Petachs Geschichte (3)

Sie reisten weder mit einem zweispännigen Wagen noch durch ein plötzlich aus dem Nichts aufgetauchtes Tor nach Ägypten, sondern auf einem Weg, der zwar auf seine Weise ebenso phantastisch, nichtsdestoweniger für Aton aber ganz normal war: mit der Linienmaschine, mit der vor zwei Tagen auch seine Eltern geflogen waren. Atons nicht vorhandenes Visum und der Paß, den er nicht bei sich hatte, schienen kein Problem zu sein. Petach ging einfach zum Schalter und kam wenige Augenblicke später mit zwei Tickets zurück, und weder das Abfertigungspersonal noch die Zollbeamten fragten nach irgendwelchen Papieren. Die Kontrolle, durch die sie schritten, begann schrill zu piepsen, und die Metalldetektoren des Sicherheitspersonals leuchteten wie ein Weihnachtsbaum auf, aber es kostete Petach nur einen Blick und eine flüchtige Handbewegung, und die drei Männer, die sich gerade noch mit grimmigen Gesichtern in ihre Richtung gewandt hatten, verloren plötzlich jegliches Interesse an ihnen.

Ohne auch nur angesprochen zu werden, betraten sie die Wartehalle und eine halbe Stunde später die überdachte Gangway, die zur Maschine hinausführte.

Sie flogen erster Klasse, was Aton allerdings gar nicht recht war. Sie waren nämlich die einzigen Erste-Klasse-Passagiere, so daß sie in dem kleinen, mit einem Vorhang abgetrennten Abteil vollkommen allein waren. Bisher hatte die Gegenwart anderer Menschen Petach davon abgehalten, weiter mit ihm zu reden, jetzt aber waren sie allein, und Aton dachte voller Unbehagen an den fast dreistündigen Flug, der vor ihnen lag.

Normalerweise hätte er den Start und die Flugreise genossen, denn obwohl es nicht das erste Mal war, daß er in einem Flugzeug saß, erfüllte ihn dies jedesmal mit einem Gefühl des Abenteuers. Aber sein Bedarf an Abenteuern war wahrscheinlich für die nächsten zehn Jahre im voraus gedeckt. Er dachte an das, was vor ihm liegen mochte und von dem er nur wußte, daß es mit Sicherheit gefährlich war, und das erfüllte ihn mit Angst.

Petach mußte dies wohl spüren, denn er drehte sich in dem breiten, samtgepolsterten Sitz zu ihm herum und lächelte.

»Du hast nichts zu befürchten«, sagte er. »Solange ich in deiner Nähe bin, wird dir nichts geschehen.«

Aber Atons Furcht galt nicht nur ihm selbst. »Und den anderen?« fragte er. »Ich meine, sind Sie sicher, daß wir auch unbeschadet ankommen? Oder wird irgend jemand die Stewardeß erwürgen, weil sie ihm nicht schnell genug den Kaffee bringt?«

Zu seinem Erstaunen lachte Petach. »Deine Art, die Dinge zu beschreiben, ist recht blumig.« Er wurde wieder ernst. »Niemandem wird etwas passieren«, versprach er. »Es lag nicht an dir. Was du erlebt hast, das war das Wirken der bösen Kräfte, die sich in deiner Umgebung konzentriert haben - weil sie auf der Suche nach dir waren. Sie werden es nicht wagen, mir nahe zu kommen. Wenigstens noch nicht«, fügte er etwas leiser und in einem sonderbar anderen Tonfall hinzu.

Aton hätte das gern geglaubt, aber es fiel ihm schwer. Trotz allem hatte Petach noch immer etwas von einem gütigen Mann, dem man das, was er sagte, erst einmal glaubte. Aber er hatte ihn einmal zu oft belogen, einmal zu oft Dinge getan, die im Gegensatz zu dem standen, was er sagte.

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, weil in diesem Moment die Triebwerke des Flugzeuges lauter zu dröhnen begannen. Die Kabine zitterte, dann setzte sich die ganze Maschine, zuerst schwerfällig, dann aber immer schneller und schneller werdend, in Bewegung, bis sie mit der Geschwindigkeit eines Rennwagens über die Piste raste. Aton wandte sich dem Fenster zu und sah hinaus. Es war bereits dunkel, so daß er wenig mehr als vorbeirasende, verschwommene Lichter wahrnehmen konnte, aber trotzdem tat er so, als nähme der Start seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Petach mußte es merken, aber er war diplomatisch genug, für die nächsten fünf Minuten zu schweigen, bis die Lichter der Stadt unter ihnen zu einem Spiegelbild des Sternenhimmels zusammengeschrumpft waren und schließlich unter grauen Wolkenfetzen verschwanden. Ein heller Glockenton erklang.

Das Bitte-Anschnallen-Licht über ihren Köpfen erlosch, und eine Stewardeß kam und erkundigte sich freundlich nach ihren Wünschen.

Petach schickte sie mit einem Kopfschütteln fort und wartete, bis sie wieder allein waren. »Ich habe dir die Geschichte von Echnaton und seinem Mörder erzählt« begann er dann.

»Eje?« fragte Aton.

Petach lächelte anerkennend. »Es wird Zeit, daß ich dir auch den Rest erzähle«, sagte er. »Vor allem den Teil, der dich betrifft. Dann wirst du mich besser verstehen.«

»Oh«, sagte Aton in einem so höhnischen, verletzenden Ton, wie er nur konnte. »Schon? Ich meine, es geht ja nur um mein Leben. Nicht, daß das besonders wichtig wäre, aber ...«

Für die Dauer eines Atemzuges flammte Zorn in Petachs Augen auf. Er machte eine herrische Handbewegung, die Aton mitten im Wort verstummen ließ, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Du bist verbittert, ich weiß«, sagte er. »Und du hast Grund genug dazu, aber ich hoffe, daß du mich trotzdem verstehen wirst.«

»Verraten Sie mir eines«, sagte Aton. »Wir sitzen in einem Flugzeug nach Ägypten, Petach. Ich frage mich nur, warum - nachdem Sie zuerst alles in Ihrer Macht Stehende getan haben, damit ich ganz genau dort nicht hinkomme.«

»Das solltest du auch nicht, Aton«, antwortete Petach. »Glaube mir, ich hätte eine andere Lösung vorgezogen. Aber die Dinge haben sich geändert.«

»Das reicht mir nicht«, antwortete Aton. »Verdammt, Petach, ich habe ein Recht, zu erfahren, was mit mir geschieht. Und warum.«

»Das wirst du«, antwortete Petach. »Sobald die Zeit dafür gekommen ist.«

Aton wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus dem Fenster. Was hatte er erwartet? Etwa eine klare Antwort?

Petach wartete geduldig eine Weile darauf, daß er sich wieder zu ihm herumdrehen würde, doch als Aton dies nicht tat, fuhr er von sich aus fort zu erzählen.

»Ich habe dir die Geschichte des Fluches erzählt, den Echnaton über seinen Mörder verhängte«, sagte er. »Was ich bisher nicht erzählt habe - und das aus gutem Grund, das mußt du mir glauben -, ist etwas, was auch er damals nicht wußte. Und wie konnte er, denn er war nur ein sterblicher Mensch, der um die Existenz der Götter, nicht aber um ihr wirkliches Wesen wußte.«

»Sie meinen, daß sie nichts Besseres zu tun haben, als mit den Schicksalen von Menschen zu spielen?«

Petach ignorierte seine Worte. »Mit den Göttern hat es seine besondere Bewandtnis«, fuhr er fort. »Sie stehen nicht so weit über euch (euch? dachte Aton; wieso sagt er euch?), wie die meisten Menschen glauben. Die Welt und das Universum sind komplizierte Gebilde, viel komplizierter, als wir ahnen, und sie gehorchen Gesetzen, die wir niemals durchschauen werden. Es ist in eurem Volk modern geworden, ihre Existenz zu leugnen, aber du und ich, wir wissen, daß es sie gibt.

Und es wird sie geben, solange Menschen an sie glauben.

Damals, zu Echnatons Zeit und der seiner Nachfolger, waren sie groß und mächtig, denn es gab unzählige Menschen, die an ihre Existenz glaubten. Und jeder Gedanke an sie, jedes Gebet, jedes Opfer, das ihnen gebracht wurde, stärkte ihre Macht. Doch die Zeiten änderten sich. Andere Pharaonen kamen und nach ihnen andere Volker und andere Herrscher und mit ihnen andere Götter, und die Macht und Größe Osiris' und der anderen Götter schwand. So wie das Volk verging, das an sie glaubte, vergingen auch sie. Als der Glanz des Pharaonenreiches erlosch, erlosch auch der Glaube an die alten Götter, und mit dem letzten Menschen, der an sie glaubte, wären auch sie gestorben, wie so viele Götter vor ihnen und wie es im Großen Plan des Schicksals bestimmt ist.«

»Mir kommen sie ziemlich lebendig vor«, antwortete Aton.

Petach nickte. »Sie sind es«, bestätigte er. »Sie sind längst nicht mehr so mächtig, wie sie waren, nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe. Doch es gibt einen Menschen auf dieser Welt, der noch immer um ihre Existenz weiß, und so lange er lebt, werden auch sie weiterleben.«

»Eje?« fragte Aton wieder.

»Der Wanderer«, bestätigte Petach - womit er auch diesmal Atons Frage nicht wirklich beantwortete. »Es ist der Glaube eines einzigen Menschen, der sie am Leben hält. Es ist nur ein Funke gegen das Feuer, das sie einst waren, doch dieser Funke kann ausreichen, den Brand neu zu entfachen.«

»Und wenn der Verräter stirbt ...« begann Aton.

»... werden auch sie endgültig vergehen«, führte Petach den Satz zu Ende. »Ja. Er ist der letzte, der wirklich um ihre Existenz weiß, und mit ihm wird die Erinnerung an sie erlöschen und mit dieser Erinnerung sie selbst.«

»Und was ist mit Ihnen und mir?« fragte Aton.

»Du glaubst nicht wirklich an sie«, antwortete Petach.

Um ein Haar hätte Aton laut gelacht. Die Wesen, an die er angeblich nicht wirklich glaubte, hatten ihn in den letzten Tagen ein halbes dutzendmal in Lebensgefahr gebracht und quer durch das ganze Land gehetzt. »Das sehe ich etwas anders«, sagte er, aber Petach schüttelte erneut und energischer den Kopf.

»Du denkst, du würdest an sie glauben«, sagte er. »Du hast irgend etwas gesehen, Dinge, die du nicht verstehst und die dir angst machen, aber du glaubst nicht wirklich an sie. Es sind nicht deine Götter, Aton, das ist entscheidend. Vielleicht hast du recht - vielleicht glaubst du im Moment an ihre Existenz, aber das ist nicht die Art von Kraft, die sie zum Überleben brauchen. Ihr Schicksal ist untrennbar mit dem des Verräters verbunden. Solange er lebt, leben sie. Wenn er stirbt, sterben sie.«

»Und deshalb wollen sie meinen Tod«, murmelte Aton. Die Bedeutung von Petachs Worten war zu gewaltig, um sie jetzt schon ganz zu erfassen. Aber er spürte eine Art von Kälte in sich, die ihm fremd war und die ihn in Furcht versetzte.

»Nicht alle«, antwortete Petach. »Die Götter sind uneins. Sie waren es immer, denn auch sie sind nicht unfehlbar, und sie sind so verschieden wie die Menschen. Viele von ihnen glauben, daß Echnatons Fluch auch sie getroffen hat, denn ihre Zeit ist vorbei und der Moment, zu gehen, längst überschritten. Diese Götter, wie Bastet und Isis, warten seit drei Jahrtausenden darauf, daß sich der Fluch erfüllt und die Toten aus ihren Gräbern steigen, damit die Götter endlich sterben können. Andere aber, wie Osiris und Horus, klammern sich mit verzweifelter Kraft an das Leben, auch wenn es nur mehr ein Dahinvegetieren ist, verglichen mit ihrer einstigen Macht.

Echnatons Fluch kann sich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erfüllen, Aton. In drei Tagen, von heute an gerechnet, wird die Konstellation der Sterne wieder dieselbe sein wie damals. Und Osiris und Horus werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu verhindern, daß der Fluch gebrochen wird und der Wanderer endlich Ruhe findet.«

»Und?« fragte Aton böse. »Was ist so schlimm daran? Sie haben dreitausend Jahre gewartet, sie können auch noch weitere Jahre warten.«

»Der Krieg der Götter dauert schon zu lange«, antwortete Petach ernst. »Osiris und Horus geben sich nicht mehr damit zufrieden, einfach zu leben, gefangen hinter den Mauern des Vergessens und nur vom Glauben eines einzigen Menschen erhalten. Sie streben wieder nach ihrer alten Macht und Größe, und glaube mir, es waren schreckliche Götter. Du hast erlebt, wozu sie fähig sind. Und das war nichts gegen das, was sie tun werden, haben sie erst ihre ursprüngliche Macht zurückerlangt.«

»Aber wie denn?« fragte Aton. »Außer dem Wanderer, Ihnen und mir glaubt doch niemand an ihre Existenz.«

»Das könnte sich ändern«, antwortete Petach.

»Wie?« fragte Aton erschrocken.

Petach schwieg. Sein Blick war weiter unverwandt auf Aton gerichtet, aber plötzlich schien er ihn gar nicht mehr wahrzunehmen, sondern vielmehr etwas zu sehen, das gar nicht wirklich da war, aber kommen mochte, und das ihn mit Grauen erfüllte. »Die Götter leben vom Glauben der Menschen«, sagte er leise. »Ihre Gebete, ihre Hoffnungen und Wünsche geben ihnen Kraft, aber auch die Freude und Zuversicht, die das Wissen ihrer Existenz in die Herzen der Menschen pflanzt. Ebenso stark aber ist die Kraft, die ihnen die Furcht gibt. Auch Angst und Leid, Verzweiflung und Tod sind Gefühle, die sie nähren. Es ist gleich, ob die Menschen ihre Götter fürchten oder lieben. Die Angst hält sie ebenso am Leben wie die Freude. Aber sie verändert sie. Was sie nährt, bestimmt auch ihr Wesen. Bastet, Isis und die anderen wissen es, und sie wollen eine solche Existenz nicht. Horus und Osiris aber haben stets die Angst und den Schmerz der Menschen getrunken.«

»Moment mal«, sagte Aton, dem es schwerfiel, diesem Gedanken wirklich zu folgen. »Sie meinen, daß -«

»- ein Gott, der vom Bösen lebt, auch böse wird«, bestätigte Petach ernst. »Es ist das, was ihr einen Teufelskreis nennen würdet. Wenn es die Angst ist, die sie am Leben erhält, so ist es auch Angst, die sie in die Herzen der Menschen pflanzen, die an sie glauben. So werden die Mächte des Finsteren immer finsterer und mächtiger, je mehr Furcht sie verbreiten, und die des Lichtes immer stärker, je mehr Liebe und Güte sie geben.«

Aton schauderte. Er mußte plötzlich an einen Satz denken, den er einmal in einem Buch gelesen und bis zu diesem Moment nicht wirklich verstanden hatte: Ein jedes Volk bekommt den Gott, den es verdient. Er sprach diesen Gedanken laut aus, und Petach nickte und sah ihn sehr ernst an.

»Es war ein weiser Mann, der das gesagt hat, und in diesen Worten liegt mehr Wahrheit, als er wohl selbst ahnte. Und das ist, was geschehen wird, Aton. Osiris und die anderen trachten jetzt nicht mehr danach, die Toten am Erwachen zu hindern. Im Gegenteil. In drei Tagen werden sich all die Krieger, die ihr Leben für Echnaton gaben, aus ihren Gräbern erheben. Aber sie werden Furcht und Schrecken verbreiten, und sie werden es auf eine Weise tun, die das Wissen um die Existenz der alten Götter neu in den Herzen der Menschen erwachen läßt. Denn das ist der Plan, den Osiris und Horus verfolgen: Der Wanderer wird endlich sterben, aber das Leid, das dieses Sterben begleitet, wird die alten Götter zu neuer Macht erstarken lassen.«

»Dann ... dann sind Sie nicht hier, um die Prophezeiung zu erfüllen?« fragte Aton stockend. Er hatte plötzlich Mühe, überhaupt noch einen klaren Gedanken zu fassen. Mit einem Mal, von einer Sekunde auf die andere, war alles ganz anders, als er bisher angenommen hatte.

Petach deutete ein Kopfschütteln an. Sein Blick ging immer noch in unsichtbare, düstere Fernen. »Wie gern täte ich es«, sagte er. »Wie sehr sehnt sich der Wanderer nach dem Tod, nach all den ungezählten Jahrhunderten, die er ruhelos über diese Welt geschritten ist. Aber es darf nicht geschehen. Er wird weiterleben müssen. Jemand muß verhindern, daß die Toten sich aus ihren Gräbern erheben.«

»Und wie?« fragte Aton.

»Das weiß ich nicht«, gestand Petach. »Ich weiß nur eines: du und ich, Aton, wir sind die einzigen, die darauf Einfluß nehmen können.«

»Wir?« murmelte Aton fassungslos. »Aber wieso ... wieso wir? Wieso ausgerechnet ich?«

Petach sah ihn auf eine sonderbar traurige Weise an. Er tat es sehr lange, und sein Blick vermehrte Atons Unruhe. Und schließlich, als Aton schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, antwortete er: »Weil du der einzige Mensch auf dieser Welt bist, der die Macht hat, sie zu erwecken, Aton.«

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