XIX

Nein, sie war nicht überrascht, am nächsten Morgen allein aufzuwachen. Gegen alle Erwartungen war sie praktisch sofort eingedämmert und hatte wie ein Stein geschlafen, und als sie die Augen aufschlug, war Alica fort. Pia dachte mit einem sachten schlechten Gewissen an gestern Abend zurück; wobei ihr sonderbarerweise am meisten die rüde Art zu schaffen machte, auf die sie Alica zurückgewiesen hatte. Nicht dass sie irgendetwas in dieser Art ernsthaft in Betracht gezogen hätte (auch wenn sie zugeben musste, dass Alica ganz niedlich aussah, vor allem im Vergleich mit allen anderen weiblichen Wesen, denen sie bisher hier begegnet war; von den männlichen Einwohnern Liliputs gar nicht zu reden), aber es tat ihr dennoch ein wenig leid, sie so grob zurückgewiesen zu haben.

Verschlafen setzte sie sich auf und reckte sich ausgiebig. Sie gönnte sich noch ein paar Sekunden, in denen sie einfach dasaß, den undeutlichen Stimmen aus dem Erdgeschoss lauschte, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen, und darauf wartete, dass sie endlich aus diesem Albtraum erwachte oder dass wenigstens das Gefühl bleierner Schwere aus ihren Gliedern wich. Schließlich sah sie ein, dass keines von beidem geschehen würde, und stand widerwillig auf, um sich nach unten zu schleppen und sich der allmorgendlichen Herausforderung des Toilettengangs zu stellen.

Pia vergaß sowohl ihre Angst vor dem kalten Wasser als auch ihre Müdigkeit, als sie die Gaststube betrat und sah, wem die aufgebrachten Stimmen gehörten. Da waren Brack und Lasar auf der einen und Istvan und eine kleinwüchsige Frau mit rosigem Gesicht und stechenden Augen auf der anderen Seite. Es dauerte einen Moment, bis Pia sie erkannte, aber dann verschwand schlagartig auch der allerletzte Rest von Müdigkeit.

Es war Malu.

»Ah, Gaylen«, begrüßte sie Brack. Er versuchte erfreut auszusehen, wirkte aber schrecklich verunsichert und nervös. »Gut, dass du kommst! Gerade wollte ich Lasar schicken, um dich zu wecken. Es tut mir leid, dass es noch so früh ist, aber …«

»Was ist hier los?«, fragte Pia alarmiert.

Brack sah nur noch verstörter aus und begann zusätzlich mit den Händen zu ringen, und Alica sagte: »Sieht so aus, als wäre dein kleiner Stunt von gestern Abend nicht besonders gut angekommen.« Pia hatte sie bis zu diesem Moment noch nicht einmal bemerkt, was nicht nur daran lag, dass Brack, Istvan und die anderen vor der Theke am anderen Ende des Schankraumes standen, während sie selbst wieder an ihrem Lieblingsplatz vor dem Kamin saß (in dem im Übrigen kein Feuer brannte), sondern auch daran, dass Alica sich in ihrem Schemel zusammengekauert hatte und ganz gegen ihre sonstige Art intensiv versuchte, so zu tun, als wäre sie gar nicht da.

»Wie meinst du das?«, fragte Pia.

»Anscheinend hat unseren Freunden dein Rekord im Zwergenweitwurf doch nicht so gut gefallen«, antwortete Alica, ohne sie dabei direkt anzusehen.

»Hat sie recht?«, wandte sie sich an Istvan. Der Kommandant der Stadtwache runzelte fragend die Stirn, und Pia erinnerte sich wieder daran, dass er Alicas Worte ja nicht verstehen konnte. »Seid Ihr wegen gestern Abend hier?«, fügte sie erklärend hinzu, während sie zugleich Malu mit einem fragenden, ein ganz kleines bisschen auch feindselig-misstrauischen Blick maß. »Wegen Gamma Graukeil und den anderen?«

»Bitte, Gaylen, setz dich«, sagte Istvan. Er unterstrich seine Bitte mit einer Handbewegung, die eindeutig einen Befehl daraus machte. Das allein wäre schon beinahe Grund genug für Pia gewesen, der Aufforderung eben nicht nachzukommen, doch in diesem Moment registrierte sie noch etwas, was ihr bis jetzt völlig entgangen war. Ihre beiden Leibwächter waren wieder da (es waren immer noch dieselben, die anscheinend tatsächlich keinen Schlaf brauchten), und diesmal warteten sie nicht draußen vor dem Haus, sondern standen vor der halb geöffneten Tür; zwar beide in einer Haltung, die deutlich machte, wie wenig wohl sie sich in diesem Moment in ihre Haut fühlten, zugleich aber auch bedrohlich. Hätte sie noch irgendeinen Zweifel daran gehabt, spätestens dieser Anblick hätte sie überzeugt, dass Istvan nicht zu einem Freundschaftsbesuch gekommen war. Lautlos und mit einem trotzigen Schulterzucken, für das sie sich beinahe selbst hasste, setzte sie sich. Istvan nahm ihr gegenüber Platz, während Malu mit raschen Schritten um den Tisch herumging und sich hinter ihr aufstellte. Pia konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, den Kopf zu drehen und sie ärgerlich anzufunkeln.

»Ich nehme nicht an, dass Ihr aus reiner Freundschaft gekommen seid«, begann sie übergangslos. »Was ist passiert?«

»Das kannst du dir nicht denken?«, gab Istvan zurück. Pia fiel es immer schwerer, seinem Blick standzuhalten. Etwas war darin, das sie erschreckte.

»Nein«, antwortete sie.

»Lass dich nicht von ihm ins Bockshorn jagen«, sagte Alica. »Ich habe zwar nicht genau verstanden, worum es ging, aber sie scheinen …«

»Wenn deine Sklavin nicht in unserer Sprache reden kann«, sagte Istvan eisig, »dann sollte sie besser schweigen.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.

»Nichts.« Pia machte eine rasche Geste, still zu sein, und Alica wäre nicht Alica gewesen, hätte sie nicht zumindest noch ein trotziges Schnauben hervorgestoßen, aber sie schien den Ernst der Situation durchaus zu begreifen, denn sie schwieg.

»Du hast mich gefragt, warum ich hier bin«, begann Istvan, »und ich hätte geglaubt, dass du dir das denken kannst.«

»Es ist wegen der Zwerge, habe ich recht?«

Istvan nickte.

»Aber gestern Nacht habt Ihr noch gesagt …«

»Gestern Nacht«, fiel ihr Istvan ins Wort, »war gestern Nacht. Die Dinge ändern sich. Und ich … habe über das eine oder andere nachgedacht. Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.«

Pia konnte sich gerade noch verkneifen zu antworten, dass diesen Fehler eher seine Eltern gemacht hatten, und das schon vor ziemlich vielen Jahren. Sie sah ihn nur fragend an.

»Ich war zu großzügig«, fuhr Istvan fort. »Ich kann dir nicht allein die Schuld daran geben. Es wäre ungerecht. Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl und ich hätte auf dieses Gefühl hören sollen.«

Pia hörte, wie sich Malu hinter ihr bewegte, und ihr entging auch keineswegs der rasche (und alles andere als verstohlene) Blick, den Istvan mit ihr tauschte, bevor er weitersprach. »Ich habe es Brack bereits gesagt, aber ich bin froh, dass ich es dir auch selbst mitteilen kann. Es war noch nie meine Art, andere vorzuschicken und sie schlechte Nachrichten überbringen zu lassen.«

»Schlechte Nachrichten?«, wiederholte Pia. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie diese schlechten Nachrichten aussahen, aber sie wollte, dass er es aussprach und ihr dabei in die Augen sah.

»Ich fürchte, ich muss die Zusage rückgängig machen, die ich Brack und dir gegeben habe.«

»Welche Zusage?«, fragte Pia.

»Das alles hier«, antwortete Istvan. Er machte eine ausholende Handbewegung, die das gesamte Lokal einschloss. »Ich dachte, es wäre eine gute Idee, Brack ein beschützendes Auge auf dich und deine Freundin werfen zu lassen und auf diese Weise gleichzeitig dafür zu sorgen, dass ihr ein Dach über dem Kopf habt und nicht etwa in Gefahr geratet oder gar in schlechte Gesellschaft.«

Pia dachte einen Moment lang über diese Reihenfolge nach und tat die Frage dann mit einem gedanklichen Schulterzucken ab. Wahrscheinlich meinte er es ganz genau so. »Und jetzt ist das nicht mehr so?«

»Wie gesagt, manche Dinge ändern sich. Manche Ideen scheinen auf den ersten Blick gut und stellen sich im Nachhinein als schlecht heraus.«

»Vor allem wenn man sie lange genug mit Malu diskutiert«, vermutete Pia.

Istvan brachte das Kunststück fertig, nicht nur nicht zu Malu aufzublicken, sondern auch ein vollkommen überzeugend verwirrtes Gesicht zu machen, als wüsste er mit dieser Frage im allerersten Moment nichts anzufangen. Dann lächelte er flüchtig. »O nein«, sagte er. »Malu hat nichts damit zu tun. Wir sind uns zufällig auf dem Weg begegnet, das ist alles.«

»Rein zufällig«, sagte Pia. »Und weil ihr so gute Freunde seid, habt ihr beschlossen, ein kleines Stück zusammen zu gehen, nicht wahr?«

Istvan machte nur ein unwilliges Gesicht, fuhr aber mit immer noch ehrlich bedauernd klingender Stimme fort:

»lch war mir über die Konsequenzen eures Hierseins nicht im Klaren. Seit deine Sklavin und du in der Stadt seid …«

»Wenn es um gestern Abend geht …«, begann Pia, und diesmal unterbrach Istvan sie in zwar immer noch nachsichtigem, aber hörbar lauterem Ton:

»Es geht nicht um gestern Nacht. Nicht nur.«

»Die Zwerge haben mit dem Streit angefangen«, sprang ihr Brack bei. »Dafür gibt es drei Dutzend Zeugen.«

Istvan seufzte. »Wir alle kennen Gamma Graukeil und seine Saufkumpane zur Genüge und wissen, wie sie sind. Aber es geht nicht nur um die Zwerge.« Er lächelte flüchtig. »Es gibt wohl niemanden in der Stadt, der sich nicht insgeheim schon lange gewünscht hätte, dass ihnen einmal jemand ihre Grenzen aufzeigt.«

»Warum habt Ihr das dann nicht schon längst getan?«, erkundigte sich Pia. Istvans Miene verdüsterte sich ein ganz kleines bisschen, und ihre innere Stimme gemahnte sie zur Vorsicht. Istvan hatte ohnehin schon eine Menge von seiner sowieso nur aufgesetzten Freundlichkeit verloren, und sie tat sich gar keinen, dem Stadtkommandanten dafür aber möglicherweise einen umso größeren Gefallen, wenn sie ihm einen Grund gab, auch noch den Rest von seiner geschauspielerten Nettigkeit aufzugeben. Pia rettete sich in ein leicht verlegen wirkendes Lächeln und fuhr mit einem fragenden Blick und einer angedeuteten Geste in die Runde fort: »Ich habe gestern Abend gesehen, wie wenig beliebt diese Zwerge hier zu sein scheinen. Und wie streitsüchtig sie sind.«

»Und wie stark«, fügte Malu hinter ihr hinzu.

Pia tat so, als hätte sie das nicht gehört.

»Das ist wahr«, sagte Istvan. »Aber darum geht es nicht. Gamma Graukeil ist ein übler Schläger und Saufbold, aber tief im Grunde seines Herzens ist er doch ein vernünftiger Mann. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass es sich nicht lohnt, in dieser Angelegenheit irgendetwas zu unternehmen.«

»Das klingt jetzt nicht unbedingt nach einem Kompliment für mich«, gab Pia zurück. Die lautlose Stimme in ihr wurde immer hysterischer. Sie versuchte ihr klarzumachen, dass sie dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden, und Pia fiel beim besten Willen kein Argument ein, das dagegen sprach.

»Ihr seid fremd hier und kennt weder unser Leben noch unsere Sitten und Gebräuche«, fuhr Istvan fort. »Aus diesem Grund könnt ihr auch nicht verstehen, was der gestrige Zwischenfall unter Umständen bedeuten könnte.«

»Nein, das verstehe ich in der Tat nicht«, antwortete Pia, noch immer lächelnd, dennoch aber zugleich hörbar ernster. »Ich will ehrlich zu Euch sein, Istvan: Ich habe Euch nie für einen Mann gehalten, den ich zum Freund haben möchte. Aber ich habe Euch immer für einen Mann gehalten, der seine Aufgabe ernst nimmt und zu seinem Wort steht.«

Sie sah nicht hin, doch sie konnte spüren, wie sich Malu hinter ihr versteifte, und Bracks erschrockenes Stirnrunzeln entging ihr ebenso wenig. Istvans Blick wurde noch ein bisschen lauernder.

»Wenn ich mich richtig erinnere«, fuhr sie fort, »dann haben Alica und ich Euch eine nicht ganz so kleine Summe bezahlt, damit Ihr und Eure Männer für unsere Sicherheit sorgt.« Istvan wollte auffahren, doch Pia hob rasch die Hand und sprach mit einem angedeuteten Kopfschütteln und einem bewusst kühlen Lächeln weiter: »In unserer Heimat ist so etwas nicht üblich. Dort, wo wir herkommen, sorgt die Obrigkeit für Ordnung und Ruhe, ohne dass die Menschen extra dafür bezahlen müssen. Wenn es bei euch anders ist, so müssen wir das akzeptieren. Aber wir habenbezahlt, und dennoch war gestern Abend niemand zur Stelle, als ich Hilfe nötig gehabt hätte.«

Aus dem unbehaglichen Ausdruck auf Bracks Gesicht wurde pures Entsetzen, und sie konnte hören, wie Malu hinter ihr scharf die Luft durch die Nase einzog. Selbst Alica riss die Augen auf und starrte sie ungläubig an. Nur Istvan reagierte ganz anders, als sie befürchtet hatte: Sein Blick wurde für einen kurzen Moment nahezu durchbohrend, und seine Hände, die bisher flach nebeneinander auf der Tischplatte gelegen hatten, umklammerten für die Dauer eines halben Herzschlages die Tischkante so fest, als wollte er das Möbelstück einfach zerbrechen. Dann aber lächelte er verzeihend und schüttelte fast sanft den Kopf.

»Ich hatte nicht den Eindruck, als wäret ihr unbedingt auf Hilfe angewiesen«, erwiderte er. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich bin bis jetzt nicht ganz sicher, wem meine Männer und ich wirklich zu Hilfe gekommen sind.«

Das hätte eigentlich nicht funktionieren sollen. Den Trick, Kritik durch eine plumpe Schmeichelei zu entkräften, hatte Pia schon gelernt, bevor sie überhaupt richtig sprechen konnte, und es in einer Situation wie dieser zu versuchen, grenzte beinahe an eine Beleidigung. Aber es funktionierte dennoch; Pia ertappte sich bei einem knappen, geschmeichelten Lächeln – und das Wissen, wie unsinnig diese Behauptung in Wahrheit war, änderte rein gar nichts daran. Sie hatte die Zwerge überrumpelt, denn diese hatten mit allem gerechnet, nur nicht mit einer so heftigen Gegenwehr oder gar damit, dass sie ihrerseits zum Angriff übergehen könnte. Hätte der ungleiche Kampf auch nur wenige Augenblicke länger gedauert, dann säße sie jetzt vermutlich nicht hier.

»Aber darum geht es nicht?«, vermutete sie.

»Wie gesagt: Ich konnte Gamma Graukeil und seine Begleiter beruhigen«, fuhr Istvan fort. »Aber darum geht es wirklich nicht. Es geht um dich. Um dich und deine Sklavin.«

»Das habe ich verstanden«, sagte Alica.

Pia sah sie überrascht an.

»Das letzte Wort hieß Sklavin, habe ich recht?«, vergewisserte sich Alica. Sie machte ein grimmiges Gesicht. »Manche Worte merke ich mir.«

»Und was haben wir so Schreckliches getan?«, wandte sich Pia mühsam beherrscht wieder an Istvan. »Außer dass ich mich gewehrt habe, meine ich. Wenn ich damit gegen irgendein Gesetz verstoßen haben sollte, dann bedauere ich es. Ich wusste nicht, dass es in dieser Stadt einer Frau nicht gestattet ist, ihre Ehre zu verteidigen.«

Istvans Blick wurde noch ein bisschen bohrender, und Pia begann sich nun allmählich wirkliche Sorgen um Bracks Tischkante zu machen, doch seine Stimme blieb ruhig. »Ihr stört die Ordnung hier in der Stadt, Gaylen.« Er hob rasch die Hand, als sie widersprechen wollte. »Wenn das, was du über eure Heimat erzählst, die Wahrheit ist, dann müssen die Menschen dort sehr glücklich und sehr zufrieden sein. Hier ist es so, dass die Menschen für ihre Sicherheit bezahlen. Sie bezahlen mich, und ich nehme diese Aufgabe ernst. Gestern Abend habe ich das bewiesen. Ihr habt dafür bezahlt, dass wir euch beschützen. Doch auch die anderen hier bezahlen für diesen Schutz, und ich bin ihnen dasselbe schuldig wie deiner Sklavin und dir.«

»Warum sagst du es nicht, wie es ist, Istvan?«, fragte Malu hinter ihr. Pia setzte nun doch dazu an, sich halb herumzudrehen und ihr einen zornigen Blick zu gönnen, doch Malu nahm ihr die Mühe ab, indem sie mit schnellen Schritten um den Tisch kam und sich jetzt unmittelbar hinter Istvan aufstellte. Obwohl sie selbst für hiesige Verhältnisse so klein war, dass sie den Stadtkommandanten sogar im Stehen kaum überragte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter, eine Geste, die in den Augen aller anderen hier vielleicht einfach freundschaftlich oder vertraut wirkte. In denen Pias war sie eindeutig besitzergreifend, und sie zweifelte keinen Sekundenbruchteil daran, dass sie es auch sein sollte.

»Seit sie und ihre Sklavin hier sind, ist alles durcheinander«, fuhr Malu fort. »Sie sorgt für Unruhe. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte.«

»Du meinst, du spürst die Konkurrenz?«, fragte Pia gelassen.

»Als ob es mir darum ginge!«, begehrte Malu auf. Ihr Blick behauptete das Gegenteil. »Ihr stört das Leben in der Stadt. Die Männer gehen nur noch ins Wirtshaus, um euch zu begaffen. Morgens sind sie müde, schlecht gelaunt und verkatert, weil sie bis tief in die Nacht hiersitzen, und am Abend können sie ihre Arbeit gar nicht schnell genug liegen lassen, um wieder hierherzukommen. Die Frauen beschweren sich, weil sie ihre Männer kaum noch sehen, und wenn, dann sind sie betrunken oder schwärmen von der Elfenprinzessin aus dem Osten.«

»Und dir bleiben die Kunden weg?«, vermutete Pia.

Malu wollte auffahren, doch diesmal war sie es, die von Istvan mit einer raschen Geste zum Schweigen gebracht wurde. »Auch das«, antwortete er, nickend und mit einem knappen und nicht mehr ganz unterdrückten Lächeln, das aber nur Pia sah und Malu nicht. »Doch das allein wäre für mich kein Grund, hierherzukommen. Malu hat völlig recht. Ganz WeißWald steht kopf, seit du und deine Sklavin hier seid. Das muss aufhören.«

»Aber Istvan!«, mischte sich Brack ein. Selbst in seiner Stimme war jetzt eine hörbare Spur von Verzweiflung. »Wir waren uns doch einig, dass …«

»Wie gesagt«, unterbrach ihn Istvan kühl. »Manchmal ändern sich Dinge.«

»Und was genau bedeutet das jetzt?«, fragte Pia geradeheraus. »Nur damit mich meine Erinnerung nicht täuscht: Wart Ihr es nicht, der darauf bestanden hat, dass wir uns eine Arbeit suchen und irgendwo unterkommen?«

Sie behielt Istvan bei diesen Worten aufmerksam im Auge, registrierte aber trotzdem das kurze, fast triumphierende Aufblitzen in Malus Blick.

»Vorerst noch nichts«, antwortete Istvan. »Ich muss gründlich darüber nachdenken, was jetzt weiter geschieht. Ich bin hergekommen, um euch zu warnen. Noch ein einziger Zwischenfall wie der gestern Abend – oder der vor einigen Tagen auf dem Markt –, und ich muss mir überlegen, ob ich euch weiter gestatten kann, in WeißWald zu bleiben.«

Der Zwischenfall auf dem Markt? Pia war nicht ganz klar, wovon Istvan sprach: ihrem Besuch in Valorens Zelt oder Flammenhufs Flucht. Sie zog es vor, nicht danach zu fragen. »Weiter in WeißWald zu bleiben?«, wiederholte sie. »Ihr meint, Ihr würdet uns aus der Stadt werfen?« Istvan schwieg. »Und wohin sollen wir gehen?«

Istvan schwieg beharrlich weiter.

»Niemand wird euch aus der Stadt werfen, mein Kind«, sagte Malu an seiner Stelle. »Doch ihr müsst aufhören, die Ordnung der Dinge zu stören. Dieser Verfall der Sitten muss ein Ende haben.«

Pia wollte es nicht, aber sie riss ungläubig die Augen auf und starrte die Bordellbesitzerin an. Verfall der Sitten? Ausgerechnet aus ihrem Mund?

»Schau dich bloß an, wie du aussiehst!«, fuhr Malu fort. Sie wedelte aufgeregt mit der Hand. »Einem jeden anständigen Mann müssen schlechte Gedanken kommen, wenn er dich nur ansieht!«

Pia tat ihr den Gefallen, an sich selbst hinabzublicken. Auch sie war der Meinung, dass sie einen seltsamen Anblick bot: Seit sie hergekommen waren, hatten Alica und sie sich angewöhnt, in ihren Kleidern zu schlafen, weil es einfach zu kalt war, um sich nur auf die erbärmlich dünne Decke zu verlassen, die auf dem Bett lag. Ihr war so kalt, dass sie dicht davor stand, mit den Zähnen zu klappern und ihr Atem als grauer Dunst vor ihrem Gesicht erschien, wenn sie sprach. Die Kleider, die Aressa für Alica und sie geschneidert hatte, mochten für hiesige Verhältnisse ja verführerisch aussehen (auch wenn sich in Rio de Janeiro vermutlich eine militante Nonne geweigert hätte, so etwas zu tragen), gleichzeitig bezahlte sie für diese modische Entgleisung damit, noch mehr zu frieren. Und dass sie seit einer Woche in diesem Fetzen schlief, hatte ihn nicht unbedingt besser gemacht. Allerdings glaubte sie gar nicht, dass Malu das gemeint hatte. Sie hob wieder den Kopf und sah die Zwergin fragend und mit dem eisigsten Lächeln an, das sie zustande brachte. Malu ihrerseits starrte zurück, und es vergingen noch einmal Sekunden, bis Pia begriff, was genau sie so erzürnte.

Was sie allerdings nur noch zorniger machte.

Sie erinnerte sich schwach, gestern Abend sogar mit Kopftuch schlafen gegangen zu sein, aber irgendwann im Laufe der Nacht musste es ihr wohl hinuntergerutscht sein, und sie hatte es bisher nicht einmal bemerkt. Malu starrte aber eindeutig ihr Haar an. Trotzig ließ Pia eine dünne weißblonde Strähne durch die Finger gleiten. In Malus Augen blitzte es erneut und jetzt schon beinahe hasserfüllt auf, während sich auf Istvans Gesicht ein vollkommen anderer Ausdruck abzeichnete; allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er von einem heftigen Schuldbewusstsein und daraus resultierendem Zorn abgelöst wurde.

»Ich bitte Euch, Istvan«, sagte Brack. Er begann immer heftiger mit den Händen zu ringen, und sein Blick irrte unstet zwischen Istvans und Pias Gesicht hin und her, wobei er sorgsam darauf achtete, Malu gar nicht anzusehen. »Wir sind doch alle vernünftige Menschen. Es wird uns sicher möglich sein, eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind.« Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich gebe zu, es ist meine Schuld. Ich hätte besser darauf achtgeben sollen. Ihr und ihrer Freundin sind unsere Gebräuche nicht bekannt. Was uns anzüglich oder unsittlich erscheinen mag, das ist dort, wo sie herkommen, vielleicht ganz normal, und umgekehrt.«

»Das mag sein«, sagte Malu schneidend. »Nur dass wir hier nicht da sind, wo sie und ihre Freundin herkommen.«

Istvan brachte sie mit einer unwilligen Geste zum Schweigen, die er gleichzeitig benutzte, um ihre Hand wie zufällig von seiner Schulter zu schütteln. Malu dankte es ihm mit einem zornigen Blick, der noch um einiges wütender wurde, als sie dem schadenfrohen Funkeln in Pias Augen begegnete.

»Worauf willst du hinaus?«, wandte er sich an Brack.

»Ich verbürge mich dafür, dass so etwas nicht wieder vorkommt«, sagte Brack. Er versuchte ruhig zu klingen, erreichte damit aber eher das genaue Gegenteil. »Ich werde den Weißen Eber um Mitternacht schließen, und ich werde ein paar Leute einstellen, die darauf achten, dass hier niemand mehr Schwierigkeiten macht.«

»Das können meine Männer übernehmen«, sagte Istvan; vielleicht eine Spur zu schnell, um in Pia nicht den bösen Verdacht aufkommen zu lassen, dass er nur auf dieses Stichwort gewartet hatte. Seine Männer würden diesen Job gerne übernehmen, vermutete sie. Gegen angemessene Bezahlung.

»Das … wäre sehr freundlich von Euch«, antwortete Brack nervös.

»Und ich werde zwei weitere Männer abstellen, die euch auf Schritt und Tritt bewachen«, fuhr Istvan fort, direkt an Pia gewandt. »Jedenfalls, solange sich Graukeil und die anderen noch in der Stadt befinden.« Er deutete auf Brack, ohne dass sein Blick Pias Gesicht dabei losließ. »Brack wird auch die Kosten dafür übernehmen müssen, die nicht unbeträchtlich sind. Also solltest du dich ein wenig dankbar ihm gegenüber erweisen.«

Ihm oder dir?, dachte Pia. Die Frage, wie genau er sich diese Dankbarkeit vorstellte, konnte sie sich gerade noch verkneifen, aber Istvan musste sie wohl irgendwie auf ihrem Gesicht gelesen haben, denn sein Blick kühlte um mehrere Grade ab.

»Und nur, damit dir der Ernst der Situation bewusst wird: Was immer auch geschieht, solange ihr weiter unter Bracks Obhut steht, ich werde ihndafür verantwortlich machen und keine Ausreden gelten lassen.«

»Ich verstehe Euren plötzlichen Sinneswandel nicht ganz«, sagte Pia. »Wir haben nur getan, was Ihr selbst von uns verlangt habt. Wir wollten niemandem Ärger bereiten. Brack nicht, und Euch schon gar nicht.«

»Niemand macht euch einen Vorwurf«, antwortete Istvan. »Im Gegenteil. WeißWald ist stolz auf seine Gastfreundschaft und darauf, dass sich Fremde in seinen Mauern sicher fühlen können. Aber das kann und wird nicht dazu führen, dass die Sicherheit seiner Bewohner oder die öffentliche Ordnung darunter leiden.«

»Und was sollen wir Eurer Meinung nach tun?«, fragte Pia vorsichtig.

»Nichts, solange keine weiteren Vorfälle geschehen«, antwortete Istvan. Er stand auf. »Ich bin nicht hierhergekommen, um dir und deiner Sklavin zu drohen, Gaylen. Sieh es als Warnung an. Ich gestehe es ungern ein, aber Malu hat recht. Seit ihr hier seid, breitet sich Unruhe in der Stadt aus. Das muss aufhören.«

»Und wenn nicht?«, fragte Pia. Sie deutete ein Achselzucken an. »Natürlich werden Alica und ich alles tun, was Ihr von uns verlangt, schon um Brack keinen Ärger zu bereiten – und uns auch nicht. Aber es wäre ja immerhin möglich, dass jemand es darauf anlegt, uns Ärger zu machen.«

»Das ist durchaus denkbar«, gab Istvan unumwunden zu. »Ihr müsst eben vorsichtig sein.«

»Oder du überdenkst noch einmal das Angebot, das ich dir und deiner Freundin gemacht habe«, fügte Malu hinzu. »Mein Haus steht dir jederzeit offen.«

»Ich bin keine …«, begehrte Pia auf, doch Malu hob rasch die Hand und unterbrach sie mit einer entsprechenden Bewegung und einem fast überzeugenden Lächeln.

»Aber das weiß ich doch, mein Kind«, sagte sie. »Mir wäre nie auch nur der Gedanke gekommen, mich mit einem solchen Ansinnen an dich zu wenden. Natürlich sollst du nicht unseren Gästen zu Diensten sein … jedenfalls nicht so, wie du zu glauben scheinst.«

»Und wie dann?«, erkundigte sich Pia misstrauisch.

»Es würde vollkommen reichen, wenn du da bist«, antwortete Malu ruhig. »Ich will dir nichts vormachen. Dazu mag ich dich zu sehr, und du bist viel zu klug, als dass es Sinn hätte, es auch nur zu versuchen.«

»Das stimmt«, antwortete Pia kühl.

»Natürlich bin ich daran interessiert, dass du für mich arbeitest«, gestand Malu lächelnd. »So, wie ich es Brack schon mehrmals gesagt habe. Deine Anwesenheit allein würde schon reichen, um mehr Kunden anzulocken. Reiche Kunden, nicht die armen Schlucker, die hier verkehren und ihre letzten Heller zusammenkratzen, um einen Krug verdünntes Bier bezahlen zu können. Ich würde euch besser bezahlen, ihr hättet ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Kamin und so viel Brennholz, wie ihr nur wollt – und ich könnte besser für eure Sicherheit garantieren.«

»Besser als Brack und Istvans Soldaten?«

»Ein Haus, in dem nur wenige Besucher ein und aus gehen«, antwortete Malu, »ist leichter zu bewachen als eines mit vielen Gästen.«

Brack wollte auffahren, doch Istvan brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen. »So weit ist es noch nicht«, sagte er. »Wir werden jetzt gehen, und ich verlasse mich darauf, dass ich nur als Gast zurückkommen muss.«

»Darauf habt Ihr mein Wort«, versicherte Brack hastig.

Istvans Antwort bestand nur in einem verächtlichen Verziehen der Lippen. Einen halben Atemzug lang durchbohrte er Pia noch regelrecht mit Blicken, dann drehte er sich um und verließ zusammen mit Malu den Schankraum. Zu Pias leiser Überraschung gingen auch die beiden Soldaten, wenn auch zweifellos nur bis zur anderen Straßenseite, um dort wieder ihre Posten zu beziehen.

»Und jetzt, wo wir sozusagen unter uns sind«, sagte Alica, »würde es dir etwas ausmachen, deiner unwürdigen Sklavin zu erklären, was das alles gerade zu bedeuten hatte?«

Pia erklärte es ihr mit knappen Worten, und Alicas Miene verdüsterte sich noch einmal um mehrere Zehnerpotenzen. Mit funkelnden Augen wandte sie sich an Brack.

»Ist das wahr?«

Brack schauspielerte einen fast perfekten verständnislosen Blick, und Pia übersetzte, vollkommen überflüssigerweise: »Ist es wahr, was Malu gesagt hat? Dass sie schon ein paarmal hier gewesen ist?«

Brack nickte widerwillig.

»Und warum hast du uns nichts davon gesagt?«, fragte Pia.

»Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr ihren Vorschlag annehmen würdet«, antwortete er lahm.

»Oder hattest du eher Angst, wir könnten es tun?«, fragte sie.

»Hättet ihr es?«, fragte Brack ruhig.

»Nein«, antwortete Pia. »Aber vielleicht hätten Alica und ich diese Entscheidung gern selbst getroffen.«

»Es … tut mir leid«, sagte Brack. »Ich war egoistisch, aber es ging mir nicht nur um mich. Malu ist nicht zu trauen.«

»Du meinst, sie hat gelogen, als sie behauptet hat, uns besser beschützen zu können als Istvan und du?«

Brack schüttelte den Kopf und lächelte das humorloseste Lächeln, das man sich nur vorstellen konnte. »Nein. Wenn es in dieser Stadt jemanden gibt, der euch beschützen kann, dann ist es Malu. Ich hätte es wissen müssen.«

»Was hättest du wissen müssen?«, fragte Pia.

»Dass es keinen Sinn hat, sich gegen sie zu stellen«, antwortete Brack. Er klang ein bisschen bitter. »Sie bekommt immer, was sie will.«

»Von Istvan jedenfalls, wie es aussieht«, sagte Pia, doch Brack schüttelte nur den Kopf.

»Nicht nur von Istvan. Es gibt niemanden in der Stadt, der sie nicht fürchten würde.«

Es dauerte noch einen kurzen Moment, aber dann begriff Pia. »Du meinst, der Elfenturm ist nicht das Einzige, worüber sie herrscht?«

Brack lachte noch einmal und noch humorloser. »Es gibt manche hier in der Stadt, die behaupten, sie wäre die wahre Herrscherin über WeißWald«, sagte er.

»Und?«, fragte Pia. »Ist das die Wahrheit?«

»Es ist übertrieben«, sagte Brack. »Aber vielleicht nicht allzu sehr. Auch wenn Istvan es nicht zugeben würde, gibt es nicht nur ehrliche Menschen hier.«

»Und Malu gehört dazu?«

»Malu?« Brack schüttelte noch einmal und noch heftiger den Kopf. »O nein. Sie würde nie etwas tun, was nicht Recht und Gesetz entspricht. Sie ist eine vorbildliche Bürgerin.«

»Die ein Freudenhaus leitet.«

»Jemand muss es tun«, erwiderte er schulterzuckend. »Und, wie gesagt: Sie hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.

»Ja, da bin ich sicher«, sagte Pia. »Sie selbst würde vielleicht niemals etwas tun, was Istvans Missfallen erregt oder gegen eure Gesetze verstößt. Aber sie kennt genügend Leute, die es für sie erledigen.«

Brack sah sie einen Atemzug lang mit undeutbarem Ausdruck an, dann stahl sich ein dünnes, rasch vergängliches Lächeln auf seine Lippen. »Das klingt, als gäbe es auch dort, wo ihr herkommt, Menschen wie Malu.«

»Und Istvan«, fügte Pia hinzu. Jetzt war sie es, die kurz und sehr bitter lächelte. »Ich glaube, solche Menschen gibt es überall. Ja, ich kenne sie.«

»Also, ich bin ja die Letzte, die kein Verständnis dafür hat, dass ihr zwei Süßen Geheimnisse vor mir habt«, mischte sich Alica ein. »Trotzdem würde ich gern an eurem kleinen Gespräch teilhaben.«

Pia stand nicht der Sinn danach, auf Alicas Albernheiten einzugehen. Sie übersetzte verkürzt, aber vollkommen korrekt, was Brack ihr gerade erzählt hatte, und Alica nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet.

»Na prima«, nörgelte sie. »Da hätten wir ja eigentlich auch gleich zu Hause bleiben können. Wo genau ist jetzt der Unterschied zwischen den Peraltas und Malu?«

»Malu schießt nicht auf uns«, sagte Pia. Ganz sicher, dass das auch so bleiben würde, war sie jedoch nicht, und Alica schien es wohl ganz ähnlich zu ergehen. Sie schürzte nur die Lippen, machte ein unanständiges Geräusch und warf dann einen sehnsüchtigen Blick auf den erloschenen Kamin. Brack folgte ihrer Kopfbewegung, drehte sich ächzend auf seinem Schemel herum und machte eine knappe, befehlende Geste. Pia erinnerte sich erst in diesem Moment wieder an Lasar, der die ganze Zeit über dabei gewesen war, sich aber wohlweislich mucksmäuschenstill im Hintergrund gehalten hatte. Jetzt eilte er zum Kamin, legte eine Handvoll Reisig auf die kalt geworden Asche, die von der vergangenen Nacht übrig geblieben war, und griff in die Tasche seiner zerschlissenen Weste, um zwei winzige, abgenutzte Feuersteine hervorzukramen. Alica beobachtete ihn einen Moment lang stirnrunzelnd und nahm dann ihr Feuerzeug heraus, doch sie kam nicht einmal dazu, den Deckel des Zippo aufzuklappen, bevor Lasar seine Feuersteine benutzt und schon mit dem ersten Versuch ein winziges Flämmchen produziert hatte, das er geschickt anblies. Alica sah ein bisschen beleidigt aus, beließ es aber bei einem Schulterzucken und wandte sich an Brack, während sie das Feuerzeug wieder einsteckte.

»Und was genau bedeutet das jetzt für uns?«

Pia übersetzte und Brack sagte düster:

»Ich weiß es nicht. Solange nichts passiert, wird es Istvan schwerfallen, einen Grund zu finden, um das Wort zu brechen, das er mir gegeben hat.«

»Solange nichts passiert«, wiederholte Pia. Sie lächelte freudlos. »Wieso habe ich nur das Gefühl, dass etwas passieren wird?«

»Nicht, solange ihr das Haus nicht verlasst und ich darauf achte, wer hereinkommt und wer nicht.«

»So, wie die Zwerge gestern Abend?«, fragte Alica, nachdem Pia übersetzt hatte.

Brack musste wohl irgendwie begriffen haben, was sie gesagt hatte, auch ohne dass Pia übersetzte. »Das war etwas anderes«, behauptete er. »Niemand wagt es, Gamma Graukeil abzuweisen, wenn er Einlass begehrt.«

»Ja, das schien mir auch so«, bestätigte Pia. »Selbst Istvan scheint sie zu fürchten. Sind sie wirklich so schlimm?«

»Gamma Graukeil ist ein übler Schläger und Raufbold. Du hast Glück, dass du noch lebst, Mädchen.«

Gamma Graukeil … Pia wiederholte den Namen und wunderte sich ein bisschen über das vertraute Echo, das er tief in ihr wachrief. Dabei war sie ganz sicher, ihn noch nie zuvor gehört zu haben. Und wie auch?

»Aber nicht alle Zwerge sind wie Graukeil und seine Kumpane«, antwortete Brack. »Aus den Minen von Ostengaard kommt das allermeiste Erz in diesem Teil des Landes. Streit mit den Zwergen würde kaum Krieg bedeuten, möglicherweise aber steigende Preise.«

»Und davor hat Istvan mehr Angst als vor einem Krieg«, vermutete Pia, »weil das seinen Gewinn schmälern könnte.«

Brack antwortete nur mit einem Grinsen.

»Es tut mir trotzdem leid«, sagte Pia noch einmal. »Ich wollte dir keinen Ärger bereiten.«

»Er wäre größer, wenn du jetzt tot wärst«, sagte Brack ernst. Dann grinste er plötzlich wieder. »Und heute Abend kommen wahrscheinlich noch mehr Gäste, weil sie hoffen, eine kostenlose Sondervorstellung zu bekommen.« Er musste wohl ahnen, was Pia darauf antworten würde, denn er machte eine rasche Bewegung, als wolle er sein Gesicht schützen, falls sie etwa auf die Idee kommen sollte, ihn zu schlagen, grinste zugleich aber noch breiter und sogar beinahe überzeugend. »Lass mich ein wenig nachdenken. Ich weiß, ich bin darin nicht so gut wie du, aber ich kenne Istvan, und ich habe vielleicht auch noch den einen oder anderen Trick auf Lager.«

Das klang sehr viel mehr nach etwas, woran er glauben wollte als nach wirklicher Überzeugung, fand Pia, doch sie war viel zu verwirrt, um irgendetwas wirklich Intelligentes entgegnen zu können. Sie hob nur die Schultern und lächelte ebenso unecht wie Brack, und nach einem weiteren, quälend langen Moment stand er auf und ging.

Pia blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie. Sie wollte wütend werden, aber es gelang ihr nicht. Sie war einfach nur niedergeschlagen. »Noch drei Tage, und … und dann kommt uns diese … diese gierige Puffmutter dazwischen!«

»Drei Tage bis was?«, fragte Alica.

»Bis zum Viehmarkt. Schon vergessen?«

»Du willst wirklich dorthin gehen?«, fragte Alica. »Zu einer Verabredung mit jemandem, den wir nicht kennen und … und an dessen Namen du dich nicht einmal mehr erinnerst?«

»Fällt dir etwas Besseres ein?«

Alica sah sie eine ganze Weile lang nachdenklich an. Dann nickte sie. »Ich glaube schon.«

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