III

Nach dem Geschrei und dem Lärm und den Schüssen kam ihr die Stille schon beinahe unnatürlich vor. Nichts rührte sich. Selbst der Wind schien für einen Moment verstummt zu sein, und obwohl sie die schmale und unbeleuchtete Gasse selbst ausgesucht hatte, erschien ihr die Dunkelheit zu total, die Schwärze zu intensiv, und sie konnte nicht sagen, ob sie diese Finsternis als Schutz empfand oder etwas Feindseliges.

Sie schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, über ihre eigene Dummheit zu lachen. Hier war alles ganz genau so, wie es sein sollte: Die Häuser standen leer, einige schon vor Jahren von ihren Besitzern verlassen oder von Schlägertrupps der Stadtverwaltung geräumt, damit die Bagger und Planierraupen leichtes Spiel hatten, wenn sie demnächst anrückten. Sie spürte trotzdem, dass sie beobachtet wurden, aber zumindest das beunruhigte sie in diesem Augenblick am wenigsten. In den Favelas war man nie allein, auch wenn es manchmal den Anschein hatte. Sie war mit diesem Gefühl aufgewachsen und hätte es eher als störend empfunden, wäre es nicht da gewesen.

Und trotzdem blieb ein Unbehagen, das nichts mit dem Wissen zu tun hatte, aufmerksam beobachtet zu werden, und nichts mit der Lebensgefahr, in der sie nach wie vor schwebten. Etwas stimmte nicht; nicht mit der Welt oder ihrer Art, sie zu sehen.

Sie liefen noch ein kleines Stück, bis sie in einer schmalen, nach Unrat und Abfall riechenden Gasse anhielten, um Atem zu schöpfen und sich zu orientieren. Die Straße war von hier aus lediglich als heller Fleck am Ende eines Tunnels aus rauchiger Schwärze zu erkennen. Nur in einem einzigen Gebäude brannte Licht; der flackernde Schein einer Kerze, die bloß darauf wartete, umzufallen und das ganze Viertel in Brand zu setzen, und es war noch immer beinahe unwirklich still.

Und alles hier war … falsch. Sie gehörte nicht hierher.

»Das hätte dir auch früher einfallen können«, sagte Jesus säuerlich.

Pia starrte ihn eine geschlagene Sekunde lang verständnislos an, dann noch eine und schließlich eine dritte, bevor ihr klar wurde, dass sie die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. »Wie?«, murmelte sie.

»Wir hätten gar nicht herkommen sollen, da hast du völlig recht.« Jesus atmete fast so schwer wie sie, und obwohl Pia ihn in der Dunkelheit nicht deutlicher denn als schwarzen Schatten erkennen konnte, spürte sie doch, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Vielleicht hatte er sich beim Sturz in die Baugrube verletzt. »Das Schwein hat das die ganze Zeit über geplant. Hat uns sauber in die Falle gelockt.«

Er stellte die Tasche ab, fuhr sich mit dem Jackenärmel durchs Gesicht und spuckte ein paarmal aus. Das gehörte nicht zu seinen schlechten Angewohnheiten, für Pia ein weiteres Indiz, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dann ließ er sich in die Hocke sinken, griff in den Beutel und nahm eines der würfelförmigen Päckchen heraus. Pia konnte bei dem schwachen Licht nicht erkennen, worum es sich handelte, vermutete aber, dass es ein Geldbündel war, und Jesus’ nächste Worte bestätigten das.

»Und das soll eine Million sein?«, fragte er zweifelnd.

»Eine viertel«, antwortete Pia. Ihr Blick tastete durch die Dunkelheit, versuchte Dinge in den Schatten zu erkennen, die vielleicht nicht da waren, vielleicht aber doch, und nur etwas anderes bedeuteten, und statt sich zu beruhigen, wurde ihr Herzschlag immer schneller und hektischer. Sie mussten weg. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht richtig. Etwas kam. »Es sind vier Päckchen.«

»Sieht trotzdem wenig aus.« Jesus ließ den Würfel wieder in den Beutel fallen und richtete sich mit einem ganz und gar untypischen Ächzen auf. »Kein Wunder, dass sie so scharf drauf waren.«

»Warum hast du das getan?«, fragte Pia mit einer Kopfbewegung auf den Beutel. »Sie hätten dich umbringen können.«

Jesus lachte hart. »Stell dir vor, das haben sie sowieso versucht.« Er versetzte dem Beutel einen Tritt. »Ohne das da sind wir erledigt. Wir müssen raus aus der Stadt. Am besten noch heute Nacht.«

»Und wohin?« Pia erwartete keine Antwort auf diese Frage. Alles hatte sich geändert, buchstäblich von einem Atemzug auf den anderen. Falls Hernandez noch lebte (und irgendetwas sagte ihr, dass er es tat und dass er sehr, sehr wütend war), dann waren er und seine Männer vermutlich jetzt schon hinter ihnen her. Sie konnten weder nach Hause noch zu einem ihrer Freunde. Die Favelas mochten ein Dschungel aus Holz und Stein und Wellblech und Menschen sein, in dem es Millionen Verstecke gab, aber es war nicht nur ihr, sondern auch Hernandez’ Dschungel, in dem er sich mindestens genauso gut auskannte wie sie. Nicht einmal das Geld in Jesus’ Tasche würde ihnen helfen. Ganz im Gegenteil. Wenn sich erst einmal herumsprach, dass sie es hatten, konnte es gut zu ihrem schlimmsten Feind werden.

Pia schüttelte den Gedanken ab und zwang sich mit einer bewussten Anstrengung in die Wirklichkeit zurück. Sie lauschte. Die unheimliche Stille war noch immer da, wie etwas … Fassbares, das nicht nur aus der Abwesenheit sämtlicher anderer Geräusche bestand, sondern auf eine vollkommen bizarre Art Substanz zu gewinnen begann, aber darunter hörte sie jetzt auch andere Laute. Aus der Cantina (offensichtlich hatten sie sich nicht annähernd so weit davon entfernt, wie sie es gehofft hatte) drangen jetzt wieder Musikfetzen auf die Straße, aufgeregte Stimmen, und dann drehte der Wind für einen Augenblick und trug Verkehrslärm heran, aber auch andere Stimmen, hektisch, zornig. Vielleicht Schritte, die näher kamen. Und wenn nicht jetzt, dann bald.

Sie fasste einen Entschluss. »Okay«, sagte sie. »Wir gehen zu Esteban.«

Jesus wollte protestieren, doch Pia schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab, deutete auf den Beutel und fuhr gleichzeitig mit leicht erhobener Stimme fort: »Nur für einen Moment. Wir brauchen saubere Kleider und wir müssen den Mist hier loswerden. Danach verschwinden wir.«

Jesus wirkte nicht begeistert, schulterte jedoch gehorsam den Beutel, und sie setzten ihren Weg fort. Niemand verfolgte sie, zumindest auf dem ersten Stück, aber ihr Vorwärtskommen gestaltete sich trotzdem schwieriger, als Pia befürchtet hatte. Dass sie hier zu Hause waren, bedeutete nicht, dass jedermann ihr Feind gewesen wäre; aber auch längst nicht jedermann ihr Freund. Für die meisten waren sie einfach nur Fremde, auch wenn sie sich mit der gelassenen Selbstverständlichkeit von Menschen bewegten, die in dieser Umgebung aufgewachsen waren und sie nicht zu fürchten hatten. Dennoch fielen sie auf, und das war es, was sie im Moment am allerwenigsten gebrauchen konnten.

Jesus blieb plötzlich stehen, und Pia konnte spüren, wie er sich anspannte. Erschrocken sah sie sich um, gewahrte nichts als Schatten und lautlos huschende Bewegung, die nur in ihrer Fantasie existierte, und spürte ein Frösteln, das sie zunächst für nichts anderes als Furcht hielt, bis ihr klar wurde, dass es tatsächlich kälter geworden war.

»Es ist kalt«, murmelte sie verwirrt. Und die Luft … roch nach Schnee?

Das war lächerlich. Das hier war Rio de Janeiro, nicht Aspen. Hier wurde es nie kalt, und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Schnee?

»Du bist erschöpft«, behauptete Jesus – was ihn allerdings nicht daran hinderte, selbst fröstelnd die Schultern hochzuziehen. »Und du hast Angst.«

»Ich weiß überhaupt nicht, was das Wort bedeutet«, antwortete Pia lahm.

Jesus machte sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu antworten, sondern rückte nur die Tasche auf seiner Schulter zurecht, um ein neuerliches und noch heftigeres Frösteln zu kaschieren, und sah sich noch einmal aufmerksamer um. Pia blickte fragend, aber Jesus sagte jetzt gar nichts mehr, sondern machte nur eine auffordernde Kopfbewegung und ging weiter; zu Pias Unbehagen nicht in Richtung der flackernden Lichter, sondern tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Straßen, durch die sie sich nun bewegten, verdienten diesen Namen kaum noch, nicht einmal hier. Sie waren so schmal, dass Pia mit ausgestreckten Armen die Wände rechts und links hätte berühren können, und mit Abfällen und Schmutz übersät. Es roch schlecht, und die wenigen Geräusche, die noch an ihr Ohr drangen, waren nicht dazu angetan, ihre Furcht irgendwie zu dämpfen. Das hier waren die wirklichen Favelas, die Elendsviertel der Elendsviertel, in denen nicht nur die Ärmsten der Armen lebten, sondern auch genau der Abschaum, von dem die Stadtverwaltung zu gerne sprach, wenn sie wieder einmal einen Vorwand brauchte, ein paar Straßenzüge abzureißen, um teuren Baugrund zu erschließen. Nicht einmal Pia hätte es gewagt, allein hierherzukommen.

Natürlich war ihr klar, warum Jesus diese Route gewählt hatte – aus dem gleichen Grund, aus dem auch sie es getan hätte, wäre sie verrückt genug gewesen. Er hoffte, dass Hernandez und seine Schläger die Sache ganz genauso sahen und es nicht wagten, ihnen auf demselben Weg zu folgen. Wahrscheinlich hatte er recht damit.

Oder auch nicht, denn nach ein paar Minuten blieb Jesus abermals stehen. Seine Hand senkte sich in die Jackentasche und kam leer wieder heraus. Pia selbst hatte darauf bestanden, dass er keine Waffe mitnahm.

»Was?«, fragte sie alarmiert.

»Nichts«, antwortete Jesus. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. Muss mich wohl getäuscht haben.«

Aber das hatte er nicht …. Da war etwas (jemand?), auch wenn ihr der Anblick immer wieder entglitt, als verhindere irgendetwas, dass ihr Blick Halt an dem Was-auch-Immer fand. Sie stieß erstaunt die Luft zwischen den Zähnen aus und stellte noch erstaunter fest, dass ihr Atem für den Bruchteil einer Sekunde als grauer Nebel vor ihrem Gesicht kondensierte. Es war nicht nur ihre Angst. Es war kalt. Und die Luft roch nach Schnee.

»Irgendwas stimmt nicht«, stellte auch Jesus fest. »Verschwinden wir!«

»Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Und wisst ihr was? Ich helfe euch sogar dabei.«

Jesus und Pia fuhren im gleichen Sekundenbruchteil herum, und Pia hätte beinahe laut aufgestöhnt.

Hernandez war nicht annähernd so feige, wie sie gehofft hatte (oder wütend genug, um Raserei mit Mut zu verwechseln), aber dafür offensichtlich wortwörtlich mörderisch schlechter Laune. Irgendwie musste er es geschafft haben, sich vollkommen lautlos zu bewegen, denn er und seine Handlanger standen kaum drei Schritte hinter ihnen. Er zitterte. Seine Jacke hing in Fetzen, und die immer noch leicht blutende Wunde, die sich quer über seine linke Gesichtshälfte zog, würde garantiert eine hübsche Narbe hinterlassen. Wenigstens zwei seiner drei Begleiter sahen kaum besser aus. Einer von ihnen hatte ein Auge verloren (Pia nahm an, dass es der Kerl war, den sie getreten hatte), und mit dem anderen heulte er vor Wut und Schmerz, und auch der zweite sah ein bisschen so aus, als hätte er eine Auseinandersetzung mit einem Rasentrimmer hinter sich. Den letzten konnte sie nur als verschwommenen Schatten erkennen, aber immerhin sah sie, dass er ein schlammverkrustetes Gewehr mit abgesägten Läufen in den Händen hielt.

»Der Comandante. Was für eine Überraschung.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen und zitterte hörbar, aber es war seltsam: Trotz ihres hämmernden Pulsschlags und der rasenden Panik, die ihre Gedanken beherrschte, fühlte sie zugleich eine sonderbare Ruhe. Unter all der Furcht und dem lähmenden Entsetzen, mit dem sie Hernandez’ Anblick erfüllte, wuchs eine Art heiterer Gelassenheit heran, als wäre da tief in ihr etwas, das ganz genau wusste, dass sie nicht in Gefahr war, dass ihr all das hier nichts ausmachen konnte, ganz einfach, weil sie sie war. Pia selbst verstand ihre eigenen Gefühle am allerwenigsten. Vielleicht waren sie einfach nur ein Reflex, dachte sie, mit dem etwas in ihr versuchte, sie vor sich selbst zu schützen.

»Aber keine angenehme, fürchte ich«, sagte Hernandez. Er kam einen Schritt näher, blieb stehen und hob die rechte Hand. Pia sah erst jetzt, dass er ihren Revolver darin hielt. Er zielte auf Jesus.

»Die Tasche!«

Jesus schürzte nicht nur trotzig die Lippen, sondern spannte sich noch weiter an, und Pia konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sie standen zu dicht beieinander, und in der schmalen Gasse hatte er keine Chance, schnell genug an ihr vorbei und zu Hernandez zu kommen, bevor dieser abdrückte, von seinen Begleitern ganz zu schweigen. Trotzdem hätte er es wahrscheinlich versucht – was hatte er zu verlieren? Hernandez würde sie sowieso erschießen, und zwar hier und jetzt – doch dann senkte der Comandante den Revolver und zielte auf sie.

»Mach keinen Unsinn, Großer«, sagte er. »Es liegt ganz bei dir, ob es schnell geht oder ich deiner kleinen Freundin hier zuerst das Gesicht wegschieße und dich dabei zusehen lasse, wie sie verblutet.«

Irgendetwas sagte Pia, dass er sowieso ganz genau das vorhatte, aber seltsamerweise führte dieser Gedanke dazu, dass ihre Angst plötzlich noch schwächer wurde und beinahe ganz verschwand. Was nutzte die Furcht auch, wenn es keinen Ausweg mehr gab?

»Ich wusste doch, dass du vernünftig bist«, sagte Hernandez, als Jesus zwar noch immer keine Anstalten machte, ihm den Beutel auszuhändigen, sich aber sichtbar entspannte. »Schade nur, dass du das nicht von Anfang an gewesen bist. Das hätte uns allen eine Menge Ärger erspart.« Er machte eine herrische Geste mit dem Revolver, ohne dass sich dessen Mündung dabei nennenswert von Pias Gesicht wegbewegte. »Und jetzt stell die Tasche ab. Wir wollen doch nicht, dass sie am Ende noch beschädigt wird.«

»Bring ihn um, Comandante«, wimmerte der Einäugige neben ihm. Eigentlich heulte er es. Seine Stimme war dünn, ein kaum noch verständliches Schluchzen. Er musste entsetzliche Schmerzen haben, dachte Pia. Aber solange er sich noch auf den Beinen halten konnte, machte ihn das nur umso gefährlicher. »Ich will weg hier.«

»Wer will das nicht, mein Freund?«, fragte Hernandez. »Aber keine Sorge. Es dauert nicht lange. Mir gefällt es hier auch nicht.« Die Waffe in seiner Hand hörte auf zu zittern und richtete sich nun direkt auf Pias Stirn. »Schade eigentlich. Wir hatten so viel Spaß miteinander. Und wir hätten noch viel mehr Spaß haben können, aber jetzt ist es zu spät.«

Sein Daumen zog den Hahn zurück, und Pia schloss die Augen. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sehen wollte, war barmherzige Dunkelheit, nicht Hernandez’ zerstörtes Gesicht.

Er schoss nicht.

Es wurde kälter.

Pia hielt den Atem an und zählte in Gedanken bis drei, dann bis fünf und schließlich bis zehn, aber der finale Schmerz, von dem sie sich fragte, ob sie ihn überhaupt noch spüren würde, kam nicht. Und als sie die Augen wieder öffnete, war der Revolver zwar noch immer auf ihre Stirn gerichtet, aber der Blick aus Hernandez’ zu schmalen Schlitzen zusammengepressten Augen fixierte einen Punk irgendwo hinter ihr.

Hatte Jesus …?

Pia wagte es, den Kopf zu drehen, und sah, dass Jesus nichts getan hatte, um die Mischung aus Misstrauen und Überraschung in Hernandez’ Blick zu rechtfertigen.

Am Ende der schmalen Gasse war eine weitere Gestalt aufgetaucht. Gegen den kaum helleren Hintergrund war sie nicht mehr als ein weiterer, flacher Umriss, doch schon an diesem bloßen Schemen war irgendetwas … Unheimliches. Etwas daran war falsch, auf dieselbe Weise wie vorhin die Schatten und der Rest der Welt: genauso wenig zu beschreiben und ebenso unübersehbar.

Und er kam ihr auf dieselbe Weise vertraut vor, aber das registrierte sie nur beiläufig, und sie schob den Gedanken augenblicklich von sich, weil er vollkommen unsinnig war.

»Wer bist du denn?«, fragte Hernandez. »Verschwinde! Das hier geht dich nichts an!« Er unterstrich seine Worte, indem er herrisch mit seiner Waffe gestikulierte, richtete diese jedoch sofort wieder auf Pia – sie bezweifelte, dass er den Fremden erschießen würde. Jesus und sie zu erledigen, war eine Sache, aber wenn man hier den Falschen erschoss, konnte man leicht einen Krieg auslösen.

Die Gestalt rührte sich nicht, doch irgendetwas geschah dort in den Schatten, und sie wurde deutlicher, ohne dabei weniger unheimlich zu sein. Vermutlich handelte es sich um einen Mann, aber Pia konnte nur raten, denn er trug einen Mantel, der ihn vollkommen verhüllte und in einer spitzen Kapuze endete, die er weit ins Gesicht gezogen hatte. Darunter waren nur Schatten zu erkennen. Ein leises Klimpern war zu hören, als er sich bewegte. Warum auch immer er diese Verkleidung gewählt hatte, sie wirkte zugleich ziemlich albern wie angsteinflößend.

»Verdammt noch mal, was willst du?«, fauchte Hernandez. »Misch dich hier nicht ein!«

Die Gestalt antwortete nicht, aber sie bewegte sich, und irgendwie tat sie es auf dieselbe verstörende Art, mit der sie aufgetaucht war. Es schien eher ein Gleiten und Fließen zu sein als eine herkömmliche Bewegung; als wäre selbst die schlichte Geste, mit der sie die Arme hob und die Kapuze zurückschlug, Teil einer sorgsam einstudierten Pantomime oder eines Tanzes. Darunter kam ein edel geschnittenes (ein anderes Wort fiel Pia nicht ein), schmales Gesicht zum Vorschein, das genauso unrichtig und fremd aussah wie die Schatten, aus denen die Gestalt gekommen war. Pia schenkte ihm allerdings trotzdem nur einen flüchtigen Blick, denn was über diesem Gesicht zum Vorschein kam, das war noch sehr viel erstaunlicher.

Es war ein Helm, ganz unzweifelhaft, auch wenn sich Pia vergeblich fragte, wer einen solchen Helm tragen sollte und vor allem, warum. Er war mindestens dreißig Zentimeter hoch, wenn nicht mehr, lief spitz aus und war mit kunstvollen Ziselierungen übersät. An fein gearbeiteten Scharnieren befestigte Lamellen schützten Jochbein, Wangen und Kinn, und was im Moment wie der Kobrakopf einer ägyptischen Pharaonenkrone darüber hinaus und schräg nach vorne ragte, war ein vermutlich ebenso beweglicher Nasenschutz. Das Ding sah … grotesk aus.

Aber es war nichts gegen das, was unter seinem Mantel zum Vorschein kam. Silberfarbenes Metall blitzte, und Licht brach sich auf poliertem schwarzem Leder. Der Kerl trug … eine Rüstung!

»Nicht schlecht«, sagte Hernandez. »Aber bis Karneval ist doch noch eine Weile hin, oder?« Er gestikulierte erneut und jetzt ärgerlich mit der Waffe, und am Ende dieser Bewegung richtete diese sich nicht mehr auf Pia. »Gut, du hast deinen Auftritt gehabt, Freundchen. Jetzt sag, was du willst, und dann verschwinde.«

»Lass sie in Frieden ziehen«, sagte der Fremde. Seine Stimme war genauso sonderbar wie seine gesamte Erscheinung: kraftvoll und weich zugleich, ein sanfter Bariton, der Pia an eine warme, streichelnde Hand denken ließ, bei deren Berührung man trotzdem unwiderstehliche Kraft spürte.

Auch Hernandez war so verblüfft, dass er den Helmträger im allerersten Moment nur anglotzte. Sein Unterkiefer klappte herunter. »Ja«, murmelte er schließlich. »Das war lustig. Und jetzt verschwinde, bevor ich wirklich wütend werde, du Spinner.«

»Wenn ihr leben wollt, dann geht eurer Wege«, sagte der Fremde. Seine Rechte, die in einem mit schmalen Silberstücken verstärkten Handschuh steckte, senkte sich auf den Griff eines mindestens anderthalb Meter langen Schwertes, das er an der linken Seite des Gürtels trug. Darüber funkelte ein silberfarbener Harnisch, der ebenso reich verziert war wie sein Helm.

»Das reicht jetzt«, sagte Hernandez. »Du bist doch vollkommen …«

Der Fremde sprang.

Er tat es ansatzlos und auf eine Art, wie Pia es noch nie zuvor gesehen hatte: Sein Körper schnellte einfach in die Höhe, wie ein von der Sehne abgeschossener Pfeil, schien sich dabei in einen huschenden Schatten zu verwandeln, der silberfarbene Lichtblitze in alle Richtungen schleuderte, vollführte einen kompletten Salto in der Luft, der ihn mühelos über Jesus und sie hinweg beförderte, und landete federnd zwischen Hernandez und ihr. Es sah ein bisschen aus wie eine Szene aus einem jener vollkommen übertriebenen Hongkong-Filme, die Jesus sich so gerne reinzog, nur dass es hier keine Drahtseile gab, an denen der Hauptdarsteller hing, und die man anschließend wegretuschieren konnte. Das Schwert, das bisher in der schwarzen Lederscheide gesteckt hatte, erschien plötzlich in seiner Hand, ohne dass Pia auch nur gesehen hatte, wie er es zog. Die Klinge blitzte auf, nicht wie Silber, sondern eher wie geschliffener Kristall, und zischte so dicht an ihrem Gesicht vorbei, dass sie den Luftzug spüren konnte und erschrocken aufschrie, und dann brüllte Hernandez, wenn auch nicht erschrocken, sondern vor purem Schmerz, als der Revolver in hohem Bogen davonflog; zusammen mit zwei seiner Finger.

Hernandez taumelte kreischend zurück, und der unheimliche Angreifer setzte seine am anderen Ende der Gasse begonnene Bewegung fort und fuhr wie ein schwarzer Wirbelwind unter die anderen Männer. Das Kristallschwert blitzte auf und glitt ohne sichtbaren Widerstand durch die Kehle des Einäugigen, enthauptete ihn nahezu und hätte vermutlich auch noch einen dritten Mann niedergestreckt, wäre es nicht in der Enge der Gasse gegen eine Wand und Funken sprühend davon abgeprallt. Der ganze bizarre Kampf hatte weniger als eine Sekunde gedauert.

Ein Schuss fiel. Pia konnte nicht sagen, wer ihn abgegeben hatte, aber die Kugel prallte neben dem Angreifer gegen die Wand und nahm seinen Bewegungen zum ersten Mal etwas von ihrer tänzerischen Eleganz, als er erschrocken zusammenfuhr und sich duckte – die Zeit reichte, seinem perfekt choreografierten Angriff den Schwung zu nehmen, und die beiden verbliebenen Männer stürzten sich unverzüglich auf ihn. Der Kerl mit dem Gewehr verzichtete erstaunlicherweise darauf, seine Waffe abzufeuern, rammte ihm aber die abgesägten Läufe mit aller Gewalt in den Leib, und der Angreifer brach mit einem halb erstickten Keuchen auf die Knie. Das Schwert entglitt seiner Hand und fiel mit einem sonderbar hellen, gläsernen Laut zu Boden, und der Bursche mit dem Gewehr drehte seine Waffe herum, um sie wie eine Keule zu benutzen und ihm gegen den Schädel zu schmettern.

Hätte der Behelmte den Fehler gemacht, nach seinem Schwert zu greifen, wäre es ihm vermutlich gelungen. Aber das tat er nicht. Stattdessen blockte er den Hieb mit hochgerissenem Unterarm ab, rammte dem Burschen den Handballen der anderen Hand unter das Kinn und federte aus der gleichen Bewegung heraus wieder auf die Füße, um sich dem dritten und letzten von Hernandez’ Männern zuzuwenden. Pia konnte nicht erkennen, was er tat, aber nur einen Augenblick später sackte der Mann zu Boden und rührte sich nicht mehr. Dieser Teil des bizarren Kampfes hatte vielleicht zwei Sekunden gedauert.

Fast schon gelassen, trotzdem aber sehr schnell drehte sich der Fremde herum, hob sein Schwert auf und schüttelte mit einer ruckhaften Bewegung das Blut von der Klinge, bevor er es in die Scheide an seinem Gürtel schob. Dann drehte er sich zu ihr um und lächelte sie an, flüchtig und auf eine Art, die besorgt, leicht missbilligend und beinahe ein wenig ehrfürchtig zugleich wirkte.

»Wer … sind Sie?«, fragte Pia stockend. Dass dieser Kerl ihnen gerade das Leben gerettet hatte, beruhigte sie nicht im Mindesten; sie hatte gesehen, wozu er fähig war.

»Nicht jetzt«, antwortete er rasch. »Ihr solltet jetzt gehen, Gaylen. Jemand könnte den Lärm gehört haben.«

»Wie haben Sie mich genannt?«, fragte Pia verstört. »Ich bin nicht Gaylen. Und wer zum Teufel sind Sie, und was …?«

Der Mann mit dem silbernen Helm brachte sie mitten im Satz zum Verstummen, indem er sie gerade hart genug am Arm ergriff, dass es noch nicht wirklich wehtat, seine Entschlossenheit aber deutlich machte, und sie mit einem Ruck umdrehte. Unter so ziemlich allen anderen nur denkbaren Umständen wäre das für Jesus vermutlich Anlass genug gewesen, ihm mindestens die Hand zu brechen, mit der er sie so unsanft angefasst hatte – oder ihm gleich den Arm auszureißen, je nach Tagesform –, aber jetzt rührte er keinen Finger. Wahrscheinlich war er viel zu schockiert, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Später, Gaylen«, bekräftigte der Fremde seine Worte. »Jetzt bringt Euch in Sicherheit. Ich folge Euch, sobald ich hier fertig bin.«

Fertig?, dachte Pia entsetzt. Womit? »Sie haben doch nicht etwa vor …?«

»Geht!«, herrschte der Fremde sie an. »Sofort!«

Ein Schuss krachte, laut wie ein Kanonenschlag und nahe genug, um sie den Kordit der Mündungsflamme riechen zu lassen. Die Kugel stanzte unmittelbar neben dem Fremden ein fast faustgroßes Loch in die morsche Bretterwand und spickte seine Wange mit Holzsplittern und Ruß, und Pia prallte entsetzt zurück und starrte Hernandez an, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht halb an der gegenüberliegenden Wand in die Höhe geschoben hatte. Sein Gesicht und seine verstümmelte Hand bluteten um die Wette, aber mit der anderen hatte er den Revolver aufgehoben, zielte auf den Fremden und drückte genau in diesem Moment zweimal kurz hintereinander ab. Die erste Kugel traf den ziselierten Harnisch, dellte ihn ein und prallte unglaublicherweise davon ab, um ungefähr zwei Zentimeter an Pias Wange vorüberzujaulen; die zweite traf seine Schulter, durchschlug sie ohne die geringste Mühe und stanzte ein weiteres Loch in die Bretterwand hinter ihm, und die pure Wucht der beiden Treffer schleuderte den Mann zurück und mit solcher Gewalt gegen die Wand, dass sie von oben bis unten riss. Er fiel nicht, aber bevor er sein Gleichgewicht endgültig zurückgewinnen konnte, drückte Hernandez zum vierten Mal ab, und diesmal durchschlug die Kugel seinen Oberschenkel. Blut floss in Strömen, und zum ersten Mal erschien ein Ausdruck von Schmerz auf den edlen Zügen des Mannes. Allerdings stürzte er immer noch nicht.

Stattdessen rappelte er sich endgültig hoch, versetzte Pia einen Stoß, der sie haltlos zwei oder drei Schritte weit zurück und gegen Jesus torkeln ließ, und schrie noch einmal: »Lauft! Benutzt das Tor!«

Was immer er auch damit meinte – Pia hatte endgültig genug gesehen, wirbelte auf dem Absatz herum und stürzte los, und sie sah noch in der Bewegung, wie sich der Fremde mit ausgebreiteten Armen auf Hernandez warf. Hinter ihnen peitschte ein weiterer Schuss durch die Gasse, als Jesus und sie nebeneinander losstürmten. Er klang sonderbar gedämpft. Dann krachte es noch einmal, aber Pia sah nicht mehr zurück. Sollten sich diese beiden Wahnsinnigen doch gegenseitig umbringen, wenn es Ihnen Spaß machte! Ihr sollte es recht sein, solange es Jesus und ihr die Gelegenheit verschaffte, von hier zu verschwinden!

Sie erreichten das Ende der Gasse, hasteten wahllos nach links und fanden sich in einer schmalen Lücke zwischen den heruntergekommenen Gebäuden wieder. Vor ihnen war kein Licht mehr. Sie waren in eine Sackgasse gerannt.

Pia fluchte lauthals, machte auf dem Absatz kehrt und prallte mitten in der Bewegung abermals zurück, als sie Geräusche hörte; Schritte, Rufe, ein hastiges Trampeln und Schleifen und das allgemeine Gefühl, dass etwas kam. Sie konnten nicht zurück. Mit ein bisschen Glück hatten sich Hernandez und dieser Aushilfs-Lancelot ja gegenseitig umgebracht, aber wenn sie vorher noch nicht entdeckt worden waren, dann hatten allerspätestens die Schüsse jeden Halsabschneider, Tagedieb und Möchtegern im Umkreis von zwei Kilometern alarmiert. Jesus trug noch immer den Beutel mit sich. Sie hatten eine Million in bar und noch einmal dasselbe in Drogen dabei, und das bedeutete nichts anderes, als dass vermutlich jeder, auf den sie trafen, zuerst auf sie schießen und dann nachsehen würde, wen er da überhaupt getroffen hatte. Sie konnten nicht zurück!

Gehetzt schaute sie sich um, gewahrte ein zerfasertes schwarzes Rechteck aus noch tieferer Dunkelheit in den Schatten hinter sich und vermutete, dass es ein offen stehendes Tor oder der Zugang zu einem Hinterhof war. Keine Ahnung, ob das das Tor war, von dem der seltsame Fremde gesprochen hatte, aber das spielte in diesem Augenblick auch keine Rolle. Überall war besser als hier.

Wortlos bedeutete sie Jesus, ihr zu folgen, ging los und begann nach einem Augenblick wieder zu rennen, als die Schritte hinter ihnen rasch lauter wurden. Jemand schrie, nicht vor Schmerz oder Angst, aber sehr aufgeregt, und Pia begriff, dass sie endgültig entdeckt worden waren, rannte noch schneller und stürzte blindlings in die Dunkelheit hinein. Eisige Kälte schlug ihr entgegen, und etwas wie unsichtbare Spinnweben schien nicht nur ihr Gesicht zu berühren, sondern jeden Quadratzentimeter ihrer Haut, selbst die, die von Kleidung bedeckt war.

Auf der anderen Seite des Tores herrschte vollkommene Dunkelheit, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Der Klang aufgeregter Stimmen hinter ihnen nahm zu, und die Schritte kamen rasend schnell näher. Pia vertraute einfach auf ihr Glück, rannte in die Schwärze hinein und hörte Jesus’ polternde Schritte und schnaufende Atemzüge neben sich. Irgendetwas zerbrach unter ihrem Fuß, ein sonderbarer, nie erlebter Geruch stob auf und hüllte sie ein, und nach zwei oder drei weiteren Schritten kam es, wie es kommen musste: Sie stolperte, kämpfte mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht und wusste, dass sie diesen Kampf verlieren würde, noch bevor sie endgültig stürzte und in etwas Weiches und sehr Kaltes fiel, das ihren Aufprall zwar nicht annähernd so sehr dämpfte, wie es ihr lieb gewesen wäre, ihm aber genug von seiner Wucht nahm, um sie wenigstens nicht das Bewusstsein verlieren zu lassen.

Beinahe wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte es verloren. Vor ihren Augen explodierte ein wahres Gewitter aus grellen Schmerzblitzen, sie biss sich auf die Zunge und schmeckte ihr eigenes Blut, und für die Dauer von zwei oder drei hämmernden Herzschlägen wurde ihr schrecklich schlecht.

Dann verebbte der Schmerz, und auch die Übelkeit erlosch, aber die Kälte blieb, und als sie vorsichtig die Augen öffnete, sah sie noch immer tanzende weiße Schemen. Es waren keine Schmerzblitze. Vor ihr war Licht.

Mühsam stemmte sie sich hoch und wollte etwas sagen, aber eine riesige Hand legte sich über ihren Mund. Gleichzeitig erschien Jesus’ Gesicht über ihr. Es war zu dunkel, um in seiner Miene zu lesen, aber er hatte den Zeigefinger über die Lippen gelegt und bedeutete ihr hastig, still zu sein.

Schritte näherten sich, hielten für einen Moment inne und entfernten sich dann wieder, und sie hörte eine gedämpfte Stimme, die ihr nicht nur gänzlich unbekannt war, sondern auch in einer Sprache redete, die sie nicht verstand. Sie war nicht einmal sicher, ob es eine Sprache war. Jesus wartete, bis die Schritte wieder verklungen waren, bevor er nicht nur die Hand von ihrem Mund nahm, sondern sie auch erstaunlich sanft in die Höhe zog. Prompt wurde ihr ein bisschen schwindelig, aber das Gefühl verging und plötzlich wurde sie sich der Kälte wieder bewusst. Es war eisig. Verwirrt fuhr sie sich mit der Hand durchs Gesicht und fühlte tatsächlich Schnee auf ihrer Wange.

Und das war längst nicht das einzig Sonderbare an diesem Ort.

Ihre Augen gewöhnten sich immer besser an das fahle Licht, das durch große Lücken im Dach des zerstörten Gebäudes fiel. Sie konnte nicht allzu viel erkennen, dazu blieb es zu dunkel, aber was sie sah, verwirrte sie mit jeder Sekunde mehr. Sie befanden sich in einer Ruine, die den Eindruck machte, schon seit einer geraumen Weile unbewohnt zu sein. Überall lagen Trümmer, Berge von Schutt und zerbrochene Balken – viele davon verbrannt und ein paar grotesk dick – und überall war Schnee. Die Luft war so kalt, dass sie auf ihrem Gesicht prickelte.

»Wo zum Teufel sind wir hier?«, stieß sie hervor.

»Keine Ahnung«, brummelte Jesus. »Aber es gefällt mir nicht.«

Pia noch viel weniger. Sie fragte sich verwirrt, wo sie eigentlich waren. Dieses Haus war heruntergekommen, verfallen und vor langer Zeit von seinen Bewohnern verlassen worden, doch damit hörte die Ähnlichkeit mit den Gebäuden, die sie in diesem Teil der Favelas erwartet hatte, auch schon auf.

Von dem Schnee und der Kälte gar nicht zu reden.

Sie setzte zu einer entsprechenden Bemerkung an, besann sich dann aber eines Besseren und machte stattdessen ein paar vorsichtige Schritte zur Seite, um sich noch einmal und aufmerksamer umzusehen. Sie versuchte den Schnee und die unmöglichen Temperaturen auszublenden und sich nur auf das zu konzentrieren, was sie sah, wodurch es auch nicht unbedingt besser wurde. Abgesehen von zerbröckelndem Mauerwerk, verkohlten Balken und heruntergestürzten Dachpfannen glaubte sie auch die Reste hoffnungslos zerstörten Mobiliars zu erkennen. Das meiste davon war verbrannt, und das wenige, das sich überhaupt noch identifizieren ließ, schien nicht nur ausnahmslos aus Holz oder rostigem Metall zu bestehen, sondern auch absolut altmodisch zu sein: ein zusammengestürzter Schrank mit geschnitzten Türen, ein gusseiserner Topf unbekannten, aber ziemlich ekelhaft aussehenden Inhaltes, etwas, das gut die zersplitterten Reste eines altmodischen Kinderbetts sein konnte … und war das dort drüben in der Ecke ein Webstuhl?

So wie es hier aussah, dachte sie, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie waren in eine Art Zeitloch gestürzt und zwei oder noch mehr Jahrhunderte weit in die Vergangenheit gefallen, oder hier hatte jemand mit einem ausgesprochenen Faible für Antiquitäten oder einfach alten Kram gehaust.

Und für Schnee.

Benutzt das Tor, Gaylen!

Pia schüttelte den Gedanken ab und zwang sich auf den (kalten) Boden der Tatsachen zurück. Das hier war ziemlich seltsam, um nicht zu sagen verrückt, aber sie würde ganz gewiss eine logische Erklärung für alles finden, wenn sie erst einmal hier heraus- und ein bisschen zur Ruhe gekommen war. Und das war das allerwichtigste: hier herauszukommen.

Sie drehte sich herum, erwartete, das Tor zu erblicken, durch das sie hereingekommen waren, aber es war nicht da. Wo es sein sollte, erstreckte sich das zerstörte Innere des Gebäudes auf mindestens zehn oder fünfzehn Metern, bevor es in grauer Dämmerung verschwand, und irgendetwas bewog sie dazu, ganz bestimmt nicht nach oben zu sehen, um den Himmel über dem zerborstenen Dach anzublicken. Sie wusste einfach, dass es ihr nicht gefallen hätte.

»Verschwinden wir von hier«, sagte sie unbehaglich.

»Nichts dagegen«, stimmte Jesus zu. »Wenn du mir auch noch sagst …«

Diesmal war es Pia, die ihn mit einer erschrockenen Handbewegung zum Schweigen brachte. Hastig ließen sie sich nebeneinander in die Hocke sinken und erstarrten zur Reglosigkeit. In ihrer unmittelbaren Nähe gab es nichts, das als Versteck hätte dienen können, aber Pia griff nach den Schatten und verwandelte sie in einen schützenden Mantel, der sie zuverlässig allen neugierigen Blicken entzog.

Schritte und Stimmen, die nach wie vor in einer ihr völlig unbekannten Sprache redeten, kamen wieder näher, und sie identifizierte zwei, drei Gestalten, die alle sonderbar gedrungen aussahen. Als sie noch näher kamen, sah sie auch, warum. Die Männer – alle drei hatten ungepflegtes langes Haar und dazu passende Bärte – trugen schwere Umhänge oder Mäntel aus struppigem Fell, und wenn sie sich bewegten, klimperte es darunter, ganz ähnlich wie bei dem seltsamen Fremden, der sie gerettet hatte, nur irgendwie nicht so … sauber.

Die Männer blieben in kaum drei Metern Entfernung stehen und redeten eine gute Minute in ihrer seltsamen Sprache miteinander, bevor sie sich wieder entfernten. Pia blinzelte ein paarmal und klammerte sich tatsächlich an die kindische Hoffnung, dass sie nur die Augen aufzumachen brauchte, um aus diesem bizarren Traum zu erwachen und sich in ihrer gewohnten Umgebung wiederzufinden.

Es funktionierte nicht. Die drei Steinzeitmenschen verschwanden, aber das unmögliche Gebäude, die Kälte und der Schnee und der noch viel unmöglichere Himmel über ihnen blieben. Das einzig Neue war der Ausdruck auf Jesus’ Gesicht. Er starrte sie vollkommen fassungslos an. Er stellte keine einzige Frage, doch das war auch nicht nötig. Pia konnte sie von seinem Gesicht ablesen. Es war die gleiche Frage, die auch sie sich selbst stellte. Wie um alles in der Welt hatte sie das gemacht? Und was hatte sie überhaupt gemacht?

Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie mussten hier raus, bevor sie vollends den Verstand verlor. Irgendwie.

»Wir gehen einfach den Weg zurück, den wir gekommen sind«, sagte sie, mehr an sich selbst als an Jesus gewandt. »Irgendwie finde ich schon raus.«

Jesus sparte sich jeden Kommentar dazu, aber der Blick, mit dem er sie maß, sprach Bände. Wortlos stand er auf, sah sie auffordernd an und machte auch nicht die geringsten Anstalten, von sich aus eine bestimmte Richtung einzuschlagen, als Pia einen einzelnen Schritt tat und dann wieder stehen blieb, um ihn demonstrativ hilflos anzublicken.

Pia gestand sich ein, dass er recht hatte. Ihre Idee war ja gar nicht so schlecht … aber sie hatte nicht mehr die geringste Ahnung, aus welcher Richtung sie gekommen waren.

Jesus sah sie weitere drei oder vier Sekunden lang vollkommen ausdruckslos an, hob dann die Schultern und ließ sich wieder in die Hocke sinken. Sein Blick tastete den Boden ab … oder um genau zu sein: den Schnee, der das verkohlte Holz der Dielen bedeckte.

Und um noch genauer zu sein: die Spuren, die Pia und er darin hinterlassen hatten.

Pia schenkte ihm den bösesten Blick, zu dem sie sich in diesem Moment aufraffen konnte, und folgte der verwischten doppelten Spur. Man musste kein direkter Nachkomme Chingachgooks sein, um die tiefen Abdrücke in dem verharschten Schnee zu sehen.

Allerdings hätten sie vermutlich nicht einmal Chingachgook selbst sonderlich weitergeholfen, denn sie hörten nach einem knappen Dutzend Schritten auf.

Pia blieb stehen, blinzelte, sah genauer hin und blinzelte noch einmal, aber es blieb dabei: Von allen Unmöglichkeiten, denen sie in den letzten Minuten hier begegnet war, war das die allerunmöglichste. Die Spuren hörten unmittelbar vor ihnen einfach auf. Oder begannen wie aus dem Nichts, das war eine Frage des Standpunktes.

»Und jetzt?«, wollte Jesus wissen. Pia hasste ihn beinahe für diese Frage.

Bevor sie jedoch antworten konnte, erscholl hinter ihnen ein lautstarkes Poltern und Krachen, gefolgt von einem gemurmelten Fluch – ganz eindeutig nicht in irgendeiner Steinzeitsprache, sondern in breitem Portugiesisch – und von einer Stimme hervorgestoßen, die sie nur zu gut kannte.

Hernandez schoss sofort, ohne das geringste Zögern und noch bevor er sich auch nur halb wieder aufgerichtet hatte, und der einzige Grund, aus dem er Jesus verfehlte und die Kugel eine Handbreit neben diesem in einen der verkohlten Balken fuhr, war vermutlich der Umstand, dass er Rechtshänder war und mit links schoss.

Weder Jesus noch sie warteten darauf, dass er besser zielte, sondern wirbelten auf den Absätzen herum und stürmten los. Hernandez brüllte etwas – einen unartikulierten Laut, der pure Wut ausdrückte –, sprang in die Höhe und verfehlte Jesus dieses Mal nur, weil er in seiner Hast den Schuss verriss, aber er machte sich auch unmittelbar an die Verfolgung. Sein Gesicht war eine einzige Maske aus Blut und tobendem Hass, seine rechte Hand eine heftig blutende Wunde, aber er ließ sich nicht abschütteln. Jesus und Pia rannten, so schnell sie es auf dem mit Schutt und Trümmern übersäten Boden nur wagten, aber er holte trotzdem auf und war jetzt höchstens noch fünf Meter hinter ihnen. Sein nächster Schuss verfehlte Jesus nur um Haaresbreite, und er hatte immer noch drei Kugeln in seiner Waffe. Und so rasend vor Wut, wie er im Moment war, konnte Pia nicht einmal sicher sein, dass Jesus ihm mit bloßen Händen gewachsen gewesen wäre.

Hernandez feuerte erneut. Die Kugel streifte Jesus’ Bizeps, hinterließ eine rauchende Spur in seiner Jacke und fügte ihm allerhöchstens einen schmerzhaften Kratzer zu, aber ihre schiere Wucht – vielleicht auch nur der Schreck – brachte ihn aus dem Tritt. Jesus stolperte, verlor einen oder zwei unendlich kostbare Meter Vorsprung, und Hernandez stieß einen schrillen, triumphierenden Schrei aus und zielte erneut und diesmal mit beiden Händen und ungeachtet der Tatsache, dass seine Rechte kaum mehr als ein blutiger Fleischklumpen war. Er konnte gar nicht mehr danebenschießen.

Den Bruchteil einer Sekunde, bevor er abdrückte, erschien eine in Silber und Schwarz gekleidete Gestalt wie aus dem Nichts hinter ihm.

»Gaylen!«, schrie sie. »Springt!«

Und wohin?, dachte Pia … und wieder schien alles gleichzeitig zu geschehen. Hernandez drückte nicht ab, sondern fuhr blitzartig herum und richtete seine Waffe auf den so plötzlich hinter ihm aufgetauchten Fremden, und der Schatten machte eine unvorstellbar schnelle Bewegung. Ein silberfarbener Blitz löste sich aus seiner Hand und flog in Hernandez’ Richtung, aber der Comandante machte eine noch schnellere und eigentlich ganz und gar unmögliche Bewegung und wich dem geschleuderten Blitz aus, und plötzlich raste er direkt auf Pia zu, schnell wie ein Lidzucken und absolut tödlich.

Im allerletzten Moment fuhr Jesus herum, umschlang sie mit beiden Armen und riss sie zur Seite. Der tödliche Schmerz, auf den sie wartete, kam nicht, auch wenn Jesus vor Anstrengung und Furcht ächzte und sein brutaler Griff ihre Rippen hörbar knacken ließ. Sie bekam keine Luft mehr, um zu schreien, sonst hätte sie es getan. Wieder einmal explodierte die Welt vor ihren Augen in einem Feuerwerk aus weißen und roten Blitzen, sie konnte immer noch nicht atmen, strauchelte und …

… prallte so hart gegen eine Wand aus morschem Holz und rostigem Wellblech, dass sie zwei Schritte weit zurückgeworfen wurde und mit Sicherheit gestürzt wäre, hätte Jesus sie nicht (wieder einmal) aufgefangen.

Die Wirklichkeit brach mit solcher Wucht über sie herein, dass sie abermals taumelte. Die Straße kippte nach rechts, dann nach links und schließlich mit einem magenumstülpenden Ruck wieder in die Waagerechte zurück. Etwas … war plötzlich nicht mehr da, ohne dass sie sagen konnte, was, aber sie spürte sein Fehlen so deutlich, als wäre ihr von einem Atemzug auf den anderen ein Körperteil abhanden gekommen. Dann – endlich – war es wirklich vorbei. Alles kehrte zur Normalität zurück, und sie fand sich in der finsteren Gasse wieder, in die sie geflohen waren.

»Was …?«, stammelte sie benommen. Die Welt schien sich noch immer um sie zu drehen, aber jetzt war es einfach nur Desorientierung, nicht mehr das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren; und das ganz eindeutig nicht im übertragenen Sinne. Der Albtraum war vorbei, wenn es denn überhaupt einer gewesen war.

Jesus grunzte eine Antwort, die sie nicht verstand, legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie herum, um sie wieder zum Anfang der Gasse zu bugsieren, aber seine Kraft reichte nur noch für einen einzigen Schritt. Er begann zu zittern, taumelte und kippte plötzlich kraftlos zur Seite. Pia roch Blut und sie spürte seinen Schmerz wie ihren eigenen; eine glühende Flamme, die sich tief in ihren Leib fraß. Dann brach er endgültig zusammen.

Pia versuchte ihn aufzufangen, aber natürlich war er viel zu schwer für sie. Sein Gewicht riss sie mit zu Boden. Sie fiel nicht wirklich, sondern sank ungeschickt auf die Knie herab, und Jesus stürzte mit einem seufzenden Laut neben ihr zu Boden.

»Jesus?!«, stieß sie erschrocken hervor. »Jesus, was ist los mit dir?«

Jesus antwortete nicht, konnte es wahrscheinlich auch gar nicht. Er rollte auf den Rücken und verdrehte die Augen.

Blasiger Schaum erschien auf seinen Lippen und färbte sich im farbenverzehrenden Licht der Nacht rosa. Seine Jacke fiel auseinander und bildete ein schmutzig graues Flügelpaar auf dem Pflaster neben ihm. Dicht unterhalb seines rechten Rippenbogens ragte der ziselierte Silbergriff eines Dolches aus seinem Leib.

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