Das Tal der Könige

Ganz wie er es erwartet hatte, brauchten sie beinahe den gesamten restlichen Tag, um das Tal der Könige zu erreichen. Es begann bereits zu dämmern, als sie endlich von der asphaltierten Hauptstraße abbogen und die staubige Zufahrt zum Tal der Könige hinabrollten. Yassir fuhr jetzt langsamer - nicht nur, weil die Straße einfach schlecht war, um sie weiter mit mehr als hundert Stundenkilometern entlangpreschen zu können. Während der letzten halben Stunde hatte der Wagen begonnen, sonderbare Geräusche von sich zu geben, und jetzt klopfte und rumorte es immer lauter unter der Motorhaube. Sie waren nur noch drei oder vier Kilometer von ihrem Ziel entfernt - nachdem sie an einem einzigen Tag über siebenhundert Kilometer zurückgelegt hatten, eine geradezu lächerliche Strecke, aber wenn sie mit einem defekten Motor hier liegenblieben, dann konnte ihr Vorhaben in Gefahr geraten. Aton schätzte, daß ihnen allerhöchstens noch eine halbe Stunde blieb, ehe es dunkel wurde.

Aton erinnerte sich nicht an jede Einzelheit des Tages. Er hatte auf dem harten Rücksitz geschlafen, und obwohl er wirklich sehr unbequem war und außerdem unentwegt unter ihm geschwankt hatte wie ein bockendes Kamel, sogar sehr tief und sehr fest, so daß er erst eine halbe Stunde vor Erreichen ihres Zieles überhaupt wieder erwacht war und sich auch jetzt immer wieder den Schlaf aus den Augen reiben mußte, um nicht wieder einzunicken. Seine Müdigkeit war verständlich nach der letzten Nacht und den Tagen davor - trotzdem argwöhnte er, daß Petach ein wenig nachgeholfen hatte, sprach seinen Verdacht aber nicht laut aus. Er konnte sich die Antwort denken. Aber der Gedanke brachte ihn auf eine andere, im Grunde viel interessantere Frage: Warum nämlich Petach, dem die Angst, die ihm Yassirs Fahrkünste einjagten, deutlich im Gesicht geschrieben stand, sie nicht auf einem anderen, magischen Weg zum Tal der Könige gebracht hatte.

»Auch ich bin nicht allmächtig«, antwortete Petach, als Aton die Frage laut aussprach. »Und selbst wenn es in meiner Macht stünde, hätte ich es nicht gewagt. Magie lockt Magie an, mußt du wissen. Würde ich etwas tun, was nicht den Gesetzen dieser Welt entspricht, wäre das wie ein Signal für Osiris und die anderen. Aber wir sind ja auch so heil angekommen.«

Yassir grinste, und Aton war ganz und gar nicht sicher, daß sie wirklich nur zufällig genau in diesem Moment durch ein Schlagloch rumpelten, so daß Petach auf seinem Sitz in die Höhe geworfen wurde und reichlich unsanft wieder zurückfiel. Ärgerlich sagte er ein Wort in seiner Muttersprache zu Yassir, worauf dieser nur noch breiter grinste, das Tempo aber immerhin ein wenig zurücknahm.

Aton wandte seine Aufmerksamkeit von den beiden Männern vor ihm ab, denn in diesem Moment rumpelten sie um die letzte Biegung, und unter ihm breitete sich ein Anblick aus, der ihn sofort in seinen Bann schlug, obwohl er ihn nicht zum ersten Mal sah. Aber es war mit dem Tal der Könige wohl wie mit den Pyramiden: Es war gleich, ob man es zum allerersten oder zum hundertfünfzigsten Mal betrat - das Bild war immer gleich phantastisch und immer gleich atemberaubend. Vielleicht weil man spürte, daß dieser schmale, an drei Seiten von gigantischen braunen Sandsteinfelsen umschlossene Canyon eben mehr war als bloß eine Schlucht. Zahlreiche Pharaonen hatten im Inneren der Berge ihre letzte Ruhestätte gefunden, und auch wenn die Gräber längst entdeckt und ausgeplündert worden waren, so war doch etwas von all der Hoffnung und all der Ehrfurcht, die die Menschen an diesem Ort empfunden hatten, und von all den Gebeten, die sie hier gesprochen hatten, zurückgeblieben. Dies war ... ja, es war ein heiliger Ort, und selbst wenn er es vielleicht in einem anderen Sinne als dem war, in dem die Menschen das Wort heute benutzen mochten, so spürte man es doch.

Für Aton war dieser Ort jedoch in zweifacher Hinsicht etwas Besonderes, denn er verband mit ihm auch noch eine äußerst unangenehme Erinnerung. Es war hier gewesen, wo er damals zum ersten Mal auf Petach getroffen war, und hier, wo er beinahe ums Leben gekommen wäre. Er verspürte ein eisiges Schaudern. Trotzdem kostete es ihn große Überwindung, seinen Blick von den steil aufragenden Felswänden zu lösen und sich wieder an Petach zu wenden.

»Wohin fahren wir?« fragte er.

Petach machte eine vage Handbewegung. »Nur noch einen Moment Geduld«, sagte er. »Du wirst es gleich sehen.«

Aber Aton wollte nicht mehr geduldig sein. Petachs Antwort machte ihn zornig. »Was soll die Geheimnistuerei?« fragte er scharf. »Ich erfahre es doch sowieso in ein paar Minuten, oder?«

»Richtig«, antwortete Petach ruhig. »Also besteht auch kein Grund, unfreundlich zu werden.«

Aton schluckte die zornige Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment hinunter. Petach war nervös, das spürte er. Er hatte zuvor während der Fahrt Aton wieder einmal erklärt, daß sie in Sicherheit wären, solange die Sonne schien, und trotzdem wurden die Blicke, die er um sich und in den Himmel hinauf warf, immer beunruhigter. Vielleicht, dachte Aton, haben seine ständigen Versicherungen, daß ihnen gar nichts passieren konnte, ebenso sich selbst wie mir gegolten. Aber er hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Es gab Fragen, auf deren Antworten er gar nicht so versessen war.

Plötzlich blinzelte Petach, beugte sich vor und starrte aus eng zusammengekniffenen Augen nach Norden. Atons Blick folgte ihm, und nach einer Sekunde gewahrte auch er einen winzigen, dunklen Punkt, der sich ihnen hoch in der Luft näherte.

»Was ist das?« fragte er.

Petach schwieg. Ein besorgter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus, und auch Yassir blickte kurz in den Himmel hinauf und sah danach deutlich ernster drein als zuvor, konzentrierte sich aber sofort wieder darauf, den Wagen zu steuern. Sie hatten den Grund erreicht und näherten sich, wieder schneller werdend, dem Ende des Tales.

Der Punkt am Himmel wurde größer, und bald hörten sie ein sonderbares, rhythmisches Geräusch - und dann atmeten Petach und Aton im gleichen Moment erleichtert auf. Was da auf sie zukam, war kein mythisches Ungeheuer, sondern schlicht und einfach ein Helikopter, dessen Pilot sich wohl das Tal aus der Luft ansehen wollte, denn er wurde langsamer und verlor auch deutlich an Höhe, je näher er kam.

»Es ist nur ein Hubschrauber«, sagte Petach mit unüberhörbarer Erleichterung in der Stimme.

»Haben Sie etwas anderes erwartet?« fragte Aton. Petach schwieg.

Der Hubschrauber flog langsam und sehr tief über sie hinweg, und für einen Moment wurde das Geräusch der Rotoren so laut, daß eine Unterhaltung im Wagen unmöglich wurde. Yassir schickte dem Helikopter einen zornigen Blick nach, denn der Luftzug der vorüberfliegenden Maschine überschüttete den Wagen mit einem Schwall aus feinkörnigem, heißem Sand, und gab dann noch einmal Gas, um das Talende so rasch wie möglich zu erreichen.

Atons Unbehagen nahm noch weiter zu, als er begriff, was ihr Ziel war. Nämlich der Fuß jenes mit Schutt und Geröll übersäten Berges, an dem er damals verschüttet worden war.

Der Wagen hielt an. Yassir und Petach stiegen aus und machten einige steifbeinige Schritte, um ihre Glieder nach den endlosen Stunden im Wagen wieder geschmeidig zu machen. Aton folgte ihnen erst nach einigen Sekunden. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu beherrschen. Er hatte sich vorgenommen, tapfer zu sein, keine Angst zu zeigen, ganz egal, was geschehen mochte, aber dies war ein Ort übler Erinnerungen, und für einen Moment war der Schrecken, der ihn aus einer zehn Jahre zurückliegenden Vergangenheit einholte, stärker als seine Vernunft, aber schließlich riß er sich zusammen und zwang sich, hinter Petach und Yassir aus dem Wagen zu klettern.

Petach sah ihn an, und er mußte wohl spüren, was in Aton vorging, denn plötzlich lächelte er auf eine sehr warme Art, die Aton einen Teil seiner längst verloren geglaubten Sympathien für ihn zurückbrachte. »Es ist bald geschafft«, sagte er. »Wir müssen nur noch -«

Er brach mitten im Satz ab, und im selben Moment blickten auch Yassir und Aton auf und drehten sich herum, denn das Geräusch des Hubschraubers begann wieder lauter zu werden. Der Helikopter hatte das jenseitige Ende des Tales erreicht und kehrtgemacht. Jetzt flog er genau auf sie zu und ging dabei immer tiefer und setzte schließlich keine zwanzig Meter entfernt zur Landung an. Aton zog den Kopf zwischen die Schultern und hob schützend die Arme vor das Gesicht, als sie abermals von einem Schwall heißer Luft, Sand und winzigen Steinen überschüttet wurden. Petach begann leise zu fluchen und drehte das Gesicht zur Seite, und auch Yassir duckte sich. Für einen Moment wurde der Sturmwind der Rotoren so stark, daß Aton wankte. Er wich ein paar Schritte zurück, sah aber weiter zum Helikopter hinüber.

Die Maschine berührte den Boden, und die Rotoren liefen pfeifend aus. Noch bevor sie vollends zur Ruhe gekommen waren, wurden die Türen des kleinen Hubschraubers aufgestoßen, und zwei Gestalten sprangen aus der Kanzel heraus.

Aton riß ungläubig die Augen auf, als er sie erkannte - es waren sein Vater und Sascha.

Natürlich, dachte er verblüfft. Wieso hatte er es eigentlich nicht gleich begriffen? Der Helikopter gehörte zur technischen Ausstattung der Baustelle, die sein Vater leitete, und er hatte oft erzählt, wie gerne er damit flog. Wahrscheinlich hatte es Sascha nur einen halbstündigen Fußmarsch und ein Telefongespräch gekostet, um die Strecke von Bubastis hierher weitaus bequemer und schneller zurückzulegen als sie.

Die beiden kamen rasch näher. Auf Saschas Gesicht lag ein Ausdruck von verhaltenem Triumph, aber auch Erleichterung, während sich das seines Vaters mit jedem Schritt verdüsterte. Wortlos eilte er an Petach und Yassir vorüber, ergriff Aton an der Schulter und drehte ihn unsanft herum, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern. Erst als er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, daß sein Sohn unversehrt war, ließ er ihn los und wandte sich Petach zu.

»Also ist es wahr!« Er deutete auf Sascha. »Ich wollte nicht glauben, was sie mir erzählt hat, aber jetzt sehe ich es selbst. Sie haben meinen Sohn entführt!«

»Es ist nicht so, wie Sie -«, begann Petach, aber Atons Vater fiel ihm sofort und mit scharfer Stimme ins Wort:

»Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich dachte, wir wären Freunde. Aber Sie haben das von Anfang an geplant, nicht wahr? Was wollen Sie? Geld?«

»Vater, er hat recht«, versuchte sich Aton einzumischen. »Es ist alles ganz anders.«

Sein Vater ignorierte ihn. »Oder sind Sie auch so ein Verrückter, der etwas gegen meine Arbeit hat?« fuhr er mit bebender Stimme fort.

Es fiel Petach immer schwerer, Ruhe zu bewahren, das sah Aton deutlich. »Bitte hören Sie mir wenigstens zu«, sagte er. »Es ist alles ganz anders, als Sie glauben. Ich weiß nicht, was diese junge Frau Ihnen erzählt hat, aber -«

»Eine völlig verrückte Geschichte«, unterbrach ihn Atons Vater erneut. »Fast so verrückt wie das, was Sie manchmal erzählen. Aber in einem hatte sie recht: Aton ist hier und ganz offensichtlich nicht aus freien Stücken.« Er drehte sich halb zur Seite, so daß er Petach und Aton zugleich ansehen konnte.

»Was hat er mit dir gemacht?« fragte er. »Keine Angst - ich bin jetzt bei dir. Er kann dir nichts mehr tun.«

Bevor Aton antworten konnte, mischte sich Yassir ein. »Petach«, sagte er scharf. »Wir haben keine Zeit für diesen Unsinn. Die Sonne geht unter!« Er machte einen Schritt in ihre Richtung, und Atons Vater zog aus der Jackentasche eine kleine Pistole hervor, die er auf den Ägypter richtete.

»Keinen Schritt weiter«, sagte er. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, aber ich schwöre Ihnen, daß ich Sie niederschießen werde, wenn Sie auch nur noch einen einzigen Schritt machen.« Ohne Yassir aus den Augen zu lassen, machte er eine Bewegung zu Sascha.

»Gehen Sie ans Funkgerät. Rufen Sie die Polizei. Ich passe inzwischen auf die beiden auf.«

Yassir zog eine Grimasse. Petach schüttelte seufzend den Kopf, und Sascha - rührte sich nicht von der Stelle.

»Worauf warten Sie?« fragte Atons Vater unwillig. »Ich kann die beiden nicht ewig in Schach halten.«

»Das wird auch nicht nötig sein«, sagte Petach. Er hob die Hand und trat auf Atons Vater zu, und dieser schwenkte seine Waffe herum und richtete sie nun direkt auf Petachs Gesicht.

»Keinen Schritt näher!« drohte er. »Ich meine es ernst!«

»Nein«, sagte Petach. »Das meinen Sie nicht.« Und damit machte er einen weiteren Schritt, streckte den Arm aus und nahm Atons Vater ruhig die Pistole aus der Hand. »Sie können nicht auf einen Menschen schießen«, sagte er.

Atons Vater starrte die kleine Pistole, die nun plötzlich in Petachs Händen lag, fassungslos an. »Aber ... aber wie -?« stotterte er.

»Die wenigsten können das. Es ist nicht so leicht, zu töten, wie Sie vielleicht glauben«, fuhr Petach fort. Er drehte die Pistole in den Händen und betrachtete sie interessiert - und dann gab er sie Atons Vater mit einem Achselzucken zurück.

»Stecken Sie sie ein«, sagte er. »Sie brauchen sie nicht.«

Atons Vater blickte Petach vollkommen verdattert an, dann steckte er die Waffe tatsächlich wieder in die Tasche zurück, aus der er sie hervorgezogen hatte.

»Das war nicht sehr klug von Ihnen«, sagte Petach, nunmehr an Sascha gewandt. »Wenn ich auch zugeben muß, daß ich Ihren Einfallsreichtum bewundere. Trotzdem - warum haben Sie das getan?«

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Aton nicht allein lassen werde«, antwortete Sascha. Um ihre Worte zu unterstreichen, trat sie an Atons Seite.

»Sie wissen, daß Sie ihm nicht helfen können«, sagte Petach.

»Was zum Teufel geht hier überhaupt vor?« meldete sich Atons Vater wieder zu Wort. Er wirkte noch immer verwirrt - was Aton nur zu gut verstehen konnte. Schließlich war es vielleicht nicht das erste Mal, daß er Petachs unheimlichen Suggestivkräften erlag, aber wohl das erste Mal, daß er es merkte. Und es bedeutete wohl für jeden Menschen einen Schock, begreifen zu müssen, daß es jemanden gab, der einen mühelos zwingen konnte, Dinge zu tun, die man gar nicht tun wollte.

»Ich wollte, ich hätte die Zeit, es Ihnen zu erklären«, antwortete Petach. »Aber ich habe sie nicht. Sie müssen gehen - sofort. Steigen Sie in Ihre Flugmaschine und fliegen Sie weg, ehe die Sonne untergeht. Sie werden morgen früh alles erfahren, das verspreche ich Ihnen.«

»Ich werde nirgendwo hingehen ohne Aton«, antwortete sein Vater entschlossen.

»Er hat recht, Vater«, sagte Aton.

Diesmal hörte sein Vater. Überrascht fuhr er herum. »Wie?«

»Er hat mich nicht entführt«, sagte Aton. »Jedenfalls nicht ... nicht so, wie du glaubst. Ich bin freiwillig hier. Und er sagt die Wahrheit. Du mußt weg. Du bist in großer Gefahr - und nicht nur du.«

»Was soll das heißen?« fragte sein Vater scharf.

»Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber du mußt zurück zur Baustelle«, fuhr Aton fort.

Er sah die immer größer werdende Verwirrung auf den Zügen seines Vaters und gab sich Mühe, mit so ernster und eindringlicher Stimme fortzufahren, wie er nur konnte:

»Bitte, glaub mir, daß ich die Wahrheit sage. Du ... du mußt zur Baustelle, um die Menschen dort zu warnen. Sie müssen auf der Stelle diesen Platz verlassen. Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, darf niemand mehr in der Nähe des Staudammes sein, oder es passiert ein schreckliches Unglück. Petach und ich sind hier, um es zu verhindern, aber ich bin nicht sicher, daß es uns gelingt.«

»Blödsinn!« widersprach sein Vater. Seine Stimme und sein Blick wirkten unsicher, aber Aton spürte trotzdem, daß er nicht auf ihn hören würde - und wie konnte er auch?

»Uns bleibt keine Zeit mehr«, sagte Petach noch einmal. »Bitte gehen Sie - schnell.«

»Ich sagte bereits, ich werde -«, begann Atons Vater, da unterbrach ihn Yassir mit leiser, ruhiger Stimme:

»Es ist zu spät.«

Aton, Petach und auch Sascha fuhren erschrocken herum - und sie sahen alle drei im selben Moment, was der Ägypter gemeint hatte.

Die Dämmerung war hereingebrochen, während sie redeten. Der Himmel war noch hell, aber am Fuß der gewaltigen Sandsteinmauern, die das Tal begrenzten, hatten sich schwarze Schlagschatten gebildet, und in diesen Schatten ... war etwas. Keiner von ihnen konnte genau erkennen, was, aber es war da, und es bewegte sich, und es kam näher.

»Was ist das?« flüsterte Atons Vater erschrocken.

»Steigen Sie in den Helikopter!« sagte Petach. Seine Stimme klang hastig, und Furcht lag in ihr. »Schnell, solange Sie es noch können!«

Atons Vater rührte sich nicht. Sein Blick hing wie gebannt an den formlosen Umrissen, die in den Schatten der Felsen heranwuchsen und mit jeder Sekunde deutlicher wurden. Und vermutlich wäre es ohnehin zu spät gewesen, denn genau in diesem Moment berührte der Schatten der Felswand den Helikopter, und Augenblicke später war auch die Maschine von formlosen, geisterhaften Konturen umgeben, die weniger Substanz als feste Körper hätten, aber mehr waren als Schatten.

»Dort!« rief Sascha plötzlich. »Seht doch!«

Ihr ausgestreckter Arm deutete nach Westen, zum Eingang des Tales hin. Auch dort hatten sich die Schatten zu einer kompakten Mauer zusammengeballt, und auch in ihr war etwas entstanden, was dort nicht hingehörte. Die Dunkelheit gerann zu den Umrissen eines gewaltigen, von zwei riesigen Pferden in der Farbe der Nacht gezogenen Streitwagens. Hinter der Brüstung standen nun gleich drei Gestalten, aber nur eine war entfernt menschlich - falls man eine von Kopf bis Fuß in graue Leinenbinden eingehüllte Mumie als Menschen bezeichnen wollte, hieß das. Die beiden anderen boten einen noch bizarreren Anblick. Die eine sah aus wie ein riesenhafter Mann mit dem Kopf eines Falken, während die dritte überhaupt nicht richtig zu erkennen war, als hätte sie gar keinen wirklichen Körper, sondern bestünde tatsächlich nur aus Schwärze, die sich zur Illusion eines Leibes verdichtet hatte.

»Horus!« flüsterte Petach.

»Und Osiris«, fügte Yassir hinzu. »Es ist soweit. Sie kommen!«

Um mich zu holen, dachte Aton. Seltsam - er sollte Angst empfinden, aber er spürte eigentlich gar nichts. Vielleicht war es tatsächlich so, wie Petach behauptet hatte: Am Ende war das Schicksal doch mächtiger als der Wille des Menschen. Es hatte keinen Sinn, vor dem Unausweichlichen davonzulaufen. Er wußte, daß er fliehen konnte, wohin und so weit er wollte, und am Ende würden ihn die beiden Götter doch einholen.

»Aber das ist doch unmöglich!« flüsterte sein Vater. »Das ... das ist ein Scherz, nicht? Ein schlechter Witz, den sich jemand mit uns erlaubt!«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete Petach düster. »Kommen Sie. Schnell. Noch haben wir einen kleinen Vorsprung. Das Licht hält sie auf.« Er lachte kurz und bitter. »Jetzt werden Sie doch heute schon alles erfahren. Auch wenn ich bezweifle, daß Sie das wirklich wollen.«

Sie rannten los. Auf den ersten Metern stolperten sie noch über loses Geröll und Steine, aber nach einigen wenigen Schritten schon war ein glatter, leergeräumter Pfad unter ihren Füßen, der sich in steilem Winkel den Berg hinaufwand.

»Wohin bringen Sie uns?« fragte Vater. »Wir sind - he! Das ist Tutanchamuns Grab!«

Petach antwortete nicht, sondern wandte nur im Laufen den Blick, und was er sah, das veranlaßte ihn wohl, noch mehr an Tempo zuzulegen. Es wurde jetzt immer schneller dunkel, eigentlich viel schneller, als es hätte sein dürfen, so daß Aton vermutete, daß die beiden ägyptischen Götter mit ihrer magischen Kraft ein wenig nachhalfen. Die Schatten kamen rasch näher und mit ihnen der Streitwagen und die unheimliche Armee der Gespenster. Ihre Umrisse waren jetzt deutlicher, so daß Aton sie zu erkennen glaubte. Sie glichen Menschen, waren aber größer und schlanker, und ihre Köpfe waren die großer Hunde. Es waren sehr viele. Und diesmal würde ihnen keine dreitausend Jahre alte Katzenarmee zu Hilfe eilen.

Die ersten Schatten berührten den Fuß des Berges, als sie den Eingang zu Tutanchamuns Grab erreichten. Er war mit einem massiven Eisengitter und einem gewaltigen Vorhängeschloß gesichert, aber das Schloß zerfiel einfach zu Staub, als Petach es berührte, und das Gitter schwang wie von Geisterhand bewegt vor ihnen auf.

Hintereinander stürmten sie durch den schmalen Eingang, liefen aber nur einige Schritte weit, denn Petach blieb plötzlich stehen, drehte sich herum und breitete die Arme aus. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Aton ein unheimliches, bläuliches Leuchten zu sehen, das von seinen Fingerspitzen ausging.

»So«, sagte Petach grimmig, als er sich wieder zu ihnen herumdrehte. »Das wird sie eine Weile aufhalten - wenn auch nicht sehr lange, wie ich fürchte. Aber vielleicht reicht die Zeit ja.«

»Was bedeutet das?« fragte Atons Vater verblüfft. Auch er hatte das blaue Leuchten gesehen. »Was haben Sie getan? Was ... was sind Sie? So eine Art Magier?«

»Ja«, bestätigte Petach lächelnd. »So eine Art.« Er ging mit schnellen Schritten an ihnen vorüber und machte sich einige Sekunden lang in der Dunkelheit zu schaffen. Etwas klackte, und dann glommen unter der Decke des Ganges eine Reihe kleiner Glühbirnen auf, deren Schein ihnen jedoch nichts als leere Wände und Staub zeigte. Die Stufen der kurzen Treppe endeten bald vor einer zweiten, sehr viel massiveren Tür - die Petach jedoch keine Sekunde länger aufhielt als das erste Gitter. Nachdem sie sie durchschritten hatten, wiederholte er seine beschwörende Geste, und wieder sprühte blaues Feuer aus seinen Fingerspitzen.

»Abrakadabra«, sagte Atons Vater. Er grinste, aber es wirkte gekünstelt - wahrscheinlich war das nur seine Art, das Unmögliche zu verarbeiten. Aton vermutete, daß es seinem Vater, einem Mann, der trotz seiner Vorliebe für dieses Land und seine Geschichte durch und durch Realist war, noch viel schwerer fiel als ihm, zu glauben, was er sah.

Sie eilten weiter. Nach einigen Metern wurde der Gang schmäler, so daß sie nun hintereinander gehen mußten, und dann betraten sie die Vorkammer, der sich Tutanchamuns eigentlicher Grabraum und die Schatzkammer anschlossen.

Petach blieb stehen. Einen Moment lang blickte er mit schräggehaltenem Kopf zum Eingang zurück, als lauschte er. Auch Aton spitzte die Ohren. Er hörte nichts, und wenn Petach irgend etwas vernommen hatte, so schien es jedenfalls etwas zu sein, was ihn beruhigte, denn der Ausdruck von Anspannung auf seinen Zügen milderte sich etwas. Aton versuchte in Gedanken die Zeit abzuschätzen, die vergangen war, seit sie das Grab betreten hatten - sicher waren es nicht mehr als zwei oder drei Minuten. Die Dunkelheit konnte den Eingang noch nicht erreicht haben.

»Also, was soll das eigentlich?« fragte sein Vater. »Was um alles in der Welt tun wir hier?«

Das fragte sich Aton mittlerweile auch immer mehr. »Sie haben von Echnatons Grab gesprochen, nicht von dem Tutanchamuns«, fügte er hinzu.

»Wie?« stieß sein Vater hervor.

Petach ignorierte ihn. Statt auch nur auf eine der beiden Fragen zu antworten, wandte er sich nach rechts und trat zum Eingang der eigentlichen Grabkammer, in der der goldene Sarkophag des Pharaos gestanden hatte, ehe man ihn ins Museum von Kairo brachte. Aton und die anderen folgten ihm, und sein Vater fragte noch einmal mit kaum noch beherrschter, zitternder Stimme:

»Was hast du gesagt, Aton? Echnatons Grab?«

Sie betraten die Sarkophagkammer, die mit herrlichen Wandmalereien ausgestattet war, aber Aton schenkte all der Pracht auch jetzt kaum einen Blick. Sein Herz begann zu klopfen.

Sein Vater redete weiter, aber er hörte die Worte gar nicht mehr. Plötzlich wußte er, was geschehen würde, noch bevor Petach die Hand hob und ein einzelnes Wort in einer unbekannten, sonderbar klingenden Sprache sagte.

Der steinerne Sarkophag in der Mitte des Raumes bewegte sich. Vollkommen lautlos glitt der tonnenschwere Block zur Seite und gab den Blick auf die ersten Stufen einer schmalen, steil in eine dunkle Tiefe hinabführende Treppe frei.

»Großer Gott!« flüsterte Atons Vater. »Das ... das kann nicht sein. Aber das ist ... das ist doch ...«

»Das Grab des Echnaton«, sagte Petach. Ein feierlicher Ernst schwang in seiner Stimme mit, aber auch etwas, was fast wie Stolz klang. »Jahrtausendelang haben die Menschen danach gesucht, aber es wurde nie gefunden. Sie und Ihr Sohn sind die ersten Sterblichen, die es zu Gesicht bekommen werden.«

»Hier?!« murmelte Atons Vater fassungslos. Er wirkte so erschüttert wie nie zuvor im Leben. »Es ist ... hier? Es war die ganze Zeit über hier? Direkt unter unseren Füßen? Aber Tutanchamun -«

»- war Echnatons Bruder«, unterbrach ihn Petach sanft. Er lächelte. »Er hat den Mördern seines Bruders nie verziehen, aber er war nicht stark genug, sie zur Verantwortung zu ziehen. Alles, was ihm blieb, war, Echnaton und seine Gemahlin zu bestatten, wie es einem Pharao gebührte. So ließ er sein eigenes Grab über dem Echnatons errichten, in der Hoffnung, daß die, die vielleicht kommen, es zu plündern, sich von einem kleinen Schatz blenden lassen und so erst gar nicht nach dem wirklichen suchen.«

»Unfaßlich«, murmelte Atons Vater. »Und es ist ... es ist wirklich dort unten?«

Petach nickte. Hintereinander und schweigend begannen sie die Treppe hinabzusteigen.

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