Der Derwisch

Sie brauchten weitaus mehr als die Stunde, von der Petach gesprochen hatte, um ihr Ziel zu erreichen, denn in der Stadt herrschte ein geradezu unglaublicher Verkehr, und Petach machte seinem Ruf als übervorsichtiger Autofahrer alle Ehre, so daß sie bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie nicht in einem Stau steckten und sich im Schrittempo vorwärtsquälten, die Spitze einer Kolonne aus wütend hupenden und Lichtzeichen gebenden Wagen bildeten. Die Fahrt verlief in unangenehmem Schweigen. Ein- oder zweimal stellte Aton eine Frage, aber Petach antwortete nicht, sondern tat so, als müsse er sich ganz darauf konzentrieren, den Mercedes mit halsbrecherischen zwölf Stundenkilometern über die Straßen zu jagen, und schließlich gab Aton auf.

Er begann sich immer elender zu fühlen. Zu Verwirrung und Furcht gesellten sich Erschöpfung und Hunger, und er fror erbärmlich. Die Heizung tat ihr Bestes, um den Wagen in eine fahrende Sauna zu verwandeln, aber Atons Kleider trockneten nur sehr langsam, und die Kälte verschwand auch nicht daraus, sondern schien sich auch in seine Glieder hineinzuziehen.

»Unter dem Rücksitz liegt eine Decke«, sagte Petach, dem Atons Zustand natürlich nicht verborgen blieb. »Leg sie dir über, bevor du dir noch eine Erkältung oder Schlimmeres holst.«

Angesichts dessen, was bisher geschehen war, kamen Aton die Worte wie der pure Hohn vor. Trotzdem beugte er sich nach hinten und angelte nach der Decke, die zusammengefaltet auf dem Boden lag. Anubis, der lang ausgestreckt die gesamte Rückbank in Anspruch nahm, hob träge den Kopf und blinzelte, doch Bastet sprang mit einem Satz auf Atons Schoß und kuschelte sich zusammen. Aton registrierte dankbar die Wärme, die der kleine Katzenkörper ausstrahlte, und begann das Tier zu streicheln, was Bastet mit einem wohligen Schnurren quittierte.

Die Fahrt dauerte gottlob nicht mehr sehr lange. Der Verkehr nahm immer mehr ab, je mehr sie sich den Außenbezirken der Stadt näherten, und schließlich konnte selbst Petach nicht mehr verhindern, daß sie rascher vorwärtskamen.

Die Häuser beiderseits der Straße waren von immer vornehmerem Äußeren, bis sie schließlich durch ein stilles Villenviertel rollten. Die meisten Häuser waren durch Mauern oder hohe Hecken von der Straße abgeschirmt, und es waren nur wenige Menschen unterwegs. Petach bog schließlich in eine schmale Seitenstraße ein, die nach gut hundert Metern vor einem schmiedeeisernen Tor endete. Aton wartete, daß er aussteigen oder vielleicht auch hupen würde, aber das Tor begann sich elektrisch bewegt zu öffnen, kaum daß sie angehalten hatten. Dahinter lag ein unbefestigter, von hohen Büschen begleiteter Weg, der nach kaum zehn Metern einen scharfen Bogen nach links machte, so daß Aton nicht erkennen konnte, wohin er führte.

»Wo sind wir?« fragte Aton ängstlich.

Petach sah sich zu einem aufmunternden Lächeln genötigt, als er antwortete: »Bei einem Freund. In Sicherheit, keine Sorge. Hier können sie uns nichts tun.«

Die Scheinwerfer des Wagens verwandelten den Weg in einen finsteren Tunnel ohne erkennbare Farben, und Aton fühlte sich auf unangenehme Weise an eine andere, ganz ähnliche Fahrt mit Petach erinnert, die in der ersten einer ganzen Reihe von Beinahe-Katastrophen geendet hatte. Instinktiv spannte er sich, als sie um die Biegung kamen, innerlich auf alle nur vorstellbaren Schrecken gefaßt.

Es war allerdings nur ein ganz normales Haus, das im bleichen Licht der Scheinwerfer auftauchte; angesichts der vornehmen Gegend, in der sie sich befanden, sogar ein erstaunlich einfaches Haus, viel kleiner als das seiner Eltern und nicht besonders gut in Schuß, das war sogar bei der unzureichenden Beleuchtung zu erkennen. Die Tür wurde geöffnet, als sie sich näherten, aber niemand trat heraus, um sie zu begrüßen. Ihr Gastgeber schien sich darin zu gefallen, den Geheimnisvollen zu spielen.

Aton stieg gleichzeitig mit Petach aus, setzte Bastet vorsichtig auf den Boden und hielt die Tür auf, um Anubis herauszulassen. Die beiden Tiere gesellten sich zueinander und blieben knapp hinter ihm und dem Ägypter.

Sie betraten das Haus, und Aton erlebte eine zweite Enttäuschung, denn das Innere entsprach genau dem äußeren Eindruck: Alles war einfach, alt und schon ein bißchen schäbig.

Keine Zauberteppiche auf dem Boden. Keine Statuen an den Wänden. Nicht einmal eine klitzekleine Mumie, die ihnen entgegengekommen wäre, um sie zu begrüßen. Nun, was hatte er erwartet?

»Ihr Freund scheint nicht zu Hause zu sein«, sagte Aton, nachdem sie eingetreten waren und sich in einem fast leeren Hausflur wiederfanden.

Petach antwortete nicht, aber etwas anderes geschah: Kaum waren auch Anubis und Bastet ins Haus gekommen, da schwang die Tür wie von Geisterhand bewegt zu. Aton fuhr erschrocken zusammen, als sie mit einem lauten Knall ins Schloß fiel. Noch bevor er irgend etwas sagen konnte, öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Korridors, und sie bekamen ihren Gastgeber endlich zu Gesicht. Er paßte zu seinem Haus. Klein, alt, unauffällig und ein bißchen schäbig.

Das hieß - unauffällig war er eigentlich nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten wirkte er zumindest sonderbar.

Es war unmöglich, das Alter des Mannes zu schätzen. Er hätte vierzig sein können, ebensogut aber auch sechzig oder noch älter. Er hatte eine spiegelblank polierte Glatze, dafür war sein Gesicht jedoch beinahe zugewachsen. Sein schwarzer Vollbart war fast bis zu seinen Augen hinauf gewuchert und schien seit mindestens einem Jahr nicht mehr mit einer Schere oder einer Bürste in Berührung gekommen zu sein.

Gekleidet war er in einen geflickten Kaftan und einfache Schnürsandalen, die seine nackten Zehen sehen ließen.

Petach lächelte und vollführte eine perfekte, morgenländische Verbeugung, wobei er mit der linken Hand die rechte Seite seiner Brust berührte, und was vom Gesicht ihres Gastgebers sichtbar war, das verzog sich zur Erwiderung dieses Lächelns. Mit weit ausgebreiteten Armen kam der Mann auf sie zu, umarmte Petach kurz, aber sehr innig, und wandte sich dann zu Aton.

»Du bist Aton, nehme ich an?« fragte er. Er sprach ohne den allergeringsten Akzent.

Aton warf einen überraschten Blick auf Petach.

»Wir haben telefoniert, bevor ich losgefahren bin«, erklärte Petach. »Herr Sufi ist ein guter Freund. Und ein Vertrauter«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu. »Er weiß alles - wenigstens alles, was nötig ist.«

Dann weiß er wahrscheinlich eine Menge mehr als ich, dachte Aton grimmig.

»Ihr kommt spät«, sagte Sufi. »Ich hatte vor einer Stunde mit euch gerechnet.«

»Wir wurden aufgehalten«, antwortete Petach ausweichend. »Der Verkehr. Sie verstehen?«

»Natürlich. Es wird immer schlimmer, ich weiß. Irgendwann wird es soweit sein, daß man zu Fuß rascher von einem Ort zum anderen gelangt als mit diesen Automobilen.«

»Das ist jetzt schon beinahe so«, sagte Petach. »Auf jeden Fall wird man dann sicherer unterwegs sein.«

Aton verdrehte innerlich die Augen. Wie es schien, hatte Petach einen Bruder im Geiste getroffen, was sein Verhältnis zu Automobilen und jeglicher Art der modernen Technik anging. Er hoffte nur inständig, daß die beiden jetzt nicht anfingen, sich gegenseitig zu versichern, wie gefährlich doch das Autofahren wäre.

Was Petach anging, hätte er die Gelegenheit sicher genutzt, genau das zu tun, aber Sufi gab ihm gottlob keine Gelegenheit dazu, sondern deutete auf eine Tür auf der rechten Seite des Ganges. Ihr gegenüber führte eine schmale Treppe zum Obergeschoß hinauf. Einen weiteren Ausgang gab es nicht und auch keine Fenster, wie Aton beinahe besorgt feststellte.

Einen Augenblick später rief er sich in Gedanken zur Ordnung. Auch wenn dieser Sufi vielleicht ein komischer Kauz war, so war er doch ihr Verbündeter, kein Feind. Es gab keinen Grund, sich sofort nach einem Fluchtweg umzusehen.

Anscheinend begann er allmählich unter Verfolgungswahn zu leiden.

»Kommt herein, meine Freunde, kommt herein«, sagte Sufi und winkte ihnen. »Ich habe ein kleines Mahl vorbereitet. Ihr werdet sicher hungrig sein.«

Das war Aton tatsächlich, aber Petach schüttelte den Kopf. »Später«, sagte er. »Im Moment wäre es vielleicht gut, wenn Sie ein paar trockene Kleider für Aton hätten.«

Sufi fiel offensichtlich jetzt erst auf, daß Aton klatschnaß war. »Oh, natürlich«, sagte er. »Wie unaufmerksam von mir. Bitte verzeih. Ich bin zwar nicht auf solchen Besuch vorbereitet, aber ich denke, wir werden schon etwas finden. Bitte folgt mir.«

Sie gingen die Treppe hinauf, und das so unscheinbare Haus überraschte Aton ein weiteres Mal, denn kaum hatten sie die obere Etage betreten, da ging automatisch das Licht an, und die nächste Überraschung war, daß Sufi sie in ein kleines, aber supermodern eingerichtetes Bad führte.

»Hier kannst du duschen«, sagte er. »Ich suche dir inzwischen einige trockene Kleider heraus.«

»Laß dir ruhig Zeit«, fügte Petach hinzu. »Herr Sufi und ich haben noch einiges zu besprechen. Und keine Sorge - hier im Haus kann dir nichts geschehen.«

Er nickte Aton aufmunternd zu, schob Sufi aus dem Raum und schloß die Tür hinter sich. Aton blieb allein zurück.

Rasch zog er sich aus, trat unter die Dusche und verbrachte die nächsten Minuten damit, sich unter den heißen Wasserstrahlen zu räkeln und zu genießen, wie das Leben allmählich wieder in seinen Körper zurückkehrte. Irgendwann hörte er, wie die Tür aufging. Ein Schatten bewegte sich hinter dem geriffelten Glas der Duschkabine. Als Aton die Tür zur Seite schob, war er schon wieder allein, aber auf einem Schemel neben dem Waschbecken lagen trockene Kleider.

Er verbrachte noch eine ganze Weile in der Dusche, dann trat er hinaus, trocknete sich ab und griff nach den Kleidern, die Sufi gebracht hatte.

Einige Sekunden lang starrte er sie verdutzt an. Sufi hatte ihn gewarnt, und er hatte damit gerechnet, vielleicht ein Paar zerschlissener Hosen und ein um fünf Nummern zu großes Hemd vorzufinden - aber keinen Kaftan!

Doch genau das war es, was Sufi gebracht hatte.

Aton zögerte. Seine eigenen Kleider waren noch immer naß und würden wahrscheinlich noch Stunden brauchen, um zu trocknen, und hier drinnen sah ihn ja niemand, außer Petach und Sufi. Trotzdem erschien ihm die Vorstellung, in einem groben Sackhemd, das noch dazu viel zu groß war, herumzulaufen, absolut lächerlich. Er würde aussehen wie einer der Heiligen Drei Könige, der aus einer verunglückten Schulaufführung entsprungen war!

Aton überlegte eine Weile und beschloß dann, der Vernunft zu folgen, zumal er entdeckte, daß Sufi eine kurze Hose und ein Unterhemd dazugelegt hatte und er sich auch noch zu gut daran erinnerte, wie erbärmlich er in den nassen Sachen gefroren hatte. Der grobe Stoff des Kaftans würde sehr unangenehm auf der nackten Haut zu tragen sein, aber er mußte sich in dieser Situation damit abfinden. Also leerte er die Taschen seiner Jeans und steckte die wenigen Dinge, die er bei sich gehabt hatte, in die Seitentaschen der kurzen Hose.

Dann wrang er seine Kleidungsstücke über dem Waschbecken aus und hing sie zum Trocknen über den Rand der Badewanne.

Als er die Jacke ebenfalls dazutun wollte, fiel etwas aus der Tasche und polterte mit einem metallenen Laut in die Wanne.

Es war das Ankh.

Aton blickte es verwirrt an, ehe er die Hand ausstreckte und es aufnahm. Seit sie den Flughafen verlassen hatte, hatte er es einfach vergessen. Und er hatte auch sein Erstaunen darüber vergessen, es überhaupt zu besitzen. Er zweifelte nicht daran, daß es tatsächlich aus seiner Tasche gefallen war, wie Sascha behauptet hatte, aber er war vollkommen sicher, es nicht eingesteckt zu haben. Was er der Polizistin erklärt hatte, war eine glatte Lüge gewesen. Das kleine Stück war alles andere als eine Imitation. Sein Gewicht verriet, daß es aus purem Gold bestand, und Aton hielt einen Wert von etlichen zehntausend Mark in der Hand. So etwas hätte er nicht einfach eingesteckt und mitgenommen.

Ganz davon abgesehen, daß es nicht zur Sammlung seines Vaters gehörte ...

Die einzige logische Erklärung war zugleich die, die Aton am allerwenigsten gefiel - nämlich, daß er das Ankh aus dem Grabraum mitgebracht hatte. Aber er wußte ganz genau, daß er dort nichts eingesteckt hatte! Er hatte ja nicht einmal irgend etwas berührt.

Sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, er fand keine Erklärung. Schließlich gab er es auf, setzte dazu an, das Ankh wieder in die Jacke zu stecken, überlegte es sich dann aber doch anders und schob es kurz entschlossen in die Hosentasche.

Danach schlüpfte er in den Kaftan und verließ auf nackten Füßen das Bad. Das Kleidungsstück war tatsächlich so unangenehm zu tragen, wie er befürchtet hatte. Der Stoff scheuerte und juckte. Aton fragte sich, wie Sufi es aushielt, Tag für Tag in einem solchen Gewand herumzulaufen. Er mußte eine Haut wie ein Nilpferd haben.

Die beiden Männer saßen in dem großen Raum, aus dem Sufi bei ihrer Ankunft herausgetreten war, als Aton ins Erdgeschoß herunterkam. Die Tür stand offen, so daß er ihre Stimmen bereits auf der Treppe hörte, aber sie bedienten sich einer fremden Sprache, so daß er nicht verstand, worum es bei dem Gespräch ging; wohl aber, daß es sich um eine sehr erregte Diskussion handeln mußte, wenn nicht gar um einen Streit. Aton ging langsamer. Er hätte gerne noch einen Moment gelauscht, auch wenn er kein Wort verstand, aber Anubis verdarb ihm den Spaß. Der Hund erschien unter der Tür und kläffte, nur einmal, aber sehr laut, und das Gespräch verstummte sofort. Er konnte hören, wie einer der Männer aufstand und mit raschen Schritten auf die Tür zukam.

Aton schenkte dem Dobermann den drohendsten Blick, den er zustande brachte, und ging weiter. Einen Augenblick später erschien Petach unter der Tür. Auf seinem Gesicht machte sich ein Grinsen breit, als er Atons Aufzug registrierte. Aber er fing auch Atons warnenden Blick auf und hütete sich, irgendeine entsprechende Bemerkung zu machen. Statt dessen forderte er Aton mit einer Handbewegung auf, einzutreten.

Das Zimmer war fast noch spärlicher eingerichtet als der Rest des Hauses. Es gab einen alten, sehr großen Schrank und eine kleine Kommode neben der Tür, der Rest dessen, was Sufi für Mobiliar halten mochte, bestand aus Kissen und Decken, die scheinbar wahllos auf dem Boden verteilt waren.

Sufi saß mit untergeschlagenen Beinen vor einem kupfernen Riesenteller, der ihm als Tisch diente und auf dem eine Anzahl winziger Mokkatäßchen und ebenso kleiner Teller aus Porzellan standen, auf denen sich außer Obst und Käse auch Speisen befanden, die Aton unbekannt waren. Neben diesem großen Tablett entdeckte Aton eine sonderbare Konstruktion, die er erst beim zweiten Hinsehen identifizierte: Es war eine Wasserpfeife. Sufi hielt das Mundstück eines Schlauches zwischen den Lippen, das andere, an dem sich offensichtlich Petach gütlich getan hatte, lag auf dem Rand des Tablettes.

Dünner, grauer Rauch kräuselte daraus hervor, und ein nicht unangenehmer, aber sehr durchdringender, fremdartiger Geruch erfüllte das Zimmer.

Sufi bedeutete ihm, auf einem der Kissen Platz zu nehmen, und Petach wartete, bis Aton gehorchte, ehe er sich ebenfalls setzte und wieder nach dem Mundstück der Wasserpfeife griff. Der Anblick überraschte Aton ein wenig. So wie er Petach bisher kannte, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, daß dieser Mann überhaupt irgendeinem Laster frönte. Wieder einmal wurde ihm klar, wie wenig er im Grunde über Petach wußte.

»Fühlst du dich nun besser?« eröffnete Sufi das Gespräch. »Es tut mir leid, daß ich dir keine bequemeren Kleider geben konnte. Aber ich bin nicht auf Besuch eingerichtet. Und ich selber pflege einen sehr bescheidenen Lebensstil.«

»Das macht nichts«, sagte Aton rasch. »Ich bin nicht anspruchsvoll.«

Sufi lachte, und Petach steuerte ein wissendes Nicken bei, schwieg aber ansonsten und sog nur genüßlich an seiner Pfeife. Für einige Sekunden breitete sich Schweigen im Zimmer aus, das Sufi schließlich mit einer Handbewegung auf den Tisch unterbrach.

»Du mußt hungrig sein«, sagte er. »Greif doch zu. Es ist nichts Besonderes, aber es ist gutes Essen, und es macht satt.«

Aton hätte etwas darum gegeben, hätte Sufi aufgehört, sich ständig für Dinge zu entschuldigen, die im Grunde ganz in Ordnung waren. Er fragte sich, was Petach seinem Freund über ihn erzählt hatte. Aber er leistete Sufis Aufforderung auch Folge und griff dankbar nach den angebotenen Speisen.

Und zum ersten Mal erlebte er eine angenehme Überraschung, seit sie dieses sonderbare Haus betreten hatten. Aton hatte zwar nicht die geringste Ahnung, was er da eigentlich aß, aber es schmeckte ausgezeichnet. Und nach den ersten Bissen meldete sich sein Hunger mit Nachdruck zurück, so daß eine ganze Weile verging, in der er einfach schweigend aß und die beiden Männer ebenso schweigend dabei zusahen; Petach mit undeutbarem Ausdruck wie üblich, Sufi aber mit eindeutigem Wohlgefallen. Erst als Aton seinen ärgsten Hunger gestillt hatte und sich zurücksinken ließ - um eine kleine Pause einzulegen, nicht etwa, um ganz aufzuhören -, legte Petach das Mundstück der Pfeife ab.

»Ich habe Herrn Sufi berichtet, was geschehen ist«, sagte er. »Auch das, was du mir erzählt hast.«

Aton sah ihn erschrocken an, und Petach fügte mit einer beruhigenden Geste hinzu: »Du kannst ihm vertrauen. Er weiß alles.«

Endlich hatte Petach ihm das Stichwort gegeben, auf das Aton schon seit einer ganzen Weile wartete. »Dann weiß er wahrscheinlich mehr als ich«, sagte er.

Sufi lachte leise. »Herr Petach hat mir erzählt, daß du ein sehr energischer junger Mann bist«, sagte er. »Und wohl auch etwas ungeduldig. Ich sehe, er hat recht.«

»Wenn man dreimal hintereinander einem Mordanschlag entkommen ist und immer noch nicht weiß, warum man eigentlich verfolgt und angegriffen wird«, erwiderte Aton gereizt, »dann kann man schon etwas ungeduldig werden.«

»Ja«, sagte Sufi. »Von deinem Standpunkt aus magst du wohl recht haben.«

»Von meinem Standpunkt? Was soll -«

Sufi hob die Hand und unterbrach ihn. »Es gibt Dinge, Aton, die lassen sich nicht so leicht erklären. Und es gibt Dinge, die sollte man vielleicht nicht erklären.«

Allmählich wurde Aton wirklich wütend. Die Sympathien, die Sufi bisher bei ihm errungen hatte, schmolzen schon wieder dahin, »Sie beide sollten sich überlegen, ob Sie nicht Politiker werden«, sagte er böse. »Sie sind beide wahre Meister darin, viel zu reden, ohne irgend etwas zu sagen.«

»Manches läßt sich nicht sagen«, erwiderte Sufi, plötzlich sehr ernst und mit großem Nachdruck. »Ich verstehe deine Ungeduld, und ich verstehe deinen Zorn. Aber du hast Herrn Petach bisher vertraut, und du solltest es auch weiter tun. Ihr seid hier, weil ich dir vielleicht helfen kann. Ich kann es nicht versprechen, aber ich werde es versuchen.«

»Was sind Sie?« fragte Aton. »Eine Art Magier?«

Er meinte diese Worte ganz ernst. Noch vor drei Tagen hätte er schallend gelacht, hätte ihm jemand erzählt, daß er auch nur an die Möglichkeit glauben würde, daß es so etwas wie Zauberei und Magie wirklich gab, aber genau so war es. Sufi war sowenig ein freundlicher alter Sonderling, wie Petach der stets höfliche, ein bißchen weltfremde Forscher war, der zu sein er im allgemeinen vorgab.

»Ein Magier?« Sufi wiederholte das Wort auf eine Weise, als müsse er es laut aussprechen, um sich über seine wahre Bedeutung klarzuwerden. Erst nach einigen Sekunden schüttelte er den Kopf, und diese Bewegung war spürbar zögernd.

»Nein«, sagte er. »Du kannst mich einen ... Derwisch nennen, wenn du willst. Das kommt der Sache vielleicht am nächsten.«

Aton wußte nur, daß ein Derwisch der Anhänger eines religiösen Ordens im Islam war, mehr nicht. Aber nach all den Erfahrungen, die er bisher mit Petach gemacht hatte, war er ziemlich sicher, daß er sowieso keine ausführlichere Antwort bekommen würde, und so ersparte er es sich, nachzufragen.

»Aber Sie können uns helfen?« fragte er statt dessen.

»Du kommst schnell zur Sache«, sagte Sufi lächelnd. Dann beantwortete er Atons Frage. »Vielleicht. Vorderhand seid ihr hier in Sicherheit, und das allein zählt. Aber vielleicht kann ich euch tatsächlich helfen. Dir und deinen Eltern.«

»Meinen Eltern?« wiederholte Aton erschrocken. »Aber was haben meine Eltern -« Er brach mitten im Wort ab, als er den Blick bemerkte, den Sufi Petach zuwarf, und fuhr zu dem Ägypter herum. »Sie haben gesagt, ihnen würde nichts passieren, wenn sie das Land verlassen!«

»Das ist auch die Wahrheit«, verteidigte sich Petach. »Aber die Mächte, gegen die wir kämpfen, sind unberechenbar. Trotzdem glaube ich nicht, daß deinem Vater oder deiner Mutter irgendeine Gefahr droht.«

Sufis Gesichtsausdruck behauptete das Gegenteil. Aber er widersprach Petach zumindest nicht laut, sondern machte nur erneut eine beruhigende Geste, um Atons Aufmerksamkeit wieder zu erlangen. »Im Moment ist niemand in Gefahr«, sagte er. »Heute nacht werdet ihr hier bei mir bleiben, und morgen werden wir vielleicht eine Lösung finden. Wenn die Götter und das Schicksal uns gnädig gestimmt sind.« Er nahm den Pfeifenschlauch aus dem Mund, stand auf und ging zur Tür.

Aton sah ihm nach, bis er das Zimmer verlassen hatte, dann drehte er sich wieder zu Petach herum. Seine Stimme bebte vor Zorn. »Sie haben mich belogen«, sagte er.

»Nein, Aton, das habe ich nicht«, antwortete Petach. »Ich habe meine Kräfte vielleicht überschätzt. Ich habe vielleicht nicht gewußt, wie entschlossen sie sind, deiner habhaft zu werden, und wie weit ihre Kräfte bereits gewachsen sind, aber ich habe dich nicht belogen. Glaub mir, du bist hier, weil ich dir helfen will. Siehst du, Aton - es ist meine Schuld, daß du in diese Lage geraten bist, und wenn dir etwas zustieße, so müßte ich mit dieser Schuld weiterleben - und mich eines Tages dafür verantworten, denn nichts, was ein Mensch in seinem Leben tut oder unterläßt, bleibt ungesühnt. Du siehst also - helfe ich dir, so helfe ich zugleich auch mir selbst. Und es gibt noch einen anderen Grund.«

»Und der wäre?«

»Die Prophezeiung wird sich erfüllen, Aton«, sagte Petach. »Der Tag, an dem Echnatons Fluch gebrochen wird, ist nahe, sehr nahe sogar. Versage ich dabei, dir zu helfen, so würden ihre Kräfte ins Unermeßliche steigen, und ich würde vielleicht auch versagen, wenn der Moment gekommen ist, an dem sich entscheidet, auf welche Weise sich die Prophezeiung erfüllt. Erfüllen wird sie sich, doch ich habe dir erzählt, daß es einen guten und einen schlechten Weg dahin gibt.«

Und wer zum Teufel garantiert mir, daß Petachs Weg tatsächlich der gute ist? dachte Aton. Er fühlte sich so hilflos, daß er am liebsten losgeheult hätte. Er wollte Petach so gerne glauben, und irgendwie tat er es auch, denn er spürte, daß der Ägypter die Wahrheit sprach. Aber zugleich spürte er auch, daß er ihm etwas verschwieg. Und was, wenn Petach sich schlichtweg irrte?

Sufi kam zurück, ein zierliches Silbertablett in den Händen, auf dem sich drei ebenso zierliche, mit bunten Blumenmustern bemalte Porzellantassen befanden. Dampf kräuselte sich aus ihnen hoch, und als Sufi seine Last absetzte und sich in der gleichen, fließenden Bewegung wieder im Schneidersitz auf seine Kissen sinken ließ, sah Aton, daß die Tassen eine dunkelrote, stark aromatisch riechende Flüssigkeit enthielten.

»Greift zu, meine Freunde«, sagte Sufi. Er nahm sich selbst eine der Tassen, und Petach tat es ihm gleich.

»Was ist das?« fragte Aton. Er fing einen mahnenden Blick Petachs auf und nahm die letzte auf dem Tablett verbliebene Tasse in die Hand, nippte aber nur ganz kurz daran, ohne wirklich zu trinken. Das Getränk roch gut, aber es schmeckte durch und durch scheußlich.

»Ein Tee aus meiner Heimat«, antwortete Sufi. »Eine wirkliche Kostbarkeit. Man bekommt ihn hier nur sehr schwer.« Er blinzelte Aton verschwörerisch zu. »Es heißt, er erweckt verborgene Kräfte in dem, der ihn genießt. Ich persönlich glaube nicht an solchen Hokuspokus, aber er ist sehr belebend - und er schmeckt ganz ausgezeichnet.«

Was die belebende Wirkung des Getränkes anging, konnte Aton nichts sagen - aber ihre Auffassungen davon, was gut oder schlecht schmeckte, schienen wohl himmelweit auseinanderzuklaffen. Schon bei dem bloßen Gedanken, dieses Zeug trinken zu sollen, drehte sich ihm schier der Magen herum.

Aton warf Petach einen fast flehenden Blick zu, aber die erwartete Hilfe kam nicht. Im Gegenteil: Petach würgte tapfer einen Schluck des Tees hinunter, und obwohl Aton ihm ansah, daß er von dieser Köstlichkeit ebensoviel hielt wie er selbst, flüsterte er: »Nun trink schon. Willst du ihn beleidigen?«

Aton resignierte. Petach hatte recht - er würde ihren Gastgeber nur unnötig vor den Kopf stoßen, wenn er die Einladung ausschlug. Also schluckte er das Getränk tapfer hinunter und schaffte es sogar, so etwas wie ein anerkennendes Lächeln auf seine Lippen zu zaubern.

Sein Magen begann wie ein kleiner Gummiball an einer Schnur in seinem Leib auf und ab zu hüpfen, kaum daß ihn die heiße Flüssigkeit erreichte, und ein Gefühl klebriger Übelkeit breitete sich in Atons ganzem Körper aus. Was um alles in der Welt war in dieser Tasse gewesen?

Atons Hände begannen zu zittern, und zugleich hatte er das Gefühl, daß alle Kraft aus seinen Gliedern wich. Er war kaum noch in der Lage, die leere Tasse auf das Tablett zurückzustellen, ohne sie fallen zu lassen. Alles drehte sich um ihn, und die Übelkeit wurde immer größer. Petach und Sufi begannen sich wieder zu unterhalten, doch Aton verstand ihre Worte nicht; nicht etwa, weil sie sich wieder jener fremden Sprache bedient hätten, sondern weil ihm plötzlich alle Geräusche in seiner Umgebung fremd und bizarr erschienen und weil sein Herz so laut schlug, daß das dumpfe Hämmern jeden anderen Laut zu übertönen schien.

Mühsam hob er den Kopf. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er konnte Petach und Sufi nur noch als Schatten erkennen, ihre Gesichter als weiße, konturlose Flächen, die auf ihn herabstarrten.

Der Tee. Etwas war in dem Tee gewesen.

Sufi hatte ihn vergiftet.

Der Gedanke entstand ganz deutlich hinter seiner Stirn, aber er hatte nicht mehr die Kraft, darauf zu reagieren. Petach fing ihn auf, als er das Bewußtsein verlor und nach vorne kippte.

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