Eine Nacht im Hotel

Sie verließen das Haus und wenige Augenblicke später die Seitenstraße, ohne noch einmal auf einen der Unheimlichen zu stoßen oder sie auch nur zu hören. Sascha war mit einem Wagen gekommen, dessen Kennzeichen verriet, daß sie ihn hier in Kairo gemietet hatte, der aber ansonsten wie zum Verwechseln ihrem eigenen, weißen Toyota glich. Obwohl es im Moment wahrlich andere Dinge gab, über die sie zu reden hatten, machte Aton eine entsprechende Bemerkung, auf die Sascha mit einem Lächeln und den Worten antwortete: »Ich mag dieses Modell, weißt du? Es erinnert mich an meines. Außerdem gefällt mir der Werbespruch.«

»Nichts ist unmöglich«, sagte Aton. Er sah Sascha bei diesen Worten scharf an, und als sich an ihrem Lächeln nichts änderte, fügte er etwas lauter hinzu: »Vielleicht abgesehen davon, daß wir uns andauernd rein zufällig über den Weg laufen. Noch dazu an Orten, die dreitausend Kilometer auseinander liegen.«

»Wer sagt denn, daß das Zufall ist?« erwiderte Sascha. Sie weidete sich einen Moment lang sichtbar an seinem verblüfften Ausdruck, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.

»Ich glaube dir kein Wort«, sagte Aton unvermittelt.

Sascha blinzelte. »Aber ich habe doch gar nichts gesagt«, protestierte sie.

»Nicht einmal das glaube ich dir«, maulte Aton. »Hier stimmt doch etwas nicht.«

Sascha machte ein unglückliches Gesicht. »Ich will mich ja nicht beschweren, aber ein ganz kleines Dankeschön wäre vielleicht angebracht«, sagte sie. »Immerhin habe ich dir gerade -«

»- das Leben gerettet, ich weiß«, unterbrach sie Aton unfreundlich. »Das scheint ja deine Lieblingsbeschäftigung zu sein.«

Saschas Lächeln erlosch. Seine Worte mochten sie getroffen haben. Sie machte keine Anstalten, von sich aus irgendeine Erklärung abzugeben.

»Wie kommst du hierher?« fragte Aton scharf. Er war zornig. Der überstandenen Todesangst folgte nur eine ganz kurze Erleichterung, die fast übergangslos in Ärger, ja beinahe Wut umschlug. Er wußte, daß er Sascha unrecht tat. Von allen Beteiligten an dieser Geschichte war sie vermutlich die, der er noch am meisten vertrauen konnte. Aber er war es endgültig leid, unentwegt belogen, hintergangen, mit Halbwahrheiten und Ausflüchten abgespeist zu werden. Er hatte sich zwar damit abgefunden, einer der Hauptdarsteller in einer Geschichte zu sein, in der er nicht mitspielen wollte und die ihn seiner Meinung nach auch gar nichts anging, aber wenn sich das Schicksal schon einen so bösen Scherz mit ihm erlaubte, so hatte er doch wenigstens einen Anspruch darauf, zu wissen, warum. »Was tust du hier?« fragte er noch einmal. »Und jetzt erzähl mir bitte nicht, daß es Zufall ist oder daß du uns gefolgt bist. So viele Zufälle gibt es nämlich gar nicht, und du hast ganz bestimmt nicht im selben Flugzeug gesessen wie Petach und ich.«

»Nein«, antwortete Sascha. Sie trat behutsam auf die Bremse und lenkte den Wagen an den Straßenrand. »Das habe ich nicht. Und was ich hier tue?« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte wieder. »So genau weiß ich das selbst nicht. Das heißt«, fügte sie hastig hinzu, als Aton sie unterbrechen wollte, »ich weiß es schon. Ich weiß nur nicht, ob es besonders klug ist.«

»Ich will jetzt endlich wissen, was das alles bedeutet«, beharrte Aton. Er wußte, daß er sich Sascha gegenüber ungerecht verhielt, aber er war einfach nicht fähig, etwas dagegen zu tun. Und auch Sascha schien das zu fühlen, denn etwas in ihrem Blick änderte sich. Die leise Verärgerung, die er bisher darin gelesen hatte, verschwand und machte einem Ausdruck von Verständnis und Mitgefühl Platz, das Aton betroffen machte. Er wußte, wie gemein er sich benahm. Aber es gab Situationen, in denen es einfach erleichterte, ungerecht zu sein, und dies war eine davon. Vielleicht hätte es ihn ebenso erleichtert, Sascha einfach zu umarmen und sich an ihrer Schulter auszuweinen, aber dazu war er nicht der Typ, auch wenn er das fast bedauerte.

»Also gut«, sagte Sascha schließlich. »Ich bin Petach und dir vom Flughafen aus nachgefahren, aber ich konnte nichts tun. Du weißt ja selbst am besten, was passiert ist.« Sie lächelte entschuldigend. »Nachdem sie Petach überwältigt hatten, bin ich einfach den Männern nachgelaufen, die dir nachgelaufen sind. So einfach ist das.«

Aton hätte ihr so gerne geglaubt. Aber er konnte es nicht. »Das ist unmöglich«, sagte er. Jeder Vorwurf und alle Schärfe waren aus seiner Stimme verschwunden. Was jetzt noch darin zu hören war, war eine Mischung aus Trauer und Enttäuschung. »Du warst nicht in dem Flugzeug, das Petach und ich genommen haben. Und die nächste Maschine geht erst heute früh.«

»Ich war im Flugzeug davor«, antwortete Sascha.

»Wie bitte?« sagte Aton überrascht.

Sie seufzte. »Es war eine ziemlich verrückte Idee, ich weiß. Und vielleicht nicht die beste, die ich in meinem Leben gehabt habe. Nachdem du aus dem Hotel verschwunden warst, habe ich mich an den Anruf erinnert. Petach hatte gesagt, daß er am Flughafen auf dich wartet. Und nach allem, was passiert ist, war es nicht besonders schwer, zu erraten, wohin ihr wolltet.«

»Woher wußtest du, daß ich mich mit Petach treffe?« fragte Aton.

»Der Portier hat euch gesehen«, antwortete Sascha. »Er ist vielleicht alt, aber er hat gute Augen. Er hat Petach sehr genau beschrieben. Ich wußte sofort, daß er es war.«

Der Portier? dachte Aton. Der Portier in einem Hotel, das es gar nicht mehr gab? Das eine Ruine gewesen war, als er es zuletzt betreten hatte? Und in dem ganz bestimmt kein Portier gewesen war? Aber dann dachte er an all die anderen unheimlichen Dinge, die ihm widerfahren waren, sobald sich Petach in seiner Nähe aufhielt, und sein Mißtrauen wurde zum ersten Mal erschüttert. »Aber wieso -?«

Sascha unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Du vergißt schon wieder, wer ich bin«, sagte sie. »Vielleicht bin ich nicht ganz so gewitzt wie James Bond und seine Kollegen, aber zwei und zwei zusammenzählen kann ich auch. Es war nicht besonders schwer, beim Flughafen anzurufen und zu erfahren, daß auf deinen und Petachs Namen zwei Tickets nach Kairo gebucht waren. Also habe ich das einzige getan, was mir logisch erschien: Ich bin in die nächste Maschine gestiegen und hierhergeflogen.« Sie lächelte. »Da ich vor euch hier war, hatte ich auch noch Zeit, den Wagen zu mieten. Und wie du eben erfahren hast, können wir ihn sehr gut gebrauchen. Du siehst - es gibt keine großen Geheimnisse. Nur ein bißchen stinknormale Polizeiarbeit.«

Das klingt beinahe zu überzeugend, dachte Aton. Und es ließ immer noch zu viele Fragen offen. Aber er schwieg, und Saschas Lächeln wurde noch trauriger.

»Du mißtraust mir«, sagte sie. Sie nickte. »Ich kann das verstehen. Wahrscheinlich kannst du niemandem mehr trauen, nach allem, was man dir angetan hat.«

»So ist es nicht«, erwiderte Aton hastig. »Es ist nur ...« Er suchte einen Moment nach Worten. »Ich verstehe nicht, warum du es überhaupt getan hast.«

»Was? Daß ich dir gefolgt bin?«

Aton nickte.

Wieder dauerte es eine Weile, bis Sascha fortfuhr.

»Ich habe gar nicht nachgedacht, sondern das erste getan, was mir richtig erschien. Es ist ... alles so unglaublich. Ich konnte nicht einfach so tun, als wäre das ein ganz normaler Kriminalfall, und anderen die Arbeit überlassen. Das ist vielleicht das größte Abenteuer, das je ein Mensch erlebt hat, mit Sicherheit aber das größte, das ich erleben werde.«

Aton sah sie ungläubig an. »Du hast es aus Abenteuerlust getan?«

»Aton, ich habe eine lebende Sphinx gesehen!« antwortete Sascha. Sie hob erregt die Hände. »Ich bin einer wandelnden Mumie begegnet. Ich habe Dinge erlebt, die ich noch vor ein paar Tagen für völlig unmöglich gehalten hätte - über die ich vermutlich gelacht hätte, hätte sie mir jemand erzählt. So mußte ich dir einfach folgen.«

So unsicher diese Worte auch klangen, sie überzeugten Aton weit mehr als alles, was sie zuvor gesagt hatte. Das konnte er verstehen. Es beantwortete noch immer nicht alle Fragen, war aber doch viel mehr als irgendwelche logischen Erklärungen.

»Das war nicht besonders klug von dir«, sagte er.

Sascha schwieg, aber er las die Frage in ihren Augen und fuhr fort: »Jetzt werden sie auch hinter dir her sein.«

»Das fürchte ich auch«, sagte Sascha. Aber sie lächelte dabei, und nach einem kurzen Augenblick fügte sie hinzu: »Ich habe nämlich nicht vor, dich auch nur noch eine Sekunde aus den Augen zu lassen.« Sie schüttelte spöttisch den Kopf. »Und ich dachte immer, man müßte nur auf kleine Kinder ununterbrochen aufpassen. Aber wenn man dich auch nur einen Moment allein läßt, hast du nichts Besseres zu tun, als dich mit irgendwelchen dahergelaufenen Göttern anzulegen.«

Eine Sekunde lang sah Aton sie mit offenem Mund an, erst dann registrierte er das spöttische Glitzern in ihren Augen. Er lachte, und wenn er es auch mehr tat, weil er spürte, daß sie es von ihm erwartete, als etwa, weil ihm wirklich nach Lachen zumute gewesen wäre, war es doch ungemein erleichternd, denn es löste die unangenehme Spannung, die sich zwischen ihnen zu entwickeln begonnen hatte.

»Wir sollten weiterfahren«, sagte Sascha und streckte die Hand nach dem Schalthebel aus, aber Aton hielt sie zurück. Sie befanden sich jetzt auf einer breiten, in Anbetracht der vorgerückten Stunde sogar reichlich belebten Straße, und er glaubte nicht, daß sie im Moment in unmittelbarer Gefahr waren. Seine Verfolger wurden zwar immer dreister, schienen aber die Öffentlichkeit noch immer zu meiden, wo es ging. Vermutlich war das auch der einzige Grund, aus dem er ihnen bisher hatte entkommen können. Hätten sie überall und jederzeit nach Belieben zuschlagen können, hätte er keine Chance gehabt. »Und wenn ich das nicht will?« fragte er.

»Was? Daß ich weiterfahre?«

Aton machte eine ärgerliche Geste. »Du weißt genau, was ich meine. Es ist toll, daß du mir hilfst. Ich bin wirklich sehr dankbar, aber ich will nicht, daß du auch in Gefahr gerätst.«

»Ich kann schon ganz gut auf mich aufpassen«, beruhigte ihn Sascha. »Außerdem werde ich bei dir bleiben, ob du es nun willst oder nicht.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und spürte selbst, daß ihm die Berührung unangenehm war, denn sie zog den Arm rasch wieder zurück, rettete sich in ein abermaliges Lächeln und sagte: »Betrachte mich einfach als deinen Schutzengel. Den kann man auch nicht wegschicken, wenn einem gerade danach ist.«

Aton protestierte nicht mehr. Zum einen wußte er, daß es ohnehin sinnlos gewesen wäre - und außerdem wollte er es gar nicht wirklich. Er hatte diese Worte nur zu Sascha gesagt, weil er glaubte, es sagen zu müssen, ihr und vor allem sich selbst gegenüber. Aber tief in sich drin war er unendlich erleichtert, nicht mehr allein zu sein, eine Freundin, eine Verbündete zu haben. »Wohin fahren wir?« fragte er.

»Zum Palast-Hotel«, antwortete Sascha.

Aton erschrak. »Zu meiner Mutter? Ich ... ich will nicht, daß sie mit hineingezogen wird.«

»Aber das ist sie doch längst«, antwortete Sascha. Sie legte den Gang ein und fuhr los. »Willst du es wirklich darauf ankommen lassen, daß Petach oder die anderen ihr etwas antun?«

»Aber warum sollten sie das?«

Sascha lachte wieder, aber es klang jetzt nicht sehr amüsiert. Als sie antwortete, tat sie es in einem Tonfall, der Aton klarmachte, daß seine Frage reichlich naiv gewesen war. »Wenn sie dich nicht bekommen können, nehmen sie vielleicht deine Mutter gefangen«, sagte sie. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Wir müssen sie warnen. Wir werden zu ihr fahren und ihr alles erzählen, und dann fahren wir gemeinsam zu deinem Vater.«

»Der wird uns genausowenig helfen können«, sagte Aton leise.

»Da bin ich nicht sicher«, erwiderte Sascha. »Weißt du, irgend etwas fehlt noch in dem Ganzen. Petach hat dir etwas verschwiegen, und ich glaube, daß deine Eltern wissen, was es ist.«

Natürlich war Aton auch schon von sich aus zu dieser Erkenntnis gelangt - sie war letztendlich der Grund, aus dem er hier in Ägypten war. Er glaubte sogar ungefähr zu ahnen, wie die Erklärung aussehen mochte, aber dieser Gedanke war noch zu vage, um ihn auszusprechen. Er wußte nur, daß es richtig war, daß er jetzt hier war; nicht unbedingt hier in dieser Stadt, aber in diesem Land. Alles hatte in Ägypten begonnen, vor mehr als dreitausend Jahren, und hier würde es enden. Das Gefühl war durch keinerlei Wissen begründet, aber sehr sicher.

Die Fahrt zum Palast-Hotel dauerte noch eine gute halbe Stunde. In dieser Stadt schien es so etwas wie eine Geschwindigkeitsbeschränkung nicht zu geben, und der Verkehr war jetzt so dicht, daß sie nur langsam vorwärtskamen. Zudem verfuhr sich Sascha ein paarmal, und da sie beide des Ägyptischen nicht mächtig waren, fiel es ihnen schwer, sich nach dem richtigen Weg zu erkundigen. Sie waren beide sehr erleichtert, als der große, in maurischem Stil errichtete Bau schließlich vor ihnen auftauchte. Sascha lenkte den Wagen direkt vor den hellerleuchteten Haupteingang. Ein livrierter Page kam ihnen entgegen und nahm wortlos die Autoschlüssel, die Sascha ihm zusammen mit einem kleinen Geldschein überreichte, und sie stiegen beide aus und betraten das große, taghell erleuchtete Foyer. Der Tagesanbruch war nicht mehr fern, trotzdem herrschte hier noch ein reges Kommen und Gehen. Leise europäische Musik erfüllte die Luft, an einigen kleinen Tischchen saßen Gäste und unterhielten sich, und der Empfang, auf den Aton zielsicher zuging, war beinahe größer und auf jeden Fall prachtvoller als die Abfertigungsschalter im Flughafen. Das Personal war ebenfalls europäisch gekleidet und von ausgesuchter Höflichkeit. Es dauerte nur einen Augenblick, bis Aton einen Hotelangestellten gefunden hatte, der ein fast akzentfreies Deutsch sprach und sich zuvorkommend nach seinen Wünschen erkundigte.

Aber damit hörten die erfreulichen Überraschungen, die das Palast-Hotel für ihn bereithielt, auch schon auf. Seine Mutter war nicht mehr hier. Der Angestellte sah geduldig mehrmals in seinem Computer nach und zeigte Aton schließlich sogar das Gästebuch, als dieser hartnäckig darauf beharrte, daß seine Mutter einfach hier sein müßte. Aber die Unterschrift auf dem Kontrollblatt bewies ihm, daß der Mann die Wahrheit sprach: Atons Mutter war am Abend zuvor abgereist, obwohl sie für eine ganze Woche gebucht und auch im voraus bezahlt hatte. Der Mann schien Atons Enttäuschung zu spüren, denn er tat etwas, wozu er gar nicht verpflichtet gewesen wäre: Er rief einen seiner Kollegen herbei und unterhielt sich einige Augenblicke auf arabisch mit ihm, dann erklärte er Aton, daß seine Mutter nach einem Telefonanruf ziemlich überhastet ihre Sachen gepackt und ausgecheckt hatte. Er tat sogar noch ein übriges. Zwei oder drei Telefonate (die Sascha mit einem ansehnlichen Bakschisch belohnte) brachten die Auskunft, daß seine Mutter nicht mit dem Taxi zum Flughafen gefahren war, sondern sich einen Mietwagen und einen Fahrer besorgt hatte. Das war alles, was der Mann Aton mitteilen konnte, doch obwohl ihm diese Informationen erbärmlich dürr vorkamen, schienen sie Sascha eher zu erfreuen.

»Damit dürfte ziemlich klar sein, wo sie ist«, sagte sie.

»So?« fragte Aton mißmutig.

»Sie ist zurück zur Baustelle gefahren«, sagte Sascha.

»Wie kommst du darauf?«

»Wohin sollte sie wohl sonst?« erwiderte Sascha. »Glaubst du, sie hat das Hotel mit all ihrem Gepäck und mitten in der Nacht verlassen, um sich die Pyramiden anzusehen oder den Assuan-Damm?«

»Dann müssen wir ihr nach«, sagte Aton.

Sascha nickte. »Aber nicht heute«, antwortete sie. »Wir brauchen beide Schlaf. Du vor allem«, fügte sie in einem Tonfall hinzu, der keinen Widerspruch duldete.

Aton protestierte trotzdem, wenn auch nur sehr halbherzig. Er war tatsächlich sehr müde.

Sascha wandte sich erneut an den Hotelangestellten und mietete für sich und Aton ein Zimmer. Sie bestand darauf, daß es einen zweiten Ausgang hatte und in der Nähe des Aufzugs lag, was den Mann zu einem erstaunten Stirnrunzeln veranlaßte. Aber er händigte ihr höflich einen Schlüssel aus, und schon wenig später fuhren sie im Lift nach oben.

»Vielleicht hätten wir nicht hierbleiben sollen«, sagte Aton. »Petach wird zuallererst in diesem Hotel nach mir suchen.«

»Petach ist tot«, erinnerte ihn Sascha.

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Aton heftig. »So schnell bringt ihn nichts um. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt sterben kann.«

»Wenn das wirklich so ist, wird er uns sowieso finden«, antwortete Sascha ruhig. »Ganz egal, wo wir uns verstecken.«

»Aber wir -«

»Wir können in diesem Hotel bleiben und uns ausschlafen«, unterbrach ihn Sascha, »oder mitten in der Nacht losfahren, bis wir vor Erschöpfung nicht mehr weiterkönnen und dann darauf hoffen, dort draußen in der Wüste nicht überfallen zu werden. Was ist dir lieber?«

Ihre Worte waren auch diesmal von einer so zwingenden Logik, daß es Aton einfach nicht möglich war, zu widersprechen. Trotzdem gefiel ihm die Idee nicht, in diesem Hotel zu bleiben. Aber Sascha hatte natürlich recht - wenn ihre Verfolger tatsächlich so übermächtig waren, wie Aton mittlerweile glaubte, dann wären sie tatsächlich nirgendwo sicher und hätten nur noch die Wahl, ununterbrochen in Bewegung zu bleiben, bis sie eben, ganz wie Sascha gesagt hatte, vor lauter Erschöpfung einfach nicht weiterkonnten.

Sie betraten das Zimmer, das im vierten Stock des Hotels lag und angefangen vom Farbfernseher bis hin zu einer überdimensionalen Badewanne jeden nur erdenklichen Luxus bot. Sascha schien sich jedoch viel mehr für das Fenster und den zweiten Ausgang zu interessieren, der im anderen Teil der Suite lag. Sie kontrollierte beides sehr sorgfältig, überzeugte sich pedantisch davon, daß Türen und Fenster sicher verschlossen waren, und deutete schließlich zuerst auf das Bad, dann auf den Ausgang. »Ich muß noch einmal fort«, sagte sie. »Nicht sehr lange, keine Sorge. Aber es ist besser, du schließt ab und läßt niemanden herein, ganz egal, wen.«

»Wohin gehst du?« fragte Aton erschrocken. Der Gedanke, allein hier zu bleiben, war ihm mehr als unangenehm.

»Ein paar Sachen besorgen«, erwiderte Sascha. Sie bemühte sich, ein beruhigendes Gesicht zu machen. »Ich habe unten einen Laden entdeckt, der offensichtlich noch auf hat. Du brauchst frische Kleider, und wir benötigen auch noch einige Dinge für die Reise. Wie weit ist die Baustelle deines Vaters entfernt?«

Aton überlegte einen Moment. »Vier- oder fünfhundert Kilometer«, antwortete er schließlich.

»Zu Hause wären das wenige Stunden«, sagte Sascha. »Aber ich fürchte, hier ist es eine gute Tagesreise. Ich muß mich um einen anderen Wagen kümmern. Und eine Ausrüstung zusammenstellen. Aber keine Sorge, ich bin bald zurück. Warum nimmst du nicht ein Bad, während ich fort bin?«

Aton wollte nicht, daß sie ging. Er wollte um nichts in der Welt allein bleiben. Aber er kannte Sascha mittlerweile gut genug, um erst gar nicht zu versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Meinetwegen«, sagte er in wenig begeistertem Ton.

»Denk dran, laß niemanden herein«, schärfte ihm Sascha noch einmal ein. Sie schwenkte ihren Zimmerschlüssel. »Ich bin gleich zurück.«

Sie ging. Aton hörte, wie sie von außen abschloß, aber er blieb noch eine ganze Weile stehen und starrte die geschlossene Tür an. Ein sonderbares Gefühl von Einsamkeit beschlich ihn. Obwohl er vor einer halben Stunde erst selbst darauf bestanden hatte, daß Sascha sich nicht mehr um ihn kümmerte, wäre er ihr nun am liebsten nachgelaufen. Erst jetzt, als sie nicht mehr da war, spürte er, wie sicher und geborgen er sich in ihrer Nähe gefühlt hatte. Mit Sascha schien noch etwas das Zimmer verlassen zu haben.

Er tat, was sie ihm geraten hatte. Aton ging ins Bad und ließ die Wanne ein, und er hatte sich kaum in das warme Wasser sinken lassen, da fühlte er nicht nur eine wohlige Entspannung, sondern auch eine tiefe, beruhigende Müdigkeit. Seine Glieder wurden schwer, und auch seine Gedanken begannen, eigentlich zum ersten Mal, seit er das Flugzeug verlassen hatte, wieder in ruhigeren, geordneteren Bahnen zu laufen.

Er wurde schläfrig. Wieder aus der Wanne zu steigen und in den Hotelbademantel zu schlüpfen, der griffbereit an einem Haken neben der Tür hing, kostete fast seine ganze Kraft. Er taumelte mehr zum Bett, als er ging, und er schlief ein, noch bevor sein Kopf das Kissen richtig berührte.

Er erwachte kaum eine Stunde später, und er spürte sofort, daß er noch immer allein war. Sein Herz klopfte. Er hatte wieder seinen Traum gehabt, konnte sich jedoch diesmal nicht an Einzelheiten erinnern, sondern nur an ein Gefühl von Furcht und Verfolgtwerden, und sein erster Blick galt der zweiten Hälfte des Bettes neben sich. Es war unberührt. Sascha war nicht da, und sie war auch nicht da gewesen, denn Decke und Kissen lagen noch so sauber bezogen und gespannt da wie vorhin.

Aton richtete sich auf und sah auf die Uhr. Es war nach vier. Seit Saschas Fortgang waren gute zwei Stunden verstrichen, aber die Beunruhigung, die sich bei diesem Gedanken in ihm breitmachte, wich fast sofort wieder, als sein Blick auf den Stuhl neben dem Bett fiel. Sascha war eindeutig hier gewesen, denn auf dem Stuhl lagen die frischen Kleider, die sie ihm versprochen hatte: ein weißes Hemd in einer durchsichtigen Zellophantüte, sorgsam gefaltete Jeans und kräftiges Schuhwerk, das in einem Land wie diesem beinahe das Wichtigste darstellte. Er fragte sich, warum sie wieder gegangen war.

Obwohl er noch immer müde war, stand er auf. Mit hängenden Schultern schlurfte er ins Bad, fand seine Kleider genau dort, wo er sie einfach fallen gelassen hatte, bevor er in die Wanne gestiegen war, und begann seine Taschen zu leeren. Sie enthielten einige wenige Kleinigkeiten, darunter auch die mittlerweile vollkommen zerknitterte Visitenkarte, die Sascha ihm an jenem schicksalhaften Abend vor dem Haus seiner Eltern gegeben hatte. Aton nahm alles mit ins Zimmer zurück, stopfte seine spärlichen Habseligkeiten in die Tasche der neuen Jeans und entdeckte zu seiner Überraschung auch noch eine warme, pelzgefütterte Jacke über der Stuhllehne, die er vorher gar nicht gesehen hatte. Sascha hatte wirklich an alles gedacht. Hier in Ägypten war es zwar nicht annähernd so kalt wie zu Hause, aber auch hier herrschte Winter, und in der Nacht konnten die Temperaturen in der Wüste empfindlich tief fallen. Seine Schulter tat weh. Aton strich mit den Fingerspitzen über die winzige, harte Stelle, verschwendete aber kaum einen Gedanken daran. Die Verletzung meldete sich immer wieder einmal. Der winzige Steinsplitter mußte wohl auf einen Nerv drücken, denn er fühlte ihn um so unangenehmer, je erschöpfter - oder auch erregter - er war.

Auf dem Tisch entdeckte Aton eine zweite Überraschung. Sascha hatte einen kalten Imbiß gebracht. Sofort nach dem ersten Bissen meldete sich sein Hunger. Mit Ausnahme einer Kleinigkeit, die sie im Flugzeug bekommen hatten, hatte er die ganze Zeit praktisch nichts gegessen, und sein Magen begann nun hörbar zu knurren und forderte sein Recht. Aton hatte den Teller fast zur Gänze geleert, als er ein Kratzen an der Tür hörte.

Erschrocken verharrte er mitten in der Bewegung. Das Geräusch wiederholte sich. Es war nicht sehr deutlich, aber was er hörte, das reichte aus, ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Etwas kratzte und scharrte am Holz der Tür, und dazu glaubte er ein Hecheln und Schnüffeln zu vernehmen. Unsicher stand er auf, ging langsam auf die Tür zu und blieb auf halber Strecke wieder stehen. Was ihn zögern ließ, das war nicht allein die Erinnerung an Saschas Worte, auf gar keinen Fall die Tür zu öffnen, ganz egal, wer draußen war oder was geschah. Dieses Geräusch machte ihm einfach angst. Aton hörte es weiter scharren und kratzen, und seine Phantasie lieferte die passenden Bilder dazu, Bilder von einem großen, unmenschlichen Wesen mit glühenden Augen und krallenbewehrten Pfoten. Was immer auch dort draußen war, es war kein Mensch.

Ganz langsam bewegte er sich weiter, und ebenso langsam, beinahe wie gegen seinen eigenen Willen, hob er die Hand und streckte sie nach dem Türgriff aus. Erneut glaubte er Saschas Warnung zu hören, und das Kratzen und Scharren wurde lauter, seine Angst verdichtete sich zu einem fast greifbaren Gefühl, das ihm den Atem abzuschnüren schien. Aber zugleich wußte er, daß er die Tür einfach aufmachen mußte.

Was immer dort draußen auf ihn wartete, konnte nicht so schlimm sein wie die Schreckensbilder, die ihm seine eigene Phantasie vorgaukelte.

Mit zitternden Fingern drehte er den Schlüssel herum, drückte die Klinke hinunter und riß die Tür mit einem Ruck auf.

Er sah nur einen Schatten und nicht lange genug, um wirklich Genaues zu erkennen. Aton gewahrte etwas Großes, mißgestaltet Finsteres, das erschrocken vor ihm zurückprallte und dann schnell wie ein Wirbelwind davonhuschte, mit bizarren, vollkommen falsch wirkenden Bewegungen, etwas, was so groß war wie ein Mensch, aber nicht richtig proportioniert, und was mit hüpfenden Sprüngen um die Biegung des Flures verschwand. Das Ganze ging so schnell, daß Aton im allerersten Moment nicht einmal sicher war, ob er das Ding überhaupt gesehen hatte oder ihm seine Phantasie nur einen bösen Streich spielte. Aber dann sah er etwas, was seine Zweifel schlagartig beseitigte. Der Hotelflur war mit einem flauschigen, hellen Teppichboden ausgelegt, und unmittelbar vor der Tür seines Zimmers begann eine Spur. Sie war breit, und sie stammte von großen, feuchten Füßen - und es war ganz eindeutig nicht die Spur eines Menschen!

Langsam ließ er sich vor dem Fußabdruck in die Hocke sinken und streckte die Hand nach ihm aus, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Die Abdrücke ähnelten vage denen eines Hundes, aber sie waren so absurd groß, daß allein diese Größe die Ähnlichkeit schon wieder zunichte machte. Und das war noch nicht einmal das Unheimlichste. Das wirklich Schlimme war, daß die Spur zwar vor Atons Tür begann und hinter der Biegung des Flures verschwand, aber nirgendwo herkam, als wäre das Geschöpf geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht!

Aber wenn es das konnte und wenn es tatsächlich das war, wofür er es hielt, warum war es dann nicht einfach bei ihm im Zimmer aufgetaucht, um ihn zu holen, und vor allem: Warum war es geflohen, als er die Tür aufgemacht hatte?

Aton registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, fuhr herum und verlor prompt das Gleichgewicht, denn er hockte ja noch immer so da, wie er sich nach dem Fußabdruck gebückt hatte. Unsanft landete er auf dem Hosenboden, unterdrückte einen Schmerzenslaut - und atmete eine Sekunde später hörbar erleichtert auf.

Er hatte sich die Bewegung nicht eingebildet. Hinter ihm war tatsächlich etwas, aber es war kein Ungeheuer, sondern das Gegenteil. Hinter ihm stand eine kleine, schokoladenbraune Katze mit gelben Augen, die ihn mit jener gutmütigen Herablassung musterte, zu der von allen Geschöpfen auf der Welt nur Katzen imstande sind. Das Tier bewegte sich nicht, sondern stand einfach da und sah ihn an, aber es war etwas an der Art, auf die es das tat, was Atons Erleichterung sehr schnell wieder in Nervosität und Beunruhigung verwandelte.

Hastig richtete er sich auf und wich einen Schritt vor der Katze zurück. Sie rührte sich noch immer nicht, und Aton rief sich in Gedanken zur Ordnung. Seit seinem ersten Aufenthalt in Ägypten wußte er, daß der Anblick einer Katze hier zu den natürlichsten Dingen der Welt gehörte. Sie waren vielleicht keine heiligen Tiere mehr, wurden aber beinahe überall und beinahe jederzeit geduldet. Am Anblick dieser Katze war wirklich nichts Besonderes - vielleicht davon abgesehen, daß es ein außergewöhnlich schönes Tier war. Aton fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Gesicht, warf noch einen letzten, aufmerksamen Blick in die Richtung, in die der Schatten verschwunden war, und ging dann in sein Zimmer zurück. Sorgsam verschloß er die Tür hinter sich und legte sich, ohne das Licht auszuschalten, wieder ins Bett. Er war ganz sicher, daß er sowieso keinen Schlaf mehr finden würde, aber er irrte sich.

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