Petachs Geschichte (2)

Aton hatte einen Traum: Der Gang erstreckte sich schnurgerade in die Erde hinein, ein rechteckiger Stollen, etwas höher als breit, dessen Wände und Decke aus gewaltigen Quadern bestanden, jeder einzelne mehr als zwei Meter lang und einen hoch. Es war sehr dunkel; das war es hier immer gewesen. Dies war ein Ort, den das Licht der Sonne niemals gewärmt hatte, solange die Welt bestand, und den es niemals erhellen würde. Aton hatte eine Lampe bei sich, aber die Batterien waren schon schwach, und das Glas war gerissen, vorhin, als er gestürzt war. Unter normalen Umständen wäre ihr Licht kaum noch sichtbar gewesen, aber seine Augen hatten sich an den matten, gelblichen Schein gewöhnt, so daß er seine Umgebung zumindest schemenhaft erkennen konnte.

Allerdings hätte er auch gerne darauf verzichtet, denn was er sah, machte ihm angst. Die Wände waren nicht glatt. Wenn man genau hinsah, erkannte man, daß sie gar nicht wirklich aus Quadern bestanden. Der Stollen war in den natürlich gewachsenen Fels hineingemeißelt worden, und die gleichen Hände, die dieses unvorstellbare Werk vollbracht hatten, hatten dünne, parallele Linien in den Stein getrieben, die die Wände aussehen ließen, als wären sie gemauert. Aber das war es nicht, was ihn in Furcht versetzte.

Angst machten ihm die Bilder, die die Wände zierten. Es waren fremdartige, düstere Bilder, Bilder von Göttern und Dämonen, von Menschen und Ungeheuern, Bilder, die uralte Geschichten erzählten, von uralten Gefahren, uralten Schrecknissen, aber auch uralten Freuden zu berichten wußten. Er verstand nur das wenigste von dem, was er sah, aber die fremden Linien, die strenge Geometrie und die düstere Symbolik machten es unangenehm, sie nur zu betrachten.

Und etwas war hinter ihm.

Er hatte es bisher nicht gesehen. Jedesmal, wenn er stehenblieb und den schwächer werdenden Strahl in die Dunkelheit hinter sich richtete, war dort nichts. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Aber er spürte, daß dort etwas war. Nicht jemand. Etwas. Und es kam näher.

Aton fuhr mit einem Schrei in die Höhe. Sein Herz raste. Er war in Schweiß gebadet, und zugleich zitterte er am ganzen Leib. Im allerersten Moment hatte er Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Er wußte, daß er wach war, er wußte, daß er einen Traum gehabt hatte, und trotzdem schien ihm die Dunkelheit, in der er erwachte, noch immer die zu sein, durch die er in seinem Traum geirrt war. Und er war auch hier nicht allein. Etwas Warmes, Schweres lag auf seiner Brust. Als er die Hand ausstreckte, spürte er weiches, flauschiges Fell. Bastet. Die Katze war mit ihm heraufgekommen, als er schlafengegangen war.

Es war nicht das erste Mal, daß Aton diesen Traum träumte. Früher hatte er ihn oft geträumt, fast jede Nacht, und er war oft schreiend und um sich schlagend erwacht. Der Traum war nicht nur ein Traum. Er war wirklich in jenem Gang gewesen, hatte diese furchtbaren Bilder wirklich gesehen und diese entsetzliche Angst tatsächlich erlitten, und da er damals gerade fünf Jahre alt gewesen war, hatte es lange gedauert, bis er die Schrecken jener Nacht ganz verarbeitet hatte. Jahre waren vergangen, bis der Traum allmählich seltener wurde, doch ganz war er niemals verschwunden. Aber er war schon seit Jahren nicht mehr so schlimm gewesen wie jetzt.

Die Tür wurde geöffnet, und Aton blinzelte in das plötzliche Licht, das vom Flur hereinfiel. Bastet fauchte erschrocken, sprang mit einem Satz vom Bett und flitzte zwischen den Beinen seiner Mutter hindurch aus dem Zimmer. Aton stellte verwundert fest, daß draußen bereits Tageslicht herrschte. Er mußte gut einen halben Tag verschlafen haben.

»Alles in Ordnung?« erkundigte sich seine Mutter von der Tür her.

»Ja«, antwortete Aton. Und fügte dann hinzu: »Ich hatte wieder diesen Traum. Komisch, nach so langer Zeit. Und ich dachte schon, ich hätte endlich meine Ruhe.«

»Das wundert mich überhaupt nicht«, sagte seine Mutter, »nach dem, was gestern hier geschehen ist.« Sie trat wieder zurück und legte die Hand auf die Türklinke. »Das Frühstück ist fertig«, sagte sie. »Ich meine, du könntest noch eine halbe Stunde schlafen, aber wenn du willst ...«

Aton überlegte nur kurz, ehe er die Decke vollends abstreifte und aufstand. Normalerweise kämpfte er morgens um jede Minute, die er noch im Bett bleiben konnte, aber seit er das Internat verlassen hatte und nach Hause gekommen war, war absolut nichts mehr normal. Aus seinem Bett, einem Ort, an dem es warm und behaglich war, war etwas Feindseliges und Böses geworden, ein Platz, vor dem er sich beinahe fürchtete. Zum ersten Mal seit Jahren, seit er die Träume nach und nach überwunden hatte, hatte er wieder Angst davor, einzuschlafen.

Er fand seine Eltern in der Küche, wo sie zusammen mit Petach am Frühstückstisch saßen, Anubis (und zu Atons Überraschung auch Bastet) fraßen um die Wette aus zwei unterschiedlich großen Näpfen neben der Tür, und aus dem hinteren Teil des Hauses drang lautes Hämmern und Sägen.

Auf dem Tisch zwischen seinem Vater und Petach stapelten sich Papiere und Reiseunterlagen, deren Anblick Aton schmerzhaft ins Gedächtnis zurückrief, daß die Abreise seiner Eltern unmittelbar bevorstand - und damit auch seine eigene.

»Hallo, Aton!« sagte sein Vater. »Hast du gut geschlafen?«

»Nicht besonders«, gestand Aton. »Ich hatte wieder den Traum.«

»Den Traum?« Petach sah ihn fragend an.

»Aton hatte einen Unfall, als er fünf Jahre alt war«, erklärte sein Vater. »Er wurde verschüttet. Es hat fast vierundzwanzig Stunden gedauert, bis er gefunden wurde. Die körperlichen Verletzungen waren nicht schlimm, aber er hat noch jahrelang danach unter schlimmen Alpträumen gelitten.«

»Das wundert mich nicht«, sagte Petach. »So etwas kann einem das ganze Leben lang zu schaffen machen.«

Aton wurde das Gespräch allmählich unangenehm. »Wo hast du denn so schnell die Handwerker herbekommen?« fragte er mit einer Kopfbewegung in die Richtung, aus der der Lärm drang. »Du sagst doch immer, es dauert Monate, bis jemand kommt.«

»Herr Petach hat mir geholfen«, antwortete sein Vater. »Ohne ihn hätte es wahrscheinlich wirklich eine Woche oder mehr gedauert.«

Aton sah den Ägypter über den Tisch hinweg durchdringend an. »Gibt es irgend etwas, was Sie nicht können?« fragte er.

»Ich kenne eine Menge Leute«, antwortete Petach. »Es ist immer gut, Freunde zu haben.«

Atons Vater sah verwirrt zwischen seinem Sohn und Petach hin und her, fast als spürte er, daß die Worte der beiden nicht ganz so nichtssagend waren, wie sie sich anhörten. Dann räusperte er sich, um Atons Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Wir haben eine Menge zu besprechen, Aton«, sagte er mit einer Geste auf die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen. »Ich weiß, der Moment ist nicht besonders günstig, aber uns bleibt nicht mehr genug Zeit, um auf eine geeignete Stunde zu warten.«

Ein ungutes Gefühl begann sich in Aton breitzumachen. Er kannte seinen Vater. Wenn er mit einer derart umständlichen Ansprache begann, dann wollte er damit meistens Zeit schinden - weil ihm das, worüber er sprechen wollte, äußerst unangenehm war.

»Ihr müßt weg, ich weiß«, sagte er.

»Ja, und zwar schon bald«, seufzte sein Vater. »Um es präzise auszudrücken, schon heute.«

»Heute?« Aton setzte sich kerzengerade auf. Er war zutiefst erschrocken. Heute schon? Aber er hatte gedacht, wenigstens ein paar Tage zu Hause bleiben zu können!

»Ja«, bestätigte sein Vater. »Das war auch der Grund, aus dem wir gestern abend überraschend in die Stadt mußten, um unsere Pässe abzuholen. Ich hatte gehofft, zumindest zwei, drei Tage noch hier verbringen zu können. Aber gestern kam ein Telefax von der Baustelle. Wir müssen sofort abreisen.« Er deutete auf sein Gegenüber. »Herr Petach war so freundlich, sich anzubieten, hier alles Notwendige zu erledigen - die Versicherung, die Handwerker, die Polizei ... alles eben. Aus diesem Grund können wir sofort abreisen.«

»Und ... und ich?« fragte Aton stockend. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte gewußt, daß dieser Moment kommen würde, und trotzdem: Jetzt, als es soweit war, war er regelrecht entsetzt.

»Das ist nicht so einfach«, antwortete sein Vater. »Nach dem, was gestern hier passiert ist, möchte ich dich ungern allein hier im Haus lassen. Aber Herr Petach konnte uns auch in diesem Punkt helfen.«

»Herr Petach?« Aton erstarrte.

»Ich habe ohnehin noch ein paar Tage beruflich hier in der Gegend zu tun«, bestätigte Petach. »Lange genug jedenfalls, um hier alles zu regeln. Danach kann ich dich zu deiner Großmutter bringen.«

»Wahrscheinlich müssen Sie sowieso gerade in diese Richtung, wie?« fragte Aton böse. »Rein zufällig, versteht sich.«

»Keineswegs«, erwiderte Petach ernst. »Es bedeutet sogar einen erheblichen Umweg für mich. Aber ich nehme ihn in Kauf.«

»Wie edel«, sagte Aton.

»Aton, bitte benimm dich«, sagte seine Mutter streng. »Ich kann ja verstehen, daß du traurig bist, aber das ist kein Grund, sich Herrn Petach gegenüber so aufzuführen.«

»Vielleicht ist ja noch nicht alles zu spät«, sagte sein Vater. Er schien an diesem Morgen ungewöhnlich großmütig gestimmt. Normalerweise hätte er Aton eine solche Bemerkung kaum durchgehen lassen. »Siehst du, Aton - ich weiß selber noch nicht genau, was auf der Baustelle los ist. Sobald wir die Probleme dort einigermaßen im Griff haben, werde ich versuchen, dich nachzuholen. Warum sollst du nicht ein, zwei Wochen Ferien machen. Was hältst du davon?«

Wären die letzten Tage anders verlaufen, dann wäre Aton seinem Vater jetzt vermutlich vor Freude um den Hals gefallen. So aber hörte er die Worte kaum. Seine Gedanken kreisten wie wild um das, was sein Vater zuvor gesagt hatte. Er sollte allein mit Petach zurückbleiben? Als er dies das letzte Mal getan hatte, da hätte es ihn um ein Haar sein Leben gekostet - und da hatte es sich nur um wenige Stunden gehandelt!

»Nie und nimmer!« sagte er in einem so entschlossenen Ton, daß er selbst darüber erstaunt war - und sich das Gesicht seines Vaters nun doch mit dunklen Zorneswolken überzog.

»Aton, du -«

»Ich bleibe ganz bestimmt nicht hier«, unterbrach ihn Aton. Er war fast in Panik. Er sollte allein mit Petach zurückbleiben?! Niemals! »Und schon gar nicht mit ihm!« fügte er hinzu und sprang auf.

»Aton, bleib hier!« sagte sein Vater scharf. »Auf der Stelle kommst du zurück.«

Aber Aton lief zur Tür, obwohl es nicht seine Art war, die Befehle seines Vaters zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Vater ebenfalls aufstand, doch da hob Petach die Hand und machte eine besänftigende Geste, und wie nicht anders zu erwarten war, verschwand der Zorn aus dem Blick seines Vaters wie weggeblasen.

»Warten Sie«, sagte Petach. »Der Junge hat in den letzten Tagen eine Menge mitgemacht. Ich rede mit ihm.«

Das war so ungefähr das letzte, was Aton im Moment wollte. Er war unter der Tür stehengeblieben, hin- und hergerissen zwischen Gehorsam seinem Vater gegenüber und dem immer stärker werdenden Wunsch, einfach davonzurennen und eine möglichst große Strecke zwischen sich und Petach zu bringen, aber nun siegte seine Furcht endgültig. Er fuhr herum, stürmte aus dem Raum und wandte sich nach links, zur Haustür hin.

Hinter ihm erklang ein scharfes Bellen, und eine Sekunde später huschte ein schwarzer Schatten an ihm vorbei und verstellte ihm den Weg. Nicht zum ersten Mal, aber so deutlich wie nie zuvor, wurde Aton klar, daß er im Grund ein Gefangener in seinem eigenen Haus war. Ebenso wie seine Eltern wahrscheinlich. Aber die ahnten das nicht einmal.

Er hörte Schritte hinter sich und wußte, daß es Petach war. Er drehte sich nicht um.

»Sei vernünftig, Aton«, sagte Petach ruhig. »Laß uns miteinander reden. Fünf Minuten, mehr verlange ich nicht. Hör mir fünf Minuten zu, und danach entscheide dich. Ich werde dich nicht zwingen, mit mir zu kommen, darauf gebe ich dir mein Wort.«

Aton starrte ihn schweigend an - und schließlich nickte er, wenn auch schweren Herzens. Welche andere Wahl hatte er schon?

»Gut«, sagte Petach und deutete zur Hintertür. »Gehen wir einen Moment in den Garten? Ich finde, im Freien redet es sich besser.«

Aton holte seine Jacke von der Garderobe und folgte dem Ägypter aus dem Haus. Er glaubte, den wirklichen Grund dafür zu kennen, daß Petach dort mit ihm reden wollte - nämlich, sicher zu sein, daß weder seine Eltern noch die Handwerker zufällig hörten, was sie zu besprechen hatten.

Der Tag war sehr kalt, aber auch sehr klar. Am Himmel zeigte sich nicht die kleinste Wolke, und die Sonne schien so strahlend, daß Aton geblendet die Hand vor die Augen hob. Erst dann begriff er, daß es gar nicht am Licht lag. Die Sonne schien wie an jedem anderen Tag zu dieser Jahreszeit - aber drinnen im Haus schien es dunkler und kühler gewesen zu sein als sonst; als hätte es sich verändert, auf eine kaum in Worte zu fassende, aber dafür um so deutlicher fühlbare - und sehr unangenehme - Art. Er hatte dieses Gefühl schon einmal gehabt, vor zwei Tagen, als er noch in Crailsfelden gewesen war, das jetzt nicht mehr existierte.

War es das, was er fühlte? Hatten die Mächte des Bösen ihre Hand jetzt auch nach diesem Haus ausgestreckt?

Aton versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht ganz. Etwas blieb zurück, eine Kälte, die sich tief in seine Seele hineingegraben hatte und die er vielleicht nie wieder ganz loswerden würde. Schaudernd vergrub er die Hände in den Jackentaschen und blickte starr an Petach vorbei ins Leere. Sie gingen eine ganze Weile im Garten auf und ab, ohne daß einer von ihnen sprach.

»Was wollen Sie mir sagen, Petach?« begann Aton schließlich.

Petach zögerte. »Ich weiß, du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren«, antwortete er. »Aber ich kann dir jetzt nicht alles sagen. Noch nicht.«

Plötzlich fühlte sich Aton furchtbar müde. Er wünschte sich weit weg, zurück ins Internat, zurück in jene Zeit, in der die Welt noch einfach und klar überschaubar gewesen war, in der sie nur aus den Dingen bestanden hatte, die man sehen und anfassen konnte, und in der die größten Gefahren, mit denen er rechnen mußte, eine Tracht Prügel von Werner und dessen Freunden gewesen war.

Aber diese Welt hatte er verlassen, und er ahnte, daß es endgültig gewesen war. In dem Moment, in dem Petach in sein Leben getreten war, hatte er eine unsichtbare Grenze überschritten, und die Welt auf der anderen Seite dieser Grenze war nicht nur neu und unbekannt, sondern auch voller tödlicher Gefahren. Vielleicht war das, was er bisher erlebt hatte, nur der Anfang gewesen.

»Ich habe dir die Geschichte von Echnaton und seinem Mörder erzählt«, fuhr Petach fort. »Mittlerweile wirst du wohl begriffen haben, daß es mehr ist als eine Geschichte.«

»Stellen Sie sich vor, das ist sogar mir aufgefallen«, sagte Aton.

Petach seufzte.

»Ich verstehe deinen Zorn«, sagte er. »Ich hätte es dir gerne auf eine andere Weise klargemacht, glaub mir. Aber die Dinge entwickeln sich nun einmal nicht immer so, wie wir es uns wünschen. Ich fürchte, ich habe meine Gegner unterschätzt.«

»Ihre Gegner?«

»Die andere Seite in diesem Spiel«, erklärte Petach. »Nenn sie, wie du willst.«

»Spiel?« ächzte Aton. »Sagten Sie Spiel? Mir kam es ziemlich ernst vor.«

»Alles ist ein Spiel, in gewissem Sinne«, erwiderte Petach. »Nur der Einsatz ist verschieden. Was uns Menschen wie tödlicher Ernst erscheinen mag, ist für die Götter nicht mehr als ein Spiel, und über ihnen wiederum stehen andere Mächte, deren Regeln sie gehorchen müssen, und vielleicht setzt sich diese Kette bis ins Endlose fort ...« Er machte eine vage Bewegung mit beiden Händen und kehrte zum Thema zurück: »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich dachte, ich hätte noch mehr Zeit, aber das war ein Irrtum.«

»Zeit? Wozu?«

»Dir alles zu erklären«, antwortete Petach. »Dich in Sicherheit zu bringen. Und deine Eltern auch.«

»Was haben meine Eltern -?« fragte Aton, aber Petach unterbrach ihn: »Hör mir zu, Aton. Hör mir bitte zu, und versuche mir zu glauben, daß ich die Wahrheit sage. Die Prophezeiung, von der ich dir gestern nacht erzählt habe, wird sich erfüllen, so oder so. Manchmal ist das Schicksal einfach stärker als der Wille der Menschen, und manchmal scheint es uns ungerecht, weil wir nicht verstehen, warum etwas geschieht. Was geschehen muß, wird geschehen, und kein Mensch auf dieser Welt kann etwas daran ändern.«

»Wenn das wirklich so ist, wozu reden wir dann noch miteinander?« fragte Aton. »Wenn wir sowieso machtlos sind?«

»Weil es in unserer Hand liegt, wie es geschieht«, antwortete Petach. »Das Schicksal ist unerbittlich, Aton, aber es ist nie wirklich grausam. Es kennt nicht Gut und Böse. Die Dinge werden geschehen, aber es liegt bei uns, auf welche Weise. Ich weiß seit langem, daß sich Echnatons Fluch erfüllen wird, und ich dachte, ich hätte Zeit genug, Gefahr von Unschuldigen abzuwenden. Jetzt weiß ich, ich habe mich getäuscht.«

»Was soll das heißen?« fragte Aton.

Petach begann wieder, mit kleinen, gemessenen Schritten im Garten auf und ab zu gehen, und Aton folgte ihm. Als er flüchtig zum Haus sah, erkannte er die Umrisse seiner Eltern am Küchenfenster. Beide standen da und sahen zu Petach und ihm heraus, und Aton fragte sich, ob sie auch nur ahnten, was zwischen ihnen besprochen wurde.

»Echnatons Fluch wird sich erfüllen«, sagte Petach. »Die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben, und der Verräter wird endlich sterben dürfen. Doch dies kann auf verschiedene Weise geschehen - in einer Nacht des Schreckens und der Tränen, die das Leben vieler Unschuldiger kostet, oder in dem Frieden, den sich der ruhelose Wanderer so lange herbeigesehnt hat.«

Die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben ... Aton fröstelte. Die Worte hätten aus einem Zombie-Film stammen können, doch die Art, auf die Petach sie aussprach, machten sie zu etwas Unheimlichem, Drohendem.

»Und auch dein Schicksal und das deiner Eltern stehen auf dem Spiel«, fuhr Petach nach einer Pause fort, in der er ihm Zeit gegeben hatte, das Gehörte zu verarbeiten. »Ich kann und will dir jetzt nicht erklären, warum das so ist, aber du mußt mir glauben, daß ich versucht habe, dich zu beschützen. Vielleicht hätte ich dich eher abholen sollen, aber nun haben sie dich gefunden, Aton, und das allein zählt im Moment. Und sie werden wiederkommen.«

»Sie meinen, die Mumie gestern abend ... das war nicht ... nicht das einzige Wesen, das hinter mir her ist?« fragte Aton stockend.

»Ich fürchte, nein«, antwortete Petach. »Und jetzt, wo sie wissen, daß es dich gibt und wo du bist, werden sie bald wiederkommen. Nicht nur du bist in Gefahr, Aton, versteh das.«

Aton schwieg eine ganze Weile. Während sie nebeneinander durch das hartgefrorene Gras marschierten, war das Knirschen ihrer Schritte das einzige Geräusch. Aton verstand nur zu gut, was Petach ihm wirklich hatte sagen wollen: Nicht nur er allein war in Gefahr, sondern jeder, der sich in seiner Nähe aufhielt. Nach einer Weile blieb er stehen und sah wieder zum Fenster hinüber. Seine Eltern standen noch immer da.

»Haben Sie deshalb dafür gesorgt, daß sie so plötzlich aufbrechen mußten?« fragte er.

Petach lächelte. »Ich gebe zu, ich habe ein wenig ... nachgeholfen, ja. Ich habe es nicht gerne getan, aber es mußte sein. Meine Kraft reicht vielleicht aus, dich zu beschützen, aber wahrscheinlich nicht, auch deine Eltern vor Schaden zu bewahren.« Er atmete hörbar ein und sah Aton durchdringend und ernst an. »Solange der Tag des Erwachens nicht vorüber ist, Aton, bist du eine Gefahr für sie.«

»Aber warum denn nur?« murmelte Aton. »Ich ... ich habe doch mit alledem gar nichts zu tun! Warum wollen sie ausgerechnet mich?«

»Weil du etwas besitzt, das sie benötigen«, antwortete Petach. »Etwas von sehr großem Wert. Nicht für dich oder mich oder irgendeinen anderen lebenden Menschen - aber für die Götter und die Toten.«

»Ich?« Aton riß ungläubig die Augen auf. »Was soll das sein?«

»Es würde nichts ändern, wenn ich es dir erklären würde«, sagte Petach. »Du würdest es nicht verstehen. Doch es gibt etwas, was ich noch tun kann. Sobald deine Eltern in Sicherheit sind, bringe ich dich an einen Ort, an dem sie dich nicht erreichen können. Wenn mein Vorhaben gelingt, werden sie jedes Interesse an dir verlieren, glaube mir.«

Petach appellierte für Atons Geschmack ein wenig zu oft und zu nachhaltig an sein Vertrauen. Aber welche Wahl hatte er schon? Wieder sah er zu dem Fenster hin, hinter dem seine Eltern standen und zu ihnen herblickten, ehe er sich mit einer letzten Frage an Petach wandte.

»Versprechen Sie mir, daß ihnen nichts passiert, wenn ich tue, was Sie verlangen?« fragte er.

Petach nickte. »Das verspreche ich«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Sie wollen nur dich. Und ich werde dich beschützen. Gestern abend hat er mich überrascht, aber das nächste Mal bin ich vorbereitet.«

»Dann komme ich mit Ihnen«, sagte Aton.

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