken. Er war tot.
»Was hast du gesagt?«, fragte der Redeführer.
»Lasst sie in Ruhe«, sagte Nani noch einmal. »Sie sagt die Wahrheit. Es war ein Unfall.« Fast zärtlich zog sie den Arm unter Kernetats Nacken hervor, stand auf und kam mit langsamen Schritten auf Pia zu. Ihr Gesicht war leer, ohne jeglichen Ausdruck, aber in ihren Augen war etwas Neues erschienen. Wo Pia vorher Hass und grenzenlosen Schmerz gesehen hatte, da war nun … Staunen? Ehrfurcht? Was um alles in der Welt hatte Kerenetat ihr mit seinen letzten Atemzügen gesagt?
»Flammenhuf hat sich losgerissen. Keri wollte ihn festhalten, und da hat er ausgetreten. Sie trifft keine Schuld.«
Pia konnte sie nur fassungslos anstarren. »Aber ich …«
»Es war nicht Eure Schuld, Herrin«, fuhr Nani fort. »Was ich gesagt habe, tut mir leid. Ich war von Sinnen vor Schmerz. Bitte vergebt mir.«
»Gerade hast du gesagt, dass sie ihn umgebracht hat«, beharrte der Mann vor Pia misstrauisch.
»Ja, und das war falsch«, antwortete Nani, ohne ihn auch nur anzusehen. »Und jetzt helft mir, diesen verdammten Gaul wieder einzufangen, damit Keri nicht ganz umsonst gestorben ist.«
»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, murmelte der Gardist. Solange wir es noch können.
Pia antwortete mit einem angedeuteten Nicken und drehte sich erzwungen ruhig herum. Sie hatte sich getäuscht. Hinter ihr standen nicht zwei, sondern fünf Männer, die ausnahmslos bewaffnet waren, ihr aber gehorsam Platz machten – auch wenn sie spürte, dass es wohl eher aus Verwirrung geschah denn aus Respekt. Wahrscheinlich waren ihr Beschützer und sie gut beraten, wenn sie von hier verschwanden, bevor sich die Überraschung der Menge legte oder sich Nani doch noch eines Besseren besann.
Rasch, aber ohne zu rennen, gingen sie bis zur nächsten Gasse. Der Soldat beschleunigte seine Schritte noch einmal und bedeutete ihr mit ungeduldigen Blicken, es ihm gleichzutun, doch genau in diesem Moment erscholl hinter ihr ein schrilles Wiehern, und Pia blieb nicht nur stehen, sondern machte sogar kehrt und ging wieder ein paar Schritte zurück.
Etliche Männer hatten sich bereits darangemacht, Nanis Bitte zu erfüllen, und den geflügelten Hengst eingekreist. Keiner war dumm genug, seinen schnappenden Zähnen oder gar den tödlichen Hufen zu nahe zu kommen, aber sie bildeten mit ausgebreiteten Armen einen Kreis, der sich allmählich zusammenzog, um dem Tier auf diese Weise die Bewegungsfreiheit zu nehmen. Zwei oder drei andere Männer kamen mit Seilen angelaufen. Sie würden den Hengst wieder einfangen, begriff Pia, und der Gedanke bohrte sich wie ein glühender Dolch in ihr Herz. Sie kam sich vor, als hätte sie einen Freund verraten, und der Gedanke, dass es rein gar nichts gab, was sie tun konnte, machte es noch schlimmer.
»Wir sollten gehen«, drängte der Soldat. »Bitte!«
Pia nickte zwar, machte aber ganz im Gegenteil einen weiteren Schritt zurück. Sie wünschte, sie könnte irgendetwas tun, um diesem trotz allem immer noch prachtvollen Tier die Freiheit wiederzugeben, doch das lag nicht in ihrer Macht.
Der lebende Belagerungsring um Flammenhuf hatte sich mittlerweile weit genug zusammengezogen, um beinahe die Spitzen seiner gewaltigen Schwingen zu berühren, und die anderen Männer hatten Schlaufen in ihre Seile geknüpft, begannen diese wie Lassos zu schwingen und näherten sich ihm aus verschiedenen Richtungen. Flammenhuf warf mit einem zornigen Wiehern den Kopf in den Nacken und scharrte drohend mit dem Vorderlauf, aber Pia wusste, dass er keine Chance hatte. »Sie werden ihn wieder einfangen«, sagte sie bitter.
»Ja«, bestätigte der Soldat. »Es ist besser so.«
»Besser?«, wiederholte Pia empört.
»Der Mann hatte recht, weißt du? Er würde nicht überleben, selbst wenn ihm die Flucht gelänge. Sie würden ihn jagen und töten.«
»Aber er könnte ihnen doch einfach davonfliegen!«
»Fliegen?« Der Soldat sah sie verblüfft an. »Wie kommst du darauf, dass er fliegen kann?«
»Weil er Flügel hat?«
Der Ausdruck von Verblüffung auf dem Gesicht ihres Gegenübers nahm weiter zu. »Aber wer hätte jemals ein Pferd fliegen sehen?«
»Das ist kein Pferd, sondern ein Pegasus«, antwortete Pia.
»Ja. Und sie haben Flügel«, bestätigte der Mann. »Aber sie können nicht fliegen. Niemand weiß, warum das so ist … vielleicht nur eine Laune der Natur.«
»Aber Flammenhuf …«
»Flammenhuf«, unterbrach sie der Gardist, »ist eine Legende. Es soll vor vielen hundert Jahren einen mächtigen Hengst gegeben haben, den König der Pegasi. Die Legende sagt, dass er tatsächlich fliegen konnte, denn er war ein magisches Wesen, dessen Vorfahren aus dem Land der Elfen jenseits des großen Ozeans kamen. Einen Pegasus findest du auf jedem Jahrmarkt. Und natürlich ist es jedes Mal der echte Flammenhuf.«
»Und wenn er es wirklich ist?«
Der Soldat lächelte milde. »Ich glaube nicht, dass es ihn je gegeben hat«, sagte er. »Und selbst wenn, so muss er seit vielen hundert Jahren tot sein.«
Die Männer schwangen ihre Lassos und gingen jetzt gleichzeitig und sehr langsam auf den geflügelten Hengst zu. Das Tier scharrte immer nervöser mit den Vorderhufen, und sein Schnauben klang nun eindeutig drohend. Seine Flügel zuckten, als versuchte er tatsächlich, sie zu heben und damit zu fliegen.
Das erste Lasso wurde in seine Richtung geworfen. Flammenhuf wich ihm ohne Mühe aus, aber damit hatten die Männer gerechnet. Drei weitere Lassos flogen in seine Richtung. Eines wickelte sich um seine Vorderhufe, gerade als er sich aufbäumte und abermals mit den Flügeln zu schlagen versuchte – diesmal immerhin kräftig genug, um zwei der Männer von den Füßen zu schleudern. Die beiden anderen Schlingen senkten sich präzise über seinen Kopf und zogen sich blitzartig zusammen.
Was dann geschah, überraschte nicht nur Pia.
Die drei Männer waren zwar klein, aber kräftig, und sie wussten ganz offensichtlich, was sie taten, denn sie fuhren augenblicklich herum und begannen mit aller Macht und in unterschiedliche Richtungen zu ziehen. Kein noch so wildes Tier hätte diesem dreifachen Angriff widerstanden.
Flammenhuf widerstand ihm nicht nur.
Er griff seinerseits an.
Der Hengst stieg mit einem schrillen Wiehern noch weiter auf die Hinterläufe, zerriss mit einer anscheinend mühelosen Bewegung das Seil, das sich um seine Vorderhufe gewickelt hatte, und warf den Kopf in den Nacken. Die beiden Männer, deren Lassos sich um seinen Hals geschlungen hatten, wurden einfach von den Füßen gerissen und segelten in hohem Bogen durch die Luft. Einer landete fünf oder sechs Meter entfernt schwer auf dem harten Kopfsteinpflaster und blieb reglos liegen. Der andere flog sich überschlagend über Flammenhufs Rücken hinweg, und der riesige Pegasus schlug mit den Flügeln und schmetterte ihn wie einen zu groß geratenen Tischtennisball davon. Hätte Pia nicht das Geräusch brechender Knochen gehört, als er meterweit entfernt aufschlug, hätte es beinahe komisch ausgesehen.
Ein Chor erschrockener Schreie wurde laut. Gut die Hälfte der Männer ergriff auf der Stelle die Flucht, der Rest blieb einfach stehen und starrte den tobenden Pegasus fassungslos an. Nur einer war mutig (oder dumm) genug, um Flammenhuf mit bloßen Händen anzugreifen, und bezahlte diesen Entschluss mit dem Leben, als der Hengst ihm mit den Vorderhufen den Schädel zertrümmerte.
Flammenhuf wieherte triumphierend, fuhr auf den Hinterläufen herum und galoppierte wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil los. Seine Flügel peitschten, schleuderten Menschen und Zelte wie Spielzeuge aus dem Weg und bewegten sich immer schneller …
… und hoben ihn in die Luft!
Im ersten Moment sah es aus wie ein besonders weiter Satz, an dessen Ende die eisenbeschlagenen Hufe des Hengstes tatsächlich Funken aus dem Stein schlugen. Doch diesem ersten Satz folgte ein zweiter, größerer, und dann ein dritter, an dessen Ende das Tier nicht mehr den Boden berührte, sondern sich mit einem kraftvollen Flügelschlag endgültig in die Höhe schwang.
Und im nächsten Augenblick schon war der Hengst hinter den Zinnen der Stadtmauer verschwunden.
»Nur eine Legende, wie?«, flüsterte Pia. Ihr Herz schlug langsam, aber sehr hart, und tief in ihr schien ein weiteres Teil eines ebenso komplizierten wie gigantischen Puzzles an seinen Platz zu rutschen und dort einzurasten. Nicht mehr lange, das spürte sie, und sie würde das Bild zur Gänze erkennen können.
Der Soldat war sehr blass geworden. Es dauerte einige Zeit, bis er etwas sagte, und auch dann war es keine direkte Antwort auf ihre Bemerkung. »Wir sollten jetzt wirklich gehen«, murmelte er.
Pia widersprach ihm nicht.