Die Prophezeiung

Vor der gegenüberliegenden Wand erhoben sich zwei fast metergroße Falken, die aus purem Gold zu bestehen schienen und deren Augen aus schimmerndem Karneol gemacht waren.

Krüge und Schalen aus Alabaster standen neben Statuen, die Herrscher bei der Jagd darstellten oder hohe Beamte. Neben zwei kunstvoll gearbeiteten Stühlen lagen reichverzierte Waffen. Das erstaunlichste aber waren die Bilder. Es gab keinen Quadratzentimeter der Wände und selbst der Decke, der nicht davon bedeckt war. Es waren Darstellungen von Gottheiten und Herrschern, von Festen und heiligen Zeremonien, aber auch Jagd- und Schlachtszenen oder Bilder des täglichen Lebens, wie es vor mehr als viertausend Jahren hier stattgefunden hatte. Wohin er auch sah, erblickte Aton Zeugnisse des alten Ägyptens, eines Landes, das nichts, aber auch gar nichts mit dem gemein hatte, was man heute unter diesem Namen kennt. Der Anblick war so phantastisch, daß Aton für einige Momente vergaß, warum sie überhaupt hierhergekommen waren. Er stand einfach da, sah sich um und staunte, und jedesmal, wenn er glaubte, nun nichts mehr entdecken zu können, was noch großartiger war, stieß er auf ein neues Wunder.

»Was ... was ist das?« fragte Sascha. Ihre Stimme war zu einem ehrfürchtigen Flüstern gesenkt, fast als hätte sie Angst, den Zauber dieser Kammer zu zerstören, wenn sie zu laut sprach.

»Ein geheimer Raum«, antwortete Yassir. »Es gibt ihn fast in jedem Pharaonengrab. In manchen auch mehr als einen.«

»Davon habe ich nie gehört«, murmelte Aton, ohne den Blick von all den Wundern zu nehmen, die um sie herum waren.

Yassir lächelte verzeihend. »Müßt ihr denn alles wissen?«

»Wozu hat er gedient?« erkundigte sich Sascha.

Yassir seufzte. »Etwas aufzubewahren ... etwas zu verbergen ...« Er machte eine unschlüssige Handbewegung. »Ich weiß es nicht genau. Ich habe nie danach gefragt.«

»Warum nicht?«

Yassir wurde eine Spur ernster. »Ich habe gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Manche Antworten gefallen einem nicht. Und manches sollte man nicht wissen.« Er beendete den Gedanken mit einer entschiedenen Geste und wandte sich an Aton. »Wir haben nicht viel Zeit. Komm mit.« Er wartete, bis Aton neben ihn trat, dann ging er zu einer Stelle an der Wand neben dem Eingang und hob den Arm. Aton blickte aufmerksam auf das Bild, auf das Yassirs Hand deutete.

Im allerersten Moment schien es sich kaum von den anderen Reliefs zu unterscheiden. Es war eine Schlachtszene. Er sah Krieger in zweispännigen Kampfwagen, die ein offensichtlich unterlegenes feindliches Heer in einer Schlucht zusammengetrieben hatten. Erst nach einigen Sekunden begriff er überhaupt, was das Bild darstellte.

Aton fuhr mit einem überraschten Laut zusammen. »Echnaton«, murmelte er. »Das ... das ist Echnaton! Echnatons letzter Kampf! Das Bild zeigt Echnaton und seinen Mörder!«

Yassir wirkte ehrlich überrascht. »Woher weißt du das?«

Die Antwort war ganz einfach - aber zugleich auch so unglaublich, daß Aton es kaum über sich brachte, sie auszusprechen. Er wußte es, weil Eje selbst auf einem der Bilder zu erkennen war. Genauer gesagt: weil er ihn wiedererkannte. Zitternd hob er die Hand und deutete auf die Gestalt in dem knöchellangen, blau und gold gestreiften Gewand mit dem goldenen Falken auf der Brust. Er sagte nichts, aber Yassirs Augen wurden groß vor Staunen.

»Du hast recht«, sagte er fassungslos. »Das ist Eje. Aber niemand weiß das. Niemand außer mir hat dieses Bild je gesehen.«

»Er ist es«, sagte Aton leise, »und das ...« Sein ausgestreckter Finger wanderte weiter und deutete auf eine zweite Gestalt, die ein Stück unterhalb Ejes stand und schützend beide Arme vor das Gesicht erhoben hatte, so daß man ihre Züge nicht genau erkennen konnte, »... ist Echnaton.« Sein Herz klopfte immer heftiger, und er begann am ganzen Leib zu zittern, während er näher an die Wand herantrat und versuchte, das Gesicht Echnatons zu erkennen. Es gelang ihm nicht. So klar und deutlich die Züge des Mörders wiedergegeben waren, so verschwommen waren die seines Opfers.

»Ist es Petach?« fragte Sascha hinter ihm.

Im Herumdrehen sah Aton, wie sich Yassirs Züge vor Zorn verdüsterten, aber er beachtete es nicht. »Woher -?« begann er.

»So schwer ist das nicht zu erraten«, sagte Sascha. »Seit du mir die Geschichte erzählt hast, frage ich mich, was er eigentlich damit zu tun hat. Eine Weile habe ich mich sogar gefragt, ob er vielleicht der Wanderer ist.«

»Sagen Sie das nicht!« sagte Jassir aufgebracht. »Sie wissen nicht, wovon Sie reden!«

Aton machte eine beruhigende Geste, sah den Ägypter aber immer noch nicht an. »Ich weiß es nicht«, beantwortete er Saschas Frage, und das war die Wahrheit. »Aber ich glaube es nicht. Wenn er Eje wäre, hätte er es einfacher haben können, mich hierherzulocken.«

»Ich verbiete euch, so zu reden!« sagte Yassir, noch immer aufgebracht und zornig. »Ihr wißt nicht, was ihr sagt!« Dann fuhr er etwas ruhiger fort: »Ihr habt es jetzt gesehen. Dies ist der Ort, an dem Echnaton und seine Krieger starben. Und der Ort, an dem sie erwachen werden. Merkt ihn euch gut, denn es ist die einzige Hilfe, die ich euch geben kann.«

Aton sah die in Stein gemeißelten Bilder unverwandt weiter an. Neben der Darstellung der Schlacht gab es ein zweites, etwas kleineres Relief, auf dem der Weg eingezeichnet war, den Echnaton auf seiner letzten Reise genommen hatte. Aton kannte die Landkarte Ägyptens nicht auswendig, und vieles sah völlig anders aus als heute. Und doch hatte er nach einigen Sekunden das Gefühl, den Ort kennen zu müssen. Der Gedanke schien ihm immer wieder zu entschlüpfen, gerade wenn er danach greifen wollte, aber er spürte, daß er der Lösung jetzt ganz nahe war. Die Felsenschlucht lag in der Wüste, an einem Ort, der -

Nein, er wußte es einfach nicht. Er sollte es wissen. Er spürte, daß es im Grunde ganz einfach war. Aber es war, als ... ja, als verhinderte etwas, daß er das Offensichtliche sah.

Aton trat wieder einen Schritt von der Wand zurück und löste seinen Blick von dem Relief. Vielleicht entdeckte er irgendwo etwas anderes, was ihm weiterhalf, der entscheidende Anstoß, der ihm noch fehlte, um die verschlossene Tür in seinen Gedanken aufzuschließen.

»Es ist unglaublich«, sagte Sascha. Sie hatte begonnen, in der Kammer herumzulaufen und dabei immer wieder vor einer Statue, einem Bild stehenzubleiben, etwas in die Hand zu nehmen und vorsichtig wieder zurückzustellen. Ihr Erstaunen schien immer größer zu werden. »Die Vorstellung, daß ... daß all diese Schätze Tausende von Jahren unentdeckt geblieben sind ...« Sie schüttelte den Kopf und sah Yassir auf eine Art und Weise an, die den Ägypter zum Lächeln brachte.

»Ihr bildet euch ein, alle Geheimnisse dieses Landes zu kennen«, sagte er in sanftem, tadelndem Ton, der nichts Überhebliches oder gar Verletzendes hatte. »Aber das stimmt nicht. Ihr habt nicht einmal richtig angefangen, sie zu entdecken. Und ihr werdet sie auch niemals wirklich verstehen.«

Die Antwort schien Sascha zu verwirren. Einige Sekunden lang sah sie Yassir mit gerunzelter Stirn an, dann zuckte sie mit den Schultern und setzte ihre Erkundung der Schatzkammer fort. Vor einer kleinen Truhe blieb sie stehen und nahm eine nur etwa zehn Zentimeter große Figur in die Hand, die einen Mann im Lendenschurz zeigte, dessen Körper mit Hieroglyphen bedeckt war. Es gab sehr viele von diesen Figürchen hier drinnen. »Was ist das?« fragte sie.

»Ein Uschebti.« Yassir trat neben sie, nahm ihr die Figur aus der Hand und setzte sie behutsam auf die Truhe zurück. Sascha blickte ihn fragend an, und als Yassir keine Anstalten machte, das Wort zu erklären, sprang Aton ein.

»Eine Grabbeigabe«, erklärte er. »Sie haben sie den toten Pharaonen zu Hunderten mitgegeben, damit sie an ihrer Statt im Totenreich die aufgetragenen Arbeiten erledigten.« Auch er betrachtete die kleine Figur einen Moment, wandte seine Aufmerksamkeit dann aber wieder anderen Dingen zu. Noch einmal ließ er seinen Blick durch die Kammer streifen. Der Raum war vollgestopft mit Wundern und Schätzen, aber nichts davon war dazu angetan, ihm weiterzuhelfen. Im Gegenteil - vor allem die beiden überlebensgroßen Falkenstatuen beunruhigten ihn immer mehr. Sie stellten den Gott Horus dar, und vielleicht war der Grund seiner Nervosität einfach der, daß er von Petach wußte, daß Horus zu seinen Feinden gehörte. Aber auch darüber hinaus schien irgend etwas Unheimliches an den beiden gewaltigen goldenen Falken zu sein. Vielleicht waren es ihre Augen. Die Karneole - jeder einzelne war größer als Atons Daumennagel - fingen das Licht des Scheinwerfers auf und warfen es hundertfach gebrochen zurück, so daß man meinen konnte, ihre Augen wären lebendig. Das Phänomen hatte noch einen zweiten, unheimlichen Nebeneffekt: Es schien keinen Fleck in der Kammer zu geben, an dem man nicht direkt von den beiden riesigen Falken angestarrt wurde.

»Es wird Zeit«, sagte Yassir. »Hast du alles gesehen, was du sehen wolltest?«

Aton nickte, doch dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ein letztes Mal dem Relief zu. »Noch einen Moment«, bat er. Yassir war davon nicht begeistert, protestierte aber auch nicht, so daß Aton wieder an die Wand trat und sowohl die Schlachtszene als auch die daneben angebrachte Karte noch einmal und mit großer Konzentration musterte. Etwas daran war wichtig, mußte wichtig sein, denn Petach hatte ihn nicht von ungefähr hierhergeschickt. Es war - Und dann wußte er es. Die Erkenntnis traf ihn so heftig, daß er einen halben Schritt zurückwich und erschrocken die Luft einsog. Er konnte spüren, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

»Was ist los?« fragte Sascha. »Was hast du?«

Aton starrte das Wandbild mit offenem Mund an. Er war bis ins Mark erschrocken - wieso hatte er es nicht sofort gesehen? Es war so deutlich, daß es ihm nun, als ihm die Wahrheit klargeworden war, regelrecht ins Auge sprang.

»Die Schlucht«, murmelte er. »Die Felsenschlucht, in der Echnaton gestorben ist.«

»Was ist damit?« fragte Sascha. Sie trat neben ihn und sah das Bild ebenso aufmerksam an wie er, schien aber nichts Besonderes daran zu entdecken.

»Die Baustelle«, murmelte Aton. »Vaters Baustelle. Der Staudamm. Die ... die Schlucht liegt unmittelbar vor dem Damm.«

»Und?« fragte Sascha, der die wahre Bedeutung seiner Worte noch gar nicht aufgegangen zu sein schien.

»Begreifst du denn nicht?« flüsterte Aton. »Die toten Krieger! Sie liegen direkt vor dem Damm!«

Auch Sascha wurde blaß. »Du meinst, ganz in der Nähe deiner Eltern?«

»Meiner Eltern?!« Aton schrie fast. »Dort draußen sind Hunderte von Arbeitern. Hunderte von Menschen, die keine Ahnung haben, was in zwei Tagen geschehen wird.«

Sascha schien immer noch nicht zu wissen, was er meinte. »Ich verstehe nicht genau, worauf du hinauswillst«, sagte sie.

»Aber begreifst du denn nicht?« rief Aton aufgebracht. »Sie werden erwachen, wie Echnaton es prophezeit hat. Und sie werden über all diese ahnungslosen Menschen herfallen und sie umbringen. Das Blut unzähliger Unschuldiger wird fließen, und wenn das geschieht -«

»- dann wird Osiris' Macht ins Unermeßliche steigen«, beendete Yassir den Satz, als Aton nicht weitersprach.

»Oh«, sagte Sascha. Nur dieses eine Wort, aber es drückte ihren Schrecken vielleicht mehr aus als alles andere, was sie hätte sagen können.

»Wir müssen sie warnen«, sagte Aton. Plötzlich war es sehr aufgeregt. »Schnell. Wir müssen so schnell zur Baustelle, wie es geht.«

»Niemand wird euch glauben«, sagte Yassir traurig.

»Wir müssen es versuchen«, widersprach Aton. »Irgendwie müssen wir sie überzeugen. Ich weiß noch nicht, wie, aber es muß einfach gelingen. Ich -«

Draußen auf der Treppe näherten sich stampfende Schritte. Aton brach erschrocken mitten im Satz ab, und auch Yassir und Sascha drehten sich mit einem Ruck zur Tür - und schrien gleichzeitig erschrocken auf.

Atons Herz machte einen Satz und schien als harter Knoten in seinem Hals weiter zu hämmern, als er sich zum Eingang umwandte. Die Tür war nicht mehr leer. Unter der Öffnung war eine Gestalt in einem schwarzen Mantel erschienen, und Yassir hatte sofort seinen Scheinwerfer auf sie gerichtet, so daß Aton nun zum zweiten Mal das Gesicht seines Verfolgers erkennen konnte.

Beinahe wünschte er sich, es nicht gesehen zu haben. Es war eine der Gestalten, die ihn gestern abend gejagt hatten. Das gleiche schwarzgekleidete Geschöpf, das Sascha und ihn auch in Gizeh verfolgt hatte. Und nun bewahrheiteten sich Atons ungute Ahnungen auf schreckliche Weise.

Es war kein Mensch. Das Wesen ging aufrecht und hatte zwei Arme und zwei Beine und einen Kopf, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit einem Menschen auch schon auf. Die Hände, die aus den weiten Ärmeln seines Mantels hervorragten, waren keine Hände, sondern plumpe Pfoten, die eher zum Laufen geschaffen schienen, nicht zum Greifen. Unter dem Mantel lugte ein dünner, peitschender Schwanz hervor, und der Kopf war nicht der eines Menschen, sondern die schreckliche Karikatur eines Hundeschädels mit spitzen Ohren, kleinen boshaften roten Augen und einer langgezogenen Schnauze, in der nadelspitze Zähne blitzten. Die Kreatur ähnelte viel mehr einem aufrecht gehenden, mannsgroßen Hund als einem Menschen.

Knurrend kam das Geschöpf näher. Aton hörte ein schreckliches Hecheln und Schnüffeln, wie von einem Bluthund, der die Witterung seiner Beute aufnimmt, und tatsächlich schien sich das Geschöpf mehr nach seinem Geruchs- als seinem Gesichtssinn zu orientieren. Es beugte sich vor, so daß die Vorderpfoten fast den Boden berührten, und kam mit kleinen, hoppelnden Schritten näher, immer wieder nach rechts und links schwenkend, und es dauerte nur einen Augenblick, bis Aton begriff, daß das Wesen tatsächlich seiner Spur folgte, denn es bewegte sich genau dort entlang, wo auch er gegangen war. Und es bewegte sich sehr zielsicher auf ihn zu.

»Aton!« schrie Sascha plötzlich. »Lauf weg! Ich halte ihn auf!«

Aton machte eine Bewegung, Sascha zurückzuhalten, aber es war zu spät. Mit weit ausgebreiteten Armen warf sich die junge Polizistin auf die Kreatur, um sie zu packen und mit einem Judogriff zu Boden zu werfen, wie sie es schon einmal getan hatte.

Es gelang ihr nicht. Aton sah, wie Sascha den Arm des Geschöpfes ergriff, sich in der gleichen Bewegung herumdrehte und den Rücken krümmte, um das Wesen über sich hinweg und zu Boden zu schleudern, und jeden anderen Gegner hätte dieser Wurf wohl auch aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Hundewesen nicht. Obwohl die Kreatur schlank war, mußte sie über unvorstellbare Körperkräfte verfügen. Sascha keuchte vor Schmerz und Überraschung, als sie zurückgezerrt und nun ihrerseits zu Boden geworfen wurde, und hätte das Wesen die Situation genutzt, um sie anzugreifen, so wäre es sicher um sie geschehen gewesen. Aber es versetzte ihr nur einen Tritt, der sie hilflos davonkollern und gegen die Wand prallen ließ, und bewegte sich dann weiter auf Aton zu. Geifer tropfte aus dem Maul des Ungeheuers. Seine Augen loderten vor Mordlust, und der Schwanz peitschte aufgeregt. Aton wich Schritt für Schritt vor dem Angreifer zurück, aber ihm blieben nur wenige Augenblicke, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Das Geschöpf kam immer näher. Ein tiefes, unheimliches Knurren drang aus seiner Brust, und die schrecklichen Fänge öffneten sich. Noch einen Schritt, und -

Das Geschöpf blieb stehen. Soweit dies überhaupt möglich war, erschien ein fast verblüffter Ausdruck auf seinem Hundegesicht, als es den Kopf senkte und an sich herabsah. Atons Blick folgte der Bewegung.

Was das Hundewesen aufgehalten hatte, war eine der Uschebti-Figuren. Es hatte sie umgeworfen, wahrscheinlich ohne es selbst überhaupt zu bemerken, und die kleine Tonstatue hatte sich so unglücklich zwischen seinen Zehen verfangen, daß es weh tun mußte. Mit einem unwilligen Knurren versuchte die Kreatur, die Statue abzuschütteln, aber es ging nicht.

Das Uschebti hielt sich nämlich mit beiden Händen in seinem struppigen Fell fest.

Trotz der Lebensgefahr, in der Aton schwebte, war er fassungslos vor Staunen. Er konnte es ganz deutlich sehen: Die winzige Figur krallte sich mit aller Kraft in das Fell des Hundewesens, und genau in diesem Moment erwachte ein zweites Uschebti ganz in der Nähe zum Leben, lief mit kleinen, trippelnden Schritten auf eines der Beine des Hundewesens zu und begann unverzüglich, daran in die Höhe zu klettern. In seiner winzigen Hand blitzte ein noch winzigeres Messer, mit dem es die Haut des Geschöpfes zwar kaum ritzen konnte, trotzdem aber emsig darauf einstach. Und wenn es schon nicht weh tat, so schien es dem Hundekrieger zumindest unangenehm zu sein, denn er begann das Bein zu schütteln und versuchte, den nicht einmal handgroßen Angreifer abzustreifen.

Ein drittes Uschebti erschien, schwang eine Lanze, die die Dimension eines Zahnstochers hatte, und rammte sie mit aller Kraft in die Zehe des Hundes. Die Kreatur heulte vor Schmerz und Zorn auf und beugte sich vor, um das winzige Geschöpf zu packen, aber das Uschebti brachte sich geschickt vor ihren Krallen in Sicherheit und stach ihm die Lanze nun auch noch in die Pfote.

Und das war erst der Anfang. Plötzlich war der Raum voller huschender, raschelnder Bewegung, als überall winzige Gestalten zu hektischem Leben erwachten. Ein von Spielzeugpferden gezogener Streitwagen galoppierte auf den Hundekrieger los. Soldaten schwangen Lanzen, die kaum größer als Bleistifte waren, ein ganzer Hagel kleiner Wurfgeschosse senkte sich auf das Hundegeschöpf, und immer mehr und mehr der winzigen Angreifer begannen, an seinen Beinen und in den Falten seines Mantels hinaufzuklettern. Das Knurren des Hundes klang jetzt eher furchtsam als zornig, und seine Bewegungen wurden immer fahriger. Mit wild schlagenden Armen taumelte er durch den Raum, stieß gegen ein paar Statuen, prallte gegen die Wände und andere Hindernisse. Er bot einen geradezu bizarren Anblick. Dutzende von winzigen Figürchen hingen an seinen Kleidern und seinem Fell, schlugen, stachen, kratzten, bissen und traten auf ihn ein, und auch wenn jeder einzelne der kleinen Quälgeister ihm kaum Schaden zufügen konnte, so stellten sie in ihrer großen Anzahl wohl doch eine enorme Gefahr dar.

Schließlich gab der Angreifer auf und wandte sich zur Flucht. Brüllend und um sich schlagend, wankte er zum Ausgang, prallte noch einmal gegen die Wand und verschwand schließlich auf der Treppe. Aton starrte ihm entsetzt nach, dann fuhr er herum und war mit zwei schnellen Schritten bei Sascha, die noch immer benommen am Boden saß. »Alles in Ordnung?« fragte er besorgt.

Sascha hob mühsam den Kopf. Sie blickte ihn an, aber für eine Sekunde schien sie ihn gar nicht zu sehen. »Ja«, antwortete sie. »Es ... geht schon wieder.« Ihre Stimme klang flach, und in ihrem Blick war eine sonderbare Leere, die Aton frösteln ließ.

»Was war los?« fragte er in bewußt lockerem Ton, um seine Nervosität zu überspielen. »Ich dachte, du bist ein As im Judo.«

Sascha lächelte nicht. Ihr Gesicht blieb so leer und maskenhaft starr, wie es war, und der Ausdruck begann Aton allmählich wirkliche Angst einzuflößen. »Zu stark ...« flüsterte sie. »Ihr Einfluß ... ist hier zu stark. Ich kann ... meine Kräfte nicht konzentrieren. Ich ... muß hier raus.«

Das hielt Aton für eine ausgezeichnete Idee. Auch er begann sich immer unwohler hier drinnen zu fühlen, obwohl sie gerade einen eindeutigen Beweis dafür erhalten hatten, daß das, was hier drinnen war, auf ihrer Seite stand. Aber trotzdem machte es ihm angst - weil er keine Ahnung hatte, was es war. Er half Sascha aufzustehen, und sie war so schwach, daß er sie auf dem Weg zum Ausgang stützen mußte.

Yassir, der vorausgeeilt war, erwartete sie draußen auf der Treppe. Mit einer warnenden Geste bedeutete er ihnen, anzuhalten, während er konzentriert nach oben starrte, wohin er auch den Strahl seines Scheinwerfers gerichtet hatte. Von dem Hundekrieger war nichts mehr zu sehen, nur auf den Stufen waren teilweise zerbrochene Uschebti-Figuren zurückgeblieben. Yassir zögerte, weiterzugehen. Und Aton konnte dieses Zögern sehr gut verstehen. Ohne daß es einer Erklärung bedurft hätte, wußte er, daß ihre winzigen Verbündeten ihnen hier draußen nicht helfen konnten.

Vorsichtig ließ er Saschas Arm los, überzeugte sich davon, daß sie aus eigener Kraft stehen konnte, und ging dann an Yassir vorbei zwei Stufen die Treppe hinauf, um sich nach einer der kleinen Statuen zu bücken. Es war, wie er erwartet hatte: Der Zauber war erloschen, die Tonfigur war jetzt nichts mehr als eben eine Tonfigur.

Yassir ging weiter. Aton wartete, bis Sascha zu ihm aufgeholt hatte, und hielt ihr den Arm hin, aber sie schüttelte nur den Kopf und lächelte etwas ängstlich. »Es geht mir schon wieder ganz gut«, sagte sie.

»Bestimmt?« fragte Aton mißtrauisch. Als Sascha nur nickte, fügte er hinzu: »Was war da drinnen mit dir los?«

»Nichts«, erwiderte Sascha, noch immer in diesem nervösen Ton, der Aton klarmachte, daß diese Behauptung so weit von der Wahrheit entfernt war, wie es nur ging. »Ich habe meine Kräfte wohl ein bißchen überschätzt. Es war alles zu viel in den letzten Tagen.«

Der Scheinwerferstrahl huschte wie ein kleines, nervöses Tier vor ihnen her, während sie die Stufen hinaufgingen. Sie bewegten sich sehr schnell, gerade noch, daß sie nicht wirklich rannten, und trotzdem schien die Treppe kein Ende zu nehmen. Sie kam Aton viel länger vor als auf dem Herweg. Obwohl Yassir von Zeit zu Zeit seine Lampe hob und den Strahl schräg nach oben auf das Ende des Treppenschachtes richtete, war die Tür noch immer nicht in Sicht. Andererseits, versuchte Aton sich zu beruhigen, war er vorhin so aufgeregt gewesen, daß er wirklich nicht darauf geachtet hatte, wie lange der Weg nun war. Aber auch Yassir wurde immer unruhiger. Immer öfter blieb er stehen und sah sich um, fast als müsse er sich davon überzeugen, daß sie noch auf dem richtigen Weg waren - was natürlich Unsinn war. Diese Treppe führte nur in zwei Richtungen, so daß es schlichtweg unmöglich war, sich zu verirren.

Doch es blieb dabei: Die Tür kam nicht in Sicht. Und nach weiteren endlosen vier oder fünf Minuten wußte Aton auch, warum. Er begriff es im selben Moment, in dem sie das obere Ende der Treppe erreichten und die massive Steinplatte anstarrten, die den Eingang verschloß.

»Aber das ... das ist doch unmöglich«, flüsterte Sascha. »Die ... die Tür muß zugefallen sein!«

Yassir antwortete nicht sofort. »Sie kann nicht von selbst zufallen«, sagte er dann. Seine Stimme klang leise, aber sehr fest. Mit unbewegtem Gesicht schüttelte er den Kopf und ließ den Lichtschein seiner Lampe über die kaum sichtbare Naht wandern, die die Umrisse der Tür markierte. »Ich war oft genug hier. Er ... muß sie geschlossen haben.«

Ein Gefühl eisigen Entsetzens breitete sich in Aton aus, während auch er wie hypnotisiert auf die tonnenschwere Felsplatte starrte, die ihnen das Weitergehen verwehrte. »Aber Sie ... Sie können sie doch aufmachen, oder?« fragte er. Er las die Antwort auf seine Frage in Yassirs Augen, aber er fügte wider besseres Wissen noch hinzu: »Ich meine: Das war doch nur ein Scherz, vorhin. Daß man sie nur von außen öffnen kann?«

»Nein, das war es nicht«, antwortete Yassir. »Wir sind gefangen.«

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