Er verlor das Bewußtsein nur für wenige Augenblicke, denn das nächste, woran er sich erinnerte, war, hilflos in Petachs Armen zu liegen, während Sufi das Zimmer verließ. Aber er war auch nicht wirklich wach. Vielmehr bewegte sich sein Geist auf jenem schmalen Grat zwischen Schlaf und Wachsein, auf dem er zwar noch alles registrierte, was um ihn herum und mit ihm geschah, er aber zugleich auch unfähig war, auf irgendeine Art und Weise darauf zu reagieren. Er konnte nicht einmal reden, und seine Augen fielen immer wieder zu.
Petach folgte dem Derwisch, wobei es ihm nicht die geringste Mühe verursachte, Aton zu tragen. Die Haustür stand offen, aber von Sufi war nichts zu sehen. Dafür hörte er, wie draußen der Motor von Petachs Wagen gestartet wurde. Einen Moment später verließen sie das Haus, und Aton wurde rasch und wenig sanft auf die Rückbank des Mercedes gebettet. Sie fuhren los.
Der fast tranceähnliche Zustand, in dem sich Aton befand, beschützte ihn auch vor der Furcht, die er sonst zweifellos empfunden hätte. Er konnte noch immer erstaunlich klar denken, aber es war, als hätte er hohes Fieber - seine Gedanken bewegten sich träge, als wären sie in Watte gepackt. Er wußte, daß Sufi und Petach ihn, wenn schon nicht wirklich vergiftet, zumindest betäubt hatten, und ihm war auch klar, daß es dafür nur einen einzigen logischen Grund gab: weil nämlich das, was sie mit ihm vorhatten, ganz bestimmt nicht seine Zustimmung gefunden hätte. Sufi war nicht sein Freund, wie er behauptet hatte, und Petach war es schon gar nicht.
Atons Eindruck, daß sich der Ägypter verändert hatte, seit seine Eltern abgereist waren, war nur zu richtig gewesen. Vermutlich hatte er die ganze Zeit über nur auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Aton hatte einen furchtbaren Fehler gemacht, Petach auch nur eine Sekunde zu vertrauen. Aber jetzt war es zu spät, das zu bedauern.
Aton registrierte jetzt, daß sie in Richtung Stadtmitte fuhren. Der Verkehr wurde wieder dichter. Manchmal fiel das Licht von Scheinwerfern in den Wagen und blendete ihn, und einmal hörte er Bremsen quietschen und wurde so unsanft hin und her geworfen, daß er beinahe von der Sitzbank gefallen wäre. Aber sein Stoßgebet, daß Petach einen Unfall verursachen und ihre Fahrt mit einem gehörigen Blechschaden ein vorzeitiges Ende finden mochte, wurde nicht erhört.
Nach einer Zeit, die Aton unmöglich bestimmen konnte, erreichten sie ihr Ziel. Straßenverkehr und Lichter hatten wieder nachgelassen, und plötzlich rollte der Wagen nicht mehr über glatten Asphalt. Unter den Reifen knirschten Kies und Steine, und ein paarmal schlug etwas mit dumpfem Geräusch von außen gegen die Karosserie, ehe sie endlich zum Stehen kamen. Petach stieg aus, eilte um den Wagen herum und zog Aton ebenso unsanft wieder heraus, wie er ihn hineingelegt hatte. Dunkelheit hüllte sie ein, dazu der Geruch von feuchter Erde und Blättern. Es war sehr kalt.
Aton versuchte sich zu bewegen, aber er war viel zu schwach, um ernsthafte Gegenwehr leisten zu können. Petach hob ihn mühelos auf die Arme und trug ihn auf ein großes, in vollkommener Dunkelheit daliegendes Gebäude zu, das sich wie ein Berg aus Beton und Stein vor ihnen in der Nacht erhob.
Ein intensiver Modergeruch schlug ihnen entgegen, und weit entfernt hörte Aton eine Katze schreien, kurz darauf das Bellen eines Hundes.
Dann mußte er wohl doch das Bewußtsein verloren haben, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, da hatte sich seine Umgebung radikal verändert.
Sie befanden sich nicht mehr im Freien, sondern Aton wurde in großer Eile durch einen hohen, von schattenlosem weißem Neonlicht erhellten Gang getragen, in dem die Schritte der beiden Männer lang und unheimlich verzerrt widerhallten.
Da waren noch andere Geräusche, Laute, die Aton im ersten Moment nicht einzuordnen vermochte, die ihm aber seltsam vertraut vorkamen: Stimmen, Klappern und Klirren, Schritte und dazu ein durchdringender Geruch, wie die Geräusche zugleich vertraut und fremd.
Als er begriff, was all dies bedeutete, war es ein Schock. Die Stimmen, die hastigen Schritte, die Lautsprecherdurchsagen, das Geräusch von kleinen Metallrädern auf PVC-Fliesen und vor allem der Geruch gehörten zu nichts anderem als einem Krankenhaus. Petach hatte ihn in eine Klinik gefahren.
Aber warum? Warum sollte Sufi ihn zuerst vergiften, um ihn dann in ein Krankenhaus zu bringen, in dem man ihm gegen die Folgen genau dieser Vergiftung half?
Der Fehler in diesem Gedanken fiel Aton erst nach einigen Sekunden auf. Wer sagte ihm eigentlich, daß er hier war, damit man ihm half? Außerdem stimmte in dieser sonderbaren Klinik irgend etwas nicht: Sie hatten bereits zwei Treppen und drei der langen, hellerleuchteten Korridore hinter sich gebracht, aber Aton hatte immer noch keinen Menschen zu Gesicht bekommen.
Das blieb auch so, bis sie ihr Ziel erreichten - und als Aton erkannte, wohin Petach ihn trug, da vergaß er das Rätsel um die fehlende Belegschaft und die nur hörbaren Patienten dieses Krankenhauses schlagartig.
Es war ein Operationssaal.
Er war nicht sehr groß, und er sah nicht so aus, wie Aton es aus dem Fernsehen kannte: Statt blinkender und piepsender Computer und Gerätschaften gab es nur einige wenige, noch dazu allesamt ausgeschaltete Apparaturen, und statt eines chromblitzenden Operationstisches unter einer gewaltigen, zwölfflammigen Lampe nur eine einfache, lederbezogene Liege, aber es war eindeutig ein Operationssaal, in dem Petach ihn nun ablud.
Der Schrecken war so stark, daß er für einen Moment sogar die Lähmung durchbrach, die sich Atons bemächtigt hatte.
Stöhnend bäumte er sich auf und versuchte die Arme zu heben, aber Petach drückte ihn sofort und mit deutlich mehr als sanfter Gewalt auf das kalte Leder zurück. Für einen zweiten Anlauf fehlte Aton die Kraft.
Nun sah er auch Sufi wieder, und dieser sah jetzt nicht mehr aus wie ein Märchenerzähler, der aus einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht entsprungen war. Der schwarze Vollbart und die Glatze waren noch da, aber den alten Kaftan hatte er gegen einen zwar zerknitterten, aber sauberen weißen Kittel eingetauscht, und während er neben Petach trat und sich über Atons Lager beugte, schlüpfte er mit geschickten Bewegungen in ein Paar dünne Gummihandschuhe. Aton spürte, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Körper sträubte, als er die flache Metallschale sah, die Petach plötzlich in Händen hielt. Auf dem verchromten Metall lag ein ganzes Sammelsurium von Messern, Skalpellen, Scheren, Klammern und anderen höchst unerfreulich aussehenden chirurgischen Instrumenten. Was um alles in der Welt hatten diese beiden Wahnsinnigen mit ihm vor?
Petach blickte besorgt auf ihn hinab, schüttelte plötzlich den Kopf und wandte sich an Sufi. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Er dürfte nicht wach sein. Die Dosis war zu gering, fürchte ich.«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Sufi. Nicht nur sein Äußeres, auch seine Stimme und seine Art zu reden, hatten sich verändert. Er sprach plötzlich mit der ruhigen Autorität eines Arztes, der es gewohnt war, Menschen unangenehme Dinge mitzuteilen. »Ich hatte schon ein wenig Sorge, zuviel des Guten getan zu haben. Ich hätte ihm auf gar keinen Fall mehr geben dürfen.« Er zog seine Handschuhe straff und maß Aton abermals mit einem langen, besorgten Blick. »Er ist sehr stark, beinahe unglaublich. Das ist nicht gut.«
»Und wenn er ganz erwacht?« fragte Petach.
Ganz erwacht? dachte Aton hysterisch. Wie wach sollte er denn noch werden, Petachs Meinung nach? Er bekam doch auch so schon jedes Wort mit, das gesprochen wurde! Aus hervorquellenden Augen schielte er auf das Tablett voller Folterinstrumente, das Petach noch immer in den Händen hielt. Für seinen Geschmack war er entschieden zu wach.
Wach genug jedenfalls, um garantiert alles zu spüren, was mit ihm geschah!
»Das wird nicht geschehen«, antwortete Sufi überzeugt.
»Und wenn doch?« beharrte Petach. »Ich möchte nicht, daß dem Jungen etwas passiert. Und ich möchte nicht, daß er unnötig leidet.«
Zu freundlich, dachte Aton sarkastisch. Er begann allmählich zu begreifen, wie sich ein Hund oder eine Katze fühlen mußte, auf dem Tisch eines Tierarztes festgeschnallt, um eingeschläfert zu werden. Das schlimmste überhaupt war die Hilflosigkeit. Er wollte davonlaufen, sich wehren oder wenigstens schreien, aber er konnte nichts von alledem.
»Er wird nichts spüren«, versicherte Sufi erneut. »Und selbst wenn, wird er sich hinterher an nichts erinnern.«
»Das reicht mir nicht«, beharrte Petach. »Was ist, wenn er doch erwacht? Eine einzige, unbedachte Bewegung, und alles ist aus. Sie wissen, was auf dem Spiel steht.«
Sufi seufzte. »Wofür halten Sie mich?« fragte er ärgerlich. »Für einen Scharlatan? Aber gut - ich werde ihm eine Spritze geben, damit er schläft. Auf Ihre Verantwortung, Petach. Bitte ziehen Sie ihm den Kaftan aus.«
Sufi verschwand aus Atons Gesichtsfeld, und Petach stellte endlich die Schale ab und beugte sich über Aton, um ihn aus dem weiten Kleidungsstück zu schälen. Dabei sah er wieder Aton an, und abermals erschien jener sonderbare Ausdruck von Betroffenheit und Schmerz in seinem Blick, der so gar nicht zu den Ereignissen der letzten halben Stunde passen mochte und Aton über die Maßen verwirrte. »Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, Aton«, sagte er leise. »Aber wenn, dann mußt du mir glauben, daß es mir leid tut. Ich wollte nicht, daß du das alles hier miterlebst. Du hättest schlafen und morgen früh einfach aufwachen sollen, und alles wäre vorbei gewesen.«
»Was tun Sie da?« mischte sich Sufi ein. Er kam zurück, eine bereits aufgezogene Spritze in der linken Hand und einen weißen Mundschutz vor dem Gesicht, der seine Stimme zu einem dumpfen Flüstern dämpfte. »Das ist vollkommen sinnlos, glauben Sie mir. Er versteht Sie nicht.«
»Aber er ist wach!« protestierte Petach.
»Das ist er nicht«, widersprach Sufi. »Seine Augen sind offen, aber das bedeutet nicht, daß er auch nur das geringste von dem mitbekommt, was mit ihm geschieht. Halten Sie seinen Arm, bitte.«
Petach zögerte noch einmal, aber dann traf ihn ein ernster Blick aus Sufis Augen, und er beeilte sich, nach Atons Arm zu greifen und ihn zu spannen, so daß die Vene deutlich unter der Haut hervortrat. Sufi beugte sich vor. Die Injektionsnadel näherte sich Atons Arm, und Petach trat einen halben Schritt zur Seite, um dem Arzt Platz zu machen, und berührte dabei mit der freien Hand Atons Hüfte. Genauer gesagt, den Stoff über seiner linken Hosentasche.
Ein greller Blitz flammte auf. Aton verspürte einen heißen, brennenden Schmerz, und in derselben Sekunde erscholl ein helles, elektrisches Zischen und Knistern, und Petach taumelte wie von einem unsichtbaren Hieb getroffen zurück und prallte so wuchtig gegen Sufi, daß beide um ein Haar zu Boden gestürzt wären. Die Spritze flog in hohem Bogen aus Sufis Hand und zerbrach, als sie an die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde.
Vielleicht war es der jähe Schmerz, der die unsichtbaren Fesseln endgültig zerriß, die Aton gefangenhielten. Mit einem Schrei fuhr er hoch, stürzte halb von der Liege und krümmte sich stöhnend. Der Schmerz in seiner Hüfte wurde immer schlimmer. Grauer Rauch kräuselte sich aus der Tasche, und in den Geruch von brennendem Stoff mischte sich der durchdringende Gestank von verschmortem Fleisch. Halb blind vor Schmerz und Furcht griff Aton in die Hosentasche, spürte etwas Heißes, Schweres und zerrte es heraus.
Es war das Ankh.
Das kleine Henkelkreuz glühte in einem unheimlichen, grellen Licht, und es war heiß wie die Hölle. Aton versuchte es davonzuschleudern, aber es ging nicht. Das Metall schien an seiner Haut festzukleben. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er hatte auch noch einen anderen, positiven Effekt: Die Betäubung war wie weggeblasen.
Petach und Sufi hatten inzwischen ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sahen zu Aton hinüber. Petachs Hand, die das Ankh berührt hatte, war verletzt. Blut tropfte davon zu Boden, aber er schien es nicht zu spüren.
»Wirf es weg!« schrie er mit überschnappender Stimme. »Aton, wirf es weg!«
Aber das hätte Aton nicht einmal getan, wenn er es gekonnt hätte. Das Metall war noch immer heiß, aber erstaunlicherweise ließ der Schmerz in seiner Hand jetzt rasch nach, obwohl das Glühen des Ankh noch zuzunehmen schien. Ganz instinktiv spürte er, daß diese unheimliche Macht, die er da in Händen hielt, das einzige war, was ihn vor Petach und Sufi schützen konnte - und daß sie nicht sein Feind war. Und es war, als wisse er auch ganz instinktiv, wie er sie einzusetzen hatte: Als Petach auf ihn zukam, riß er die Hand in die Höhe und streckte ihm das Ankh entgegen.
Petach wankte mit einem Schrei zurück. Eine Woge goldenen, unvorstellbar intensiven Lichtes brach aus dem Ankh hervor und hüllte ihn ein. Petach kreischte. Für einen Moment wurde das Licht so stark, daß sein Fleisch durchsichtig zu werden schien, so daß Aton das Skelett darunter erkennen konnte - und noch etwas, etwas Dunkles, Formloses, das tief in ihm verborgen lauerte.
Doch so gewaltig die Macht des Ankh auch sein mochte, Petach war ihr gewachsen. Mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte, riß der Ägypter die Arme in die Höhe, und eine Macht, die ebenso gewaltig und zerstörerisch wie die des Ankh war, aber viel finsterer und ungeduldiger, begann das goldene Leuchten zurückzudrängen. Funken stoben auf. Dünne, hundertfach verästelte blaue Linien aus purer Energie zuckten plötzlich durch den Raum, hinterließen schwarze Brandspuren an den Wänden, setzten die Liege in Brand oder zerschmolzen die Instrumente, auf die sie trafen.
Ein halbes Dutzend kleiner Brände flackerte gleichzeitig auf; die meisten erloschen sofort wieder, aber nicht alle. Das Ankh begann wieder heißer zu werden.
»Wirf es weg, Aton!« schrie Petach. »Ich befehle es dir!«
Petachs Worte waren von dieser zwingenden Macht, die Aton schon ein paarmal verspürt hatte. Aber bevor diese Macht ihn noch erreicht hatte, holte er aus und schleuderte Petach das Ankh entgegen.
Petach schrie gellend auf, und Aton fuhr herum und rannte auf die Tür zu. Er widerstand der Versuchung, einen Blick über die Schulter zu werfen, um zu sehen, welchen Schaden sein Wurfgeschoß anrichtete, denn er hatte begriffen, daß er hier nicht nur Zeuge eines schier unglaublichen Geschehens war, sondern daß ihm auch eine zweite, vielleicht letzte Chance zuteil wurde. Mit aller Kraft stieß er die Tür auf und stürmte aus dem Raum. Der Flur lag in absoluter Dunkelheit da, jemand hatte das Licht ausgeschaltet.
Aton war bestimmt schon fünf oder zehn Schritte weit in die Dunkelheit hineingelaufen, ehe ihm auffiel, daß nicht nur das Licht fort war. Alle Geräusche waren verstummt. Ganz weit entfernt glaubte er ein schwaches Singen und Summen wahrzunehmen, wie Wind, der durch ein offenes Fenster hereindringt oder sich an einem Vorsprung oder Erker bricht, ansonsten aber herrschte, von dem Lärm und den Schreien im Zimmer hinter ihm abgesehen, absolute Stille.
Aton registrierte dies jedoch nur mit einem winzigen Teil seines Bewußtsein; der weitaus größere Teil seiner Aufmerksamkeit konzentrierte sich darauf, so schnell wie möglich zu laufen. Er konnte zwar nichts erkennen, aber er erinnerte sich, daß sie an einem Aufzug vorbeigekommen waren. Aton lief ein wenig langsamer, streckte die Hand aus und tastete sich an der rauhen Wand entlang, bis seine Finger ins Leere stießen.
Eine Tür. Eine offene Tür, neben der er eine kleine Schalttafel mit mehreren Knöpfen ertastete. Der Aufzug. Die Kabine lag ebenfalls in vollkommener Dunkelheit da. Offensichtlich war in der ganzen Klinik der Strom ausgefallen - vielleicht als Reaktion auf die unvorstellbaren Kräfte, die Aton ganz unabsichtlich entfesselt hatte. Aber vielleicht funktionierte der Lift ja trotzdem noch. Aton wußte, daß gerade Aufzüge in Krankenhäusern oft eine eigene Energieversorgung hatten, damit Arzte und Patienten bei einem plötzlichen Stromausfall nicht etwa stundenlang steckenblieben. Mit einem entschlossenen Schritt trat er in die Kabine hinein.
Und beinahe wäre es der letzte Schritt gewesen, den er in seinem Leben gemacht hätte. Die Kabine hatte keinen Boden, genauer gesagt, sie war gar nicht da. Der Liftschacht war leer.
Die Türen standen weit offen, aber dahinter war keine Liftkabine, sondern ein lauernder, vielleicht bodenloser Abgrund.
Aton schrie gellend auf, kippte mit wild rudernden Armen nach vorne und griff verzweifelt ins Leere, um irgendwo Halt zu finden. Der Sturz dauerte keine halbe Sekunde, aber er schien trotzdem endlos zu währen. Aton war felsenfest davon überzeugt, daß das sein Ende bedeutete. Er würde bis in den Keller dieses Gebäudes hinunterstürzen und sich dort unten den Hals brechen - wenn er Glück hatte und nicht schwerverletzt und hilflos liegenblieb, bis Petach und Dr. Frankenstein kamen, um ihn zu holen.
Da prallte Aton hart gegen etwas, was in der Dunkelheit verborgen war. Das Hindernis riß seinen nackten Arm und die Schulter auf, dann erfolgte ein zweiter, ungleich härterer Aufprall, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und seinen Schrei zu einem erstickten Keuchen machte.
Einige Sekunden lang blieb er benommen liegen und wunderte sich, daß er noch lebte. Erst danach wurde ihm klar, was geschehen war: Er war auf das Dach der Liftkabine hinuntergestürzt, die nur eine Etage unter ihm gehalten hatte. Er hatte buchstäblich mehr Glück als Verstand gehabt.
Vorsichtig richtete er sich auf. Er war von harten, kantigen Dingen umgeben, doch nachdem er einen Moment in sich hineingelauscht hatte, stellte er fest, daß er bis auf den brennenden Kratzer am Arm offenbar unverletzt davongekommen war.
Aton sah nach oben. Die offenstehenden Aufzugtüren waren als verschwommenes Rechteck über ihm zu erkennen, aber das Licht reichte nicht bis hierher.
Er lauschte. Nichts. Vollkommene Stille umgab ihn. Und das war sehr sonderbar. Petachs Schreie hatten aufgehört, aber in einem Krankenhaus, in dem plötzlich der Strom ausfiel, hätte es niemals so ruhig sein dürfen. Er hätte Rufe hören müssen, aufgeregte Stimmen, hastige Schritte, Lärm. Aber er hörte gar nichts. Es war, als wäre das ganze riesige Gebäude ausgestorben.
Aton spielte einen Moment mit dem Gedanken, an dem Drahtseil, gegen das er geprallt war, hinaufzuklettern, verwarf diese Idee aber sofort wieder. Er war schließlich kein Hochseilartist. Und selbst wenn er die Kletterpartie geschafft hätte, hätte es ihm sehr wenig genutzt, drei Meter weiter oben in der Mitte eines Schachtes zu hängen, ohne die Tür erreichen zu können. Flüchtig tastete er die Wand vor sich ab, fühlte aber nichts als rauhen Zement. Außerdem erschien ihm die Idee, wieder zu Petach hinaufzuklettern, wenig verlockend. Also machte er sich daran, das Dach der Liftkabine zu untersuchen.
Seine blind umhertappenden Finger fanden fast auf Anhieb, was er gesucht hatte. Er spürte ein rostiges Rechteck aus Metall, das mit einem wuchtigen Schnappriegel gesichert war.
Aton machte vier oder fünf Versuche und brauchte seine ganze Kraft, um ihn zu öffnen, denn er schien seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein und war völlig verrostet.
Aber schließlich stemmte er die Klappe hoch und ließ sich vorsichtig in die darunterliegende Öffnung gleiten. Eine Sekunde lang zögerte er noch. Eine dünne, böse Stimme in ihm versuchte ihn davon zu überzeugen, daß unter dieser Klappe nicht die Liftkabine, sondern nur ein weiterer, und diesmal wirklich bodenloser Abgrund lauerte. Aber das war natürlich Unsinn.
Trotzdem saß die Angst wieder in ihm, als er sich weiter in die Tiefe sinken ließ und schließlich die Finger von seinem Halt löste, und die Zehntelsekunde, die der Sprung dauerte, schien sich zu einer Stunde zu dehnen.
Natürlich war unten ein Boden, und Aton hatte sogar noch einmal Glück: Auch in dieser Etage standen die Aufzugtüren weit offen, so daß er die Kabine verlassen konnte. Wahrscheinlich, dachte er, hatte der Stromausfall für einen Kurzschluß in der entsprechenden Elektronik gesorgt, wodurch sämtliche Aufzugtüren aufgegangen waren, statt sich automatisch zu schließen. Er hoffte nur, daß niemand ernsthaft zu Schaden kam.
Was diese Sorge anging, so stellte er fest, daß sie völlig unbegründet war, kaum daß er den Lift verlassen hatte. Der Flur, auf den er hinaustrat, war nicht völlig dunkel. Durch mehrere offene Türen fiel silbernes Nachtlicht herein, so daß Atons mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnte Augen hinlänglich sehen konnten. Genug zumindest, um zu erkennen, daß es auf dieser Etage der Klinik niemanden gab, der Gefahr lief, in den Liftschacht zu stürzen. Der Korridor war vollkommen verlassen, und das offensichtlich schon seit Jahren. Die meisten Türen standen offen, einige waren gar eingeschlagen oder hingen schräg in den Angeln, wenn sie nicht ganz fehlten. Wo Lampen in den Decken sein sollten, gähnten nur mehr Löcher, aus denen sich die Enden abgeschnittener Kabel ringelten; der ehemals in freundlichen Farben gestrichene Rauhputz an den Wänden war verdreckt und gerissen, hier und da in großen, an Ausschlag erinnernden Flecken heruntergefallen. Auf dem Boden türmte sich Schutt und Abfall, und als er an die erste Tür trat und einen Blick in den dahinterliegenden Raum warf, stellte er fest, daß dieser vollkommen leer und in einem ebenso üblen Zustand war. Und jetzt fiel ihm auch auf, daß der typische Krankenhausgeruch fehlte und es nach Staub und Verfall roch. Durch das offenstehende Fenster, das kein Glas mehr hatte, heulte der Wind herein.
Aton war vollkommen verwirrt. Es war doch völlig undenkbar, daß man ein ganzes Stockwerk dieses Krankenhauses so verfallen ließ, während der Betrieb in den anderen Etagen weiterging! Langsam trat er an das Fenster heran und beugte sich vor, um hinauszusehen.
Der Anblick war fast noch unheimlicher als der, den das Innere des Gebäudes bot. Drei Etagen unter ihm erstreckte sich ein vollkommen verwilderter Garten, in dem Unkraut und Büsche längst jede Spur menschlicher Pflege zunichte gemacht hatten. Glasscherben und ganze Berge von Schutt türmten sich überall, und als er nach rechts und links sah, erkannte er, daß auch die meisten anderen Fenster eingeschlagen waren. Nirgendwo brannte Licht. Nirgendwo war eine Bewegung, auch nur eine Spur von Leben.
Aton trat wieder ins Zimmer zurück. Er hatte schließlich andere Sorgen, als das Rätsel dieses so plötzlich verlassenen Krankenhauses zu lösen. Von Petach und Sufi war zwar noch immer nichts zu sehen oder zu hören, aber Aton zweifelte nicht daran, daß die beiden längst nach ihm suchten. Und er zweifelte ebensowenig daran, daß er Petach kein zweites Mal so leicht entkommen würde. So verließ er das Zimmer und ging weiter den Korridor hinunter.
Alle Räume, an denen er vorbeikam, waren leer und voller Schutt, nur hier und da entdeckte er ein verrostetes Bett, ein umgestürztes Nachtschränkchen oder einen zurückgelassenen Schrank. Einmal kam er an einem Zimmer vorbei, das fast kniehoch mit gestapelten Papieren und Zeitungen gefüllt war. Aton untersuchte die Zeitschriften flüchtig. Die meisten waren älter als er, und das jüngste Datum, das er fand, lag mehr als zwölf Jahre zurück. Der Gestank nach vermodertem Papier war so durchdringend, daß er ihm fast den Atem nahm und Aton den Raum rasch wieder verließ. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte - das Treppenhaus, in dem ausgetretene Betonstufen in die Tiefe führten.
Es gab hier keine Fenster, weshalb Aton sich blind von Stockwerk zu Stockwerk nach unten tasten mußte und ein paarmal über Hindernisse stolperte, die in der Dunkelheit verborgen blieben. Aber schließlich endete die Treppe, und es wurde wieder hell vor ihm.
Die Eingangshalle bot einen fast noch chaotischeren Anblick als der Rest des Gebäudes. Sämtliche Fensterscheiben waren eingeschlagen. Auf dem Boden schimmerte Glas, als wären alle Sterne des Himmels heruntergefallen und zu Eis erstarrt, und der Wind hatte ganze Berge von Laub und Schmutz herangetragen, die kleine Verwehungen und Hügel vor den Türen bildeten. Ein Teil der Wandverkleidung, die aus Holz bestand, war weggefault, und der Modergeruch war fast so schlimm wie in dem Zimmer mit den vielen Zeitungen. Aton verstand das einfach nicht mehr. Halb bewußtlos oder nicht, er hätte gemerkt, wenn Petach ihn durch diese Ruine getragen hätte!
Wie auf ein Stichwort hin hörte er in diesem Moment die Stimme des Ägypters. Es mußte noch eine zweite Treppe geben, denn Petach stürmte durch eine andere Tür herein, wobei er laut Atons Namen schrie. Aton zog sich hastig tiefer in den Schatten des Treppenhauses zurück.
»Aton!« schrie Petach. »Ich weiß, daß du mich hörst! Bitte glaub mir, es ist nicht so, wie es aussieht! Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, aber du mußt mir glauben, daß ich auf deiner Seite stehe. Bitte vertrau mir noch einmal. Ich kann dir alles erklären!«
Ja, dachte Aton. Ganz bestimmt. Auf deine ganz persönliche Art. Mit Garantie, daß ich jedes Wort glaube - ganz egal, was für ein Unsinn es auch ist.
Er zog sich noch ein Stückchen tiefer in den Schutz des Treppenhauses zurück. Petach rief weiter seinen Namen, wobei er ununterbrochen beteuerte, daß alles ganz anders sei, als es den Anschein hatte, und er alles erklären könnte. Aton wartete mit klopfendem Herzen, bis der Mann die Halle wieder verlassen hatte, dann raffte er all seinen Mut zusammen und rannte los. Das Klirren von Glas unter seinen Füßen war so laut, daß er für einen Moment völlig davon überzeugt war, Petach müsse seine Schritte hören und in der nächsten Sekunde hinter ihm auftauchen. Aber er erreichte unbehelligt die Tür, stürmte durch den leeren Rahmen, und dann war er im Freien und tauchte mit einem Satz in den Schutz der Büsche.
Die Dornen und Äste zerkratzten seine nackte Haut, aber Aton zwängte sich trotzdem tiefer in das Gestrüpp hinein und verzichtete darauf, dem zwar halb überwucherten, aber doch noch erkennbaren Weg zu folgen. Erst als ihm klar wurde, daß er auf diese Weise vielleicht nicht gesehen, mit Sicherheit aber gehört wurde - er machte einen Lärm wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen -, ging er langsamer und blieb schließlich stehen. Schwer atmend ließ er sich hinter einem mit Rauhreif überzogenen dornigen Busch, der aussah wie ein Gespinst aus weiß überzuckertem Draht, in die Hocke sinken und wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte. Dann sah er wieder zum Haus zurück.
Von Petach und Sufi war nichts zu sehen. Offenbar hatten die beiden nicht gemerkt, daß Aton das Haus verlassen hatte, und suchten noch immer im Inneren des Gebäudes nach ihm. Der Gedanke daran, wie sehr Petach ihn belogen und hintergangen hatte, erfüllte Aton mit einem solchen Zorn, daß er nahe daran war, wieder zum Haus zurückzukehren und seinerseits nach Petach zu suchen, um ihn zur Rede zu stellen. Aber das würde er natürlich nicht tun. Trotzdem genoß er diese Vorstellung einige Augenblicke, und er zog sogar ein wenig Kraft aus ihr; wenigstens so lange, bis ihm klar wurde, daß die Gefahr zwar etwas kleiner geworden, aber längst noch nicht ganz vorüber war.
Aton betrachtete die dunkel daliegende Krankenhausruine noch einige Augenblicke nachdenklich, dann drehte er sich herum und begann, sich durch das dornige Gestrüpp einen Weg zur Straße zurückzubahnen.