Das Wagenrennen

Aton erreichte die Straße unbehelligt - wenn auch reichlich zerkratzt. Er war erschöpft, und er fror erbärmlich. Noch vor einer Stunde hätte er es für unmöglich gehalten, doch jetzt sehnte er sich nach dem groben Kaftan zurück, den Sufi ihm gegeben hatte. Die Nacht erinnerte ihn mit eisiger Kälte und Feuchtigkeit daran, daß in ein paar Tagen Weihnachten war.

Um sich erblickte er nichts als Dunkelheit und Leere: Das aufgegebene Krankenhausgelände erstreckte sich zu beiden Seiten, so weit er sehen konnte, und auf der anderen Straßenseite erhob sich ein kaum weniger verwilderter, von einem zwei Meter hohen Eisenzaun umgebener Park. Aton erwog für einen Moment, darüberzuklettern und sich irgendwo in der Dunkelheit zwischen den Bäumen zu verbergen, bis es Tag wurde, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Dunkelheit war kein ausreichender Schutz vor den Mächten, die es auf ihn abgesehen hatten, sondern wohl eher ihre Verbündete. Und darüber hinaus war es so kalt, daß er Gefahr laufen würde, bis zum Morgen zu erfrieren. Er mußte hier weg, und er mußte in Bewegung bleiben - und beides möglichst schnell.

Also warf er einen letzten Blick zurück, stellte mit Erleichterung fest, daß von seinen Verfolgern nichts zu sehen war, und marschierte los.

Wie sich nach einer Weile herausstellte, in die falsche Richtung. Die Straße blieb so dunkel und verlassen, wie sie war, kein Licht war in der Ferne zu sehen, geschweige denn irgendein Anzeichen von Leben.

Schließlich erreichte er eine Abzweigung und blieb stehen. Als er sich umsah, stöhnte er vor Enttäuschung laut auf. Die Straße vor ihm und auch die nach rechts führende Abzweigung erstreckten sich weiter in die Dunkelheit hinein, so weit er sehen konnte. Zur Linken gewahrte er einen schwachen Schimmer, es waren wohl die weit entfernten Lichter der Stadt. Er hatte sich schon gedacht, daß dieses verlassene Krankenhaus irgendwo am Stadtrand liegen mußte - aber Tatsache war wohl, daß es außerhalb der Stadt lag; wahrscheinlich sogar mehrere Kilometer!

Doch alles Hadern mit dem Schicksal half nicht. Aton wechselte die Straßenseite und verfiel in einen leichten, kräftesparenden Trab, von dem er hoffte, daß er ihn lange genug durchhalten konnte, um die Stadt zu erreichen, ehe er erfror.

Beiderseits der Straße erhob sich eine finstere Mauer aus Bäumen und Büschen. Er sah nirgends ein Straßenschild, keinen Wegweiser, keine Abzweigung, und sei es nur ein schmaler Waldweg, nicht einmal eine Reklametafel. Außerdem zeigte sich bald, daß er seine Kräfte wohl überschätzt hatte. Seine Schritte wurden langsamer, und in seinen Gliedern begann sich allmählich wieder eine bleierne Müdigkeit breitzumachen, die sich auch durch die Kälte und die Bewegung nicht vertreiben ließ.

Immer wieder sah er sich im Laufen um, aber in der Dunkelheit hinter ihm rührte sich nichts. Die völlige Stille, durch die er marschierte, verstärkte seine Angst. Er war bestimmt schon eine halbe Stunde auf dieser Straße unterwegs, und bis jetzt war nicht ein einziger Wagen aufgetaucht. Und das unheimlichste: Die Lichter vor ihm waren nicht sichtbar näher gekommen. Aton wußte zwar, wie sehr man sich in einer Entfernung verschätzen konnte, zumal bei Nacht und in seinem erschöpften Zustand, aber es schien, als wäre er bisher überhaupt nicht von der Stelle gekommen! Sein Mut sank. Er würde es nicht schaffen, das spürte er ganz genau.

Gerade als er ernsthaft in Erwägung zog, sich an den Straßenrand zu setzen, um darauf zu warten, daß ein Wagen vorbeikam, sah er einen Lichtschein vor sich. Er beschleunigte noch einmal seine Schritte, und einen Augenblick später erkannte er, was es war: Nur mehr wenige hundert Meter entfernt befand sich eine Bushaltestelle. Und unmittelbar daneben und von einer kleinen Lampe erhellt, deren Licht er gesehen hatte, eine Telefonzelle!

Der Anblick gab Aton neue Kraft. Er drängte die Müdigkeit zurück und begann wieder zu laufen, bis er die Telefonzelle erreichte. Vor lauter Aufregung hatte er einige Mühe, die Tür aufzubekommen, und er stolperte buchstäblich mit letzter Kraft hinein. Drinnen hatte es nur wenige Grade mehr als draußen, aber für Aton war es herrlich warm. Erschöpft und erleichtert ließ er sich gegen das kalte Glas sinken, schloß für einige Sekunden die Augen und genoß einfach das Gefühl, wieder in der Wirklichkeit zu sein. So einfach dieses Gebilde war, es war ein Teil seiner Welt, nicht jene alptraumhafte uralter Gottheiten und Dämonen, in die ihn Petach gegen seinen Willen entführt hatte.

Erst nach einer Weile fühlte Aton die Kälte des Glases, an dem er lehnte. Schaudernd richtete er sich auf, hob die rechte Hand nach dem Telefonhörer und vergrub die linke in der Hosentasche. Er fand einige Münzen und einen kleinen, zerknitterten Zettel, den er achtlos auf die Ablage unter dem Telefon warf. Aber als er die Hand hob, um das Geld einzuwerfen, zögerte er. Wen sollte er anrufen? Seine Eltern waren jetzt vermutlich schon in Kairo, und er hatte weder in der Stadt noch in der näheren Umgebung irgendwelche Verwandte oder Freunde, an die er sich wenden konnte. Seine Großmutter fiel ihm ein, zu der Petach ihn ja eigentlich hatte bringen sollen, aber Aton verwarf den Gedanken gleich wieder. Er hatte erlebt, wie gefährlich es werden konnte, und seine geliebte Oma würde er auf gar keinen Fall in Gefahr bringen. Selbstverständlich konnte er einfach die Polizei anrufen, und selbstverständlich würde jemand kommen und ihn abholen, aber Aton konnte sich vorstellen, wie die Reaktion auf die Geschichte, die er zu erzählen hatte, aussah. Natürlich würde er es trotzdem tun, denn die Alternative war, hierzubleiben und auf Petach zu warten, aber vielleicht war es trotzdem klug, noch über andere Möglichkeiten nachzudenken.

Sein Blick fiel auf das Stück Papier, das er zusammen mit den Münzen in der Hosentasche getragen hatte. Er faltete es auseinander und strich es mit dem Handrücken glatt.

Es war eine Visitenkarte. Die Karte der jungen Polizistin. Unter der Nummer des Polizeireviers, auf dem sie Dienst tat, war auch ihre private Telefonnummer aufgeschrieben. Und sie hatte ihm eindeutig gesagt, daß er sie jederzeit anrufen konnte, wenn er Hilfe brauchte.

Kurz entschlossen tat er es. Es würde nicht viel ändern, denn Sascha war schließlich Polizeibeamtin und würde sich nach ihren Vorschriften richten, aber er hatte Vertrauen zu der jungen Frau gefaßt.

Das Freizeichen ertönte - zweimal, fünfmal, achtmal. Aton wollte gerade wieder einhängen, als abgehoben wurde und sich eine verschlafen klingende Stimme meldete: »Ja?«

»Ich bin es, Aton«, antwortete Aton. Plötzlich wußte er nicht, was er sagen sollte. »Vielleicht erinnern Sie sich«, stammelte er.

»Aton?« wiederholte Sascha mühsam. »Der Junge mit dem ägyptischen Freund. Vom Flughafen, gestern abend.«

»Ja«, antwortete Aton. »Sie haben gesagt, daß ich Sie anrufen könnte, und -«

»Sag mal, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?« Saschas Stimme klang jetzt verärgert.

»Nein«, gestand Aton. »Aber ich weiß nicht, wo ich bin, wie ich zurückkommen soll, und -«

»Was ist los?« unterbrach ihn Sascha. Aus ihrer Stimme war jede Spur von Müdigkeit oder Zorn geschwunden. »Bist du in Gefahr?«

»Ja. Sie sind hinter mir her«, sagte Aton.

»Wer? Der Ägypter?«

Also hatte er recht mit seiner Vermutung gehabt, daß sie Petach mißtraute. Er nickte, dann fiel ihm ein, daß sie die Bewegung durch das Telefon nicht sehen konnte. »Ja. Er und der andere.«

»Welcher andere?«

»Das kann ich jetzt nicht erklären«, antwortete Aton.

»Gut, reden können wir später«, sagte Sascha knapp. »Wo bist du?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Aton. »Irgendwo außerhalb der Stadt, in einer Telefonzelle.«

»Der Standort muß auf dem Telefon stehen«, erwiderte Sascha. »Entweder am Apparat selbst oder daneben. Siehst du es?«

Aton suchte einige Augenblicke, dann entdeckte er das kleine Schildchen, das an jedem öffentlichen Fernsprecher angebracht war, und las Sascha die Adresse vor.

Ein überraschtes Keuchen antwortete ihm. »Was um alles in der Welt tust du dort draußen?« fragte sie. Ehe er antworten konnte, fuhr sie fort: »Egal. Bleib, wo du bist. Ich schicke dir einen Streifenwagen.«

»Nein!« sagte Aton impulsiv. »Keine Polizei. Ich meine ... keine richtige Polizei.«

»Was glaubst du, was ich bin?« erwiderte Sascha. »Aber gut, meinetwegen. Ich hole dich ab - aber es kann eine halbe Stunde dauern. Du bist am anderen Ende der Stadt. Kannst du so lange warten?«

Aton war nicht sicher. Eine halbe Stunde war eine lange Zeit - auf der anderen Seite war seit seiner Flucht aus dem Krankenhaus mindestens eine halbe Stunde vergangen, und bisher hatten Petach und Sufi ihn noch nicht aufgespürt. Außerdem bot die Telefonzelle hinlänglich Schutz vor Kälte und Wind.

»Ich glaube schon«, antwortete er zögernd.

»Gut«, sagte Sascha. »Rühr dich nicht von der Stelle, hörst du?«

Aton versprach es und hängte ein, nachdem Sascha die Verbindung unterbrochen hatte. Er fühlte sich erleichtert. Er wußte selbst nicht, wieso er ein so großes Vertrauen zu der jungen Frau empfand. Es hatte nichts mit der Tatsache zu tun, daß sie Polizistin war. Vielleicht war es einfach der Umstand, daß sie der einzige Mensch in dieser Stadt war, den er überhaupt kannte. Zum ersten Mal kam Aton zu Bewußtsein, wie allein er eigentlich war. Er war hier aufgewachsen, und doch war es eine fremde Stadt voller fremder Menschen, von denen er sich keine Hilfe erhoffen konnte.

Aton rief sich zur Ordnung. Selbstmitleid brachte ihn nicht weiter, es paßte auch nicht zu ihm. Sein bisheriges Leben hatte es mit sich gebracht, daß er früh selbständig geworden war, und er war stets stolz darauf gewesen. Wenn niemand da war, der ihm half, nun, dann würde er sich eben selbst helfen.

Zwar wußte er überhaupt nicht, was mit ihm geschah und warum, aber er zweifelte nicht daran, daß er es herausfinden würde. Er brauchte jetzt nur ein wenig Ruhe und einen sicheren Ort, an dem er sich erholen und nachdenken konnte.

Aton war sicher: Wenn er herausfand, was Petach von ihm wollte, dann würde er auch eine Möglichkeit finden, sich zu wehren.

Die Zeit verstrich. Allmählich begann Aton die Kälte auch hier drinnen zu spüren. Seine Finger und Zehen wurden langsam taub. Immer wieder suchte sein Blick die Straße in beide Richtungen ab, aber die Dunkelheit blieb.

Er hatte ungefähr dreieinhalb Wochen in der Telefonzelle verbracht (so kam es ihm vor, auch wenn er objektiv schätzte, daß die halbe Stunde, von der Sascha gesprochen hatte, noch nicht einmal ganz vorbei war), als er draußen eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Es war nur ein kurzes Huschen auf der anderen Straßenseite, aber er schrak heftig zusammen, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Erfüllt von Furcht und Neugier, strengte er seine Augen an, um mehr erkennen zu können, und die Bewegung wiederholte sich.

Aton wich einen Schritt zurück, so daß er unsanft mit dem Rücken gegen das Telefon stieß - und dann atmete er erleichtert auf, als er erkannte, was es war. Eine kleine, schwarzweiß getigerte Katze näherte sich der Telefonzelle. Sie schlenderte fast gemächlich heran, Schwanz und Ohren grüßend aufgestellt, und der Blick ihrer gelben, in der Dunkelheit leuchtenden Augen war direkt auf Aton gerichtet. Offensichtlich war es keine verwilderte Katze, sondern ein Tier, das an Menschen gewöhnt war.

Nach all der Zeit, die Aton allein in dieser furchteinflößenden Dunkelheit verbracht hatte, erschien ihm selbst der eisige Wind draußen die Gesellschaft des Tieres wert. Langsam, um die Katze nicht zu erschrecken und davonzujagen, öffnete er die Tür und verließ die Telefonzelle. Die Katze kam noch einige Schritte näher, blieb zwei Meter vor ihm sitzen und sah ihm ruhig entgegen. Aton näherte sich ihr langsam, ließ sich neben ihr in die Hocke sinken und streckte die Hand aus. Das Tier begann laut zu schnurren, als er es streichelte, und einen Augenblick später erlebte Aton eine weitere Überraschung. Am Waldrand auf der anderen Straßenseite erschien eine zweite Katze. Und eine Sekunde später eine dritte.

Aton war verwirrt. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten ihn aufhören lassen, an Zufälle zu glauben. Er hörte auf, die Katze zu streicheln, und stand vorsichtig wieder auf. Auch das Tier richtete sich auf, drehte sich herum und trat einige Schritte weit auf die Straße hinaus, blieb dann aber wieder stehen und sah zu ihm zurück. Die glühenden, gelben Augen schienen ihm etwas sagen zu wollen. Und Aton glaubte zu wissen, was.

Er machte einen Schritt auf die Katze zu. Das Tier ging weiter, aber auch diesmal wieder nur ungefähr einen Meter, dann blieb es abermals stehen und sah zu ihm zurück. Und so ging es weiter, bis sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten.

Aton ließ sich wieder in die Hocke gleiten und streckte die Hand aus, um nach den beiden anderen Katzen zu greifen, doch diesmal ließen sich die Tiere nicht streicheln, sondern wichen rückwärts gehend vor ihm zurück und sahen ihn aus ihren gelben, unheimlichen Augen an. Es war nichts Feindseliges in diesen Blicken, aber Aton spürte doch genau, daß die Tiere ihn nicht hierhergelockt hatten, um sich ein paar Streicheleinheiten von ihm zu holen. Etwas stimmte mit diesen Katzen nicht.

In diesem Moment hörte er ein Geräusch hinter sich. Aton drehte sich erleichtert herum, davon überzeugt, das Scheinwerferpaar eines Autos zu sehen, und so hatte er die Hand bereits halb erhoben, um zu winken - aber die Straße hinter ihm war noch immer dunkel. Und erst dann begriff er, daß es überhaupt kein Wagen war, den er hörte. Der Laut hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit dem Motorengeräusch eines Autos. Es war ein rhythmisches, schnelles Klappern, begleitet von einem sonderbaren Kollern und Rollen ... Aton hatte ein Geräusch wie dieses noch nie zuvor im Leben gehört, aber es war so unheimlich, daß er ganz von der Straße herunter und einen Schritt zwischen die Bäume trat.

Keine Sekunde zu früh, wie sich im nächsten Augenblick zeigte.

Aton riß ungläubig die Augen auf, als er sah, was die Dunkelheit hinter ihm ausspie wie ein Gespenst aus einer längst vergangenen Zeit.

Es war ein Wagen - aber ganz und gar nicht die Art von Wagen, die er erwartet hatte. Es war ein hölzerner, reichverzierter Wagen, der auf zwei gewaltigen Speichenrädern heranrollte und von zwei nachtschwarzen Pferden gezogen wurde. Hinter der mit Gold beschlagenen Brustwehr stand eine hoch aufgerichtete Gestalt, die passend zu dem Kampfwagen ein altägyptischer Krieger hätte sein können. Aber das war sie nicht. Ihr Körper war mit grauen, schmalen Stoffstreifen umwickelt. An ihrem linken Arm war ein metallener Schild befestigt, und griffbereit neben der rechten Hand, die die Zügel hielt, lehnte eine Lanze mit einer dreieckigen Spitze. Es war die Mumie aus dem Museum.

Aton spürte, wie sich ihm jedes einzelne Haar auf dem Kopf sträubte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie im Feuer verbrannt war, aber nun war sie wieder vollkommen unversehrt. Selbst die Stoffstreifen, die Bastets Krallen zerfetzt hatten, waren wieder heil.

Schnell wie ein Wirbelwind raste der unheimliche Kampfwagen heran, machte plötzlich einen Schwenk nach rechts und donnerte mit ungebremstem Tempo auf die Telefonzelle zu, in der Aton sich noch vor Sekunden aufgehalten hatte - und einfach hindurch! Metall- und Glassplitter flogen in einem gewaltigen Wirbel davon. Die Lampe erlosch im elektrischen Zischen eines Kurzschlusses, und was die Hufe der schwarzen Höllenpferde nicht zertrümmert hatten, das wurde unter den Rädern des Kampfwagens zermalmt. Der Wagen raste einfach weiter, ohne auch nur langsamer zu werden.

Aton starrte ihm fassungslos nach. Ein eisiger Schauer des Entsetzens lief über seinen Rücken, als er die zertrümmerten Überreste der Telefonzelle betrachtete. Wäre er noch dort drinnen gewesen und nicht herausgekommen, um die Katze zu streicheln, dann - die Katzen!

Aton fuhr blitzschnell herum, aber statt drei war es nun ein ganzes Dutzend der kleinen, spitzohrigen Tiere, die im Halbkreis um ihn herumstanden und ihn anstarrten. Und obwohl Aton mit absoluter Gewißheit spürte, daß diese Wesen nicht seine Feinde waren, lief ihm erneut ein Schauer über den Rücken. Das waren keine normalen Tiere. Etwas war in ihrem Blick, was dort nicht hingehörte. Ein Wissen und eine Weisheit, die zu groß und zu alt waren, als daß er sie wirklich erfassen konnte. Langsam, Schritt für Schritt, wich er rückwärts gehend auf die Straße zurück. Die Katzen folgten ihm nicht, sondern starrten ihn weiter an.

Wieder hörte er ein Geräusch und fuhr erschrocken herum. Ein grelles Licht raste auf ihn zu. Aton hörte eine Bremse quietschen, dann das Aufheulen einer Hupe. Geblendet hob er die Hand über die Augen, aber er war noch gelähmt vor Schrecken und nicht in der Lage, sich zu rühren.

Der Wagen kam zwanzig Zentimeter vor ihm mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Die Tür wurde aufgerissen und eine schattenhafte Gestalt sprang heraus. Aton erkannte sie erst, als er in Saschas erschrockenes Gesicht blickte.

»Aton!« rief sie. »Bist du verrückt geworden? Beinahe hätte ich dich -« Sie brach mitten im Satz ab, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah. »Was ist los mit dir?« fragte sie. »Was hast du?«

Aton antwortete nicht. Sascha trat auf ihn zu und ergriff ihn an der Schulter, aber sie sagte nichts, und plötzlich weiteten sich ihre Augen, während ihr Blick auf einen Punkt hinter Aton gerichtet war. »Was ist denn das?« flüsterte sie.

Aton erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Rasch drehte er sich herum und sah, daß die Katzen näher gekommen waren. Es waren mehr geworden. Etwa an die zwei Dutzend Tiere befanden sich nur wenige Meter hinter ihm und bildeten in fast militärischer Präzision drei hintereinanderstehende Reihen.

Saschas Hand, die auf seiner Schulter lag, begann zu zittern. »Was ist denn das?« murmelte sie. »Was ... was geht hier vor?«

Noch ehe Aton antworten konnte, setzten sich die Katzen abermals in Bewegung. Sie taten es sehr langsam und wieder mit jener unheimlichen, fast menschlich anmutenden Gleichmäßigkeit. Aus den drei hintereinandergestaffelten Reihen wurde ein absolut exakter Halbkreis, in dessen Zentrum sich Sascha, Aton und der Wagen befanden. Und dieser Halbkreis bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam auf sie zu.

»Was bedeutet das?« murmelte die junge Frau.

»Wir sollten hier verschwinden«, sagte Aton. »Schnell.«

Das letzte Wort wäre nicht mehr nötig gewesen. Den Blick zwar noch immer starr auf die näher kommenden Katzen gerichtet, schob Sascha Aton rasch um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stieß ihn fast auf den Sitz. Dann umrundete sie den Wagen im Laufschritt, setzte sich hinter das Steuer und zog die Tür mit einem heftigen Ruck hinter sich zu. Die Katzen kamen immer noch näher. Etwas hatte sich geändert, das spürte Aton deutlich. An diesen Tieren war plötzlich nichts Freundliches mehr.

Sascha spürte dies vermutlich ebenso deutlich, denn sie legte so hastig den Rückwärtsgang ein, daß das Getriebe ein protestierendes Knirschen von sich gab, und ließ den Wagen mit aufheulendem Motor zehn, fünfzehn Meter zurückrollen, ehe sie wieder anhielt.

»Das ist geradezu ... gespenstisch«, murmelte sie. Ihre Stimme bebte. Die Katzen hatten ihre Formation abermals geändert und bildeten jetzt eine schnurgerade Reihe quer über die ganze Straße. Der Anblick war gespenstisch, aber zugleich auch noch viel mehr; eine Warnung, eine eindeutige, allerletzte Warnung, hierzubleiben. Und sie verstanden sie beide. Sascha wendete hastig den Wagen und fuhr los.

Aton drehte sich im Sitz herum, und auch Sascha starrte gebannt in den Rückspiegel, bis die Dunkelheit die unheimliche Katzenarmee verschlungen hatte. Aber die junge Polizistin hielt auch dann noch nicht an, sondern fuhr noch ein gutes Stück weiter, ehe sie - nach mehreren, nervösen Blicken in den Rückspiegel - langsam an den rechten Straßenrand heranfuhr. Sie hielt an, ließ den Motor aber laufen, und während sie sprach, irrte ihr Blick immer wieder zum Spiegel. »Das war ... das Unheimlichste, das ich jemals erlebt habe«, sagte sie. Sie war sehr blaß, und die Haltung, in der sie hinter dem Steuer saß, versuchte vergeblich Gelassenheit auszudrücken. Ihre Hände lagen auf dem Lenkrad, aber sie hielten es ein wenig zu fest, und ihr Fuß spielte unruhig mit dem Gaspedal, so daß der Motor immer wieder aufheulte. Sie schien das nicht zu bemerken.

»Ich glaube, es wird Zeit für ein paar Erklärungen«, sagte sie, während sie mit einer Hand eine Decke vom Rücksitz zog. »Für ein paar ehrliche Erklärungen, Aton«, fügte sie hinzu.

»Das ist nicht so leicht«, antwortete Aton. Er zitterte am ganzen Leib, und seine Hände und Füße waren taub, und obwohl die Heizung des Wagens mit voller Kraft lief und er in die Decke gehüllt war, wollte die Kälte einfach nicht aus seinen Gliedern weichen.

»Was tust du hier«, fragte Sascha, »halb nackt, Kilometer von der Stadt entfernt und mitten in der Nacht? Und was hatten diese Katzen zu bedeuten?«

Aton fuhr sich mit der Zunge über seine rissig gewordenen Lippen. »Ich erzähle Ihnen alles«, sagte er. »Die ganze Geschichte, auch wenn Sie sie wahrscheinlich nicht glauben werden. Aber nicht jetzt. Ich denke, es ist besser, wenn wir erst einmal hier verschwinden.«

Sascha antwortete nicht, sie warf erneut einen Blick in den Rückspiegel des Wagens, der Antwort genug war. Es war deutlich zu erkennen, daß sie versuchte, eine Erklärung für das zu finden, was sie einfach nicht glauben konnte - obwohl sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. »In Ordnung«, sagte sie nach ein paar Sekunden. »Ich nehme dich erst einmal mit zu mir nach Hause und versuche dich wieder aufzutauen. Aber danach will ich keine Ausreden mehr hören, sondern nur noch die Wahrheit.«

»Versprochen«, sagte Aton - und er meinte es so. Er würde ihr die ganze Geschichte erzählen, jedes einzelne Detail, wenn sie darauf bestand, und er würde die Wahrheit sagen - auch, wenn er sich Saschas Reaktion auf diese Wahrheit lebhaft vorstellen konnte.

»Was ist mit der Telefonzelle passiert?« fragte Sascha plötzlich, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»Das ... werde ich Ihnen dann auch erklären«, antwortete Aton ausweichend, »wenn wir in Sicherheit sind.«

Er wich ihrem Blick aus, aber er konnte fühlen, wie Sascha ihn von der Seite her anstarrte, während sie weiterfuhren.

»Da bin ich aber mal gespannt«, murmelte sie.

Aton hielt es für klüger, darauf nicht zu antworten, sondern lehnte sich in die Polster des Wagens zurück und versuchte sich zu entspannen. Das Auto erfüllte ihn mit demselben Gefühl von Sicherheit wie die Telefonzelle vorhin; und aus denselben Gründen.

Und wie sich bald zeigen sollte, war es eine ebenso trügerische Sicherheit.

Sie waren vielleicht fünf Minuten gefahren, als plötzlich vor ihnen ein unheimliches gelbes Licht erschien. Zuerst hielt Sascha es wohl für die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens, denn sie hob zwar die Hand vor die Augen und blinzelte, war aber nicht im mindesten beunruhigt. Aber das Licht wurde rasend schnell größer, überstrahlte plötzlich die ganze Straße, und dann erschien in seinem Zentrum wie aus dem Nichts wieder der Streitwagen!

Sascha ließ ein ungläubiges Keuchen hören, aber sie bewies Geistesgegenwart genug, um auf die Bremse zu treten und gleichzeitig ein Ausweichmanöver zu versuchen. Der Wagen schlitterte auf blockierenden Reifen auf die Erscheinung zu, verfehlte sie buchstäblich um Haaresbreite und wäre beinahe von der Straße abgekommen, als Sascha erschrocken das Lenkrad verriß. Im allerletzten Moment gewann sie die Kontrolle über den schweren Wagen zurück und trat erneut, aber viel vorsichtiger, auf die Bremse. Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen.

»Was war -?« begann Sascha. Der Rest des Satzes ging in einem gewaltigen Klirren und Scheppern unter. Das Rückfenster auf Atons Seite zerbrach, ein kupferfarbener Blitz schoß herein und bohrte sich in die Sitzlehne hinter ihm.

Aton warf sich instinktiv zur Seite - und in derselben Sekunde drang die Lanzenspitze dort aus dem Polster heraus, wo sich gerade noch sein Rücken befunden hatte!

Das Auto erbebte unter einem gewaltigen Schlag. Die Lanze wurde zurückgezogen, wobei sie den Sitz vollends zerfetzte, und Sascha trat wieder aufs Gas und beschleunigte, und vermutlich rettete sie Aton damit das Leben, denn die Lanze stieß fast im selben Augenblick erneut durch das zerborstene Fenster herein und diesmal so zielsicher, daß sie Aton gar nicht hätte verfehlen können.

Die plötzliche Ausweichbewegung war zuviel. Das Auto schlingerte, drehte sich ein-, zweimal um seine eigene Achse und kam quer zur Fahrtrichtung erneut zum Stehen. Durch das zerbrochene Fenster heulten Wind und eisige Kälte herein, aber darauf achteten weder Aton noch die junge Polizistin. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf den unheimlichen Angreifer gerichtet, der nur wenige Dutzend Meter entfernt dabei war, sein Gefährt zu wenden.

Aton schrie vor Schrecken leise auf, als sich der Wagen praktisch auf der Stelle herumdrehte und mit schier unmöglichem Tempo auf sie zuschoß. Die Mumie hielt die Zügel nur mehr mit einer Hand, mit der anderen hatte sie die Lanze ergriffen und holte aus, um die tödliche Waffe mit aller Kraft zu schleudern.

»Um Gottes willen!« schrie Aton verzweifelt. »So fahr doch! Fahr doch endlich!«

Sascha rührte sich nicht, ihre Hände hielten das Steuerrad mit aller Kraft umklammert, und sie blickte fassungslos dem bizarren Gefährt entgegen. Der Streitwagen raste heran, der Arm, der die Lanze hielt, bog sich weiter zurück, Aton konnte sehen, wie sich die tödliche Spitze direkt auf sein Gesicht ausrichtete.

Im buchstäblich allerletzten Moment gab Sascha Gas. Das Auto machte einen Satz, der es fast von der Straße heruntergeschleudert hätte, und raste mit durchdrehenden Reifen los - direkt auf den Streitwagen und seinen unheimlichen Lenker zu!

Aton schrie vor Entsetzen auf und riß die Arme vor das Gesicht - aber der furchtbare Aufprall, auf den er wartete, blieb aus. In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor die beiden ungleichen Fahrzeuge zusammenstoßen konnten, riß Sascha den Wagen zur Seite. Funken stoben auf. Ein schrilles, metallisches Kreischen erklang, als der Streitwagen auf der ganzen Länge des Automobils vorbeischrammte, und ein fürchterlicher Schlag schleuderte Aton nach vorne und gegen das Armaturenbrett.

Sascha brachte das Auto mit kreischenden Reifen wieder zum Stehen, gerade als Aton sich benommen aufrichtete. Sie machte Anstalten, die Tür zu öffnen und auszusteigen. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, und als Aton sich herumdrehte, verstand er auch, warum.

Der Zusammenstoß hatte nicht nur ihr Auto erschüttert. Der Streitwagen war umgestürzt und lag quer auf der Straße, die Mumie war herausgefallen und meterweit davongerollt - doch weder ihr noch ihrem unheimlichen Gefährt schien der Zusammenstoß sonderlich viel ausgemacht zu haben. Aton beobachtete vollkommen fassungslos, wie sich der Wagen wieder aufrichtete, wie von Geisterhand bewegt. Nur einen Augenblick später kletterte die Mumie wieder an ihren Platz zurück, und der Wagen begann sich schwerfällig auf der Stelle zu drehen.

Aton brauchte Sascha nicht wieder aufzufordern, weiterzufahren. Das unglaubliche Geschehen hinter ihnen hatte sie wohl endgültig davon überzeugt, daß es besser war, sich mit diesem Gegner nicht anzulegen.

Sie gab Gas. Das Auto schoß los, und zu Atons Erleichterung vergaß sie offensichtlich für den Augenblick die Tatsache, daß es normalerweise ihr Job war, über die Einhaltung von Gesetzen und Regeln zu wachen - sie beschleunigte, so schnell sie nur konnte, und hörte auch nicht damit auf, als sie die erlaubte Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Das Auto raste mit geradezu halsbrecherischem Tempo über die Straße, die gottlob schnurgerade verlief. Kein Pferd der Welt hätte mit dieser Geschwindigkeit auch nur annähernd mithalten können.

Allerdings waren die schwarzen Hengste, die den Streitwagen zogen, keine Geschöpfe dieser Welt.

Der Wagen fiel nicht zurück. Sie fuhren hundert, hundertzwanzig, schließlich hundertfünfzig, aber der Abstand zwischen ihnen wurde um nichts größer. Ganz im Gegenteil - langsam, aber unaufhaltsam holte der Streitwagen wieder auf.

Und ewig würden sie dieses Wahnsinnstempo nicht durchhalten, das war Aton klar. Spätestens bei der ersten Biegung würde Sascha abbremsen müssen, wollten sie nicht Gefahr laufen, einfach aus der Kurve zu fliegen.

Doch vorerst spulte sich die Straße vor ihnen schnurgerade ab, und Sascha holte aus dem Auto heraus, was es hergab.

Die Tachonadel hatte die Hundertfünfzig längst hinter sich gelassen - und der Streitwagen holte weiter auf!

Dann geschah, womit Aton insgeheim schon längst gerechnet hatte: Vor ihnen machte die Straße eine Linkskurve, eine sanfte Biegung, die aber bei dieser Geschwindigkeit zur tödlichen Falle werden konnte. Sascha trat mit verzweifelter Kraft auf die Bremse. Das Auto schlitterte kreischend auf die Biegung zu, und Aton sah sich im Geiste schon mit zerschmetterten Gliedern in einem verbeulten Wrack liegen, aber Sascha erwies sich als ausgezeichnete Autofahrerin. Irgendwie gelang es ihr, das Auto auf der Straße und halbwegs unter Kontrolle zu behalten. Sie schlitterten auf zwei Rädern um die Kurve, dann hatten sie endlich wieder eine gerade Strecke vor sich, und Sascha gab Gas, um das hin und her schlingernde Fahrzeug zu stabilisieren. Etwas Schwarzes, Massiges raste an ihnen vorbei, und wieder traf ein furchtbarer Schlag das Auto. Sämtliche Fenster auf Saschas Seite zerbarsten, und auch auf der Frontscheibe erschien ein langgezogener Riß, doch bevor die Mumie zu einem zweiten Hieb ausholen konnte, hatte ihr eigener Schwung sie an ihnen vorbeigetragen. Der Streitwagen verschwand hinter der nächsten Biegung, und Sascha trat ein paarmal hintereinander vorsichtig auf die Bremse, um ihre Geschwindigkeit so weit herabzusetzen, daß sie sie ungefährdet passieren konnten.

Trotzdem waren sie zu schnell. Das Auto raste auf kreischenden Reifen um die Kurve, und plötzlich tauchte der Streitwagen wieder vor ihnen im Scheinwerferlicht auf - und jagte genau auf sie zu!

Diesmal gelang es Sascha nicht mehr, dem Zusammenprall auszuweichen. Sie versuchte es, aber ihr Tempo war einfach zu hoch. Die schwarzen Hengste und der Kampfwagen schienen regelrecht auf sie zuzuspringen, und Aton fand nicht einmal mehr die Zeit, einen Schrei auszustoßen.

Der Aufprall hätte den Wagen zerschmettern müssen, aber er tat es nicht. Aton hörte weder das Kreischen von zerbrechendem Metall noch das Splittern von Glas oder den Todesschrei der Pferde - nichts von alledem. Es gab nur eine ganz leichte Erschütterung und einen sonderbar dumpfen, weichen Laut, als hätte man mit der Faust in den gefüllten Beutel eines Staubsaugers geschlagen. Und das Ergebnis des Zusammenpralls war auch ganz ähnlich - nur daß es ein Staubsauger von der Größe eines Einfamilienhauses gewesen zu sein schien, denn der Wagen war plötzlich in eine gewaltige, graue Staubwolke eingehüllt. Dann folgte ein Prasseln und Rauschen, als rasten sie durch einen Schwarm von Millionen und aber Millionen winziger Insekten. Sascha und er schrien gleichzeitig auf. Aton hustete. Im Auto war plötzlich so viel Staub, daß sie kaum noch Luft bekamen. Sie konnten auch nichts mehr sehen. Sascha drehte verzweifelt am Lenkrad und trat gleichzeitig mit aller Kraft auf die Bremse. Das Fahrzeug schlingerte, drehte sich einmal um sich selbst und kam dann endgültig von der Straße ab. Irgend etwas schlug mit einem dumpfen Krachen gegen das Heck, Äste kratzten über die Karosserie, und die Frontscheibe ging endgültig zu Bruch, aber das Schicksal meinte es noch einmal gut mit ihnen. Weder überschlugen sie sich, noch endete die Schleuderpartie an einem Baum oder einem anderen, harten Hindernis. Das Auto hoppelte noch ein Stück weiter über den unebenen Boden und kam dann endgültig zum Stehen. Der Motor starb ab.

Einige Sekunden war es sehr still im Wagen. Sie saßen beide wie gelähmt da, benommen von dem Zusammenstoß und der Katastrophe, der sie um Haaresbreite entgangen waren.

Schließlich war es Sascha, die ihren Schrecken als erste überwand.

»Bist du verletzt?« fragte sie. Ihre Stimme klang flach, und sie war sehr blaß. In ihren Augen stand ein Entsetzen geschrieben, das nichts mit dem Zusammenstoß und dem, was dem Wagen widerfahren war, zu tun hatte.

Aton schüttelte nur den Kopf, und Sascha öffnete mit zitternden Fingern die Tür und stieg aus. Einen Moment später verließ auch Aton den Wagen.

Sofort hielt er nach dem Streitwagen Ausschau, aber dieser war nicht zu sehen. Sie waren nicht sehr weit von der Straße abgekommen, und es gab weit und breit nichts, was ein so großes Gebilde wie den Wagen und die Pferde hätte verbergen können, selbst wenn beide umgestürzt und zerschmettert gewesen wären. Aber er war nicht da.

Langsam, mit klopfendem Herzen und jederzeit darauf gefaßt, den Streitwagen wieder wie ein Gespenst aus dem Nichts auftauchen zu sehen, bewegte sich Aton auf die Straße zu. Nirgends war auch nur eine Spur des Unheimlichen und seines Gefährts zu entdecken. Es gab keine Trümmer, keine Bruchstücke. Sie hatten ihn frontal gerammt, und er hätte in tausend Teile zersplittern müssen, aber alles, was sie sahen, war eine Wolke aus grauem Staub, die sich nur allmählich senkte.

»Soviel zu deiner Frage von vorhin«, sagte Aton leise. Sascha sah ihn verständnislos an, und er fügte hinzu: »Was mit der Telefonzelle passiert ist.«

Sascha antwortete nicht, aber ihr Blick sprach Bände. Ihr Vorrat an Humor und Ironie schien im Moment ziemlich begrenzt zu sein.

Sie gingen weiter, immer noch vergeblich nach den Trümmern des Kampfwagens und der Leichen der Pferde Ausschau haltend. Nichts dergleichen war zu sehen. Es gab nur den grauen Staub, der sich langsam auf die Straße senkte und eine flockige Schicht bildete.

»Das ist ... unglaublich«, flüsterte Sascha. »Er muß regelrecht pulverisiert worden sein! Aber wie ... wie ist das möglich?«

Aton wollte antworten, doch in diesem Moment sah er etwas, was das Gefühl der Erleichterung, das sich gerade in ihm breitmachen wollte, jäh wieder zerstörte. Der Staub bewegte sich. Im allerersten Moment glaubte er, es wäre der Wind, der ihn aufwirbelte, aber das stimmte nicht. Es gab ein Muster darin, das zwar nicht zu erkennen, ebensowenig aber zu übersehen war. Hier bildete sich ein kleiner Wirbel, da eine Welle, dort schien etwas unter seiner Oberfläche entlangzukriechen ... überall war zuckende, strudelnde Bewegung, die immer stärker wurde. Vor Atons und Saschas ungläubig aufgerissenen Augen begann sich der Staub zu kleinen Klümpchen und Wellen zusammenzuziehen, die zitternd aufeinander zukrochen und größere, unheimliche Formen bildeten.

Ein Teil eines Rades tauchte aus der Oberfläche des Staubsees auf, eine mit Leinen umwickelte Hand, ein Stück eines zerbrochenen Schildes, in einiger Entfernung gar etwas wie ein halbierter Pferdekopf, und immer mehr und mehr Staub bewegte sich aus allen Richtungen heran, um sich dem unheimlichen Prozeß anzuschließen. Selbst die Luft war plötzlich nicht mehr ruhig. Die auseinandergewirbelten Schwaden trieben, der Kraft des Windes und den Gesetzen der Natur spottend, wieder zusammen, und Aton spürte, wie sich selbst der Staub, der sich in seinen Kleidern und seinen Haaren festgesetzt hatte, löste und zu dem immer lebendiger werdenden Zentrum zuflog.

»Nichts wie weg!« rief Sascha. Sie ergriff Atons Arm, fuhr auf dem Absatz herum und zerrte ihn mit sich. So schnell sie konnten, rannten sie zum Auto zurück und sprangen hinein.

Aton erlebte noch einen letzten, schreckerfüllten Moment, als der Motor des Wagens sich weigerte, anzuspringen. Doch schließlich, beim vierten oder fünften Versuch, erwachte er doch zum Leben, und sie hatten wieder Glück - der Waldboden neben der Straße war so hart gefroren, daß das Auto nicht eingesunken war, und die Schäden, die es davongetragen hatte, erwiesen sich als nicht so schlimm, wie Aton im ersten Moment befürchtet hatte.

Während die Mumie und ihr unheimliches Gefährt hinter ihnen aus dem Staub neu zu entstehen begannen, lenkte Sascha den Wagen wieder auf die Straße zurück und nahm Kurs auf die Lichter der Stadt, die noch immer in weiter Entfernung schimmerten.

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