Es gab noch etwas, was Aton im Zusammenhang mit Petach gewußt und wieder vergessen hatte: Der Ägypter haßte es, schnell zu fahren. Der Mercedes hätte auf der Autobahn gut und gerne seine zweihundertfünfzig geschafft, aber Petach fuhr nicht auf die Autobahn, sondern blieb den ganzen Tag über auf Nebenstraßen, und die Tachometernadel kletterte nie über die Siebzig. Die Nacht würde hereinbrechen, lange ehe sie zu Hause waren. Aton beherrschte sich tapfer, keine entsprechende Bemerkung zu machen, aber schließlich war seine Geduld erschöpft.
»Warum fahren Sie so langsam?« fragte er.
Petach löste für einen Moment der Blick von der Straße, sah ihn an und lächelte flüchtig. »Das tun wir nicht.«
»Wir fahren nicht einmal siebzig!« protestierte Aton.
»Das ist schnell genug«, erwiderte Petach gelassen. »Wenn man es genau nimmt, schon viel zu schnell. Hast du eigentlich eine Ahnung, was für eine ungeheure Geschwindigkeit das ist?«
Aton verzichtete auf die schnippische Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Etwas an Petachs Art zu sprechen machte ihm klar, daß es vollkommen sinnlos war, darüber mit ihm zu diskutieren. Trotzdem sagte er nach einer Weile: »Wären wir auf der Autobahn gefahren, wären wir längst da.«
Petach schüttelte abermals den Kopf. »Warum habt ihr es immer so furchtbar eilig? Es spielt überhaupt keine Rolle, ob man eine Stunde früher oder später ankommt.«
Aton gab auf. Wenn er es übertrieb, dachte er, brachte es Petach glatt fertig und hielt an, um ihm einen Vortrag über die Gefahren des Straßenverkehrs zu halten. Er drehte sich halb im Sitz herum und blickte in die Dämmerung hinaus.
Vielleicht hätte er das besser nicht getan. Der Anblick der am Wagen vorüberhuschenden Schemen löste eine ganze Reihe unguter Erinnerungen in Aton aus - Erinnerungen an gestern, an seinen Traum und den Schatten, den er im Internat zu sehen geglaubt hatte. Und ...
»Sie haben mit Zombeck über den Vorfall im Museum gesprochen, nicht wahr?« fragte er plötzlich.
Jetzt schien ihm alles ganz klar. Die Bilder hatten nicht zufällig auf Zombecks Schreibtisch gelegen, als er das Büro betrat. »Ich habe es Ihnen zu verdanken, daß er meinem Vater nichts davon erzählt.«
Petach lächelte. »Sagen wir: Ich habe ihn davon überzeugt, daß dich keine Schuld an dem trifft, was geschehen ist«, erwiderte er ausweichend. »Es war nicht besonders schwer.«
»Zombeck überzeugt?« fragte Aton ungläubig. Niemand überzeugte Direktor Zombeck von irgend etwas, wovon er sich nicht überzeugen lassen wollte, das war ein ehernes Gesetz. »Wie um alles in der Welt haben Sie das geschafft? Haben Sie ihm mit dem Fluch der Pharaonen gedroht?«
Petach lachte, aber er kam nicht mehr dazu, zu antworten. Ein harter Ruck ging durch den Wagen. Aton klammerte sich an seinem Sitz fest, während Petach fluchend mit dem Lenkrad kämpfte, das plötzlich in seiner Hand bockte und sich wild hin- und herzudrehen versuchte. Der Mercedes schlingerte, kam mit zwei Reifen von der asphaltierten Straße ab und drohte ganz auszubrechen. Im letzten Moment bekam Petach die Kontrolle über den schweren Wagen zurück, trat behutsam auf die Bremse und lenkte ihn an den Straßenrand.
Das spürbare Ruckeln des rechten Vorderrades und das hörbare Flap-flap erklärten Aton, daß sie einen Plattfuß hatten.
Petach zog mit einem unnötig harten Ruck die Handbremse an, als der Wagen am rechten Straßenrand zum Stehen gekommen war, und Aton entging auch nicht der nervöse Blick, den er in den Rückspiegel warf. Er wirkte sehr besorgt.
»Da siehst du, was ich meine«, sagte er. »Wären wir schneller gefahren, dann hätte ich den Wagen vielleicht nicht mehr abfangen können!«
Aton sagte nichts dazu. Das war nicht der wirkliche Grund für Petachs Sorge, das spürte er ganz deutlich.
Hastig löste er seinen Sicherheitsgurt und wollte die Hand nach dem Türgriff ausstrecken, aber Petach winkte ab.
»Bleib sitzen!« befahl er.
Seine Stimme war so scharf, daß Aton mitten in der Bewegung erstarrte und den Ägypter erstaunt anblickte. »Wir haben eine Reifenpanne«, sagte er. »Ich kann Ihnen helfen, das Rad zu wechseln.«
Petach schüttelte heftig den Kopf. »Das mache ich schon«, sagte er. »Du bleibst im Wagen!«
Der Ton, in dem er die Worte aussprach, machte sie eindeutig zu einem Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Aton ließ sich in seinem Sitz zurücksinken und sah dem Ägypter verwirrt zu, wie dieser die Fahrertür aufriß und aus dem Wagen stieg. Mit schnellen Schritten umkreiste Petach den Wagen und blickte mißmutig auf das rechte Vorderrad hinunter - aber erst, nachdem er einen raschen Blick in die Runde geworfen hatte. Irgend etwas stimmt nicht, dachte Aton. Petach benahm sich nicht wie ein Mann, der sich über einen platten Reifen ärgerte. Er benahm sich auch nicht wie jemand, dem plötzlich durch den Kopf geschossen war, was ihnen alles hätte passieren können, hätte er die Kontrolle über den Wagen verloren. Nein - er benahm sich ganz eindeutig wie jemand, der auf der Flucht war.
Aber vor wem?
Ohne auf Petachs strafenden Blick zu achten, öffnete Aton nun doch die Beifahrertür und stieg aus. Petach sagte nichts, sondern ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Aton folgte ihm. Der Ägypter schwieg immer noch, aber die Blicke, mit denen er ihn maß, als Aton sich wortlos vorbeugte und den Wagenheber aus der Halterung im Inneren des Kofferraums löste, waren sehr beredt. Aton hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß der einzige Grund, aus dem er nicht darauf beharrte, daß er wieder in den Wagen stieg und die Türen verriegelte, der war, daß er ihm dann womöglich hätte erklären müssen, warum er darauf bestand.
Während Petach scheinbar mühelos den schweren Ersatzreifen um den Wagen herumtrug, ließ sich Aton neben dem Mercedes in die Hocke sinken und suchte nach einer passenden Stelle, um den Wagenheber anzusetzen. Er fand keine.
Der Boden war vom letzten Regen so aufgeweicht, daß der Wagenheber fast zur Hälfte darin versank. Petach blickte Aton hilfesuchend an. Daß der Ägypter alles andere als ein praktisch veranlagter Mensch war, hatte Aton schon bei ihrem ersten Zusammentreffen herausgefunden. Um so mehr hatte es ihn gewundert, daß er das Rad ganz allein wechseln wollte.
»Sie müssen ihn wieder auf die Straße hinausfahren«, sagte er. »Hier ist es zu gefährlich.«
Petach nickte und wollte wieder um den Wagen herumgehen, aber Aton rief ihn noch einmal zurück. »Stellen Sie Ihr Warndreieck auf«, sagte er mit einer Geste auf die Kurve, die keine zwanzig Meter hinter ihnen lag. »Die Straße ist ziemlich schmal. Wenn da einer um die Ecke gefegt kommt, knallt er uns sonst ins Heck.«
Petachs Gesichtsausdruck wurde noch verdrießlicher, aber er sah ein, daß Aton völlig recht hatte, und kramte wortlos das Warndreieck und eine gelbe Blinkleuchte aus dem Kofferraum hervor. »Du bleibst beim Wagen«, schärfte er Aton ein, als er sich wieder aufrichtete. »Ganz egal, was passiert.«
Aton nickte, und Petach machte sich auf den Weg. Aton sah ihm nach, bis er hinter der Kurve verschwunden war, dann drehte er sich herum und blickte aufmerksam zum Waldrand hinüber. Er fragte sich, warum Petach vorhin so besorgt dorthin gesehen hatte, und er fragte sich erst recht, was die sonderbaren Worte des Ägypters zu bedeuten hatten. Was um alles in der Welt ging hier vor? Hätte er nicht gewußt, daß der Gedanke völliger Unsinn war, dann hätte er geschworen, daß er sich in Gefahr befand. Zumindest benahm sich Petach so, und seinem sonderbaren Benehmen und seinen noch sonderbareren Andeutungen nach mußte es eine erhebliche Gefahr sein.
Aber das war natürlich vollkommen ausgeschlossen. Die größte Gefahr, der sich Aton in den letzten zwei Jahren gegenübergesehen hatte, war die Tracht Prügel von Werner und dessen Spießgesellen gewesen. An ihm war weder etwas Besonderes, noch waren seine Eltern so vermögend, daß sich etwa eine Entführung gelohnt hätte. Außerdem kam so etwas ohnehin nur in Fernsehkrimis und schlechten Spielfilmen vor.
Eine Bewegung am Waldrand unterbrach Atons Gedanken.
Es war nur ein Huschen, das er kaum aus den Augenwinkeln wahrnahm; das Zittern eines Astes, das Fallen eines letzten Blattes, ein Schatten, der das schwindende Tageslicht für den Bruchteil eines Augenblicks völlig verdeckte. Aber er war sicher, es sich nicht eingebildet zu haben. Irgend etwas bewegte sich dort drüben, und plötzlich hatte er das intensive Gefühl, beobachtet zu werden.
Er sah nervös die Straße hinunter und dann wieder zum Waldrand. Das Gefühl, belauert zu werden, wurde stärker.
Und nun empfand er auch Angst. Eine gestaltlose, fast irreale Furcht, die auf dürren Spinnenbeinen in seine Seele kroch und ihn frösteln ließ. Das Tageslicht schwand so schnell, daß er zusehen konnte, wie es dunkler wurde. In das blasse Grau des Himmels mischte sich Schwarz, und das Grün des Waldrandes zerlief zu einem violetten, unheimlichen Farbton. Die Lücken zwischen den dichtstehenden Bäumen wirkten plötzlich wie schwarze Wunden in der Wirklichkeit, nicht einfach nur Dunkelheit, sondern klaffende Risse in der Welt, aus denen etwas Unsichtbares, Körperloses und ungemein Bedrohliches hervorzukriechen begann ...
Aton versuchte, den Gedanken als absurd abzutun. Aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Im Gegenteil. Seine Furcht wurde immer stärker, und er spürte, wie sein Herz zu klopfen begann und seine Handflächen feucht wurden. Wieder sah er die Straße hinunter. Von Petach war noch immer keine Spur zu sehen, dabei hätte er längst zurück sein müssen, selbst wenn er sich beim Aufstellen des Warndreiecks so ungeschickt anstellte, wie Aton vermutete.
Einen Moment lang überlegte er, ihm einfach nachzugehen, ganz egal, welche Vorhaltungen er sich dann anzuhören hatte. Aber der bloße Gedanke, sich vom Wagen zu entfernen, der inmitten dieser plötzlich so unheimlich gewordenen Dämmerung wie ein letztes Bollwerk der Wirklichkeit wirkte, erfüllte ihn mit schierem Grauen. Langsam, die Hände dicht gegen den kühlen Lack des Wagens gepreßt, tastete er sich an der Seite des Mercedes entlang und suchte nach dem Türgriff. Als er ihn gefunden hatte und niederdrückte, hörte er das Geräusch.
Aton erstarrte. Es war ein Laut, wie er ihn nie zuvor im Leben vernommen hatte - ein unheimliches Hecheln, wie das Atmen eines riesigen Hundes, aber langsamer, machtvoller und gleichzeitig irgendwie metallisch, als käme es aus einer Kehle aus Stahl. Atons Herz begann wie rasend zu schlagen, und er mußte all seinen Mut aufwenden, um sich herumzudrehen und in die Richtung zu blicken, aus der das Geräusch gekommen war.
Auf der anderen Seite der Straße stand eine Gestalt. Sie war zu weit entfernt und stand zu dicht am Waldrand, schon fast mit den Schatten der hereinbrechenden Nacht verschmolzen, als wäre sie selbst nicht mehr als ein Stück Dunkelheit, das für einen kurzen Moment zum Leben erwacht war, so daß Aton sie nicht deutlicher denn ebenfalls als Schatten erkennen konnte. Doch das wenige, was er sah, reichte, ihm einen Schrecken einzujagen.
Die Gestalt war riesig, und ihre scheinbare Unförmigkeit rührte von dem wallenden Umhang in der Farbe der Nacht her, unter dem sie sich fast zur Gänze verbarg. Und ihr Kopf ...
IHR KOPF!
Aton schrie gellend auf und prallte zurück, und in diesem Moment erwachte der Schatten aus seiner Reglosigkeit und hob den Arm. Eine gespreizte Hand deutete auf Aton, dann schlossen sich die Finger ganz langsam, als wollten sie etwas Unsichtbares packen und zerquetschen, und im selben Augenblick spürte Aton, wie ihm eine unsichtbare Macht den Atem abschnürte. Sein Schrei wurde zu einem Röcheln, dann zu einem wimmern, ehe er ganz verstummte. Keuchend hob er die Hand an den Hals, wie um an den unsichtbaren Fesseln zu zerren, aber unter seinen Fingern war nichts, nur seine eigene Haut, die er sich mit den Fingernägeln blutig kratzte, ohne es zu bemerken. Er taumelte weiter zurück, rang verzweifelt nach Atem und verlor schließlich auf dem morastigen Boden das Gleichgewicht. Mit hilflos rudernden Armen stürzte er nach hinten und schlug schwer in dem feuchten Schlamm auf. Ein scharfer Schmerz schoß durch seinen Rücken, als sich etwas Hartes durch seine Jacke bohrte, aber der Sturz hatte auch die unsichtbare Fessel gesprengt, die ihm die Kehle zudrückte. Plötzlich bekam er wieder Luft. Er atmete keuchend ein und aus, versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, verlor aber sofort wieder den Halt.
Aber noch während er stürzte, sah er, wie sich der Schatten weiter auf ihn zu bewegte. Er befand sich jetzt hinter dem Wagen, so daß Aton seine noch immer erhobene Hand nicht mehr sehen konnte, aber er wußte plötzlich, daß es allein dieser Umstand war, der ihn gerettet hatte. Und daß die erstickende, unsichtbare Macht sofort wiederkehren würde, sobald der Unheimliche das Hindernis hinter sich gebracht hatte und wieder in direkter Linie vor ihm stand.
Der Gedanke erfüllte ihn mit purer Todesangst, und diese gab ihm die Kraft, hochzukommen und auf den Waldrand zuzulaufen. Es waren nur wenige Meter, aber für Aton wurden sie zu Ewigkeiten. Der Schlamm schien sich an seinen Füßen festzusaugen, und er strauchelte immer wieder.
Auch als er den Waldrand erreichte und wie wild durch das dürre Geäst und Unterholz brach, wurde es nicht besser. Unter seinen Füßen war jetzt halbwegs fester Boden, aber die Zweige und Äste, die dürren Wurzeln und das trockene Unterholz schienen sich wie gierige Finger nach ihm auszustrecken und ihn festhalten zu wollen. Dornige Ranken zerkratzten sein Gesicht und rissen an seiner Jacke und seinem Haar, und es war so dunkel hier, daß er kaum die Hand vor den Augen sah. Zweimal prallte er im vollen Lauf gegen einen Baum, und schließlich stolperte er und fiel der Länge nach hin.
Seine Stirn schrammte unsanft an etwas Hartes, und für Augenblicke drohte er das Bewußtsein zu verlieren. Alles wurde unwirklich und finster um ihn herum, das bißchen Licht, das er noch sah, verblaßte, und er fühlte, wie eine trügerisch warme, wohltuende Dunkelheit nach seinen Gedanken griff und sie einzuhüllen begann. Nur das Wissen, nie wieder aus diesem Schlaf zu erwachen, wenn er dies zuließe, brachte ihn dazu, die Augen zu öffnen und sich aufzurichten.
Er hörte Schritte. Nicht die Schritte eines Menschen, sondern ein unregelmäßiges Stampfen, unter dem die Erde zu zittern schien, und er hörte das Splittern und Bersten des Unterholzes, durch das der Unheimliche hindurchbrach.
Und wieder dieses Atmen.
Dieses schreckliche, eiserne Hecheln, das ihn mehr erschreckte als alles andere.
Mit einem noch halb unterdrückten Schreckensschrei fuhr Aton herum und rannte ziellos tiefer in den Wald hinein.
Doch er kam nur wenige Schritte weit. Plötzlich war etwas vor ihm, auch diesmal nur ein Schatten, aber irgendwie massiver, körperlicher als der des Unheimlichen, der ihn zu ersticken versucht hatte.
Er blieb stehen und blickte verzweifelt um sich. Nun bewegte sich auch etwas vor ihm. Ein schwerer, gedrungener Körper, den er nur als Schatten erkennen konnte. Gelbglühende Augen starrten ihn aus der Dunkelheit heraus an, und Aton hörte ein tiefes, drohendes Knurren, das ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ. Verzweifelt sah er sich um, suchte nach einem Versteck, einer Deckung, einem Schutz. Aber da war nichts. Der Wald war kein Wald mehr, sondern ein Meer aus Schwärze, das von bizarren, falschen Umrissen in noch tieferem Schwarz erfüllt war. Ein Wirklichkeit gewordener Alptraum, aus dem es kein Entrinnen, in dem es kein Licht, kein Versteck und keine Sicherheit gab. Der Schatten kam nicht näher, aber die gelbglühenden, unheimlichen Augen starrten ihn weiter an, und er vernahm noch immer dieses tiefe, drohende Knurren.
Obwohl er wußte, daß der Verfolger hinter ihm war, machte er einen Schritt zurück - und schrie abermals gellend auf!
Ein dürrer Zweig hatte sich um sein Handgelenk gewickelt. Aton versuchte, den Arm zurückzuziehen, aber der Zweig gab nicht nach, sondern zog sich im Gegenteil wie eine Schlinge enger zusammen, so daß sich die winzigen Dornen daran wie kleine Nadeln in seine Haut bohrten und feine Blutströpfchen an seinem Arm herabliefen. Und noch während Aton aus weit aufgerissenen Augen auf das schreckliche Bild starrte, schnellte ein zweiter und dritter und vierter Zweig herbei, jeder wand sich gleich einem dünnen, lebenden Lasso um seine Hand und begann sich zusammenzuziehen, so daß seine Finger mit erbarmungsloser Kraft gegeneinandergepreßt wurden.
Etwas zupfte an seinem rechten Hosenbein, und endlich erwachte Aton aus seiner Erstarrung. Aber es war zu spät. Ein halbes Dutzend dürrer, biegsamer dornenbesetzter Ranken schoß aus der Dunkelheit herbei und wickelte sich um seinen rechten Knöchel, und einen Moment später spürte er einen heftigen Schmerz und warmes Blut, als auch sie sich mit grausamem Druck zusammenzuziehen begannen!
Die Angst fegte auch den letzten Rest klaren Denkens hinweg. Aton stieß einen Schrei aus und begann, heftig an den lebendigen Fesseln zu zerren, ohne auf den Schmerz zu achten, den er sich damit selbst zufügte. Vor ihm waren noch immer die rotglühenden Augen, die aber nicht mehr ihn anstarrten, sondern in die Richtung sahen, aus der das rasselnde Atmen des Unheimlichen und seine merkwürdig schwerfälligen Schritte zu hören waren. Aton schrie, wand sich wie von Sinnen und torkelte herum.
Die Gestalt stand hinter ihm.
Und obwohl sie jetzt kaum noch eine Armeslänge von ihm entfernt war, konnte Aton sie immer noch nicht deutlicher erkennen. Sie blieb ein Schatten, blieb das, als das er sie im allerersten Moment gesehen hatte: ein Stück zum Leben erwachter Dunkelheit. Der Schatten einer mächtigen Gestalt, auf deren Schultern der Kopf eines Hundes thronte!
Langsam hob der Unheimliche wieder die Hand, und diesmal berührten seine Finger beinahe Atons Hals. Ein Hauch tödlicher Kälte streifte seine Haut, die gleiche, unheimliche Kälte, die er auch auf der Treppe im Internat gespürt hatte, ein eisiger Hauch, der nach Moder und Alter roch, wie der Luftzug aus einem Grab, das nach tausend Jahren geöffnet wurde, und wieder griff die unsichtbare Hand nach seiner Kehle und drückte sie zu, langsam, aber unbarmherzig und preßte das Leben aus ihm heraus.
Aton taumelte. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht mehr. Zwischen seinen Schläfen erwachte ein pochender, im Takt seines rasenden Herzens immer schneller und heftiger werdender Schmerz. Seine Lungen schrien nach Luft. Aber seine Bewegungen wurden schwächer und schwächer, und er konnte fühlen, wie die Kraft und das Leben aus ihm herausflossen. Der Nachtwald begann vor seinen Augen zu verschwimmen, und die Gestalt des Unheimlichen zerfaserte, als wäre sie ein Trugbild aus Nebel, das von einem Windstoß einfach auseinandergetrieben wurde.
Und dann war es vorbei.
Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, verschwand die würgende Hand von seiner Kehle. Die dornigen Ranken lösten sich von seinen Gliedmaßen und schnellten in die Nacht zurück, aus der sie gekommen waren, und Aton fiel mit einem erstickten Keuchen nach vorn und aufs Gesicht ins feuchte Moos.
Er hustete, stemmte sich in einer letzten verzweifelten Anstrengung in die Höhe und wälzte sich auf den Rücken, um tief ein- und auszuatmen, seine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen, der die Schwärze des Todes, deren Nahen er schon gefühlt hatte, noch einmal vertrieb.
Er spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Aber einen Moment, bevor er endgültig das Bewußtsein verlor, sah er, wie sich die Gestalt des Unheimlichen mit dem Hundekopf mit einem Ruck herumdrehte und einer zweiten, viel kleineren Gestalt entgegenblickte, die mit weit ausgreifenden Schritten und hocherhobenen Armen durch den Wald herangestürmt kam - Petach!
Aton wußte nicht, was weiter geschah, denn die grauen Schleier vor seinem Blick verdichteten sich zu einem schwarzen Vorhang, der sich endgültig über seine Sinne senkte. Aber er konnte nicht sehr lange ohne Bewußtsein gewesen sein, denn das nächste, was er spürte, waren Petachs Hände, die besorgt über sein Gesicht und seinen zerschundenen Hals tasteten, und das nächste, was er sah, war das schreckensbleiche Gesicht des Ägypters, das sich über ihn beugte.
»Aton!« rief er aufgeregt. »Was ist mit dir? Bist du verletzt?«
Aton versuchte, den Kopf zu schütteln, aber es blieb bei dem Versuch. Er fühlte sich schwach, unendlich schwach. Sein Hals schmerzte, und als er zu reden versuchte, brachte er im ersten Moment nur ein unverständliches Krächzen heraus.
»Bist du verletzt?« fragte Petach noch einmal.
Diesmal gelang es Aton, den Kopf zu schütteln. »Nein«, flüsterte er.
Petach sah ihn kurz an, dann wandte er den Kopf und blickte auf seine Hand hinunter, von der noch immer warmes Blut lief, und der nächste Blick, den er in Atons Gesicht warf, machte deutlich, was er von dieser Antwort hielt. »Ich habe dir gesagt, du sollst beim Wagen bleiben«, sagte er vorwurfsvoll. »Was suchst du hier im Wald?«
Der Wald! Von neuem Schrecken erfüllt, sah Aton nach rechts und links und stemmte sich in die Höhe.
Aber der Wald war wieder ein ganz normaler Wald. Dunkel, feucht und so unheimlich, wie ein Wald in einer mondlosen Nacht eben war - aber auch nicht mehr.
»Wo ist ... der Mann?« flüsterte er verwirrt.
Petach sah ihn fragend an. »Welcher Mann?«
»Der ... der Mann mit dem ...« Aton brach ab. Es war ihm plötzlich nicht möglich, weiterzusprechen. Er brachte es nicht über sich, Petach von dem Schatten und den glühenden Augen zu erzählen!
»Welcher Mann?« fragte Petach noch einmal. »Hier ist niemand.«
»Aber Sie müssen ihn doch gesehen haben«, protestierte Aton.
»Ich habe niemanden gesehen«, sagte Petach. »Und hier war auch niemand.«
Aton starrte ihn fassungslos an. »Aber Sie -«
»Ich habe dich schreien gehört«, unterbrach ihn Petach mit einer energischen Handbewegung. »Gott sei Dank, möchte ich sagen. So dunkel, wie es hier ist, hätte ich stundenlang nach dir suchen können, ohne dich zu finden.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe dir gesagt, du sollst beim Wagen bleiben«, sagte er. »Warum hast du nicht auf mich gehört? Dir hätte wer weiß was passieren können, ist dir das klar?«
Aton fühlte sich immer verwirrter, und zugleich kam die Angst zurück. Er wußte, daß er sich das alles - den Unheimlichen, den zweiten Schatten mit den glühenden Augen, die Geräusche und diesen furchtbaren Alptraumwald - nicht eingebildet hatte. Zögernd hob er die Hand und blickte auf sein zerschundenes Handgelenk hinunter. Seine Haut war mit Dutzenden winziger, nur nadelstichgroßer Wunden übersät, sein Knöchel brannte wie Feuer, und sein Wadenstrumpf war feucht und schwer von seinem eigenen Blut.
Und trotzdem wußte er, daß Petach ihm nicht glauben würde. Wie konnte er auch?
»Kannst du gehen?«
Aton nickte wortlos und betastete seinen schmerzenden Hals, griff dann aber nach Petachs hilfreich ausgestreckter Hand und ließ sich von ihm in die Höhe ziehen.
Aber er sagte kein Wort mehr, sondern humpelte mit zusammengebissenen Zähnen und schwer auf Petachs Arm gestützt zum Wagen zurück. Und er protestierte auch mit keinem Wort mehr, als Petach ihm auf den Beifahrersitz half und sich ganz allein daranmachte, den geplatzten Vorderreifen zu wechseln.