Die Katastrophe

Der Tag war anstrengend gewesen. Und so war es kein Wunder, daß Aton auch am nächsten Morgen verschlief; und diesmal gründlich. Vermutlich hätte er nicht nur das Frühstück, sondern auch noch das Mittagessen verschlafen, wäre er nicht von einer rauhen Zunge geweckt worden, die ihm kreuz und quer über das Gesicht schlabberte.

Aton setzte sich mit einem Ruck auf, schob mit der linken Hand den Hund von sich weg und fuhr sich mit der anderen über Stirn und Wangen. Anubis' Zunge war ungefähr so groß wie ein Waschlappen und mindestens genauso naß.

Aton gähnte. Trotz der vielen Stunden, die er geschlafen hatte, fühlte er sich nicht im geringsten ausgeruht. Er hätte sich auf der Stelle wieder herumdrehen und weiterschlafen können, aber ein einziger Blick auf Anubis machte ihm klar, daß der Hund das nicht zulassen würde. So schwang Aton widerwillig die Beine aus dem Bett, schauderte, als seine nackten Fußsohlen den kalten Boden berührten, und zog die Beine rasch wieder an.

Das ganze Bett wackelte, als Anubis mit einem Satz hinaufsprang. Aton drehte sich mürrisch zu dem Hund herum, um ihn wegzuscheuchen - aber er war nicht schnell genug. Anubis prallte wie ein lebendes Geschoß gegen ihn, und Aton verließ die verlockende Wärme seines Bettes endgültig und auf völlig andere Weise, als er beabsichtigt hatte: mit einem halben Salto nach vorne nämlich.

Als er sich wieder aufrappelte, hockte Anubis genau dort, wo er gerade gesessen hatte, und grinste unverschämt auf ihn hinunter. Natürlich grinste er nicht wirklich; schließlich können Hunde nicht grinsen. Aber trotzdem hätte Aton in diesem Moment Stein und Bein geschworen, daß die Lefzen des Dobermanns zu einem hämischen Grinsen hochgezogen waren.

So oder so - an Schlafen war jedenfalls nicht mehr zu denken. Und übrigens war es dafür auch viel zu spät, wie Aton mit einem raschen Blick auf den Wecker feststellte. Beinahe elf. Er wunderte sich, daß seine Mutter ihn nicht längst aus dem Bett gescheucht hatte.

Widerwillig trottete Aton ins Bad, wusch sich flüchtig (schließlich hatte den Großteil bereits Anubis erledigt) und kehrte in sein Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Der Hund folgte ihm wie ein lautloser, schwarzer Schatten, ohne ihn jedoch erneut mit seinen feuchten Freundlichkeitsbezeugungen zu belästigen. Aber als Aton sich auf die Bettkante setzte, um in die Socken zu schlüpfen, stieß er ein leises Knurren aus.

»Ja, ja, ist ja gut«, sagte Aton hastig. »Reg dich nicht auf. Ich ziehe mir nur Strümpfe an. Hier, siehst du?« Er wedelte mit seiner rechten Socke vor Anubis' Schnauze herum. Der Hund schnüffelte daran und wich mit einem leisen Winseln zwei Schritte zurück.

Im ersten Moment konnte sich Aton eines Grinsens nicht erwehren - aber zugleich verspürte er schon wieder ein sanftes Gruseln. Auch wenn ihm der Hund jetzt, im hellen Licht des Tages, nicht mehr so unheimlich vorkam wie gestern - irgend etwas war mit ihm nicht so, wie es sein sollte.

Aton schüttelte den Gedanken ab, zog sich rasch zu Ende an und verließ sein Zimmer. Anubis folgte ihm. Und er grinste. Aton war sicher, daß er grinste.

Als er die Treppe hinunterging, hörte er den Fernseher im Wohnzimmer. Erstaunt blieb er stehen. Daß das Gerät um diese Uhrzeit bereits lief, war sonderbar. Sein Vater war ein eingeschworener Fernseh-Gegner. Er hatte das Gerät erst vor vier oder fünf Jahren angeschafft und auch nur auf den hartnäckigen Druck der restlichen Familie, die nicht ganz so begeistert wie er davon war, Abend für Abend ägyptische Musik zu hören und in Bildbänden über das Land der Pharaonen zu blättern - oder Dias von selbigem zu betrachten. Wenn er den Apparat schon jetzt einschaltete, dann mußte es einen triftigen Grund dafür geben!

Er ging weiter und fand seine Eltern tatsächlich im Wohnzimmer - und zusammen mit Petach vor dem Fernseher sitzen. Auf der Mattscheibe flimmerten in rascher Folge Bilder von brennenden Häusern und Autos vorbei, dazwischen immer wieder Aufnahmen von Krankenwagen und Hubschraubern und ganzen Hundertschaften von Polizisten, die versuchten, des herrschenden Chaos Herr zu werden.

»Hallo!« sagte er.

Sein Vater und auch Petach sahen nur flüchtig hoch und konzentrierten sich dann wieder ganz auf das Geschehen auf dem Fernsehschirm, aber seine Mutter stand auf und kam ihm lächelnd entgegen.

»Hallo, Aton«, sagte sie. »Na, ausgeschlafen?«

Die ehrliche Antwort hätte nicht einmal annähernd gelautet, aber Aton nickte trotzdem und warf einen bezeichnenden Blick auf den Hund, der ihm gefolgt war und nun neben ihm stand. Seltsam - es sah aus, als verfolgte auch er aufmerksam das, was sich im TV abspielte. Dabei wußte Aton, daß Hunde das Fernsehen gar nicht wahrnehmen können. Ihre Augen sind nicht dafür gemacht.

Seine Mutter lächelte, als sie seinen Blick registrierte. »Ich sehe, er hat dich geweckt«, sagte sie.

»Wie?« murmelte Aton.

»Anubis«, erklärte seine Mutter. »Ich habe ihn hochgeschickt, damit er dich aufweckt.«

»Ähm ... ja«, gestand Aton verwirrt. »Wenn auch etwas ... feucht.«

»Manchmal ist er richtig albern, ich weiß«, sagte seine Mutter. »Man traut es ihm gar nicht zu, aber er kann herumtollen und spielen wie ein Welpe.«

»Hm«, machte Aton. Er war noch nicht wach genug, um diese Erklärung gebührend würdigen zu können. Außerdem hatte er das Gefühl, daß seine Mutter nur auf ein Stichwort wartete, um mit weiteren Lobeshymnen auf den Dobermann aufzuwarten.

»Komm«, sagte sie. »Dein Frühstück ist fertig. Lassen wir die beiden Männer einen Moment allein.«

Aton warf im Hinausgehen noch einen Blick auf den Fernseher. Die Bilder der Katastrophe hatten sich nicht geändert, aber nun war ein Kommentator im Vordergrund erschienen, der in eine dicke Steppjacke eingemummt war und vor Kälte zitterte, wobei sein Atem kleine, graue Dampfwölkchen auf das Mikrophon blies.

»Was ist passiert?« fragte er, während er seiner Mutter in die Küche folgte. »Ein Flugzeugabsturz?«

»Später«, antwortete seine Mutter ausweichend. »Jetzt wird erst einmal gefrühstückt.«

Wogegen Aton nichts einzuwenden hatte. Neben manchem anderen unterschied sich Aton auch in diesem Punkt von den meisten seiner Altersgenossen - Kriege, Kämpfe und Katastrophen hatten ihn nie sonderlich interessiert. Er hatte nie verstanden, was Menschen so daran faszinierte, andere Menschen leiden zu sehen.

»Also hast du gut geschlafen«, stellte seine Mutter fest, während Aton sich mit wahrem Heißhunger über das Frühstück hermachte, das auf dem Tisch unter dem Fenster bereitstand.

»Fataschisch«, murmelte Aton mit vollem Mund. Dann registrierte er das mißbilligende Stirnrunzeln seiner Mutter, schluckte denn Bissen rasch hinunter und sagte noch einmal: »Phantastisch. Es ist doch besser, im eigenen Bett zu schlafen. Selbst wenn man von einem lebenden Scheuerlappen geweckt wird«, fügte er mit einem Seitenblick auf Anubis hinzu.

Seine Mutter lachte, streichelte dem Hund den Kopf und schnitt ein großes Stück Wurst ab, das sie ihm hinhielt. Atons Augen wurden groß, als er sah, wie Anubis das Stück mit seinen riesigen Fangzähnen behutsam aus ihren Fingern nahm, es dann allerdings - ganz auf Hundemanier - mit einem einzigen gierigen Haps hinterwürgte.

»Was ist denn mit dir los?« fragte er staunend.

»Mit mir? Was?«

»Du konntest Hunde doch nie ausstehen.«

»Das stimmt«, antwortete sie. »Aber Anubis ist etwas Besonderes.«

»Ja, das glaube ich allmählich auch«, sagte Aton leise. Er sah den Hund an, und Anubis erwiderte seinen Blick gelassen.

Jetzt war Aton sicher, daß in seinen Augen ein spöttisches Funkeln geschrieben stand. »Er hat mein Herz sozusagen im Sturm erobert«, fuhr seine Mutter fort.

»Das deines Vaters auch. Er ist sehr schlau, weißt du? Und überaus freundlich.«

Die Worte waren eher dazu angetan, Atons Mißtrauen dem Hund gegenüber noch mehr zu schüren, aber er enthielt sich wohlweislich jeden Kommentars. Während seine Mutter sich am Herd zu schaffen machte, blickte Aton, während er aß, aus dem Fenster. Der Anblick hatte sich verändert, seit er das letzte Mal hiergewesen war - seine Mutter, die eine passionierte Hobbygärtnerin war, hatte einige neue Büsche angepflanzt, und am hinteren Ende des Gartens begann das Skelett eines kleinen Gewächshauses zu entstehen. Seine Mutter sprach seit Jahren davon, es zu bauen, und offensichtlich hatte sie die Erfüllung dieses Traumes nun endlich in Angriff genommen.

Plötzlich glaubte Aton eine Bewegung zu sehen. Zwischen den verschneiten Büschen am anderen Ende des Gartens huschte ein Schatten entlang - vielleicht nur ein Vogel oder irgendein anderes kleines Tier, das aus dem nahen Wald herbeigekommen war oder im dichten Buschwerk Schutz vor dem kalten Wind suchte. Aton hätte wohl auch kaum mehr als einen flüchtigen Blick darauf verwandt, hätte Anubis nicht plötzlich die Ohren aufgestellt und leise zu knurren begonnen. Einen Moment darauf war er am Fenster und spähte aufmerksam in den Garten hinaus.

»Was ist denn los?« fragte seine Mutter.

Aton zuckte mit den Schultern und beugte sich vor, konnte aber jetzt nichts mehr entdecken. Der Schatten war verschwunden. Aber er hatte ihn sich nicht eingebildet, das bewies die Reaktion des Hundes ganz deutlich. »Vielleicht irgendein Tier«, sagte er.

Auch seine Mutter trat ans Fenster und sah einen Moment lang aufmerksam hinaus, wandte sich dann aber mit einem Achselzucken wieder ab. »Wahrscheinlich«, sagte sie. »Manchmal kommen Kaninchen hierher oder Wiesel. Sie finden im Wald nicht mehr genug Nahrung, seit der Winter hereingebrochen ist.«

Das klang einleuchtend, und es erklärte auch die Reaktion des Hundes, der noch immer sehr aufmerksam aus dem Fenster blickte. Seltsamerweise wedelte er dabei aber heftig mit dem Schwanz, was eigentlich mehr auf Freude als auf Jagdfieber schließen ließ. Aber Aton verfolgte den Gedanken nicht weiter. Erstens verstand er nicht genug von Hunden, um das wirklich beurteilen zu können, und zweitens war Anubis ohnehin ein sehr sonderbarer Hund. Aton wußte immer noch nicht, ob er ihn nun mochte oder nicht.

Herr Petach und sein Vater kamen in die Küche, bevor Aton sein Frühstück beendet hatte, und seine Mutter trug drei weitere Gedecke auf. Sie aßen in den ersten Minuten schweigend und mit einem Appetit, der Aton verriet, daß dies keineswegs ein zweites Frühstück war. Offenbar war er nicht der einzige, der nach der halb durchwachten Nacht an diesem Morgen später als gewöhnlich aus den Federn gekrochen war. Aton fragte sich nun wieder, was denn im Fernsehen so Wichtiges gelaufen war, daß sein Vater und Herr Petach das Frühstück verschoben hatten, um dem Bericht zu folgen - zumal die beiden während der nächsten fünf Minuten kein Wort sprachen, aber sehr ernste Gesichter machten. Die verstohlenen Blicke, die sie ihm hin und wieder zuwarfen, machten ihm auch klar, daß es irgend etwas mit ihm zu tun haben mußte. Voller Unbehagen erinnerte er sich an sein nächtliches Gespräch mit seiner Mutter. Hatte sie seinem Vater vielleicht verraten, daß er an der Geschichte mit der Mumie nicht unbeteiligt gewesen war?

Es vergingen noch einmal lange Minuten, ohne daß Atons Neugier befriedigt wurde, aber gerade, als er schon glaubte, vor Ungewißheit gleich platzen zu müssen, stellte sein Vater die Tasse hin und sah ihn an.

»Deine Mutter hat dir gestern abend ja schon gesagt, daß wir nach Ägypten reisen müssen«, begann er. Aton nickte, sagte aber nichts.

»Ich war ... gestern vielleicht etwas scharf«, fuhr sein Vater nach einer neuerlichen, unbehaglichen Pause fort. »Es tut mir leid. Ich war einfach überrascht und auch verärgert, wie ich zugeben muß.« Er starrte in seine Tasse und fuhr leiser und ohne Aton oder auch Petach anzusehen fort: »Ich muß mich entschuldigen. Bei dir und vor allem bei Herrn Petach. Wie es aussieht, hat er uns mehr als nur einen Gefallen erwiesen.«

»Wieso?« fragte Aton.

Sein Vater atmete tief ein. »Er hat uns nicht nur einen Weg abgenommen«, sagte sein Vater ernst, »sondern dir wahrscheinlich das Leben gerettet.«

»Wie?!« murmelte Aton verwirrt. Er sah erst seinen Vater, dann den Ägypter an. Petach schwieg. Auf seinem Gesicht zeigte sich nicht der mindeste Ausdruck, aber in Aton machte sich plötzlich ein sonderbares Gefühl der Vorahnung breit.

»Du hast vorhin die Bilder im Fernseher gesehen?« fragte sein Vater.

»Sicher«, antwortete Aton. »Aber was hat das mit mir -«

»Das war Crailsfelden, Aton. Das Sänger-Internat.«

Aton erstarrte. Für eine Sekunde sah er wieder die schrecklichen Bilder vor sich, die über die Mattscheibe geflimmert waren: Bilder von zerstörten Gebäuden, von brennenden Autos, von Verletzten und Toten.

»Es kam in den Nachrichten«, sagte sein Vater leise. »Man weiß noch nichts Genaues. Eine Explosion, möglicherweise, oder ein Feuer, das außer Kontrolle geraten ist. Eine furchtbare Katastrophe. Es hat viele Verletzte gegeben und auch Tote. Und ich fürchte, es sind auch einige Schüler des Internats unter den Opfern. Nicht auszudenken, wenn du noch dagewesen wärst.«

Aton hörte die Worte seines Vaters kaum - aber dafür glaubte er plötzlich um so deutlicher das zu hören, was Petach gestern abend im Wagen zu ihm gesagt hatte: Er wird ärgerlich sein. Aber nicht sehr lange, glaub mir.

Aber er hatte doch unmöglich wissen können, was passieren würde!

»Weiß man ... weiß man schon, wer ums Leben gekommen ist?« fragte er stockend. Seine Stimme versagte fast - aber das Entsetzen, das er spüren sollte, war nicht da. Alles, was er in diesem Moment fühlte, war eine tiefe, betäubende Leere.

Vielleicht war der Schrecken einfach zu groß, um ihn sofort zu spüren.

»Nein«, antwortete sein Vater. »Ich hoffe, daß es keiner von deinen Freunden ist. Natürlich habe ich gleich versucht, im Internat anzurufen, aber die Leitung ist tot.«

Aton starrte Petach an. Der Ägypter erwiderte seinen Blick noch immer vollkommen ausdruckslos, aber dann nickte er so unmerklich, daß weder Atons Vater noch seine Mutter die Bewegung bemerken konnten. Dafür registrierte Aton sie um so deutlicher, und er wußte plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit, was sie bedeutete: Werner war unter den Opfern.

Mit einem Male begannen seine Hände so heftig zu zittern, daß er sie vom Tisch nahm und im Schoß verbarg, und das entging seinen Eltern natürlich keineswegs. Sein Vater lächelte traurig, und seine Mutter legte ihm sanft den Arm um die Schultern und drückte ihn an sich.

»Ich weiß, es ist hart«, sagte sie. »Aber Unfälle geschehen nun einmal, auch wenn das grausam klingen mag. Das Leben ist manchmal sehr, sehr ungerecht.«

Die Worte waren nur gut gemeint, und doch kamen sie Aton in diesem Moment wie böser Spott vor. Aber er sagte nichts dazu - und was hätte er auch sagen sollen? Daß er es besser wußte? Daß die Katastrophe, die das Sänger-Internat und Crailsfelden getroffen hatte, alles andere als ein Unglück gewesen war?

Plötzlich hielt er es in Petachs Nähe nicht mehr aus. Er sprang mit einem solchen Ruck auf, daß sein Stuhl umfiel und Anubis sich mit einem erschrockenen Jaulen in Sicherheit brachte, um nicht erschlagen zu werden, und rannte aus der Küche.

Später hätte er nicht mehr zu sagen vermocht, wie er die nächsten Minuten verbracht hatte, ob es fünf oder fünfzehn gewesen waren und was er in dieser Zeit getan oder gedacht hatte. Es war ein Gefühl, wie er es nie zuvor im Leben kennengelernt hatte, und er hätte auch gerne für den Rest seines Lebens darauf verzichtet, denn es war schlimm: eine Mischung aus Entsetzen, Hilflosigkeit und Furcht, wobei er sich über den Ursprung keines dieser Gefühle wirklich im klaren war. Minutenlang rannte er einfach im Wohnzimmer auf und ab, ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen, bis sich der Aufruhr in seinem Inneren so weit gelegt hatte, daß er wenigstens wieder stillstehen und versuchen konnte, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.

Im Grunde gab es nur eines, dessen er sich vollkommen sicher war: Er hatte sich nichts eingebildet. Weder das plötzliche Erwachen der Mumie noch den Schatten auf der Treppe oder gar sein furchtbares Erlebnis im Wald. Das alles war wirklich passiert, war ihm passiert, und er spürte auch mit derselben, durch nichts begründeten, aber nichtsdestoweniger unerschütterlichen Gewißheit, daß es noch lange nicht vorbei war. Ganz im Gegenteil. Es fing gerade erst richtig an. Und er wußte nicht einmal, was.

Nach einer Weile spürte er, daß er nicht mehr allein war. Er drehte sich herum, darauf gefaßt, seinen Vater oder seine Mutter zu sehen, aber unter der offenstehenden Tür war Herr Petach erschienen. Er sagte nichts. Er stand einfach da und blickte ihn an, ebenso ausdruckslos wie vorhin in der Küche. Und nun erschien ein schwarzer, vierbeiniger Schatten neben ihm, der gar nicht richtig sichtbar zu sein schien, fast, als wäre Anubis gar kein wirklicher Hund, sondern nur das Trugbild eines Hundes. Doch der Moment verging so schnell, wie er kam, und als Aton das nächste Mal blinzelte, war Anubis wieder ganz er selbst. Aber die Furcht, mit der ihn dieser Anblick erfüllt hatte, blieb. Er wich einen Schritt vor dem Ägypter und dem Dobermann zurück.

»Wer ... wer sind Sie?« flüsterte er.

»Ich werde dir alles erklären«, sagte Petach. »Aber nicht jetzt. Später, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie sich darstellen, weißt du? Mancher, der uns gefährlich erscheint, ist in Wirklichkeit ein Freund. Und mancher, der in der Maske des Freundes daherkommt, mag sich als unser schlimmster Feind herausstellen. Bitte vertrau mir.«

Er streckte die Hand aus und kam auf ihn zu, aber Aton tat noch ein paar Schritte zurück, bis er an den steinernen Kaminsims stieß und dort stehenblieb.

Petach folgte ihm nicht. Sein Lächeln war erloschen und hatte tiefer Trauer Platz gemacht. Müde ließ er die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich verstehen«, sagte er. »Aber du wirst auch mich verstehen, sobald du begriffen hast, worum es wirklich geht.«

»Dann erklären Sie es mir!« verlangte Aton. »Erklären Sie mir, warum das alles passieren mußte! Wie viele Menschen sind tot? Fünf? Zehn? Hundert?«

»Ich habe nichts damit zu tun, Aton«, sagte Petach ernst. »Das mußt du mir glauben.«

Und das tat Aton sogar. Etwas in ihm wußte, daß Petach die Wahrheit sagte. Aber das machte es nicht besser.

»Aber Sie haben es gewußt!« sagte er mit zitternder Stimme. »Sie ... Sie haben gewußt, was passieren würde, nicht wahr? Deshalb haben Sie mich abgeholt.«

»Ja«, gestand Petach. »Ich wußte nicht genau, was - aber ich wußte, daß etwas geschehen würde. Etwas Schreckliches. Du wärst jetzt nicht mehr am Leben, wärst du dortgeblieben.«

»Sie ... Sie hätten sie warnen können«, stammelte Aton. Er wußte, daß er Unsinn redete, und Petach wußte das auch; er machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Was hätte er sagen sollen? Daß er eine Vision gehabt hatte, in der er Crailsfelden brennend und in Trümmern daliegen sah? Aton konnte sich Zombecks Antwort auf eine solche Eröffnung lebhaft vorstellen. Im besten Falle hätte er Petach aus seinem Büro geworfen, wahrscheinlich aber die Polizei oder gleich einen Irrenarzt gerufen, eines aber ganz bestimmt nicht getan: Petach erlaubt, Aton mit sich zu nehmen.

Diese Erkenntnis machte es nur schlimmer. Natürlich wußte er, daß es nicht so war. Der Gedanke war nicht nur lächerlich, er war sogar unlogisch - und trotzdem hatte Aton plötzlich das entsetzliche Gefühl, daß es seine Schuld war. Daß all dieses Schreckliche nur seinetwegen geschehen war, aus keinem anderen Grund.

Aton verbrachte die nächsten Stunden in seinem Zimmer, und auch wenn sie den wahren Grund hierfür nicht einmal ahnen mochten, respektierten seine Eltern sein Entsetzen und seinen Schmerz und ließen ihn allein und ungestört.

Atons Gedanken drehten sich in all dieser Zeit wild im Kreis, und sie kehrten immer wieder zu dieser einen Frage zurück: Was geschah hier? Was geschah mit ihm?

Natürlich fand er keine Antwort darauf, aber am Ende kam er zu einem Entschluß. Er würde seiner Mutter erzählen, was passiert war, alles und ganz ehrlich, eingeschlossen seiner Zweifel, ob er es auch wirklich erlebt hatte. Natürlich war Aton klar, daß sie ihm nicht glauben würde, aber er mußte einfach mit jemandem über die unheimlichen Ereignisse der letzten Tage reden. So verließ er schließlich wieder sein Zimmer und ging ins Erdgeschoß hinunter.

Er betrat das Wohnzimmer und fand seinen Vater zusammen mit Petach vor dem Fernseher sitzen, auf dem zu seiner Erleichterung jedoch keine Bilder des zerstörten Internats zu sehen waren, sondern ein Studio, in dem mehrere Männer aufgeregt miteinander diskutierten.

Sein Vater bemerkte sein Eintreten und drehte sich zu ihm herum. »Hallo, Aton«, sagte er. »Setz dich zu uns.«

»Nein, danke.« Aton schüttelte den Kopf und blickte flüchtig zu Petach hinüber. Der Ägypter lächelte wieder sein stets gleichbleibendes Lächeln, das Aton plötzlich gar nicht mehr so freundlich vorkam, und er sah rasch wieder weg. »Wo ist Mutter?«

»Oben im Schlafzimmer«, antwortete sein Vater. »Sie packt unsere Koffer. Warum?«

»Ich möchte mit ihr reden«, antwortete Aton ausweichend.

Sein Vater sah ihn einen Moment fragend an, gab sich aber dann mit dieser Antwort zufrieden und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Petach sah immer noch Aton an. Anubis saß neben ihm, und Petach hatte in einer wie zufällig wirkenden Geste die Hand auf seine Schulter gelegt. Auch der Hund starrte Aton an.

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Aton wieder herum und ging aus dem Zimmer und zurück zur Treppe. Aber er hatte noch nicht die halbe Strecke hinter sich gebracht, da kam Anubis aus dem Wohnzimmer geschossen, rannte an ihm vorbei und blieb vor der untersten Stufe der Treppe stehen.

Als Aton an ihm vorbeigehen wollte, vertrat er ihm den Weg.

»He, was soll das?« fragte Aton ärgerlich. Er streckte die Hand aus, um den Hund beiseitezuschieben - und zog sie mit einem erschrockenen Keuchen wieder zurück.

Anubis hatte zu knurren begonnen. Seine Lefzen zogen sich zurück und gewährten Aton einen Blick auf die ehrfurchtgebietenden Fänge, und seine ganze Haltung war plötzlich eindeutig drohend.

Aton machte einen Schritt zurück und starrte den Hund eine Sekunde lang wortlos an. Unendlich vorsichtig, um den Dobermann nicht durch eine rasche Bewegung zum Angriff zu provozieren, machte er dann einen Schritt zur Seite und versuchte, in einem weiten Bogen an ihm vorbei zur Treppe zu gelangen.

Anubis ließ es nicht zu.

Aton versuchte es noch einmal und schließlich ein drittes Mal und diesmal weitaus energischer, aber das Ergebnis war stets das gleiche. Anubis rührte sich nicht, solange er der Treppe fernblieb, aber er machte ihm sehr eindeutig klar, daß er ganz bestimmt nicht zulassen würde, daß Aton - ja, was eigentlich?

Die Treppe hinaufging, um mit seiner Mutter zu reden?

Aber das war doch verrückt, vollkommen verrückt!

Der Hund konnte doch unmöglich ahnen, was Aton gedacht hatte!

Und doch war es so. Anubis' Verhalten ließ gar keine andere Erklärung zu. Der Hund wußte, was Aton vorhatte, und tat alles, um es zu verhindern.

Das bestärkte ihn in seiner Gewißheit, daß dieser Hund alles andere war als ein normaler Hund, so wie auch Herr Petach alles andere war als ein ganz normaler Mann, und daß er mit jemandem darüber reden mußte. Es wäre ihm viel lieber gewesen, sich zuerst seiner Mutter anzuvertrauen, doch wenn ihm keine Wahl blieb - gut, würde er eben mit seinem Vater reden, gleich jetzt.

Mit einer entschlossenen Bewegung drehte er sich herum und ging zum Wohnzimmer zurück. Er hörte, wie Anubis sich hinter ihm von seinem Platz am Fuße der Treppe löste, aber er widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen oder gar loszurennen, womit er den Hund vielleicht endgültig zum Angriff gereizt hätte.

Als er noch einen Schritt von der Tür entfernt war, raste Anubis an ihm vorüber, und Aton war fest davon überzeugt, daß er sich nun vor dem Wohnzimmer aufbauen und ihm dessen Betreten verwehren würde. Doch statt dessen rannte Anubis an der Tür vorbei, schlug plötzlich einen Haken nach links und raste kläffend den Korridor zur Hintertür hinunter.

»Was ist denn da draußen los?« drang die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer. Nur einen Augenblick später erschien er unter der Tür, dicht gefolgt von Petach.

Aton setzte dazu an, seinem Vater zu erzählen, was gerade passiert war, aber Petach kam ihm zuvor. »Was hat denn der Hund?« fragte er. »Weshalb bellt er?«

Atons Vater zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Er scheint etwas zu wittern. Irgend etwas muß im Garten sein.«

Aton mußte plötzlich an den Zwischenfall am Morgen denken, als Anubis ans Küchenfenster gesprungen war und eine ganze Weile konzentriert in den Garten hinausgestarrt hatte. Voller Beunruhigung folgte er seinem Vater und Petach, die in die Richtung eilten, aus der Anubis' Gebell drang.

Der Hund war tatsächlich zur Gartentür gerannt und kläffte jetzt wie von Sinnen. Seine gewaltigen Tatzen scharrten über die Tür, wobei sie tiefe Kratzer in dem Holz hinterließen, und sein Bellen klang beinahe hysterisch. Seltsamerweise wedelte er dabei aber heftig mit dem Schwanz.

»Anubis, hör sofort auf!« sagte Atons Vater scharf. »Bist du verrückt? Du demolierst uns ja die ganze Tür! Aus!«

Auf dieses letzte, in scharfem Befehlston gesprochene Wort reagiert Anubis. Er hörte zwar nicht auf zu bellen, hielt jedoch zumindest darin inne, die Tür zu Sägespänen zu verarbeiten, und wich sogar widerwillig einen Schritt zurück, als Atons Vater an die Tür herantrat und einen Blick durch das kleine Fenster in ihrem oberen Drittel warf.

»Da ist doch gar nichts«, sagte er. »Was ist denn in dich gefahren, Anubis? Hast du einen Hasen gewittert?«

Anubis bellte eine hysterische Antwort - und sprang mit einem Satz abermals zur Tür. Atons Vater wich erschrocken zur Seite, um nicht umgeworfen zu werden, und im nächsten Moment drückten Anubis' Vorderpfoten die Klinke hinunter, und die Tür schwang einen Spaltbreit auf.

»He!« rief Atons Vater überrascht. »Was -?«

Anubis bellte, warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf die Tür und drückte sie damit vollends auf. Kläffend sprang er in den Garten hinaus, und in derselben Sekunde flitzte etwas Kleines, Graues unter seinem Bauch und zwischen seinen Beinen hindurch und in das Haus hinein.

Sowohl Herr Petach als auch Atons Vater bückten sich gleichzeitig nach dem grauen Etwas, das hereingewirbelt kam. Petach verfehlte es, aber Atons Vater hatte weniger Glück. Seine vorschnellende Rechte bekam den Schatten zu fassen - und er fuhr mit einem Schmerzensschrei wieder hoch. Auf seinem Handrücken waren vier blutige Kratzer erschienen. Erschrocken richtete er sich auf, während sich der Schemen in einem unglaublich schnellen und geschickten Slalom zwischen ihre beiden Beine hindurchschlängelte und weiterjagte, und prallte wuchtig mit dem Hinterkopf unter Petachs Kinn, der daraufhin prompt die Balance verlor und reichlich unsanft auf dem Hosenboden landete. Der Schatten jagte weiter, raste um Haaresbreite an Aton vorüber und den Korridor entlang, und noch bevor sich Aton ganz herumgedreht hatte, um ihm nachzurennen, hatte Anubis offensichtlich seinen Fehler bemerkt und kehrtgemacht, um den frechen Eindringling ebenfalls zu verfolgen. Kläffend stürmte er ins Haus zurück, rammte Atons Vater nieder und fegte im Vorüberlaufen auch noch Aton von den Füßen. Das ganze Chaos dauerte ungefähr eine Sekunde.

Als Aton sich benommen wieder aufrichtete, erklang Anubis' Bellen weiter drinnen im Haus, eine Sekunde später begleitet von einem schrillen Fauchen und Kreischen, in das sich kurz darauf das Klirren von Glas und eine Reihe polternder Laute mischten.

»Um Gottes willen!« keuchte Atons Vater. »Anubis! Aus!«

Diesmal gehorchte der Hund nicht. Im Gegenteil - der Höllenlärm nahm noch zu, während sich Aton, sein Vater und Petach wieder hochrappelten und dann so hastig losstürzten, daß sie sich um ein Haar gegenseitig von den Füßen gerissen hätten. Der Lärm drang aus dem Wohnzimmer - und so, wie es sich anhörte, schienen dort die himmlischen Heerscharen zu ihrer Entscheidungsschlacht gegen sämtliche Dämonen der Hölle angetreten zu sein.

Atons Mutter kam die Treppe heruntergelaufen, als sich die drei der Tür näherten. Sie erreichte sie als erste, blieb mit einem Schrei stehen und schlug die Hand vor den Mund.

Das Wohnzimmer hörte sich nicht nur so an, als fände dort die Generalprobe für die Schlacht von Harmagedon statt.

Es sah auch so aus.

Anubis sprang hysterisch kläffend durch den Raum, wobei er anscheinend vergessen hatte, daß er kein Dackel oder Zwergpinscher war, sondern ein Hund von gut fünfzig Kilogramm Körpergewicht - mit dem Ergebnis, daß er alles niederwalzte, was ihm in den Weg geriet. Zwei Stühle waren bereits umgefallen, und gerade in diesem Moment krachte Anubis so wuchtig gegen den kleinen Schachtisch vor dem Kamin, daß dieser ebenfalls umkippte. Das Klirren, das sie gehört hatten, War die Glastür einer Vitrine gewesen, in dem Vater einen Teil seiner Sammlung aufbewahrte, und eine Menge dieser kostbaren Stücke war auf dem Fußboden verteilt. Etliche Bücherregale hatten ihren Inhalt ebenfalls auf den Teppich geleert, und überall lagen Glassplitter.

Und jetzt sah Aton auch den Grund für seine Erregung: Es war eine kleine, graue Katze, die verzweifelt vor dem kläffenden Ungeheuer floh, das sie verfolgte. Sie war eindeutig schneller als Anubis, aber in der Enge des Zimmers blieben ihr nicht sehr viele Fluchtwege, und die meisten Hindernisse, denen sie mühsam ausweichen mußte, rannte Anubis einfach nieder, so daß es nur noch eine Frage von Sekunden zu sein schien, bis sich die schnappenden Fänge des Dobermanns um ihre Kehle schließen mußten.

Gottlob erwachte Atons Vater in diesem Moment aus der Starre, in die er wie alle anderen bei dem chaotischen Anblick gefallen war. »Fangt die Katze!« schrie er. Gleichzeitig stürmte er los, rannte hinter Anubis her und versuchte dessen Halsband zu fassen. Natürlich gelang es ihm nicht, und seine Hände griffen immer wieder ins Leere. Dafür jedoch prallte er nun gegen Bücherregale und Vitrinen und vergrößerte dadurch noch die Zerstörung. Unterstützt wurde er dabei von Petach, der nun ebenfalls losrannte und versuchte, die Katze zu fangen.

Das arme Tier, das vor Angst ganz von Sinnen sein mußte, sah sich plötzlich in die Ecke gedrängt und schlug nun einen Fluchtweg ein, auf dem ihm Hund und Mensch nicht ganz so schnell folgen konnten, nämlich schnurstracks an den kostbaren Samtvorhängen am Fenster hinauf, die der Belastung auch ein paar Sekunden lang standhielten, ehe die Gardinenringe abrissen. Die Katze kreischte vor Entsetzen, warf sich in der Luft herum und benutzte den drei Meter entfernt stehenden Fernseher als Landeplatz, der prompt zu wackeln begann und dann von seinem Fuß kippte, während die Katze sich schon wieder abstieß und wie ein Pfeil schnurgerade durch die Luft und genau auf Aton zugeflogen kam.

Aton war viel zu überrascht, um irgend etwas anderes zu tun, als instinktiv zuzugreifen und die Katze aufzufangen. Er wankte unter dem Anprall des kleinen Körpers, stieß gegen den Türrahmen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Anubis herumwirbelte, im letzten Moment der Gardine auswich, die sich behäbig wie ein zusammensinkender Fallschirm über Petach und Atons Vater senkte und beide unter sich begrub, und mit einem gewaltigen Satz auf ihn zugestürmt kam. Die Katze kreischte. Ihre Krallen gruben sich so tief in Atons Haut, daß er vor Schmerz aufstöhnte und sie am liebsten von sich geschleudert hätte. Anubis überwand das letzte Stück mit einem Sprung, richtete sich knurrend auf die Hinterläufe auf und nagelte Aton mit seinen Vordertatzen an der Wand fest.

Seine Kiefer klafften auseinander. Die Zähne blitzten wie tödliche Dolche, und für eine halbe Sekunde spürte Aton den heißen Atem des Hundes direkt im Gesicht, während sich sein Maul unbarmherzig der Katze auf Atons Armen näherte. Das Kreischen der Katze wurde schriller und brach ab.

Aton schloß entsetzt die Augen.

Worauf immer er wartete - auf den Todesschrei der Katze, das Geräusch der zuschnappenden Fänge, ein letztes, vergebliches Aufbäumen -, es kam nicht. Eine endlose, halbe Sekunde verging, ehe Aton es wagte, vorsichtig die Lider zu heben.

Und riß ungläubig die Augen auf.

Anubis hatte seine Fänge nicht in den Körper der Katze gegraben. Das einzige Blut, das Aton sah, war sein eigenes, das den Stoff seines Hemdes dunkel färbte. Die Zunge des Dobermanns leckte beinahe zärtlich über den Kopf der Katze - die aufgehört hatte, zu fauchen und zu spucken und statt dessen voller Wohlbehagen schnurrte.

Und plötzlich fiel Aton wieder ein, daß Anubis voller Freude mit dem Schwanz gewedelt hatte, während er an der Tür kratzte. Das tat er auch jetzt noch. Und wenn Aton es recht bedachte, hatte er es eigentlich die ganze Zeit über getan.

»Aton, ist dir etwas passiert?« fragte seine Mutter erschrocken. Alles war so schnell gegangen, daß sie ihrem Sohn nicht zu Hilfe eilen konnte. Jetzt trat sie mit einem raschen Schritt auf Aton zu - und blieb verblüfft wieder stehen, als sie das unglaubliche Bild sah, das sich ihr darbot.

Atons Vater und Petach hatten sich mittlerweile unter dem heruntergefallenen Vorhang hervorgearbeitet und kamen näher. Petach brachte das Kunststück fertig, trotz allem noch irgendwie würdevoll auszusehen, aber Atons Vater schäumte vor Wut.

»Dieser blöde Köter!« schimpfte er. »Was hat er nur getan. Was ... was ...« Seine Summe versagte, während er Anubis, die Katze und das Chaos musterte, in das sich das Wohnzimmer verwandelt hatte. Er konnte kaum noch weitersprechen.

»O mein Gott!« krächzte er. »Was ... was ist bloß geschehen?«

»Es ist halb so schlimm«, sagte Petach. Er hatte sich nach den kleinen Figuren gebückt, die aus der zerbrochenen Vitrine gefallen waren, und hob eine davon behutsam hoch. »Ich glaube, es ist nichts kaputtgegangen.«

»So, glauben Sie?« fauchte Atons Vater. Zornig riß er Petach die Statuette aus der Hand und brach dabei prompt ein Stück ab. Sein Gesicht verlor auch noch das letzte bißchen Farbe. Er sah aus, als träfe ihn gleich der Schlag. Am ganzen Leib zitternd vor Erregung, trat er auf Aton zu und starrte die Katze an - die sich übrigens noch immer mit sämtlichen Krallen an ihm festhielt, so daß es ihm die Tränen in die Augen trieb.

»Bringt dieses Ungetüm hier raus!« befahl er, nur noch mit allerletzter Kraft um seine Selbstbeherrschung kämpfend.

»Aber die Katze kann doch gar nichts -«, begann Aton, war aber klug genug, nicht weiterzusprechen, als er einen warnenden Blick seiner Mutter auffing. Jetzt war vielleicht nicht der richtige Moment, mit seinem Vater über die Frage zu diskutieren, wen nun eigentlich die Schuld an dem Chaos traf.

Aton tat das in diesem Moment wohl einzig Vernünftige und trat den strategischen Rückzug an. Die Katze noch immer auf den Armen, zog er sich rasch und tatsächlich rückwärts gehend aus dem Zimmer zurück und blieb erst wieder stehen, als er sich in sicherer Entfernung wähnte. Seine Mutter und Anubis folgten ihm, während Petach im Wohnzimmer zurückblieb, wohl, um seinen Vater zu beruhigen.

Hier nahm sich Aton zum ersten Mal Zeit, den Grund dieser ganzen Aufregung etwas eingehender zu betrachten. Es war eine ganz normale Katze - auf den ersten Blick: nicht besonders groß, nicht besonders auffällig, nicht besonders hübsch.

Aber eben nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten fiel Aton ihre Farbe auf - eine Schattierung, für die er im ersten Moment gar keinen richtigen Namen fand. Es war eine Farbe irgendwo zwischen Grau und Blau, die ihren Farbton ununterbrochen zu verändern schien, je nachdem, wie das Licht darauffiel. Das Fell der Katze war kurz, aber flauschig, und ihr Kopf schien ihm ein wenig schmaler, als es bei normalen Katzen der Fall war.

Das beunruhigendste aber waren die Augen. Anders als die von Anubis waren sie grün, nicht goldgelb, aber davon abgesehen ähnelten sie verblüffend denen des Hundes. Der Ausdruck war derselbe, und es war eine Ähnlichkeit von einer Art, die es Aton schwermachte, an einen Zufall zu glauben.

»Ein schönes Tier«, sagte seine Mutter, der Atons aufmerksame Blicke nicht entgangen waren. »Trotzdem - du solltest sie besser rausbringen, wie dein Vater gesagt hat.«

Aton wußte, daß ihre Sorge nicht unbegründet war. Sein Vater war alles andere als ein Choleriker, aber er hing mit jeder Faser seiner Seele an seiner Sammlung, und der Schaden, den das Tier angerichtet hatte, war enorm. Und an das, was noch alles hätte passieren können, wagte Aton erst gar nicht zu denken. Der Gedanke, das arme Tier bei der vorweihnachtlichen Kälte wieder aus dem Haus zu werfen, behagte ihm nicht, aber seine Mutter hatte recht - draußen war im Moment wahrscheinlich der bessere Ort für diese Katze.

So wandte er sich um und wollte sie zur Hintertür zurücktragen, doch er hatte kaum zwei oder drei Schritte gemacht, da zog die Katze endlich die Krallen aus seinen Schultern und sprang mit einem Satz zu Boden. Sofort fegte Anubis auf sie zu, und sowohl Aton als auch seine Mutter hielten entsetzt die Luft an, auf eine Fortsetzung der wilden Verfolgungsjagd gefaßt.

Aber die Katze schien des Spieles überdrüssig zu sein. Sie setzte sich, wandte den Kopf und sah Anubis fast gelangweilt entgegen, und Anubis verhielt mitten im Schritt, musterte die Katze einen Moment und begann dann wieder, sie von Kopf bis Fuß mit seiner großen Zunge abzulecken. Die Katze ließ diese unwürdige Behandlung einen Moment duldsam über sich ergehen, dann machte sie Anubis mit einem Fauchen und einem symbolisch gemeinten Tatzenhieb nach seiner Nase klar, daß es genug sei, und bewegte sich gemächlich in Richtung Küche.

Aton und seine Mutter folgten dem ungleichen Paar, um einen Anblick zu erleben, der fast noch unglaublicher war als das, was sie vorhin gesehen hatten. Die Katze war schnurstracks zu Anubis' Futternapf gegangen und fraß ihn in aller Seelenruhe leer; und ohne, daß der Dobermann etwas dagegen zu haben schien. Im Gegenteil: Er wedelte wieder heftig mit dem Schwanz und zeigte auch sonst alle Anzeichen von Freude.

»Die beiden benehmen sich ja, als wären sie alte Freunde!« sagte Atons Mutter verblüfft.

Aton antwortete nicht darauf, aber die Worte seiner Mutter ließen ihm erneut einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Er war sicher, daß sie recht hatte. Und daß diese Freundschaft vielleicht sehr viel älter war, als sie ahnte.

Vielleicht einige tausend Jahre.

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