Willkommen in Kairo

Das Flugzeug landete auf die Sekunde pünktlich in Kairo - was nichts anderes hieß als spät in der Nacht. Schon beim Verlassen der Maschine schallte Aton fröhliche, orientalische Musik aus Lautsprechern entgegen, und in der großen Halle, die er und Petach betraten, standen buntgekleidete Männer in kleinen Gruppen herum und schwatzten. Vor den großen Glastüren konnte er eine Reihe zumeist altersschwacher Taxis erkennen, deren Fahrer bereits auf der anderen Seite der Zollbarriere Aufstellung genommen hatten und nach Fahrgästen Ausschau hielten.

Was ihre Papiere und die Zollkontrolle anging, wurden Atons Erwartungen vollkommen erfüllt: Petach begnügte sich diesmal nicht mit einem stummen Blick, sondern wechselte einige Worte mit den uniformierten Beamten, die die Ankommenden mißtrauisch musterten, und gleich darauf konnten sie die Sperre unbehelligt passierten, gefolgt von den erstaunten und zum Teil auch ärgerlichen Blicken ihrer Mitreisenden, die sich anders als sie der langwierigen Einreiseprozedur unterziehen mußten.

Da sie kein Gepäck mitgenommen hatten, konnten sie das Flughafengebäude sofort verlassen.

Während sie auf eines der wartenden Taxis zugingen, registrierte Aton überrascht, wie warm es war. Zwar herrschte auch hier in Ägypten Winter, aber schließlich waren sie dem Äquator ein gutes Stück näher, und das Flugzeug hatte sie in nicht einmal ganz drei Stunden über eine Entfernung gebracht, für die die Menschen früher ein halbes Jahr gebraucht hätten.

»Wohin fahren wir?« fragte er, nachdem sie eingestiegen waren und Petach dem Fahrer in seiner Muttersprache ihr Ziel genannt hatte. Es waren die ersten Worte, die sie seit annähernd zwei Stunden wechselten, und Aton rechnete eigentlich gar nicht mit einer Antwort. Aber Petach schien sein beharrliches Schweigen während des Fluges nicht wirklich übelzunehmen.

»Zuerst einmal zu einem guten Freund«, sagte er. »Dort sind wir sicher und können die Nacht verbringen. Morgen früh reisen wir dann weiter.«

Aton dachte an das letzte Mal, als er im Haus eines guten Freundes von Petach gewesen war, und sein Blick schien das auch auszudrücken, denn auf dem Gesicht des Ägypters breitete sich ein Lächeln aus. »Keine Sorge«, sagte er. »Dir wird nichts geschehen.«

Aton widersprach nicht, aber er dachte sich seinen Teil - schließlich hatte ihm auch das Petach schon mehr als einmal versprochen.

Wenn er wenigstens gewußt hätte, was Sufi und Petach damals mit ihm vorgehabt hatten! Trotz allem war noch etwas in ihm, was Petach glauben wollte. So unheimlich ihm dieser alte Mann geworden war, hatte er noch immer etwas Vertrauenerweckendes an sich.

Aton versuchte sich eine Weile damit abzulenken, daß er aus dem Fenster sah, aber das half nicht. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den Fragen zurück, mit denen er sich seit nunmehr fast einer Woche beschäftigte. Schließlich sagte er, ohne Petach anzusehen: »Meine Mutter ist hier in Kairo.«

»Ich weiß«, antwortete Petach.

»Ich hätte sie gerne gesehen«, fuhr Aton fort, als Petach ihm nicht den Gefallen tat, das Thema von sich aus aufzugreifen. Petach antwortete nicht darauf, und so drehte er sich herum und sah ihn an.

»Ich will mich nur überzeugen, daß es ihr gutgeht«, sagte er. »Ich verspreche Ihnen, daß ich nichts verrate.«

»Ich glaube dir«, sagte Petach ernst. »Aber es wäre nicht sehr klug. Solange sie im Hotel ist und nicht weiß, daß du dich in Ägypten aufhältst, ist sie nicht in Gefahr. Das könnte sich ändern, wenn Osiris und seine Schergen auf sie aufmerksam werden.«

So schlau war Aton auch. Trotzdem: Petachs Antwort verwirrte ihn nur noch mehr, denn seine Sorge konnte ernst gemeint, ebensogut aber auch nur eine geschickt verkleidete Drohung sein.

Petach schien seine Gedanken zu erraten, denn er sagte traurig: »Du vertraust mir immer noch nicht.«

»Sie machen es einem ziemlich schwer, Ihnen zu vertrauen«, antwortete Aton, und der unglückliche Ausdruck auf Petachs Zügen verstärkte sich noch.

»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte Petach schließlich. »Vielleicht kannst du sie anrufen - wenn du mir dein Ehrenwort gibst, ihr nichts zu verraten.«

»Ich verspreche es«, sagte Aton. Er meinte dieses Versprechen ernst - Petach gehörte nicht zu den Menschen, die man belügen konnte.

Eine ganze Weile fuhren sie weiter schweigend durch die Vorstädte. Der Taxifahrer versuchte ein paarmal, ein Gespräch mit Petach in Gang zu bringen, worauf dieser jedoch nicht einging, so daß er es schließlich aufgab, und Aton hing seinen eigenen Gedanken nach.

Zumindest in einem Punkt hatte Petach die Wahrheit gesagt: Seit Aton sich in seiner Nähe aufhielt, war der Einfluß der alten ägyptischen Götter nicht mehr zu spüren. Natürlich mochte dies ganz andere Gründe haben, als Petach behauptete, aber allein die Möglichkeit, daß der Ägypter die Wahrheit gesagt hatte, ließ Aton vor Angst innerlich erstarren. Er hatte die bösen, zerstörerischen Kräfte der uralten Gottheiten zu deutlich gespürt. Der Gedanke, daß sie wieder zu ihrer alten Macht erwachen könnten, war schlichtweg unerträglich.

»Werde ich es überleben?« fragte er plötzlich.

Die Frage schien Petach völlig zu überraschen. Ein paar Sekunden lang sah er ihn vollkommen ohne Verständnis an, dann lachte er, leise und sehr gutmütig. »Natürlich«, sagte er. »Sie wollen etwas von dir, sie wollen nicht dich.«

»Und Sie meinen, wenn ich es ihnen gebe, werden sie mich aus lauter Dankbarkeit verschonen?«

Petachs Lächeln erlosch. »So etwas wie Dankbarkeit kennen sie nicht«, antwortete er. »Wenn du getan hast, was sie erwarten, werden sie dich einfach vergessen. Du bist nur ein Mensch. Du bist zu unwichtig, um dich grundlos zu töten.«

Nicht nur, daß das dem widersprach, was Petach ihm selbst im Flugzeug erzählt hatte - es machte es nicht besser. Aton versuchte sich ein Wesen vorzustellen, für das ein Mensch nur ein Ding war, das nicht einmal einen Gedanken verdiente, solange man es nicht brauchte, und zum ersten Mal glaubte er wirklich zu verstehen, was Petach gemeint hatte, als er über das Wesen der alten Götter sprach.

Er machte eine entsprechende Bemerkung zu Petach, aber diesmal reagierte der Ägypter nicht darauf; ja, er schien sie gar nicht zu hören. Petach hatte sich vorgebeugt und sah durch die Windschutzscheibe nach oben. Neugierig lehnte sich auch Aton zur Seite und suchte den Nachthimmel über Kairo mit seinen Blicken ab. Im ersten Moment sah er nichts als die Sterne, die von einem ungewohnt klaren Himmel funkelten, aber dann erkannte auch er einen winzigen Punkt, der hoch über ihnen am Firmament kreiste.

»Was ist das?« fragte er.

»Nechbet«, murmelte Petach. Das war keine Antwort auf seine Frage. Das Wort klang eher wie ein Fluch, eine Verwünschung - oder ein Ausdruck maßloser Furcht. Vielleicht, dachte Aton, ist das Gefühl der Sicherheit, das Petach ihm vermittelt hatte, doch nicht ganz so begründet.

»Was ist das?« fragte er noch einmal und lauter. Diesmal wandte Petach den Kopf und sah ihn an.

»Nichts«, sagte er. Die Lüge klang nicht einmal annähernd überzeugend. Petach wirkte mit einem Male sehr nervös.

»Ich dachte, wir wären in Sicherheit?« fragte Aton geradeheraus.

»Das dachte ich auch«, sagte Petach. »Aber sie ...« Er stockte. Aton konnte regelrecht sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn überschlugen. »Ihre Macht wächst ungeheuer schnell«, sagte er. Plötzlich beugte er sich vor und wechselte einige Worte auf arabisch mit dem Fahrer, der daraufhin unverzüglich und so hart auf die Bremse trat, daß Aton nach vorne und unsanft gegen die Rücklehne des Beifahrersitzes geworfen wurde. Wahrend er sich erschrocken hochrappelte, wendete der Wagen mit quietschenden Reifen und begann in die entgegengesetzte Richtung zu fahren.

Aton sah automatisch auf den Tachometer, aber nur, um festzustellen, daß dieser nicht funktionierte - die Nadel hing wie festgeklebt auf der Null, aber das immer lauter werdende Dröhnen des altersschwachen Motors und die Häuser, die an beiden Seiten an ihnen vorüberglitten, sagten ihm auch so, daß der Fahrer den Wagen beschleunigte. Aton sah den Taxifahrer beunruhigt an und wünschte sich eine Sekunde später, es nicht getan zu haben. Das Gesicht des Mannes war starr, vollkommen ausdruckslos, aber sehr blaß, und seine Augen wirkten glanzlos und trüb. Offensichtlich stand er unter Petachs Einfluß. Aton hoffte, daß das seinen Fähigkeiten als Autofahrer keinen Abbruch tat. Sie fuhren sehr schnell und auf Straßen, die nicht mit denen zu vergleichen waren, die Aton von zu Hause kannte. Der Wagen sprang immer wieder durch Schlaglöcher und über Bodenwellen und schlingerte manchmal wie ein Schiff auf hoher See, und ein paarmal kam die Bordsteinkante bedrohlich nahe.

Ein Blick nach oben hatte Aton gezeigt, daß der Schatten immer noch über ihnen kreiste, ansonsten jedoch schien es keinerlei Grund für Petachs plötzliche Panik - ein anderes Wort dafür fiel Aton nicht ein - zu geben. Aber er kannte den Ägypter mittlerweile zu gut, um auch nur eine Sekunde lang zu glauben, daß es keinen Anlaß für diese plötzliche Amokfahrt gäbe.

Sie näherten sich jetzt dem Stadtzentrum, und im gleichen Maße, in dem die Lichter in den Häusern rechts und links der Straße zunahmen, wurde auch der Verkehr wieder dichter. Was ihren Fahrer allerdings nicht im geringsten daran hinderte, weiterhin so schnell, wie es möglich war, zu fahren.

Immer öfter quietschten jetzt hinter ihnen Bremsen oder erscholl ein zorniges Rufen, und mehr als einmal sprang ein Passant hastig beiseite oder schüttelte ihnen drohend die Faust nach.

Und trotzdem entkamen sie ihren Verfolgern nicht.

Auf einen Befehl Petachs hin steuerte ihr Fahrer den Wagen um eine Ecke und in eine schmalere, etwas weniger belebte Seitenstraße hinein - und trat plötzlich so kräftig auf die Bremse, daß Aton ein zweites Mal nach vorne und gegen die Rückenlehne des Sitzes geschleudert wurde. Zornig richtete er sich wieder auf - aber die wütende Beschimpfung, die ihm auf der Zunge lag, blieb ihm im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken, als sein Blick durch die Frontscheibe des Wagens fiel.

Die Straße war blockiert. Aber es waren keine Passanten oder andere Autofahrer, die den Fahrer zu dieser Notbremsung gezwungen hatten, wie Aton dachte. Vor ihnen, nur einen Steinwurf entfernt, stand der Streitwagen, der Sascha und ihn schon einmal verfolgt hatte. Und diesmal war die Mumie, die die Zügel hielt, nicht mehr allein. Rechts und links des Streitwagens, in einer weit auseinandergezogenen Kette, die die Straße auf ganzer Breite einnahm, stand eine ganze Anzahl in zerfetzte Mäntel und Umhänge gehüllter Gestalten, im blassen Licht des Mondes und der Sterne nicht mehr als Schatten, ohne Gesichter oder wirklich erkennbare Umrisse. Die beiden Pferde scharrten unruhig mit den Hufen, als könnten sie sich kaum noch beherrschen, loszustürmen und das Taxi einfach niederzurennen, und Aton spürte die stumme, unausgesprochene Drohung, die von der Gestalt hinter den Zügeln ausging.

Auch die Straße hinter ihnen war nicht mehr leer. Zwar stand dort kein Streitwagen, wohl aber fast ein weiteres Dutzend der unheimlichen Gestalten, auch sie völlig reglos, auch sie kaum mehr als Schemen, die gar nicht richtig zu erkennen waren.

Petach machte eine Handbewegung. »Hör mir zu«, sagte er in gehetztem Ton, den Blick wieder starr auf die Reihe der Gestalten vor ihnen gerichtet, die immer noch vollkommen bewegungslos dastand und darauf zu warten schien, daß irgend etwas Bestimmtes geschah. »Ich werde versuchen, sie aufzuhalten. Du mußt fliehen. Vielleicht hast du eine Chance, ihnen zu entkommen.«

Eine Chance, ihnen zu entkommen? Aton hätte fast laut aufgelacht. Vor und hinter ihnen befanden sich etwa zwanzig Männer, ganz zu schweigen von dem Streitwagen. Was glaubte Petach, wer er war? Indiana-Jones?

Aber Petach sprach im gleichen gehetzten Tonfall weiter, noch ehe Aton eine entsprechende Bemerkung machen konnte: »Du mußt die Stadt verlassen. Wenn wir getrennt werden, dann geh nach Gizeh und frage nach Yassir. Jeder kennt ihn dort. Erzähl ihm, was geschehen ist. Er wird dir glauben. Und er weiß, was weiter zu tun ist. Und jetzt gib acht. Wir haben nur diese eine Chance.«

Und ehe Aton auch nur ein einziges der hundert Wenn und Aber vorbringen konnte, die ihm durch den Kopf schossen, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Petach rief dem Fahrer ein einzelnes, abgehacktes Wort auf arabisch zu, riß mit der linken Hand die Tür auf seiner Seite auf und versetzte Aton mit der rechten einen heftigen Stoß. Unsanft prallte Aton gegen die Tür, die ohne sein Zutun im selben Moment aufflog, suchte vergeblich mit den Händen irgendwo nach Halt und stürzte rücklings aus dem Wagen, als dieser plötzlich mit aufbrüllendem Motor einen regelrechten Satz nach vorne und auf den Streitwagen zu machte. Während Aton auf das harte Straßenpflaster fiel, sah er, wie Petach auf der anderen Seite mit einer ungemein geschickten Bewegung aus dem Wagen sprang und wie eine Katze auf allen vieren landete, um sofort wieder hochzufedern. Das Taxi raste weiter auf den Kampfwagen zu; so schnell, daß die Reifen auf dem schlüpfrigen Pflaster durchdrehten.

Aber auch der Streitwagen stand nicht mehr still. Der Mann hinter dem Zügel machte eine befehlende Geste mit seiner Lanze, und im selben Augenblick schossen die beiden schwarzen Pferde los. Aton hielt unwillkürlich den Atem an, während die beiden ungleichen Fahrzeuge aufeinander zuschnellten. Ein Zusammenstoß schien unausweichlich, aber im buchstäblich allerletzten Moment riß der Lenker des Streitwagens seine Tiere zur Seite, und der Taxifahrer schien aus seiner Trance zu erwachen und zu begreifen, was geschah, denn er versuchte verzweifelt, den Zusammenprall zu verhindern. Die beiden Wagen schrammten funkensprühend aneinander vorbei. Metall kreischte. Glas zerbarst. Eines der beiden Pferde bäumte sich mit einem schrillen Wiehern auf und brach zusammen, und der plötzliche Ruck brachte das zweite Pferd und den Wagen aus dem Gleichgewicht. Die beiden Tiere stürzten in einem fürchterlichen Durcheinander aus schlagenden Gliedern und Leibern zu Boden, die Räder des Streitwagens verloren plötzlich den Kontakt zur Straße.

Splitternd zerbrach die Achse, und der Mumienkrieger wurde regelrecht aus dem Wagen heraus und in hohem Bogen über die beiden gestürzten Pferde hinwegkatapultiert.

Doch noch während er stürzte, schleuderte er seine Lanze. Die Waffe flog wie ein Blitz aus Bronze durch die Luft - und durchbohrte Petachs Brust! Mit einem keuchenden Schrei sank der Ägypter zu Boden. Keine der andere Gestalten hatte sich gerührt, fast als wären sie nur Zuschauer bei etwas, was nur Petach und den Mumienkrieger anging, aber nun erwachten sie plötzlich aus ihrer Erstarrung. Langsam, aber unaufhaltsam begannen sie, sich auf Aton und Petach zuzubewegen. Das Klirren von Metall erklang und das Rascheln von uraltem Stoff und Leder, und Aton sah, wie einige der Männer kurze gebogene Schwerter unter ihren Mänteln hervorzogen.

Aton machte einen Schritt auf Petach zu - und erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Petach war auf beide Knie und eine Hand herabgesunken. Sein Oberkörper war weit nach vorne gebeugt, als zerre ihn das Gewicht der Lanze zu Boden, und der Wurf war so kräftig gewesen, daß die dreieckige Bronzespitze seinen Körper durchbohrt hatte und fast eine Handbreit zwischen seinen Schulterblättern hervorragte. Die Verletzung mußte absolut tödlich sein.

Aber Petach fiel nicht zu Boden. Ganz im Gegenteil. Langsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht und stöhnend richtete er sich wieder auf, ergriff die Lanze mit beiden Händen - und zog die Waffe mit einem Ruck aus seinem Leib heraus!

»Halt!« rief Petach mit kräftiger, weithin hörbarer Stimme. »Ich, Petach, befehle euch, stehenzubleiben! Geht zurück dorthin, woher ihr gekommen seid! Ihr habt hier keine Macht! Dies ist nicht eure Welt!«

Er hatte in seiner Muttersprache geredet. Nicht arabisch. Das war eine Sprache, die Aton zwar nicht beherrschte, aber erkannt hätte. Den Dialekt jedoch, in dem Petach sprach, hatte er noch nie zuvor im Leben gehört. Trotzdem verstand er ihn.

»Geht!« sagte Petach noch einmal. Er wankte und schien alle Mühe zu haben, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, und sein heller Sommeranzug hatte sich auf Brust und Rücken dunkel von seinem eigenen Blut gefärbt. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und Leid. Und trotzdem konnte Aton regelrecht sehen, wie das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Seine Stimme gewann an Kraft und befehlender Stärke. Er hatte die Lanze mit beiden Händen ergriffen und herumgedreht, aber er hielt sie nicht wie eine Waffe, sondern vielmehr wie ein König sein Zepter. Und Aton war nicht der einzige, der die suggestive Macht von Petachs Worten fühlte. Die Krieger waren stehengeblieben. Obwohl sie jetzt ganz nahe waren, konnte Aton ihre Gesichter noch immer nicht erkennen, aber er konnte ihr Zögern spüren. Wer immer sie waren - und Aton war längst nicht mehr sicher, es tatsächlich mit menschlichen Feinden zu tun zu haben -, auch sie konnten sich Petachs unheimlichem Einfluß nicht entziehen, den Aton schon so oft beobachtet hatte.

Trotzdem waren zwei unter ihnen, die es versuchten. Die beiden Männer sprangen plötzlich vor und schwangen ihre sichelartigen Waffen. Petach fing den Schwerthieb des ersten mit der Lanze ab und durchbohrte ihn eine Sekunde später mit der Spitze, auf der noch sein eigenes Blut klebte, aber die Klinge des zweiten traf die Schulter des Ägypters mit solcher Wucht, daß Aton den Hieb selbst zu spüren glaubte. Petach wankte. Seine Schulter färbte sich dunkel, aber er stürzte immer noch nicht. Mit eiserner Hand ergriff er das Schwert des Kriegers, entriß es seinem Besitzer und schlug den Angreifer mit dessen eigener Waffe nieder.

»Geht!« befahl er noch einmal. »Geht zurück in die Nacht, aus der ihr gekommen seid!«

Kein anderer versuchte mehr, sich Petach zu nähern. Und nach einer Sekunde, die sich zu einer schieren Ewigkeit dehnte, begannen die Krieger tatsächlich, langsam, widerwillig, mit Bewegungen, die aussahen, als würden sie dazu gezwungen, rückwärts vor Petach und ihm zurückzuweichen. Aber nicht sehr weit. Petach stand noch immer hoch aufgerichtet da, eine blutüberströmte, schreckliche Gestalt, deren Augen ein unsichtbares, verzehrendes Feuer zu verströmen schienen, aber plötzlich war da noch eine zweite, fast ebenso starke Macht, und als Aton erschrocken zur Seite blickte, sah er, wie sich der Mumienkrieger langsam wieder aufrichtete. Die beiden Pferde lagen reglos übereinandergestürzt da, der Streitwagen war zu einem Haufen aus zersplittertem Holz und verbogenem Metall geworden, und auch der Körper der Mumie wirkte sonderbar falsch; als wären sämtliche Glieder verdreht und zerbrochen. Aber sie bewegte sich.

»Aton, lauf«, murmelte Petach. Und erst jetzt begriff Aton, daß er vielleicht doch noch eine Chance hatte, und er reagierte mit einer Schnelligkeit darauf, die ihm wahrscheinlich nur die reine Todesangst verlieh. Noch während sich die Mumie taumelnd aufzurichten versuchte, fuhr er herum und lief los. Einer der anderen Männer versuchte ihm den Weg zu vertreten. Aton zog den Kopf zwischen die Schultern und rannte ihn einfach über den Haufen. Der Mann stürzte. Seine Hand griff nach Aton, bekam seinen Arm zu fassen und riß ein Stück aus seiner Jacke, aber Aton stürmte weiter, rannte im Zickzack zwischen den anderen Männern hindurch und sprang mit einem gewaltigen Satz über den zerborstenen Streitwagen hinweg. Das Taxi war etliche Meter vor ihm gegen eine Hauswand geprallt und mit gebrochener Achse schräg wie ein auf ein Riff gelaufenes Schiff liegengeblieben. Dampf quoll unter der eingedrückten Motorhaube hervor, und eine große, nach Öl und Benzin riechende Lache breitete sich unter dem Wrack aus. Der Fahrer war über dem Steuer zusammengesunken. Aton rannte an dem Wagen vorbei und blieb plötzlich stehen. Der Benzingeruch war so intensiv, daß er ihm fast den Atem nahm. Ein einziger Funke genügte, und der Wagen würde wie eine Bombe explodieren. Gehetzt blickte er zu Petach und den Schattenkriegern zurück. Die unheimlichen Gestalten hatten sich dem Ägypter wieder genähert. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Aton spüren, daß es Petach immer schwerer fiel, die Unheimlichen zu bannen. Eine lautlose Stimme in seinen Gedanken begann ihm zuzuschreien, daß er dabei war, die einzige Chance wegzuwerfen, die er noch hatte. Aber er konnte nicht einfach weiterrennen und den hilflosen Mann im Wagen seinem Schicksal überlassen!

Mit zwei Schritten war er zurück bei dem Taxi und riß die Tür auf.

Der Fahrer fiel ihm im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme. Der Mann war bewußtlos, aber am Leben und bis auf eine üble Platzwunde an der Stirn zumindest nicht sichtbar verletzt. Er war nicht sehr groß, wog aber mindestens fünfzig Pfund mehr als Aton, so daß er seine ganze Kraft brauchte, den Mann aus dem Wagen zu zerren. Keuchend und immer wieder über die Schulter zu Petach und den anderen zurückblickend, schleifte er ihn von dem Autowrack fort und noch ein gutes Stück weit weg, bis er nicht mehr in Gefahr war, von dem auslaufenden Benzin erreicht zu werden. Als Aton den Mann zu Boden sinken ließ, gewahrte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln. So hastig, daß er beinahe das Gleichgewicht verlor, wirbelte er auf der Stelle herum und sah, wie gleich drei der unheimlichen Krieger auf ihn zustürmten, ihre Sichelschwerter erhoben und mit wehenden Mänteln. Ihr Anblick jagte ihm einen neuen, eisigen Schauder über den Rücken. Sie liefen sehr schnell, aber sie liefen nicht wie Menschen, sondern bewegten sich in einem sonderbar hoppelnden Gang vorwärts. Noch vier, fünf dieser gewaltigen Sätze, und sie mußten ihn erreicht haben.

Aton fuhr abermals herum. Er bewegte sich so schnell wie nie zuvor im Leben, trotzdem war es ihm, als zerrten unsichtbare Gummibänder an seinen Gliedern. Die Zeit schien stehenzubleiben. Seine eigenen Bewegungen liefen in zeitlupenhaftem Tempo ab, während die drei Gestalten rasend schnell näher kamen. Und sie hätten ihn zweifellos binnen Sekunden eingeholt, hätte Petach ihm nicht noch einmal geholfen. Abermals geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Aton spürte, wie Petachs geistiger Bann zerbrach, als er seine Aufmerksamkeit von den Schattenkriegern löste und ihm zuwandte. Die Gestalten stürzten sich auf den Ägypter, aber den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie ihn erreichten und niederrangen, riß Petach beide Arme in die Höhe und stieß einen schrillen Ruf aus. Ein winziger blauer Funke löste sich von seinen Fingerspitzen, jagte wie ein schräg fallender Stern heran und traf die Lache aus Benzin und Öl, durch die die drei Krieger stampften.

Das Taxi explodierte. Licht und Hitze von unvorstellbarer Intensität hüllten Aton ein. Die Faust eines unsichtbaren Riesen traf ihn zwischen die Schulterblätter und machte sein verzweifeltes Rennen zu einem langgestreckten, hilflosen Sturz.

Ein ungeheures Dröhnen und Krachen marterte seine Trommelfelle, und noch während er fiel, preßte ihm die Druckwelle die Luft aus den Lungen, so daß sein Schrei zu einem erstickten Krächzen wurde. Schwer schlug er auf, rollte noch mehrere Meter weiter und riß schützend die Arme vor das Gesicht. Die Welt schien nur noch aus Flammen und Hitze zu bestehen. Er war eingehüllt in Feuer, und eigentlich hätte er tot sein müssen oder zumindest schwer verletzt - aber die Flammen taten ihm nichts. Er sah, wie sie den Boden versengten und die Luft zum Kochen brachten, und ein Stück Papier, das neben ihm lag, flammte auf und zerfiel binnen Sekundenbruchteilen zu Asche. Aber es war, als umgäbe ihn ein unsichtbarer Schutz.

Nicht so die drei Verfolger. Die Wucht der Explosion hatte sie wie Aton zu Boden geschleudert, aber sie lagen reglos, mit verdrehten Gliedern und brennenden Kleidern da. Die Flammen fanden in dem uralten Stoff reichlich Nahrung, und wenn er bisher daran gezweifelt hatte, es tatsächlich mit menschlichen Gegnern zu tun zu haben, so ließ dieser Anblick seine Zweifel zur Gewißheit werden. Die drei Geschöpfe verbrannten in blauen, unglaublich hellen Flammen und unwahrscheinlich schnell. Ihre Körper zerfielen binnen Sekunden zu Staub, und nur ein wenig graue Asche und kleine, verbogene Stücke aus glühendem Metall blieben zurück.

Aber die Gefahr war keineswegs vorbei. Aton stand unsicher auf und blinzelte. Er konnte den Ägypter nicht mehr sehen.

Gleich fünf oder sechs der unheimlichen Gestalten hatten sich über ihn gebeugt und verbargen ihn vor seinen Blicken, die anderen bewegten sich schon wieder auf ihn zu. Im flackernden Licht der meterhohen Flammen, die das Taxi verschlangen und sich bereits auf das Haus ausgebreitet hatten, gegen das es geprallt war, wirkten ihre Bewegungen noch bizarrer und unwirklicher als bisher. Jetzt zögerte Aton nicht mehr. Er begann zu laufen. Die lodernden Flammen tauchten die Straße in fast taghelles Licht, so daß er zumindest sehen konnte, wohin er lief. Es war unheimlich - trotz des Lärms und des Feuers war noch immer kein Mensch zu sehen. Die Häuser lagen wie ausgestorben da. Nirgends brannte auch nur ein Licht. Und abgesehen vom Prasseln der Flammen war es nahezu gespenstisch still. Aton warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß seine Verfolger die Flammen im weiten Umkreis umgangen hatten und nun wieder näher kamen. Sie hüpften und sprangen, andere rannten weit nach vorne gebeugt, so daß ihre Hände fast den Boden berührten. Der Anblick erinnerte Aton an etwas, ohne daß er genau wußte, woran.

Er dachte auch nicht weiter darüber nach, sondern bog in die nächste Straße ein. Auch sie war dunkel und menschenleer, aber an ihrem Ende gewahrte Aton Licht, und das gab ihm noch einmal neue Kraft. Er jagte weiter, aber er wußte, daß er trotzdem nicht schnell genug war. Die Verfolger tauchten bereits hinter ihm auf, und sie hatten fast die Hälfte seines Vorsprungs aufgeholt. Ihre groteske Art zu hüpfen und hopsen sah langsam aus, aber sie war es nicht.

Gehetzt sah sich Aton nach einem Ausweg um, gewahrte eine offenstehende Tür und stürmte hindurch. Er fand sich in einem dunklen, sehr langen Hausflur wieder. An seinem jenseitigen Ende war eine weitere Tür aus Holz, durch deren Ritzen graues Licht hereinfiel. Aton raste los und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß sie nicht verschlossen war. Er hatte Glück. Die morsche Holztür führte auf einen kleinen, von niedrigen Backsteinmauern umgebenen Hinterhof hinaus. Auch er lag völlig verlassen da, als lebte niemand in diesen Gebäuden.

Aton erreichte die Mauer, sprang hinüber und fand sich auf einem zweiten, etwas größeren Hof wieder, dessen Begrenzung an drei Seiten von dunkel daliegenden Gebäuden gebildet wurde. Aton rannte auf das nächstliegende zu, rüttelte an der Türklinke und fand sie zu seiner Erleichterung offen. Er stürmte hinein, schloß die Tür hinter sich und durchquerte den Flur in umgekehrter Richtung. Er war nicht sehr lang. Sieben oder acht Schritte vor ihm lag eine andere Tür, die wieder auf die Straße hinausführte. Unbehelligt erreichte er sie, und damit hörte seine Glückssträhne dann endgültig auf. Die Tür war verschlossen. Aton rüttelte einige Sekunden vergeblich an der Klinke und warf sich schließlich mit aller Gewalt gegen die Tür, doch sie erwies sich als äußerst massiv. Und hinter sich, auf dem Hof, konnte er schon wieder seine Verfolger hören. Irgend etwas schlug mit dumpfem Krachen gegen Holz, dann folgte ein Splittern und Bersten. Offensichtlich vermuteten sie ihn in einem der anderen Gebäude und hatten die Tür einfach eingeschlagen. Aber es würde nicht lange dauern, bis sie ihren Irrtum begriffen und auch hierher kamen.

Atons Gedanken begannen sich wild im Kreis zu drehen. Er zwang sich zur Ruhe und sah sich in dem dunkel daliegenden Hausflur um. Er konnte seine Umgebung nur schemenhaft erkennen - rechter Hand gab es drei ebenfalls äußerst massiv aussehende Türen, zur Linken führte eine sehr schmale, geländerlose Treppe nach oben. Er rannte hinauf.

Aton gelangte in einen weiteren, von Türen flankierten Gang. Er verschwendete nicht einmal eine Sekunde an den Gedanken, in irgendeinem der dahinterliegenden Räume Schutz zu suchen. Er mußte aus diesem Haus heraus. Aber wie? Es gab keine Fenster, und der Weg nach unten war ihm verwehrt, denn genau in diesem Moment hörte er, wie die Tür mit einem einzigen Hieb eingeschlagen wurde und rasche, tappende Schritte näher kamen. Dann entdeckte er etwas, was ihm auf den ersten Blick entgangen war: Am Ende des Korridors gab es eine schmale Leiter, die zu einer Luke in der Decke hinaufführte. Rasch kletterte er sie empor, drückte die kleine und gottlob unverschlossene Klappe an ihrem oberen Ende auf und fand sich unversehens auf einem staubigen, vollkommen leeren Dachboden wieder. Der Raum war überraschend groß und für ein Gebäude in einer orientalischen Stadt eigentlich ungewöhnlich, denn die Balkenkonstruktion über seinem Kopf gehörte zu einem ganz normalen Dachboden, während doch die meisten Häuser Kairos über Flachdächer verfügten. Dieses jedoch offensichtlich nicht. Ebensowenig, wie es über ein Dachfenster verfügt hätte.

Verzweiflung stieg in Aton hoch. Das Schicksal hatte sich wirklich gegen ihn verschworen. Wie es schien, stolperte er unentwegt von einer Falle in die nächste. Und er konnte die Schritte seiner Verfolger schon wieder hören: Sie tappten unter ihm die Treppe herauf, und jetzt vernahm er noch einen anderen, furchteinflößenden Laut, etwas wie ein Hecheln und Schnüffeln, als würde er von einer Meute Bluthunde verfolgt, nicht von Menschen.

Und dann entdeckte er doch noch einen Ausweg. Es gab zwar keine Fenster, aber hoch über ihm, fast unter dem Giebel und somit gute sechs oder sieben Meter über dem Fußboden, gähnte ein metergroßes Loch im Dach. Wenn er irgendwie dort hinaufkam, konnte er vielleicht auf eines der benachbarten Häuser gelangen, schlimmstenfalls an der Fassade dieses Gebäudes hinunterklettern - schon bei der bloßen Vorstellung sträubten sich ihm zwar die Haare, aber welche Wahl hatte er schon?

Das Gewirr von Balken und Verstrebungen über ihm war zwar alt, sah aber äußerst stabil aus und würde sein Gewicht sicher tragen. Wenn es ihm gelang, hinaufzuklettern, konnte er mit ausgestreckten Armen das Loch im Dach erreichen. Während unter ihm die Schritte der Schattenkrieger immer näher kamen, sah sich Aton nervös auf dem Dachboden um und fand schließlich, wonach er suchte. In einer Ecke lehnte eine Leiter. Sie war offensichtlich selbstgezimmert und wackelig, Aton jedoch kam sie vor wie ein Geschenk des Himmels. So schnell er konnte, ohne dabei übermäßigen Lärm zu verursachen, lehnte er die Leiter gegen einen Balken, überzeugte sich hastig davon, daß sie sicher stand und nicht etwa wegrutschen würde, und begann sie hinaufzusteigen. Er erreichte den Balken, suchte mit der linken Hand an einer Querstrebe Halt und richtete sich auf.

Sofort wurde ihm schwindelig. Was von unten wie ein breiter, bequem zu begehender Balken ausgesehen hatte, das schrumpfte jäh zu einem schmalen Streifen von Holz zusammen, der unter seinem Gewicht bedrohlich schwankte und zitterte. Für einen Moment bekam es Aton so mit der Angst zu tun, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Er befand sich drei oder vier Meter über dem Boden, genau die richtige Entfernung, um einen Sturz mit großer Wahrscheinlichkeit zu überleben - dabei mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit schwer genug verletzt zu werden, um völlig hilflos liegenzubleiben.

Aton drängte die Vorstellung mit aller Macht zurück und sah wieder zu dem Loch im Dach hinauf. Obwohl er ihm näher war, schien es trotzdem viel weiter entfernt als gerade noch, und der Weg dorthin stellte sich plötzlich als nicht mehr annähernd so einfach dar, wie es vom Boden aus ausgesehen hatte. Tatsächlich waren die Dachbalken so breit wie zwei nebeneinandergelegte Hände, und es gab genug Sparren und Verstrebungen, an denen er sich festhalten konnte. Aber er war kein Hochseilartist, nicht einmal ein besonders guter Kletterer, und für einen Moment fragte er sich, warum er die Leiter eigentlich hier aufgestellt hatte, statt sie zur anderen Seite des Dachbodens zu tragen und unmittelbar unter dem Loch zu postieren.

Noch bevor er eine Antwort auf diese Frage finden konnte, flog die Klappe unter ihm mit einem solchen Knall auf, daß sie in tausend Stücke zersprang, und Kopf und Schultern eines seiner Verfolger erschienen in der Luke. Aton vergaß seine Furcht und seinen Schwindel, er lief unverzüglich los und turnte mit nahezu affenartiger Geschicklichkeit zwischen den Streben und Balken hindurch.

Der Schattenkrieger stemmte sich mit einem wütenden Knurren vollends durch die Luke und richtete sich auf, und nur einen Augenblick später erschien eine zweite, schemenhaft erkennbare Gestalt in der Öffnung. Einer der beiden Krieger war mit einem Satz bei der Leiter, die Aton stehengelassen hatte, und begann sie hinaufzuturnen, der andere verfolgte ihn knurrend und geifernd auf dem Boden. Aton hatte die Hälfte der Entfernung hinter sich gebracht, aber er war nicht sicher, ob er den Rest der Strecke auch noch bewältigen würde. Die Balkenkonstruktion unter seinen Füßen begann nun tatsächlich zu zittern, als sein Verfolger hinter ihm von der Leiter sprang und auf ihn zulief, und als wäre das noch nicht genug, spannte sich der zweite plötzlich - und sprang mit einem einzigen Satz in die Höhe! Seine ausgestreckten Hände ergriffen den Balken, auf dem Aton stand, und klammerten sich daran fest, dann zog er die Knie an und versuchte, ein Bein über den Balken zu schwingen.

Aton trat ihm kräftig auf die Finger. Das Wesen kreischte - es war kein Schrei, sondern ein schriller, schmerzerfüllter Laut, wie das gepeinigte Brüllen eines Tieres, nicht das eines Menschen -, ließ seinen Halt los und stürzte kopfüber nach unten, aber es drehte sich im Flug geschickt wie eine Katze und kam sicher und unbeschadet auf dem Boden auf. Nur einen Moment später hatte es sich herumgedreht und rannte in seinem sonderbaren Hoppelgang zur Leiter hin.

Der zweite Verfolger war bereits bedrohlich nahe gekommen. Aton balancierte über die Balken, so schnell er nur konnte, und ließ dabei auch noch das letzte bißchen Vorsicht fahren. Längst hielt er sich nicht mehr fest, sondern hoffte einfach darauf, keinen Fehltritt zu tun. Doch so schnell er auch war, sein Verfolger war ungleich schneller, denn er brauchte nicht auf das Gleichgewicht zu achten, sondern rannte einfach los. Aton konnte seine keuchenden, hechelnden Atemzüge hören, und als er über die Schulter zurücksah, erblickte er in der Dunkelheit unter der Kapuze nichts als Schwärze, als wäre da gar kein Gesicht. Nur die Augen des Unheimlichen glühten wie kleine, bernsteinfarbene Feuer.

Das Geschöpf kam immer näher. Noch ein paar Sekunden, und es mußte ihn eingeholt haben. Aton überschlug in Gedanken hastig die Zeit, die er noch brauchte, um das rettende Loch im Dach zu erreichen, kam zu einem Ergebnis, das ihm ganz und gar nicht gefiel, und beschloß, alles auf eine Karte zu setzen: Er stieß sich mit aller Kraft ab und überwand das letzte Stück mit einem gewaltigen Satz. Es waren gute zweieinhalb Meter bis zum nächsten Balken, aber die Angst - oder auch pures Glück - bewirkte ein kleines Wunder. Er erreichte ihn, landete mit weit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf dem schmalen Steg und fand sogar einen halbwegs sicheren Stand. Zur Sicherheit griff er nach einer Querstrebe, die sich über seinem Kopf spannte.

Das morsche Holz zerbrach unter seinen Fingern. Aton schrie auf, warf sich instinktiv nach hinten und ruderte wild mit beiden Armen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Verzweifelt tastete er irgendwo in der leeren Luft nach einem Halt, kippte weiter nach hinten - und fiel!

Eine eisenharte Hand griff nach seinem Arm. Atons Sturz wurde mit so grausamer Wucht aufgefangen, daß er glaubte, der Arm würde ihm aus der Schulter gerissen. Er schrie vor Schmerz, strampelte wild mit den Beinen und begann wie ein lebendes Pendel hin und her zu schwingen. Tränen schossen ihm in die Augen. Keuchend griff er mit der freien Hand nach oben, fühlte rauhes Holz und klammerte sich daran fest.

Im nächsten Augenblick hätte er es vor Schreck beinahe wieder losgelassen, denn als er den Kopf hob, um nach seinem Retter Ausschau zu halten, blickte er direkt in ein paar glühende bernsteingelbe Augen. Der Schattenkrieger hockte wie eine übergroße Kröte über ihm auf dem Balken und hielt ihn mit nur einer Hand fest, ohne daß er sich selbst irgendwo abstützte. Und als wäre dies alles noch nicht genug, zog er Aton nun langsam, aber ohne die geringste sichtbare Anstrengung zu sich auf den Balken hinauf und ergriff ihn auch mit der anderen Hand.

Aton bäumte sich mit aller Gewalt auf, warf sich zurück und zur Seite und versuchte, nach seinem Gegner zu treten, aber ebensogut hätte er versuchen können, einen Felsbrocken mit bloßen Händen umzuwerfen. Der Krieger war nicht größer als er, aber unter dem zerschlissenen Mantel schien sich ein Körper aus Stahl zu verbergen. Ohne auf Atons Gegenwehr auch nur im geringsten zu reagieren, richtete er sich wieder auf und begann, ihn auf den zweiten Schattenkrieger zuzuschieben, der mittlerweile herangekommen war. Die beiden packten Aton an Armen und Beinen und trugen ihn rasch über die Balken den Weg zurück. Grob wurde er wieder die Leiter hinunter und auf die Klappe im Boden zu gezerrt. Die beiden Krieger stellten ihn unsanft auf die Füße, und der eine hielt ihn an beiden Schultern fest, während sich der zweite herumdrehte und mit dem Fuß nach der obersten Leitersprosse tastete.

Als er sie berührte, erschien eine Hand in der Öffnung, schloß sich um das Fußgelenk des Unheimlichen und zerrte mit einem so plötzlichen Ruck daran, daß er mit einem Schrei nach hinten kippte und in der Luke verschwand. Eine halbe Sekunde später erscholl ein dumpfes Poltern und Krachen, das von seinem Aufprall einen Stock tiefer kündete. Der Krieger, der Aton gepackt hielt, ließ ihn überrascht los und wirbelte herum, doch auch seine Bewegung kam zu spät. Eine Gestalt erschien in der Luke, stemmte sich mit einer kraftvollen und schnellen Bewegung vollends in die Höhe und warf sich auf ihn. Das Geschöpf stieß ein drohendes Fauchen aus und hob seine schrecklichen Hände, aber der plötzlich aufgetauchte Angreifer duckte sich blitzschnell unter seinem Griff hindurch, packte seinerseits den vorgestreckten Arm des Kriegers und brachte ihn mit einem Ruck aus dem Gleichgewicht. Der Unheimliche stolperte, fand im letzten Moment seinen Stand wieder - und schien dann wie durch Zauberei den Boden unter den Füßen zu verlieren. In hohem Bogen segelte er über den Rücken des anderen hinweg, überschlug sich zwei-, dreimal in der Luft und prallte mit einem solchen Krachen gegen den Dachbalken, daß das ganze Gebäude zu erzittern schien. Lautlos sank er in sich zusammen und blieb liegen. Das Ganze war so schnell gegangen, daß Aton gar nicht richtig begriff, was geschah.

Und als er es begriff, wollte er es nicht glauben. Völlig fassungslos starrte er die schlanke junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz an, die erleichtert war, ihn unverletzt zu sehen. »Sascha ...?« murmelte er. »Aber ... aber wieso ... Ich meine ... wie ... wie kommst du denn hierher?«

»Wollen wir uns später darüber unterhalten, oder wollen wir warten, bis die Freunde deiner -« Sascha deutete mit einer Kopfbewegung auf die bewußtlose Gestalt. »- Freunde hier auftauchen und auch zuhören?« fragte sie.

Aton hörte die Worte kaum, Sascha war der letzte Mensch auf der Welt, den er hier zu treffen erwartet hätte. »Aber wie ...« murmelte er erneut.

»Später«, unterbrach ihn Sascha. »Wir müssen hier weg, Aton. Dort draußen sind noch mehr von ihnen. Ich habe sie an der Nase herumgeführt, aber ich weiß nicht, wie lange sie sich täuschen lassen. Sie sind nicht dumm.« Sie deutete auf die Leiter. »Komm. Ich gehe vor.«

Aton sah ein, daß sie recht hatte, und folgte ihr gehorsam, aber seine Gedanken drehten sich immer schneller im Kreis. Sascha hatte ihm soeben zum dritten Mal mit ziemlicher Sicherheit das Leben gerettet, und trotz der unendlichen Erleichterung, die er verspürte, war da noch etwas anderes, ein immer stärker werdendes Mißtrauen. Sie konnte gar nicht hier sein. So viele Zufälle gab es auf der ganzen Welt nicht.

Obwohl er sich beeilte, wartete Sascha bereits ungeduldig auf ihn, als er den Fuß der Leiter erreichte. Das Haus war so dunkel und still wie zuvor. Die Stimmen und Schritte der Verfolger waren nicht mehr zu hören. Was immer Sascha getan hatte, um sie in die Irre zu führen, es schien zu funktionieren. Sie deutete ihm ungeduldig mit der Hand, ihr zu folgen, doch statt dessen beugte sich Aton über die reglose Gestalt, die mit verdrehten Gliedern neben der Leiter lag. Das Geschöpf war bewußtlos, vielleicht sogar tot, doch das änderte kaum etwas an der Aura von Gefahr und Furcht, die es zu umgeben schien. Trotzdem streckte Aton die Hand aus, um die Kapuze zurückzuschlagen, die das Gesicht des Wesens verhüllte.

»Tu das lieber nicht«, sagte Sascha. Sie sagte es nicht laut, auch nicht befehlend, aber vielleicht war es gerade das, was Aton zögern ließ. Unsicher sah er zu ihr hoch, und der Ausdruck, den er auf ihrem Gesicht gewahrte, ließ ihn die Hand endgültig zurückziehen. Ohne noch eine weitere Frage zu stellen, richtete er sich vollends auf und folgte seiner Lebensretterin.

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