Petachs Geschichte (1)

Selbst das Wetter schlug Kapriolen. Am Nachmittag begann es zu schneien, obwohl sich am Himmel nicht eine einzige Wolke gezeigt und Minuten zuvor noch strahlender Sonnenschein geherrscht hatte. Und nicht genug damit - aus dem ersten, lautlosen Fallen der weißen Flocken wurde binnen weniger Minuten ein wahrer Schneesturm, der um das Haus heulte und wie mit unsichtbaren Fäusten an den Fensterläden riß, und es wurde in kürzester Zeit so dunkel, daß sich die automatische Gartenbeleuchtung einschaltete.

Das Heulen des Sturms weckte Aton. Es war nicht seine Art, tagsüber zu schlafen. Aber nach den Aufregungen der letzten beiden Tage war er heute gar nicht richtig wach geworden; außerdem erschien es ihm angeraten, seinem Vater für eine Weile aus dem Weg zu gehen, bis sich dessen schlechte Laune halbwegs gelegt hatte, und noch einmal in Ruhe über seinen Entschluß nachzudenken, seine Eltern ins Vertrauen zu ziehen. So hatte er sich am frühen Nachmittag in sein Zimmer verkrochen, auf dem Bett ausgestreckt und die Ereignisse der letzten Tage noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen.

Er erinnerte sich nicht, eingeschlafen zu sein. Wohl aber, einen Alptraum gehabt zu haben, einen von der besonders unangenehmen Sorte, in dem man rennt und rennt, ohne wirklich von der Stelle zu kommen, und genau weiß, daß man von irgend etwas Schrecklichem, unvorstellbar Gefährlichem verfolgt wird, etwas, was einen unweigerlich einholte, sobald man den Fehler beging, sich zu ihm herumzudrehen und es anzublicken.

Er erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, und er war nicht sicher, ob er nicht im Schlaf geschrieen hatte. Aber wenn, so hatte es niemand gehört. Im Haus war es still, bis auf das Toben des Sturms draußen und das gelegentliche Klappern eines Fensterladens oder eines lockeren Dachziegels; Geräusche, die beunruhigend, trotzdem aber normal waren. Das unheimliche Heulen und Wehklagen, das er in seinem Traum zu hören geglaubt hatte, war nichts als die Stimme des Sturms gewesen. Ein Traum, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Ein schlimmer Traum, aber trotzdem nicht mehr. In letzter Zeit schien das zu einer unangenehmen Angewohnheit zu werden.

Aton setzte sich auf und blinzelte einen Moment lang verwirrt zu dem winzigen grünen Licht empor, das über der Tür angegangen war. Erst dann fiel ihm ein, daß es zu einer der zahlreichen technischen Spielereien gehörte, die seine Eltern in den letzten Jahren im Haus hatten installieren lassen. Die Alarmanlage hatte sich automatisch in den Stand-by-Modus geschaltet, als es draußen dunkel geworden war. Wenn man jetzt das Haus verließ oder betrat, hatte man genau dreißig Sekunden Zeit, die Tür wieder zu schließen oder einen verborgenen Schalter zu drücken, ehe die Sirene losplärrte; und dann noch einmal sechzig Sekunden, um zu verhindern, daß auf der nächsten Polizeiwache automatisch Alarm ausgelöst wurde. Und das war nur eine von mehreren Sicherheitsvorkehrungen, die sein Vater getroffen hatte, um unerwünschten Besuchern den Zugang zum Haus zu erschweren. Aton hatte sich über das seiner Meinung nach übertriebene Sicherheitsbedürfnis seines Vaters insgeheim immer amüsiert, aber seit er von dem kürzlich erfolgten Einbruchsversuch erfahren hatte, sah er die Sache ein wenig anders.

Trotzdem betrachtete er das grüne Leuchtauge mit gemischten Gefühlen, während er die Beine vom Bett schwang und sich ausgiebig räkelte. All diese komplizierten Alarmanlagen machten auch den legitimen Bewohnern dieses Hauses das Leben reichlich schwer. Es konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen, in einem Haus zu leben, in dem man kein Fenster offenlassen konnte, ohne daß eine halbe Minute später die Posaunen von Jericho loszubrüllen begannen.

Noch immer ein wenig benommen, stand Aton auf und wollte gerade das Zimmer verlassen, als ihm ein Zettel auffiel, der auf seinem Nachttischchen lag. Vorhin, dessen war er sich ganz sicher, war er noch nicht dagewesen. Neugierig nahm er ihn auf und las die wenigen Zeilen, die in der sauberen Handschrift seiner Mutter darauf geschrieben waren.

Aton! Vater und ich mußten überraschend in die Stadt, um die Pässe abzuholen. Aber Herr Petach ist ja bei dir. Ich hoffe, wir sind zum Abendessen zurück. Wenn nicht, wärm Dir bitte etwas in der Mikrowelle auf.

Das Wort »Pässe« erinnerte Aton auf unangenehme Weise wieder daran, daß sein Besuch hier nur noch wenige Tage dauern würde - er hatte bisher nicht einmal gefragt, wie lange noch. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die wahre Bedeutung der kurzen Nachricht, die ihm seine Mutter hinterlassen hatte, in sein Bewußtsein drang. Aber dann fuhr er wie elektrisiert zusammen.

Herr Petach ist ja, bei dir ... Und zwar nur Herr Petach!

Atons Herz machte einen erschrockenen Sprung in seiner Brust und begann wieder zu hämmern. Bedeutete das etwa, daß er den ganzen Abend allein mit diesem unheimlichen Mann sein sollte?

Unmöglich! dachte er entschlossen. Keine Minute würde er freiwillig allein mit Petach hierbleiben. Nicht einmal eine Sekunde. Lieber würde er in den Schneesturm hinauslaufen und in der Garage oder im Werkzeugschuppen hinten im Garten warten, bis seine Eltern zurück waren!

Er ließ den Zettel fallen, fuhr herum und stürmte zur Tür, wandte sich aber dann noch einmal um und lief zum Schrank, um seine wärmste Jacke und ein Paar Handschuhe hervorzukramen. Er zog beides über, trat ans Fenster und sah in das tobende weiße Chaos hinaus.

Schon bei dem Anblick wurde ihm kalt. Das Schneetreiben war so dicht, daß er das jenseitige Ende des Gartens schon nicht mehr erkennen konnte, trotz der starken Halogenscheinwerfer, mit denen der Zaun bestückt war. Für einen Moment meldete sich seine Vernunft noch einmal zurück.

Das war kein leichter Schneefall, sondern ein ausgewachsener Schneesturm, und wahrscheinlich war es so kalt, daß er durchaus Gefahr lief, sich Erfrierungen zuzuziehen oder zumindest die schlimmste Erkältung seines Lebens. Aber Vernunft und Furcht sind nur selten Verbündete, und seine Angst vor Petach war einfach stärker. Dabei war er sogar sicher, daß der Ägypter ihm nichts tun wollte - wäre das seine Absicht gewesen, so hätte er auf dem Weg hierher ausreichend Gelegenheit dazu gehabt. Trotzdem - er würde nicht hierbleiben, solange er allein mit Petach im Haus war.

Aton wollte sich vom Fenster abwenden - und blieb wieder stehen.

Im Garten bewegte sich etwas.

Genaugenommen bewegte sich dort eine ganze Menge: Millionen von Schneeflocken und aufgewirbelten Blättern, die der Sturm vor sich her blies, aber dazwischen war noch etwas anderes; ein großer, kantiger Schatten, kaum mehr als ein Schemen, immer wieder vom Sturm verschluckt und scheinbar an anderer Stelle wieder ausgespien, so daß er niemals wirklich erkennen konnte, was es war.

Eine Gestalt?

Das Haus lag weitab von der Stadt und sogar ein gutes Stück abseits der Hauptstraße. Niemand würde sich bei einem solchen Wetter hierher verirren.

Andererseits bestand natürlich die Möglichkeit, daß irgend jemand mit dem Wagen stehengeblieben war oder einfach im Sturm die Orientierung verloren und das Licht gesehen hatte.

Und da waren auch noch die Einbrecher, von denen sein Vater erzählt hatte. Und schließlich gab es noch eine dritte Möglichkeit, aber an die weigerte sich Aton im Moment zu denken.

Seine Schulter begann wieder zu jucken, und er fuhr kurz mit den Fingerspitzen darüber, während er aus eng zusammengekniffenen Augen weiter in den Sturm hinausstarrte und versuchte, mehr als durcheinanderwirbelndes Grau und Weiß zu erkennen. Für einen kleinen Augenblick glaubte er den Schemen noch zu sehen, dann war er verschwunden.

Aton blieb noch ein paar Minuten am Fenster stehen, aber der Schatten zeigte sich nicht mehr. Wahrscheinlich war er gar nicht wirklich dagewesen. Nach den Ereignissen der letzten Tage war es ja auch kein Wunder, wenn seine Nerven anfingen, ihm Streiche zu spielen.

Trotzdem maß er das kleine Licht über der Tür mit plötzlich völlig anderen Augen, als er sich endgültig vom Fenster abwandte. Es war doch ein beruhigendes Gefühl, daß niemand in dieses Haus hereinkam, ohne bemerkt zu werden.

Der Flur war dunkel, bis auf die unvermeidlichen grünen Leuchtpunkte über den Türen, die im grauen Zwielicht des Sturms wie kleine schimmernde Insektenaugen auf ihn herabzustarren schienen. Aber aus dem Erdgeschoß drang ein sonderbares, flackerndes blaues Licht zu ihm herauf, und dazu hörte er Laute, wie er sie noch nie zuvor im Leben vernommen hatte. Im allerersten Moment hielt er sie für eine Art fremdartiger, atonaler Musik, aber das waren sie nicht. Es war ...

Nein, er wußte es nicht. Ein unheimliches Summen und Klingen, eine Art von Musik, aber ohne Melodie oder erkennbare Tonfolge und zugleich ... Er konnte das, was er hörte, nicht wirklich beschreiben, einfach, weil es nichts ähnelte, was er je zuvor vernommen hatte. Sowenig, wie das flackernde blaue Leuchten mit irgend etwas vergleichbar gewesen wäre, was er je gesehen hatte.

Vorsichtig bewegte sich Aton weiter, stieg leise die Treppe hinunter und blieb dicht vor der letzten Stufe stehen. Licht und Geräusche waren deutlicher geworden, und jetzt sah er auch, woher sie kamen: aus dem Wohnzimmer.

Aton schlich auf Zehenspitzen weiter, blieb abermals stehen und lugte mit angehaltenem Atem durch die Tür.

Auch im Zimmer dahinter waren die Lampen nicht eingeschaltet - aber das bedeutete trotzdem nicht, daß es dunkel gewesen wäre. Und was er sah, war so unheimlich, daß er im ersten Moment fest davon überzeugt war, noch immer zu schlafen und eine Fortsetzung seines Traums zu erleben. Er empfand nicht einmal Furcht; dazu war der Anblick einfach zu sonderbar.

Petach stand mit dem Rücken zur Tür in der Mitte des Zimmers. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt, wie ein Mensch, der in tiefes Nachdenken versunken war. Er war nicht allein. Zwei Schritte vor ihm hockte Anubis auf den Hinterläufen, hoch aufgerichtet und die Ohren aufmerksam gespitzt, aber mit geschlossenen Augen, und neben ihm saß die kleine graue Katze, die zuvor für solche Verwüstung hier drinnen gesorgt hatte und die sein Vater nicht mehr im Haus haben wollte.

Was die Verwüstung anging, so war sie zum größten Teil wieder beseitigt worden, aber das Zimmer bot trotzdem einen gänzlich anderen Anblick, als Aton es gewohnt war. Petach hatte Tisch und Stühle beiseite geräumt, so daß vor dem Kamin ein großer, freier Platz entstanden war, und eine ganze Anzahl Dinge, die eigentlich in die Sammlung seines Vaters gehörten, aus den verschiedenen Vitrinen und Schränken genommen und rings um sich und die beiden Tiere aufgebaut.

Aton sah die Kanopenkrüge, die den ganzen Stolz seines Vaters bildeten, ein halbes Dutzend kleiner Statuen und Figuren, die verschiedene ägyptische Gottheiten darstellten, und zwei oder drei Zeremoniengegenstände, dazu eine Menge Skarabäen aus den verschiedensten Materialien, die scheinbar wahllos überall auf dem Fußboden verteilt waren.

Aber dieser erste Eindruck war nicht ganz richtig. Als Aton genauer hinsah, fiel ihm doch eine Art Muster auf, in dem die Pillendreherkäfer dalagen: Sie bildeten zwei ineinander übergehende konzentrische Kreise, in deren ungefährem Mittelpunkt sich Petach und die beiden Tiere befanden.

Und jetzt sah er auch, woher das seltsame Leuchten stammte: Petach hatte zwei Opferschalen aus Stein aus den Vitrinen genommen und rechts und links von sich aufgestellt. Irgend etwas brannte darin, rauchlos, aber mit einem sehr intensiven, bläulichweißen Feuer, das keine fühlbare Hitze verbreitete.

Doch der Großteil von Atons Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Petach und die beiden Tiere, die - und Aton war sicher, auch das war ganz bestimmt kein Zufall - ein genau gleichseitiges Dreieck bildeten. Es war ein unheimlicher und zugleich faszinierender Anblick - und er machte Aton angst.

Vielleicht war das der Grund, weshalb er ein kaum hörbares Geräusch verursachte. Doch so leise dieser Laut auch war, Petach nahm ihn wahr - Aton sah, wie er zusammenschrak und dann aus seiner scheinbaren Starre hochfuhr. Aton versuchte zurückzuweichen, aber er wußte, daß es zu spät war.

Petach hatte ihn bereits gesehen, und was immer jetzt geschehen mochte, würde geschehen. Und nun wurde ihm auch klar, daß er nicht nur allein mit Petach im Haus, sondern ihm auch vollkommen ausgeliefert war. Und er fragte sich, ob der Ägypter vielleicht nicht nur unheimlich und geheimnisvoll, sondern möglicherweise auch gefährlich war.

»Aton«, sagte Petach überrascht. Man mußte kein großer Menschenkenner sein, um zu sehen, wie unangenehm es ihm war, daß Aton ihn beobachtet hatte. »Ich dachte, du schläfst noch.«

Jetzt hätte Aton gerne eine schlagfertige Antwort gegeben, aber die haben fünfzehnjährige Jungen wohl nur in Filmen oder Romanen parat, selten in der Wirklichkeit. So stammelte er nur: »Ich ... ich habe etwas gehört und -«

»Der Sturm«, antwortete Petach. »Ja, das ... das muß der Sturm gewesen sein.« Er fand seine Fassung jetzt wieder, lächelte und drehte sich vollends zu Aton herum. Und zusammen mit ihm regten sich Anubis und die Katze - in einer vollkommen synchronen Bewegung, als wären sie alle drei in Wirklichkeit ein einziges Wesen, das nur durch Zufall auf drei Körper verteilt war. Von allem, was Aton bisher gesehen hatte, war dies vielleicht der unheimlichste Anblick. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken.

Petach runzelte die Stirn und folgte seinem Blick. Dann hellte sich sein Gesicht auf.

»Du wunderst dich sicher über Bastet«, sagte er.

»Bastet?«

Petach lächelte. »Die Katze. Nachdem dein Vater den Hund schon Anubis getauft hat, erschien mir dieser Name passend - findest du nicht?«

»Mein Vater wird nicht besonders erfreut darüber sein, wenn sie wieder im Haus ist«, sagte Aton. Das war sehr diplomatisch ausgedrückt - die Wahrheit war wohl eher, daß sein Vater einen mittleren Tobsuchtsanfall bekommen würde, wenn er die Katze hier fand, nach allem, was sie angerichtet hatte.

»Ich konnte sie bei diesem Sturm schlecht draußen lassen«, antwortete Petach. »Dein Vater wird das verstehen, da bin ich sicher.«

»Ja, und wenn nicht, dann ... dann werden Sie schon dafür sorgen, daß er es versteht, nicht wahr?« fragte Aton. Die Worte kamen zwar nicht annähernd in der spöttischen Betonung heraus, wie er vorgehabt hatte, sondern stockend und mit einer Stimme, die vor Angst zu einem Flüstern geworden war. Aber er sagte es, und Petach verstand, was er mit dieser Frage sagen wollte.

Eine Sekunde lang sah er Aton ausdruckslos an, dann schüttelte er den Kopf und drehte sich zu den beiden Tieren herum. Und das Unheimliche, das Aton gerade beobachtet hatte, wiederholte sich. Anubis und Bastet blickten Petach an, und diesmal war Aton sicher, daß der Mann und die beiden Tiere mehr austauschten als Blicke. Viel mehr.

Petach nickte, als wäre er in Gedanken zu einem Entschluß gekommen. »Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig«, sagte er, während er sich wieder umwandte und langsam auf Aton zutrat. »Wahrscheinlich hätte ich es längst tun sollen, aber -«

»Rühren Sie mich nicht an!« rief Aton. Er prallte erschrocken zurück und hob abwehrend die Arme. Petach blieb tatsächlich mitten in der Bewegung stehen - aber dann beging er den Fehler, doch einen weiteren Schritt zu machen, und nun war es mit Atons Selbstbeherrschung endgültig vorbei.

Mit einem Schrei wirbelte er herum, raste davon und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.

»Aton, so warte doch!« rief Petach ihm nach.

Doch Aton rannte weiter, stolperte und fiel, aber er ließ sich davon nicht aufhalten, sondern kroch die letzten Stufen auf Händen und Knien hinauf und richtete sich erst am Ende der Treppe wieder hoch. Petach hatte mittlerweile den unteren Treppenabsatz erreicht. Und - schlimmer noch - auch Anubis und die graue Katze jagten hinter ihm her. Noch Sekunden, und sie würden ihn eingeholt haben.

Der Anblick gab Aton neue Kraft. So schnell er konnte, rannte er weiter, erreichte sein Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Und wie sich zeigte, buchstäblich im letzten Augenblick, denn er hatte den Schlüssel noch nicht ganz herumgedreht, da prallte etwas mit solcher Wucht von außen gegen die Tür, daß Aton erschrocken einen Schritt zurückwich. Die ganze Tür zitterte. Aber sie hielt dem Anprall des Hundes stand.

Aton drehte den Schlüssel ein zweites Mal herum und entschuldigte sich in Gedanken für jedes Mal, da er sich über das übersteigerte Sicherheitsbedürfnis seines Vaters lustig gemacht hatte. Er war plötzlich sehr froh, daß jede Tür in diesem Haus über ein Sicherheitsschloß verfügte.

Anubis sprang kein zweites Mal an die Tür, aber dafür hörte Aton einen Moment später Petachs Stimme, die gedämpft durch das Holz drang. »Aton, bitte mach auf«, sagte der Ägypter. »Ich möchte mit dir reden.«

»Verschwinden Sie!« rief Aton. »Gehen Sie weg, oder -«

Ja, oder? Wie die Dinge lagen, konnte er nicht viel tun. Wie alles in diesem Haus war auch die Tür weitaus massiver, als es den Anschein hatte. Petach hätte schon ein kleines Geschütz auffahren müssen, um sie gewaltsam zu öffnen, so daß er hier drinnen in Sicherheit war. Doch sowenig, wie Petach zu ihm herein konnte, konnte er hinaus. Im Grund blieb ihm nur eines - hier zu sitzen und zu warten, bis seine Eltern zurückkamen. Und das konnte Stunden dauern.

»Bitte, Aton«, sagte Petach. »Ich weiß, der Moment ist nicht besonders günstig, aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Verschwinden Sie«, sagte Aton stur. »Oder ich rufe die Polizei!« Natürlich, warum war er nicht gleich darauf gekommen? Aton blickte eine Sekunde lang das grüne Lämpchen über der Tür an. Die Alarmanlage war in Betrieb. Es reichte vollkommen aus, wenn er das Fenster einschlug! Es würde zwar ziemlich kalt hier drinnen werden, aber Aton wußte auch, daß spätestens in zehn Minuten der erste Streifenwagen hier wäre.

Entschlossen trat er von der Tür zurück, packte einen Stuhl und hob ihn hoch. Zehn Minuten Kälte würde er ertragen; zehn Minuten allein mit Petach und dessen unheimlichen Begleitern zu sein, vielleicht nicht. Aton holte mit aller Kraft aus.

»Das würde ich mir an deiner Stelle noch einmal überlegen«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Aton fuhr erschrocken herum - und zuckte zusammen, als er sah, daß Petach in der offenen Tür stand. Seine Rechte lag auf der Türklinke, und das ruhig brennende Grün der Lampe über ihm behauptete nach wie vor, daß die Tür sicher abgeschlossen und unversehrt sei.

»Aber ... aber wie ...?« stotterte Aton.

»Du solltest dir das wirklich überlegen«, sagte Petach noch einmal. Er deutete auf den Stuhl, den Aton noch immer hoch über dem Kopf hielt. »Was willst du der Polizei erzählen? Oder deinen Eltern?«

Langsam ließ Aton den Stuhl sinken. Petachs Frage entbehrte nicht einer gewissen Logik. Sein Vater würde sich einigermaßen schwertun, ihm zu glauben, daß er den Ägypter dabei beobachtet hatte, wie er sich mit einem Hund und einer Katze unterhielt ...

»Siehst du«, sagte Petach. »Ich wußte doch, daß du ein vernünftiger Junge bist.« Er seufzte. »Ich kann dich verstehen, Aton«, sagte er. »Aber du mußt auch mich -«

»So, können Sie das?« unterbrach ihn Aton. Er stellte den Stuhl auf den Boden und wich einen Schritt zurück. »Das glaube ich kaum.«

»O doch«, widersprach Petach. Ein sonderbar trauriges, sonderbar wissendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Für dich muß das alles erschreckend und fremd sein und überaus verwirrend, und -«

»Verwirrend?« keuchte Aton. »Sie ... Sie machen Scherze, wie?« Er war erstaunt, wie fest seine eigene Stimme klang und jetzt fast völlig frei von Furcht. Er empfand auch gar keine Angst mehr. Er war nur zutiefst erschrocken und zornig.

»Vielleicht bin ich ja überrascht, daß ich noch lebe«, sagte er bitter. Er zeigte auf Anubis, der hinter Petach aufgetaucht war, das Zimmer jedoch nicht betrat. »Dieses Ding im Wald. Das ... das war doch er, nicht?«

Petach antwortete nicht, aber das mußte er auch gar nicht. Als wäre es erst nötig gewesen, die Worte laut auszusprechen, fiel es Aton plötzlich wie Schuppen von den Augen. Die furchtbare Gestalt im Wald hatte Anubis' Kopf gehabt, nicht einen ähnlichen, sondern ganz genau seinen Kopf, den schlanken, spitz zulaufenden Schädel eines Dobermanns, und vor allem seine Augen, unheimliche, goldgelbe Augen, in denen eine Intelligenz schlummerte, die weit über die eines Tieres hinausging; vielleicht über die eines Menschen.

»Wer sind Sie, Petach?« brach Aton schließlich das Schweigen. »Was sind Sie? Und was wollen Sie von mir?«

»Glaubst du an Geister, Aton?« fragte Petach, anstatt zu antworten.

»An weiße Gestalten, die nachts in alten Schlössern mit Ketten rasseln, nicht«, antwortete Aton. Er sah wieder zur Tür und konnte ein neuerliches Schaudern nicht ganz unterdrücken, als er bemerkte, daß sich nun die Katze zu Anubis gesellt hatte. Die beiden Tiere saßen nebeneinander und blickten ihn aufmerksam aus ihren unheimlichen, erschreckend wachen Augen an. Und er war jetzt ganz sicher, daß sie nicht nur zuhörten, sondern auch jedes Wort verstanden.

»Nun, in gewissem Sinne bin ich ein Geist«, sagte Petach ernst. »Wenn ich auch keine weißen Bettlaken trage und durchaus aus ... Fleisch und Blut bestehe.«

Aton entging das fast unmerkliche Stocken in seinen Worten keineswegs, sowenig wie der Schatten, der in diesem Moment über sein Gesicht zu huschen schien. Aber als er weitersprach, klang seine Stimme wieder so fest und ruhig wie zuvor. »Nun, Aton, wie ich schon sagte: Die Welt ist nicht so, wie die meisten Menschen glauben. Es gibt nicht nur die Dinge, die wir hören und sehen können oder auch wissenschaftlich beweisen. Unsere menschlichen Sinne zeigen uns nur einen winzigen Teil der Wirklichkeit. Das, was wir Wissenschaft nennen, läßt uns ein wenig mehr erkennen, aber nicht viel. Und manches zeigt es uns noch dazu falsch.«

»Interessant«, sagte Aton. »Haben Sie meinem Vater diese Theorie schon erzählt?«

Petach lächelte kurz. »Manche Menschen - sehr wenige - sehen ein wenig mehr von der wahren Welt als die anderen, aber meistens glaubt man ihnen nicht. Im besten Falle werden sie ausgelacht, und fast immer begegnet man ihnen mit Mißtrauen und Feindseligkeit. Dabei sind sie wie Einäugige in einer Welt von Blinden, weißt du?«

»Und Sie sind einer von diesen Einäugigen?« fragte Aton.

Petach ging nicht darauf ein. »Ich bin sehr alt, Aton«, sagte er. »Viel älter, als du glaubst oder auch dein Vater und deine Mutter. Und doch beginne selbst ich gerade erst zu begreifen, wie die Welt wirklich funktionieren mag.«

Unter anderen Umständen hätte Aton diese Worte vermutlich lächerlich gefunden oder allenfalls interessant. Aber jetzt erweckten sie eine Furcht in seiner Seele, die er nicht mehr vollends zurückzudrängen vermochte. Es war, als enthielten sie eine Art von Wahrheit, die sein Verstand vielleicht noch anzweifelte, und sei es nur, weil sie einfach nicht in das Bild der Welt paßte, an das er sein Leben lang geglaubt hatte, von der etwas tief in ihm aber wußte, daß es sie gab. Und natürlich kamen die äußeren Umstände hinzu, die Petach nicht passender zu dieser Eröffnung hätte konstruieren können:

Das Heulen des Sturms, das gedämpfte Licht und die stumme Anwesenheit der beiden unheimlichen Tiere schufen eine Atmosphäre, die für Geschichten über Geister und Dämonen geradezu geschaffen war.

»Warum ... erzählen Sie mir das alles?« fragte er stockend.

»Damit du verstehst, Aton«, antwortete Petach. »Denn nur, wenn du wirklich verstehst, worum es geht, wirst du mir helfen.«

»Helfen?« Aton riß ungläubig die Augen auf. »Ich soll Ihnen helfen?«

»Wäre das so viel verlangt?« fragte Petach. »Ich weiß, du kennst mich kaum, und du glaubst, du hättest Grund, mich zu fürchten. Aber das stimmt nicht. Ich brauche deine Hilfe, Aton. Ich und ... viele andere.« Er schob den Stuhl in die Mitte des Zimmers und setzte sich.

»Wieso?« murmelte Aton. »Wobei?«

»Ich will dir eine Geschichte erzählen, Aton«, begann Petach. »Komm, setz dich zu mir.« Er wartete einen Moment.

Als Aton keine Anstalten machte, seiner Aufforderung zu folgen, zuckte er mit den Schultern und begann mit leiser Stimme zu erzählen: »Jedes Volk hat seine eigenen Geister, Aton, seine eigenen Götter und seine eigenen Dämonen. Manche glauben an die Kräfte der Natur, manche an die der Seele, manche an Götter, die zwischen den Sternen wohnen oder tief in der Erde, je nach ihrer Herkunft und Geschichte. Jede menschliche Kultur zu jeder Zeit hat ihre Götter und Geisteswesen gehabt. Bei den Griechen waren es die Götter des Olymp, bei den Germanen die Äsen, die im Schatten der Weltenesche Yggdrasil leben. Auch ihr habt eure Götter, auch wenn es in letzter Zeit modern geworden ist, sie zu verleugnen. Ihr glaubt an Wissenschaft und Fortschritt, und ihr lacht über die primitiven Völker, die an die Geister des Windes und des Feuers glauben, ohne zu begreifen, daß es nur andere Götzen sind, die ihr verehrt. Eines aber ist ihnen allen gleich, Aton: Sie alle existieren wirklich.«

»Wie bitte?« fragte Aton. Er lachte, aber es klang nicht sehr fröhlich. »Das ... das ist doch lächerlich.«

»Nein, Aton, das ist es nicht«, widersprach Petach sanft. Vielleicht war es die Unaufdringlichkeit seiner Art zu reden, die seine Worte so glaubhaft machte. Erneut überlief Aton ein leichtes Frösteln. »Denn was sind Götter und Dämonen anderes als die Essenz dessen, woran wir glauben? Denkst du wirklich, daß Gedanken und Wünsche bloße Illusion sind?«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein ehernes Gesetz des Universums, daß nichts jemals verlorengeht und daß nichts, was geschieht, ohne Wirkung bleibt. Was immer du tust, Aton, bewirkt irgend etwas, und sei es noch so unwichtig, und dies wieder etwas anderes und so weiter. Wenn Millionen und Millionen und aber Millionen Menschen an dieselben Götter glauben, dann nehmen sie eines Tages Gestalt an, zuerst in ihren Gedanken und Wünschen und später vielleicht wirklich.«

»Moment mal«, unterbrach ihn Aton. »Sie ... Sie wollen mir im Ernst erzählen, daß es Mars und Zeus und Wotan und all diese anderen Götter wirklich gibt? Ich meine, als richtige, lebende Wesen?«

»Nicht lebend in dem Sinne wie du und ich«, antwortete Petach. »Aber in einer anderen als der uns bekannten Form ja. So wie alle anderen Götter, an die Menschen jemals geglaubt haben. Sie haben existiert, und sie existieren zum Teil noch heute, denn solange auch nur ein Mensch auf dieser Welt wirklich an sie glaubt, leben sie weiter. Erst, wenn sie vollkommen in Vergessenheit geraten sind, vergehen sie. Auch Erinnerung ist eine Form der Energie, mußt du wissen.«

Aton starrte zuerst ihn, dann den Hund und die kleine, graue Katze in der Tür an, und plötzlich begannen ihm Hände und Knie zu zittern. Damit Petach es nicht bemerken sollte, begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. Aber Petach schien keine Notiz davon zu nehmen und sprach weiter.

»Bei den Ägyptern, Aton, waren es Anubis und Re, Aton, Bastet, Isis, Horus und all die anderen, ungezählten Götter und Geistwesen. Und glaube mir - sie alle existierten wirklich, und sie waren sehr mächtig, denn das Reich der Pharaonen war gewaltig, und es existierte über Jahrtausende, in denen der Glaube der Menschen ihnen Kraft und Nahrung war.«

»Und sie leben bis heute«, flüsterte Aton. Er hatte in seinem ruhelosen Hin und Her innegehalten und war am Fenster stehengeblieben. Er konnte die Kälte der Winternacht durch das Glas in seinem Rücken hindurch fühlen, aber sie war nicht der wirkliche Grund, aus dem er plötzlich fror. Er hatte fast panische Angst vor der Antwort, und trotzdem hob er nach einigen Sekunden die Hand, deutete auf die beiden Tiere unter der Tür und fragte: »Dann sind das dort ... Anubis und ... und Bastet?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Petach. »Vielleicht ... in einer ihrer Inkarnationen. Ich dachte, der Angreifer im Wald wäre Anubis, aber nun ... bin ich nicht mehr sicher.«

Es dauerte eine Sekunde, bis Aton die Worte überhaupt richtig begriff. Aber dann fuhr er mit einem Ruck zu Petach herum. »Dann haben Sie ihn doch gesehen«, sagte er. »Und Sie haben behauptet -«

»Ich mußte sichergehen«, unterbrach ihn Petach. »Und ich wollte auf den richtigen Moment warten. Ich hätte es dir von Anfang an erklären sollen, aber es ist so ... so schwer, selbst für mich. Auch ich weiß noch nicht alles. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen?«

»Und was wollen Sie mir nun erklären?« fragte ihn Aton statt einer Antwort.

Der Ägypter hob die Hand. »Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Dein Name, Aton - weißt du, woher er stammt?«

»Natürlich«, antwortete Aton. »So wurde die Sonnenscheibe genannt -«

Wieder unterbrach ihn Petach. »Die Ägypter hatten stets eine Vielzahl von Göttern. Dreihundert sind euch heute noch bekannt, doch damals waren es viel, viel mehr. Über Jahrtausende hinweg, Aton, verehrten sie in ihren Tempeln Hunderte und aber Hunderte verschiedene Götter. Dann aber, eines Tages, erschien ein neuer Pharao auf dem Thron - Amenophis der Vierte. Euch ist er besser unter dem Namen Echnaton bekannt. Echnaton war ein sehr kluger Mann und trotz seiner Jugend bereits sehr weise.«

Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Petachs Gesicht, als er den Namen Echnaton erwähnte; eine Mischung aus Trauer, Wehmut und Schmerz, die Aton berührte.

»Er hatte eine Vision«, fuhr Petach nach einer Weile fort. Sein Blick war auf Atons Gesicht gerichtet, aber er schien ihn gar nicht zu sehen. Seine Stimme war plötzlich ganz leise, und mit einem Male war etwas Neues in ihr. Petach erzählt nicht einfach eine Geschichte, dachte Aton schaudernd. Er spricht wie ein Mann, der das, was er erzählt, wirklich erlebt hat. »Die Menschen sollten nicht mehr aus Furcht viele Götter verehren und ihnen opfern, sie sollten nur einen Gott anbeten, und das aus Verpflichtung und Dankbarkeit. Zudem hatte die Priesterschaft einen Einfluß erreicht, mit dem sie auch politische Entscheidungen durchzusetzen verstand, und plante, einen totalitären Götterstaat einzuführen. So enthob Echnaton die Priester ihres Amtes und verbot die Vielgötterei. Das Reich, das er geerbt hatte, lebte im Wohlstand, und nun sollten alle Menschen auch Anteil haben an dem Licht, von dem alles Leben kam, von der Sonne - Aton. Den finsteren Zeiten der vielen furchteinflößenden Götter sollte die helle, freudige Zeit eines einzigen Gottes folgen.«

Aton fröstelte erneut. Er hatte all dies gewußt, aber aus Petachs Mund hörte sich die Geschichte plötzlich vollkommen anders und neu an. Auf einmal waren es Menschen, über die sie redeten, keine Zahlen in einem Buch, Schicksale, keine bloßen Fakten. Aber ihn überkam auch eine tiefe Trauer, als er an Echnaton dachte und an den gewaltigen Irrtum, dem er erlegen war, und er mußte zugleich an all die Kriege und Greueltaten denken, die im Namen anderer, nur einem einzigen Gott dienenden Religionen geführt und verübt worden waren.

»Die Götter haben es nicht zugelassen«, vermutete er.

»Nicht die Götter«, erwiderte Petach. »Die Menschen haben stets an ihren Göttern gezweifelt, und sie haben niemals selbst eingegriffen, um ihr Überleben zu sichern. Das haben sie nie gewollt - und nie gekonnt. So sind die Gesetze, nach denen das Leben verläuft, Aton.«

»Gesetze?«

»Ein Wort«, sagte Petach wegwerfend. »Nenne es Regeln, wenn es dir lieber ist. Es ist gleich. Doch auch den Göttern sind Grenzen gesetzt, und sie sind manchmal enger als die, denen wir Menschen uns beugen müssen. Nein, es waren nicht die Götter, die Echnaton vernichteten. Es waren die Menschen. Seine eigenen Untertanen. Die Priester, die sich um ihre Macht und ihren Reichtum gebracht fühlten. Sie sammelten die Unzufriedenen um sich und warteten auf einen für sie günstigen Moment. Da Echnaton, der als Pharao das höchste politische und religiöse Amt innehatte, kein politisches Konzept besaß und nicht wahrnahm, daß fremde Volker die Grenzen seines Reiches bedrohten, war dieser Moment bald gekommen.«

»Sie haben ihn umgebracht«, sagte Aton. Petach nickte. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Sie stellten ihm eine Falle«, sagte er. »Es war einer seiner engsten Vertrauten, der die Verräter anführte; vielleicht der einzige Freund, den er überhaupt hatte. Auf jeden Fall der einzige Mensch, dem er wirklich vertraute. Echnaton befand sich mit hundertdreißig Mann seiner Leibwache auf dem Weg nach Theben, wo ihn seine Gemahlin Nofretete erwartete. Sein Vertrauter war bei ihm, und in einer Schlucht in einer einsamen Gegend schnappte die Falle zu. Echnatons Männer wehrten sich tapfer. Sie waren die besten der Besten, und sie kämpften wie die Löwen, um das Leben ihres Herrn zu verteidigen. Aber die Übermacht war zu groß, die Falle zu gut vorbereitet. Sie fielen einer nach dem anderen, und schließlich war nur noch Echnaton selbst am Leben. Er floh, aber der Verräter stellte und tötete ihn. Echnaton hat sich nicht einmal gewehrt.«

Seine Stimme versagte. Jeder Ausdruck war daraus verschwunden, und die letzten Sätze waren nur mehr ein Flüstern gewesen, das Aton kaum verstand. Und plötzlich war er ganz sicher, daß das, was Petach erzählte, mehr für ihn war als eine Geschichte, unendlich viel mehr.

»Also haben die Götter überlebt«, sagte er. Hinter ihm heulte der Sturm lauter auf, wie um Atons Worte zu bestätigen, und auch Petach nickte.

»Ja«, antwortete er. »Und Echnaton selbst sorgte dafür.«

»Echnaton?!«

»Er verfluchte seinen Mörder, Aton«, sagte Petach. »Mit seinem letzten Atemzug sprach er einen Fluch über ihn aus, wie er schrecklicher nicht sein konnte. Der Mann, den er für seinen Freund hielt, nahm ihm das Leben, doch er verfluchte ihn dazu, niemals sterben zu dürfen. Es war Echnatons Fluch, daß der Mann, der ihm und all seinen Kriegern den Tod gebracht hatte, so lange ruhelos über das Antlitz der Welt wandern sollte, bis die Toten, deren Blut an seinen Händen klebte, sich wieder aus ihren Gräbern erheben.«

»Aber das ... das ist doch unmöglich«, murmelte Aton.

»Echnaton starb vor mehr als dreitausend Jahren! Niemand kann so lange leben!«

»Niemand sollte so lange leben«, korrigierte ihn Petach. »Die Menschen fürchten sich vor dem Tod. Dabei begreifen sie gar nicht, daß er eine Gnade ist. Nicht das Sterben ist eine Strafe, sondern nicht sterben zu dürfen.«

»Grauenhaft«, flüsterte Aton.

»Die Zeit, daß sich die Prophezeiung erfüllt, ist nahe«, fuhr Petach fort. »Ein Leben für ein Leben, so will es das Gesetz, das über dem der Menschen und der Götter steht. Keine Strafe währt ewig. Hundertdreißig Männer fanden den Tod in der Wüste, und hundertdreißig Generationen sind seither vergangen. Bald werden die Sterne die gleiche Stellung am Himmel haben wie an jenem Tag, und wenn dies geschieht, dann kann der Fluch gebrochen werden. Die Toten werden sich aus ihren Gräbern in der Wüste erheben, und der Mann, der Echnaton verriet, wird endlich seinen Frieden finden. Dreitausend Jahre sind genug, Aton. Kein Verbrechen ist so schlimm, daß es niemals gesühnt werden kann.«

»Und was ... habe ich damit zu tun?« fragte Aton.

Petach wollte antworten, doch er kam nicht mehr dazu, denn in diesem Moment stieß Anubis ein schrilles, erschrockenes Jaulen aus, und fast in derselben Sekunde heulte der Sturm draußen vor dem Haus wie mit den Stimmen tausend gepeinigter Geister auf, und die Faust eines unsichtbaren Riesen traf das Fenster hinter Atons Rücken und ließ es regelrecht explodieren.

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