Die Rolltreppe

Am frühen Nachmittag fuhren sie zum Flughafen. Es waren noch mehr als zwei Stunden, bis das Flugzeug ging, das Atons Eltern nach Kairo bringen würde, aber Petach drängte auf einen zeitigen Aufbruch, und wie sich zeigte, taten sie gut daran. Petach hatte nämlich den Vorschlag gemacht, sie in seinem Wagen zum Flugplatz zu fahren, statt ein kleines Vermögen für ein Taxi auszugeben, und Atons Vater war leichtsinnig genug, dieses Angebot anzunehmen - mit dem Ergebnis, daß sie statt einer halben annähernd anderthalb Stunden für eine Strecke von nicht einmal fünfzig Kilometern benötigten.

Sowohl Aton als auch seine Eltern waren während der gesamten Fahrt sehr schweigsam, und die gedrückte Stimmung nahm sogar noch zu, als sie endlich in das große Parkhaus rollten. Petach steuerte den Wagen auf das oberste Parkdeck, obwohl sie an mindestens fünfhundert freien Plätzen vorbeifuhren, und Aton war wahrscheinlich der einzige, der sich zumindest denken konnte, warum er das tat: Aus irgendeinem Grund schien sich Petach unter freiem Himmel sicherer zu fühlen als in geschlossenen Räumen.

Sie stiegen aus, luden ihr Gepäck auf einen kleinen Karren und betraten die riesige Abfertigungshalle. Während Atons Vater und Petach zu den Schaltern eilten, um die Tickets abzuholen und das Gepäck aufzugeben, war für Aton der Moment des Abschieds von seiner Mutter gekommen.

Es war nicht das erste Mal - aber es war ihm niemals so schwergefallen wie jetzt. Und seiner Mutter schien es nicht anders zu ergehen. Sie versuchte ein paar scherzhafte Bemerkungen zu machen, um die Stimmung aufzuheitern, verschlimmerte dadurch aber eher alles. Und schließlich schloß sie Aton einfach in die Arme und drückte ihn lange und so fest an sich, daß er kaum noch Luft bekam. Als sie sich wieder voneinander lösten, schimmerten Tränen in ihren Augen.

»Ich ... ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist«, sagte sie, während sie mit nervösen Bewegungen in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch herumkramte. Sie hatten nicht mehr viel Zeit; der Flug war bereits das erste Mal aufgerufen worden, so daß sie sich gemeinsam zur Zollsperre begaben und der endgültige Abschied dann sehr schnell vonstatten ging - wofür Aton beinahe dankbar war. Er hätte zwar seinen rechten Arm dafür gegeben, seine Eltern begleiten zu können, aber da das ohnehin nicht möglich war, hätte ein langer Abschied alles nur noch schlimmer gemacht. So war Aton froh, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sein Vater versicherte ihm noch einmal, wie leid es ihm tue, das Weihnachtsfest nicht zusammen mit seiner ganzen Familie verbringen zu können, und versprach, ihn nachzuholen, sobald dies möglich sei, dann umarmten sie sich ein letztes Mal, und die automatischen Türen schlossen sich endgültig hinter seinen Eltern.

Petach schlug vor, zum Aussichtsdeck hinaufzugehen, um den Start der Maschine zu beobachten, aber Aton lehnte ab. Er wollte nur noch weg hier. Wenn er noch lange blieb, dann war er nicht mehr sicher, ob er die Tränen tatsächlich noch zurückhalten konnte. »Ich möchte nach Hause«, sagte er. »Ich will ... einfach eine Weile allein sein. Verstehen Sie das?«

»Sehr gut«, sagte Petach. »Aber wir fahren nicht zum Haus deiner Eltern zurück. Dieser Ort ist nicht mehr sicher.«

»Aber -«

»Ich habe dir gesagt, daß ich dich an einen sicheren Ort bringe, sobald deine Eltern abgereist sind«, erinnerte ihn Petach. Er wies mit der Hand nach oben, zum gläsernen Dach der riesigen Halle. »Es wird bald dunkel, und die Nacht ist ihr Reich. Wir müssen uns beeilen, um bis dahin am Ziel zu sein.«

»Beeilen?« fragte Aton. »Dann lassen Sie besser mich fahren. Oder wir gehen zu Fuß.«

Petach lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Es ist nicht sehr weit. Komm.«

Sie gingen zum Wagen zurück. Aton fiel auf, daß Petach die vier Stockwerke zum oberen Parkdeck über die Treppe hinaufging, die außen am Parkhaus in die Höhe führte, statt den Aufzug zu benutzen, aber er äußerte sich nicht dazu; ebensowenig wie zu den kleinen, verstohlenen Blicken, die der Ägypter immer wieder in die Runde warf - und vor allem in den Himmel hinauf. Als sie endlich im Wagen saßen, gelang es Petach kaum, seine Erleichterung zu verbergen, was Atons Sorge neue Nahrung gab. Petach hatte zwar behauptet, daß seine Macht reichte, um sie vor ihren Verfolgern zu beschützen, aber wer sagte ihm eigentlich, daß das stimmte?

In einem für Petach schon fast halsbrecherischen Tempo - also deutlich schneller als eine Schildkröte - fuhren sie nach unten und hielten vor der automatischen Schranke an. Petach kurbelte das Fenster hinunter und schob die Parkkarte in den Automaten. Nach zwei Sekunden gab das Gerät die Karte zurück, aber die Schranke rührte sich nicht. Petach versuchte es noch einmal mit dem gleichen Ergebnis.

»Sie haben nicht bezahlt«, sagte Aton.

Petach sah ihn verständnislos an, und Aton machte eine Kopfbewegung auf das kleine Kärtchen in seiner Hand. »Sie hätten oben am Automaten die Parkgebühr bezahlen müssen«, sagte er. »Wissen Sie das denn nicht?«

Petachs Gesichtsausdruck machte klar, daß er tatsächlich keine Ahnung hatte, wovon Aton sprach. »Ich fahre sehr selten in Parkhäuser«, sagte er verlegen.

»Ja, nur alle paar hundert Jahre, nehme ich an«, seufzte Aton. Er griff mit der linken Hand in die Jackentasche, kramte ein paar Münzen hervor und nahm Petach mit der anderen die Karte aus der Hand.

»Ich erledige das schnell«, sagte er. »Warten Sie hier. Und wenn hinter Ihnen ein anderer Autofahrer auftaucht, der hinaus will, versuchen Sie, nicht von ihm gelyncht zu werden.«

Petach war von der Idee, Aton aussteigen zu lassen, sichtlich nicht begeistert. Aber Aton öffnete bereits die Tür und war aus dem Wagen, ehe er etwas dagegen sagen konnte. Und wahrscheinlich hatte er wirklich keine Ahnung, wie der Parkautomat funktionierte. Aton begann sich allmählich zu wundern, daß Petach überhaupt Auto fahren konnte.

Eine Etage höher hatte er einen Parkautomaten gesehen. Um den Weg abzukürzen, nahm er weder die Rolltreppe noch den Aufzug, sondern lief kurzerhand die Rampe hinauf, auf der sie heruntergekommen waren - und rannte prompt einem Parkwächter in die Arme.

»Was soll denn das?« schimpfte der Mann, der so griesgrämig dreinsah, als litte er seit Jahren unter Zahnschmerzen. »Willst du dich mit Gewalt überfahren lassen? Wozu, glaubst du, haben wir hier Treppen, Aufzüge und Verbotsschilder?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Aton eingeschüchtert und wies den Parkschein vor. »Aber wir stehen unten vor der Schranke und -«

»Nein, ich entschuldige nicht«, unterbrach ihn der Wächter. »Wenn du überfahren wirst, dann wird dein Vater noch eine ganze Weile länger darauf warten müssen, nach Hause zu kommen, weißt du?« Er wedelte unwillig mit beiden Händen. »Jetzt geh zum Automaten und laß dich bloß nicht dabei erwischen, die Rampe wieder hinunterzulaufen!«

Aton war klug genug, nicht zu widersprechen, und trollte sich. Rasch bezahlte er die Parkgebühr, steckte die Karte sorgfältig ein und ging dann zum Lift. Er widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen, aber das war auch gar nicht nötig. Er konnte die lauernden Blicke des Parkwächters regelrecht im Rücken spüren.

Die Liftkabine erschien, kaum daß er den Knopf gedrückt hatte, aber Aton zögerte plötzlich, sie zu betreten. Es kam ihm zwar selbst ein wenig verrückt vor - aber mit einem Male war er sicher, daß Petach einen guten Grund gehabt hatte, nicht den Aufzug zu benutzen. Nur ein paar Schritte entfernt gab es eine Rolltreppe. Er würde allerhöchstens ein paar Sekunden verlieren, wenn er sie nahm statt des Aufzuges.

Er sagte sich zwar selbst, daß es albern war, hatte aber trotzdem ein ungutes Gefühl dabei, Petachs Warnung so einfach in den Wind zu schlagen, und so blieb er noch einmal stehen und sah zur Rampe zurück, ehe er die Rolltreppe betrat. Der Parkwächter stand noch immer da und blickte mit finsterem Gesicht in seine Richtung. Keine Chance, an ihm vorbeizukommen. Außerdem benahm er sich mittlerweile wirklich kindisch. Es war eine Rolltreppe, mehr nicht. Er konnte ihr unteres Ende von hier aus sogar sehen - was sollte schon passieren? Mit einem entschlossenen Schritt trat er auf die geriffelten Metallstufen, und die Treppe setzte sich automatisch in Bewegung, als er dabei die Lichtschranke unterbrach.

Nichts geschah. Weder tat sich die Erde auf, um ihn zu verschlingen, noch griffen plötzlich Geisterhände aus den Wänden nach ihm - oder irgendein anderer Unsinn. Aton rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sicher, er hatte einige unheimliche, ja geradezu gespenstische Dinge erlebt in den letzten Tagen, und er hatte begriffen, daß - wie hatte Petach es genannt? - die Dinge nicht so waren, wie sie den Menschen vorkamen. Aber jetzt hinter jeder Kleinigkeit eine Falle zu wittern, das war wahrscheinlich genauso unsinnig, wie zu leichtsinnig zu sein. Er mußte achtgeben, daß er nicht den Blick für das rechte Maß der Dinge verlor.

Die Rolltreppe glitt in gleichmäßigem Tempo in die Tiefe, und Atons Gedanken begannen weiter abzuschweifen. Der Anblick dieser technischen Gerätschaft hätte ihm helfen sollen, sich im Hier und Jetzt festzuhalten, denn sie symbolisierte alles, in das sich die Welt verwandelt hatte seit jener Zeit, von der Petach erzählte: in eine Welt der Dinge, die man anfassen und begreifen konnte, eine Welt, die von den Naturgesetzen und der Logik regiert wurde, in der es Dinge gab, die die Arbeit der Menschen taten, die von Menschen geschaffen wurden und ihnen dienten und in der kein Platz für Dämonen, Geister und selbst Götter mehr war. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Plötzlich spürte er erst richtig, wie anders jene uralte, aber längst nicht vergessene Welt Petachs und seiner Feinde war und wie dünn die Mauer, die sie von dem trennte, was auch er selbst vor wenigen Tagen noch für die Wirklichkeit gehalten hatte.

Vielleicht lag es daran, daß ihn seine Umgebung an den finsteren Stollen aus seinem Traum erinnerte. Sicher, die Wände hier waren aus Beton, nicht aus dem braunen Sandstein der ägyptischen Wüste, und der Boden, der ihn in die Tiefe trug, bestand aus Stahl und Kunststoff, und doch war er wieder in einem rechteckigen, nach unten führenden Stollen, hatte er menschenleere Hallen durchquert, und wie in seinem Traum bewegte er sich, ohne zu gehen. Mit etwas Phantasie gab es hinter ihm sogar den Verfolger aus seinem Traum, der in diesem Fall vielleicht nicht gefährlich war, auf jeden Fall aber verhinderte, daß er auf demselben Weg zurückging, auf dem er gekommen war.

Aton lächelte über seine Einfälle. Den Parkwächter mit dem namenlosen Ungeheuer aus seinem Alptraum zu vergleichen war wirklich unfair. Schließlich tat der Mann bloß seine Arbeit und meinte es nur gut, und außerdem - hätte er das Ende der Rolltreppe längst erreichen müssen.

Das Lächeln auf Atons Gesicht gefror, als ihm klar wurde, daß er schon eine geraume Weile auf dieser Rolltreppe stand und seinen Gedanken nachhing. Vielleicht eine halbe Minute, vielleicht eine ganze - auf jeden Fall aber entschieden länger, als er für den Weg in die darunterliegende Etage hätte brauchen dürfen.

Aton fuhr herum und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Das obere Ende der Rolltreppe - war verschwunden.

Sekundenlang stand Aton wie vom Donner gerührt da und starrte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, dann erwachte er endlich aus seiner Erstarrung, wirbelte so hastig herum, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, und schrie nun tatsächlich auf.

Der Anblick vor ihm unterschied sich nicht von dem hinter ihm. Die Rolltreppe war natürlich nicht wirklich verschwunden. Im Gegenteil. Es gab sehr viel mehr von ihr, als eigentlich hätte da sein dürfen.

Der Schacht zog sich in beiden Richtungen scheinbar endlos, und unter Aton erstreckte sich Stufe an Stufe. Dutzend-, hundert-, ja vielleicht tausendfach reihten sich die gerillten Metallstufen aneinander, so weit er sehen konnte und wahrscheinlich noch ein gutes Stück darüber hinaus, denn obwohl sich die Treppe mit immer größerer Geschwindigkeit abzurollen begann, blieb ihr Ende im Dunst der Entfernung verschwunden.

Aber das war doch unmöglich! Das konnte nicht sein!

Aton spürte, wie sich seine Gedanken zu überschlagen begannen und Panik anstelle logischer Überlegung aufzukommen drohte. Er zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu denken, schloß die Augen und ballte die Hände so heftig zu Fäusten, daß es weh tat. Ganz langsam zählte er im stillen bis fünf, ehe er die Augen wieder öffnete.

Der Anblick hatte sich nicht verändert. Die Rolltreppe erstreckte sich weiter unter ihm in die Tiefe, so weit sein Blick reichte.

Die Panik übermannte ihn nun doch. Für einige Augenblicke war er zu keiner anderen Empfindung fähig als Angst und nacktem Entsetzen, aber schließlich gelang es ihm doch, sich wenigstens halbwegs zur Ruhe zu zwingen. Unmöglich oder nicht, er erlebte das hier wirklich. Und selbst wenn nicht, so war es eine Halluzination von solcher Eindringlichkeit, daß es für ihn keinen Unterschied machte. Ob er es nun tatsächlich erlebte oder nur zu erleben glaubte, er mußte irgendwie damit fertig werden.

Allein der Entschluß, etwas zu tun, statt weiter tatenlos abzuwarten, was mit ihm geschah, gab ihm die Kraft, sich endgültig aus seiner Erstarrung zu lösen und herumzudrehen. Die Treppe löste sich über ihm ebenso in verschwommener Entfernung auf wie in der Tiefe, aber plötzlich erschreckte ihn der Anblick gar nicht mehr, sondern weckte seinen Trotz.

Schatten, die ihn verfolgten, Hunde und Katzen mit den Namen altägyptischer Gottheiten, ja selbst Mumien, die nach mehr als dreitausend Jahren aus ihren Gräbern stiegen, das alles hätte er ja noch irgendwie hingenommen. Aber eine Rolltreppe, die von einer Sekunde auf die andere auf das Hundertfache ihrer eigentlichen Größe mutierte?

Lächerlich! Irgend jemand erlaubte sich da einen schlechten Scherz mit ihm!

Entschlossen setzte sich Aton in Bewegung.

Eine Rolltreppe in umgekehrter Richtung hinaufzulaufen ist keine sehr leichte Angelegenheit, und die Treppe war eindeutig schneller geworden, aber Atons Trotz war nun in Zorn umgeschlagen, der ihm abermals neue Kraft verlieh. Mit weit ausgreifenden Schritten, manchmal zwei oder sogar drei Stufen auf einmal überspringend, rannte er in die Höhe.

Wahrscheinlich legte er sogar wirklich ein gutes Stück zurück, denn er wurde am Schluß immer schneller und lief selbst dann noch weiter, als er eigentlich schon gar nicht mehr konnte. Schließlich sank er erschöpft auf den Metallstufen zusammen. Das Ende der Rolltreppe war noch immer nicht in Sicht gekommen.

Dafür begannen sich die Wände allmählich zu verändern. An der Decke brannten noch immer helle, weiße Neonröhren, aber der Zement, der in gleichmäßigem Tempo an ihm vorüberglitt, war jetzt nicht mehr sauber, sondern fleckig und rissig, und in der Luft lag plötzlich der Geruch von Staub und alter Erde.

Und die gespenstische Veränderung setzte sich fort. Die Risse in den Wänden wurden immer zahlreicher und breiter, und die vorherrschende Farbe war bald nicht mehr grau, sondern ein schmutziges, gelbliches Braun. Auch das Licht veränderte sich. Die Röhren brannten weniger hell, und Aton kam an immer mehr Stellen vorüber, an denen es nur mehr leere Fassungen an der Decke gab, und dann nicht einmal mehr die.

Aton konnte hinterher nicht mehr genau sagen, wann aus dem Treppenschacht endgültig ein gewaltiger Felsstollen wurde, doch plötzlich waren Zement und vom Alter zernagter Kunststoff vollkommen verschwunden, und unter der Decke brannten keine Neonröhren mehr. Dafür hingen an den Wänden rußende Fackeln aus teergetränkten Reisigbündeln, in deren flackerndem, rötlichem Licht er fremdartige und trotzdem vertraut anmutende Symbole und Bilder erkennen konnte, die in den Stein eingeritzt waren. Das Parkhaus hatte endgültig einer fremden, unheimlichen Umgebung Platz gemacht, in der der Anblick der metallenen Stufen, die mit der monotonen Beharrlichkeit einer Maschine weiter in die Tiefe glitten, doppelt bizarr wirkte.

Schließlich verschwanden auch sie. Aton hatte es aufgegeben, die Zeit schätzen zu wollen, die verstrich. Zeit hatte in diesen unheimlichen Gefilden zwischen den Wirklichkeiten so wenig Bedeutung wie Logik, und irgendwann war der Handlauf aus schwarzem Gummi plötzlich fort, und als Aton den Blick senkte, stellte er fest, daß er nicht mehr länger auf Metall, sondern auf Stufen aus braunem, grob behauenem Sandstein stand. Aus dem beinahe lautlosen Dahingleiten der Rolltreppe war ein zitterndes Ruckein geworden, das von einem unheimlichen Knirschen und Rumpeln begleitet wurde, und er spürte, wie die Geschwindigkeit der Treppe abnahm; erst unmerklich, dann immer mehr, bis sich die Stufen schließlich gar nicht mehr bewegten, und das konnten sie auch nicht, denn er stand nun endgültig auf den Stufen einer gewaltigen, tief in den Leib der Erde hinabführenden Treppe aus Fels.

Aton sah sich unentschlossen um. Er hatte jetzt keine Angst mehr - sein Erstaunen über das, was er erlebte und sah, war einfach zu groß, um noch Raum dafür zu lassen - aber er zögerte trotzdem, weiterzugehen. Er ahnte, daß er dem Ziel seiner Reise nun nahe war, aber er ahnte auch, daß ihm das, was dort unten auf ihn wartete, noch sehr viel weniger gefallen würde als alles, was er bisher erlebt hatte. Er drehte sich noch einmal um und sah nach oben. Auch über ihm war jetzt keine Rolltreppe mehr, sondern ein schier endloser Schacht, aus dem die in regelmäßigen Abständen angebrachten Fackeln wie kleine rote Insekten auf ihn herabzustarren schienen.

Und dort oben, weit über ihm ... Lag es am flackernden Licht der Reisigfackeln, oder bewegte sich dort wirklich etwas?

Aton kniff die Augen zusammen und strengte sich an, um deutlicher sehen zu können. Irgend etwas ... schien sich dort zu bewegen. Ein Umriß. Vielleicht wirklich nur ein Schatten, aus nichts anderem als dem endlosen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit geboren, vielleicht aber auch eine Gestalt, die langsam die Treppe herabkam und sich ihm näherte.

Eingebildet oder nicht - es war der Anblick dieses Schattens, der Aton dazu brachte, sich herumzudrehen und nun doch weiterzulaufen. Denn eines wußte er: Wer immer ihm hier herab gefolgt sein mochte, er war ihm ganz bestimmt nicht freundlich gesonnen.

Seine Überzeugung, das Ende der Verwandlung würde auch bald das Ende der Treppe sein, geriet im Laufe der nächsten Minuten mehr und mehr ins Wanken, denn eines war trotz aller Veränderungen gleichgeblieben: Die Treppe schien immer noch kein Ende zu haben. Zuerst langsam, dann immer schneller bewegte er sich die Stufen hinunter, bis er schließlich so rasch ausschritt, wie es gerade noch ging, ohne wirklich zu rennen. Es erwies sich als sehr mühsam, der Treppe weiter in die Tiefe zu folgen, denn die Stufen waren gerade ein bißchen zu breit und gerade ein bißchen zu hoch, um sie wirklich bequem hinuntergehen zu können. Zudem wurde es immer kälter. In den Geruch von Felsen und Staub mischte sich bald ein weiterer, feuchter, nicht sehr angenehmer Geruch, und hier und da entdeckte er Schimmel an den Wänden. Manche Fackeln, an denen er vorüberkam, waren naß geworden und erloschen, so daß er sich mehr als einmal mit weit ausgestreckten Armen durch fast vollkommene Finsternis vorwärtstasten mußte und stets Angst hatte, im Dunkeln auf den Stufen zu straucheln und den Rest des Weges möglicherweise erheblich schneller zurückzulegen, als er beabsichtigte. Dann und wann sah er sich im Gehen um. Der Schatten war noch immer hinter ihm. Er kam niemals nahe genug, um ihn wirklich zu erkennen, aber er verschwand auch niemals völlig, und nach einer Weile war Aton sicher, daß dort tatsächlich etwas war. Er war nicht besonders wild darauf, herauszufinden, was es war, und so beschleunigte er seine Schritte noch etwas mehr, obgleich er selbst ahnte, wie wenig das nutzte.

Allmählich begann er müde zu werden. Das Gehen auf den ungleichen Stufen war anstrengend, und die Kälte und die klamme Feuchtigkeit, die hier herrschten, taten ein übriges, um an seinen Kräften zu zehren. So blieb er schließlich stehen und sah sich nach einem trockenen Platz um, auf den er sich setzen konnte, um eine Weile auszuruhen und neue Kraft zu schöpfen. Bevor er seinen Entschluss in die Tat umsetzte, wandte er den Kopf und sah zurück, und was er erblickte, das ließ ihn seine Pläne schlagartig ändern.

Der Schatten war noch da. Und er war deutlich näher gekommen - so nahe, daß er sich nunmehr beim besten Willen nicht mehr einreden konnte, es handle sich tatsächlich nur um einen Schatten. Es war eine Gestalt. Das Licht dort oben war zu schlecht, um Einzelheiten zu erkennen, aber Aton sah trotzdem, daß es sich um einen Mann handelte, einen sehr großen, schlanken Mann, der einen Helm, einen oben bogenförmig zulaufenden Schild in der linken und eine Lanze in der rechten Hand trug, und das, was ihm seine Augen nicht zeigten, das fügte seine Phantasie unaufgefordert hinzu ...

Aton rannte los. Er nahm nun keine Rücksicht mehr darauf, daß die Treppe für die Füße von Riesen gemacht zu sein schien, sondern jagte die Stufen hinunter, so schnell er nur konnte. Er wußte, welche Gefahr er damit einging - ein Sturz auf den felsigen Stufen konnte gefährliche, ja sogar tödliche Folgen haben, aber wenn ihn der Verfolger einholte, dann war es ohnehin um ihn geschehen. So setzte er alles auf eine Karte und raste so schnell in die Tiefe, daß ihm beinahe schwindelte. Dann und wann warf er einen Blick über die Schulter zurück. Wie er beinahe erwartet hatte, gelang es ihm nicht, den Abstand zu seinem unheimlichen Verfolger wieder zu vergrößern - aber zumindest kam er nicht näher.

Aton rannte weiter und weiter. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen, aber gerade, als er sich allmählich mit dem Gedanken zu beschäftigen begann, ob sie vielleicht tatsächlich bis in alle Ewigkeit weiter in die Tiefe führen würde, begann sie sich abermals zu verändern: Die Stufen wurden flacher, und die Neigung der ganzen Treppe nahm nach und nach ab.

Das Laufen bereitete ihm jetzt nicht mehr so viel Mühe wie bisher, so daß er es wagte, sein Tempo noch etwas zu steigern. Es gelang ihm allerdings trotzdem nicht, den unheimlichen Verfolger abzuschütteln. Die Stufen unter seinen Füßen wurden immer flacher und verschwanden dann ganz, so daß er nun endgültig nicht mehr über eine Treppe, sondern auf einem zwar noch immer abschüssigen, aber glatten Boden rannte, auf dem er noch einmal rascher werden konnte. Ganz flüchtig kam Aton zu Bewußtsein, daß sein Traum ihn in der Wirklichkeit eingeholt hatte: Er rannte tatsächlich durch einen jahrtausendealten Gang, der in unbekannte Tiefen hinabführte, und wurde von einem Schatten verfolgt, der den Tod oder gar Schlimmeres brachte. Vielleicht war der Traum gar keine Erinnerung an etwas gewesen, sondern eine Vorahnung, und er hatte die Warnung, die er ihm gab, ein Leben lang gehört, ohne sie zu verstehen.

Der Gang endete so plötzlich, daß Aton noch ein paar Schritte weiterstolperte, ehe ihm überhaupt bewußt wurde, daß er den Treppenschacht endgültig verlassen hatte.

Aber er war auch nicht im Freien - obwohl der Raum, der ihn umgab, so riesig war, daß man dies im allerersten Moment durchaus hätte annehmen können. Was den Eindruck ein wenig störte, das waren die mächtigen gemauerten Wände, die an vier Seiten in die Höhe strebten und sich weit über Atons Kopf in spitzem Winkel vereinten. Aton befand sich in einer riesigen unterirdischen Höhle, die die Form einer Pyramide hatte. Ihre Größe wagte er nicht einmal zu schätzen - aber sie reichte vollkommen, daß man eine richtige Pyramide hätte nehmen und hineinstellen können. Der Boden bestand nicht aus den ansonsten üblichen Felsquadern, sondern aus einer einzigen, gewaltigen Platte, die so sorgsam poliert worden war, daß sich das Licht darin spiegelte. Wie im Gang hinter ihm säumten auch hier brennende Reisigfackeln die Wände. Und was an diesen Wänden aufgestellt war, das stellte das Phantastischste dar, das Aton jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Da war eine Sphinx, die auf einem Steinquader ruhte, daneben die Figur eines Falken, der mit halb gespreizten Flügeln zum Absprang ansetzte. Da gab es einen lebensgroßen, von zwei prachtvollen schwarzen Rössern gezogenen Streitwagen, bewaffnete Krieger, Edelleute und reich geschmückte Frauen, Statuen von Bauern und Tieren, Alabasterkrüge und Schmuckpaletten, Gegenstände für heilige Zeremonien, reich verzierte Waffen, alles mit unglaublicher Kunstfertigkeit geschaffen und zum Teil mit Gold und Edelsteinen ausgestattet. Ein unermeßlicher Schatz, der jeden Ägyptologen in helle Begeisterung versetzt hätte.

Es fiel Aton schwer, sich von diesem unglaublichen Anblick zu lösen - aber diese Gegenstände waren nicht das einzige Wunder, mit dem die Pyramidenhöhle aufzuwarten hatte. Ein zweites - und vielleicht noch größeres - befand sich unmittelbar hinter Aton, im Zentrum der Höhle.

Der Streifen aus poliertem Fels, auf dem er herausgekommen war, war nicht sehr breit, zehn, fünfzehn Schritte allenfalls.

Den weitaus größten Teil der Höhle nahm ein ganz offenbar künstlich angelegter See ein. Er war von rechteckiger Form, wie die Höhle selbst, und sein Wasserspiegel lag gute drei oder vier Meter unter dem Bodenniveau. In seiner Mitte erhob sich eine Insel, aber obwohl sie nicht sehr weit entfernt war, konnte Aton sie nicht genau erkennen, denn über dem Wasser lag eine Art grauer Dunst, in dem selbst vertraute Dinge fremd und unheimlich auszusehen begannen. Er konnte nur erkennen, daß sich auf der Insel etwas befand, nicht, was.

Aton trat staunend bis dicht an den See heran und sah zum Wasser hinunter. Es war klar wie Glas, aber trotzdem konnte er den Grund des Sees nicht erkennen; er mußte sehr tief sein. Dunkle Linien am Fels über dem See zeigten, daß der Wasserspiegel ganz allmählich gesunken war, vielleicht über Jahrtausende hinweg. Diese Höhle mußte unglaublich alt sein!

Es war ein Reflex auf der Wasseroberfläche unter ihm, der ihn rettete. Aton registrierte die Bewegung und reagierte ganz instinktiv. Mit einer blitzschnellen Drehung warf er sich vor und zugleich zur Seite, schien für eine furchtbare Sekunde fast schwerelos über dem Nichts zu schweben und prallte buchstäblich Millimeter vor dem Abgrund auf. Hastig rollte er herum, sprang auf die Füße und stolperte rasch zwei, drei Schritte vom Rand des Sees fort, ehe er sich zum ersten Mal zu der Gestalt herumdrehte, die so jäh hinter ihm aufgetaucht war.

Es war nicht die Mumie. Statt eines zum Leben erwachten Toten sah sich Aton einem großgewachsenen, sehr schlanken Mann gegenüber. Sein Gesicht war von edlem Schnitt und trug einen gebieterischen Ausdruck. Gekleidet war er in ein knöchellanges blau und gold gestreiftes Gewand. Auf seiner Brust schimmerte ein goldenes Gehänge in Form eines Falken mit ausgebreiteten Flügeln. Seinen Kopf zierte einer helmartige Krone, auf der vorne eine sich aufbäumende Kobra zu sehen war. In der rechten Hand trug er eine Lanze mit einer dreieckigen Spitze, die linke hatte er nach Aton ausgestreckt. Aton wich rasch ein paar Schritte vor der unheimlichen Gestalt zurück.

Der Mann folgte ihm, aber er bewegte sich nicht sehr schnell.

Soweit Aton sehen konnte, gab es nur diesen einen Ausgang aus dem Raum, durch den er und sein Verfolger hereingekommen waren. Und er war sicher, daß die Treppe nur in eine Richtung führte.

Aton wich rückwärts gehend vor dem Fremden zurück, wobei er sich immer wieder nach einem Fluchtweg umsah. Es gab keinen. Die von den Figuren und Statuen flankierten Wände waren vollkommen glatt. Und auf der anderen Seite lag nur der See mit seinem unheimlichen, nebelverhangenen Zentrum.

Unerbittlich kam die Gestalt näher. Aton wich im selben Tempo vor dem Unheimlichen zurück, in dem dieser ihm folgte; nicht sehr schnell, aber mit der Beharrlichkeit eines Roboters.

Schließlich blieb Aton stehen, wenn auch in sicherer Entfernung und jederzeit bereit, sofort weiterzulaufen. Der Fremde machte noch einen letzten, schwerfälligen Schritt und blieb dann ebenfalls stehen. Er streckte die Hand aus, aber nicht, um nach Aton zu greifen, wie dieser im ersten Moment angenommen hatte.

»Gib es mir!« sagte er.

Es dauerte nur kurz, bis der Junge begriff, daß der Mann keineswegs in seiner, Atons, Sprache mit ihm geredet hatte, sondern in einer völlig unverständlichen, fremdartigen, die er noch nie zuvor im Leben gehört hatte. Und trotzdem hatte er ihn verstanden.

Aber nur die Worte. Nicht das, was sie bedeuteten.

»Gib es mir!« verlangte der Fremde noch einmal, und nun klang seine Stimme herrisch und ungeduldig, die Stimme eines Mannes, der es nicht gewohnt war, einen Befehl zweimal zu erteilen oder gar auf Widerspruch zu stoßen. Und Aton hätte sich ihm auch gar nicht widersetzt - hätte er nur gewußt, was er überhaupt von ihm wollte.

»Ich ... ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte er. Trotz seiner Angst bemühte er sich, sehr langsam und klar verständlich zu sprechen, denn der andere hatte wieder in jener sonderbaren Sprache geredet, die ihm so vollkommen fremd war und die er trotzdem verstand, auch wenn er sich beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte, wie das vor sich gehen konnte. Und entweder funktionierte der Trick tatsächlich nur in eine Richtung, oder der andere war wirklich ein sehr ungeduldiger Mensch - er reagierte nicht auf Atons Worte, er wiederholte seine Aufforderung auch kein drittes Mal, sondern stieß statt dessen einen zornigen Laut aus und trat mit einem plötzlichen, überraschend schnellen Schritt auf ihn zu. Seine Hand schoß vor und versuchte Aton zu packen.

Aton duckte sich im letzten Moment darunter hinweg, machte einen halben Schritt zurück und drehte sich dann blitzartig zur Seite. Der Fremde sprang vor und hätte Aton unweigerlich zu fassen bekommen, wäre dieser tatsächlich weiter rückwärts gegangen, doch er hatte sich bereits wieder herumgedreht und rannte mit weit ausgreifenden Schritten vor ihm davon.

Ein Blick über die Schulter zurück zeigte ihm, daß der Fremde ihn verfolgte. Und er zeigte ihm noch mehr. Was er schon oben auf der Treppe beobachtet hatte, wiederholte sich auch jetzt, nur war es diesmal, da er den Mann wirklich sehen und nicht nur als Schatten erahnen konnte, hundertmal unheimlicher: Der Mann lief nicht etwa. Er ging mit großen, gemessenen Schritten hinter ihm her, so daß Atons Vorsprung rasch hätte anwachsen müssen. Der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger blieb aber gleich, als hätte der andere die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt und legte mit jedem ruhigen Schritt die gleiche Entfernung zurück wie Aton mit seinem verzweifelten Rennen.

Er ersparte es sich, über diese neuerliche Unmöglichkeit nachzudenken, sondern versuchte, sein Tempo zu steigern.

Es gelang ihm. Nur nutzte es nichts. Als er sich das nächste Mal umsah, war der Fremde noch immer hinter ihm, und er war noch immer nicht viel mehr als vier, fünf Schritte entfernt. Und Atons Kräfte begannen bereits nachzulassen. Er wurde langsamer - mit dem Ergebnis, daß der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger nun zusammenschmolz.

Hastig schritt er wieder schneller aus, so daß der andere zumindest nicht näher kam.

Die Konsequenz dieses unheimlichen Zaubers (ein anderes Wort für das, was er hier erlebte, fiel ihm beim besten Willen nicht ein) wurde ihm erst nach einigen Augenblicken bewußt. Je schneller er rannte, desto schneller schien sich auch sein Verfolger zu bewegen. Aber er wurde nicht im gleichen Maße langsamer wie er. Und das bedeutete nichts anderes, als daß der andere ihn irgendwann einholen mußte, und je mehr er seine Kräfte verschwendete, desto eher.

Der Verzweiflung nahe, wandte er seine Aufmerksamkeit von seinem Verfolger ab und seiner Umgebung wieder zu. Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, war längst nicht mehr in Sicht.

Wenn er die Größe der Höhle richtig eingeschätzt hatte, dann mußten sie den ummauerten See mittlerweile gut zur Hälfte umrundet haben, aber er konnte noch immer keinen anderen Ausgang entdecken. Auf der rechten Seite erhob sich nur eine schier endlose Reihe Statuen, die Menschen, Tiere und tierköpfige Gottheiten zeigte. Und auf der linken lag nur der See mit seinem unheimlichen Nebel, in dem sich noch immer irgend etwas bewegte, was Aton noch immer nicht klar erkennen konnte.

Und schließlich kam es, wie es kommen mußte: Aton strauchelte vor Erschöpfung, kämpfte ein paar Augenblicke um sein Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf den harten Steinboden. Er verletzte sich nicht dabei, und als er wieder in die Höhe sprang, da hatte sein Verfolger ihn eingeholt.

Er stand kaum einen Schritt vor ihm, und die Spitze seiner Lanze berührte Atons Brust. Selbst durch den doppelten Stoff von Jacke und Hemd hindurch konnte er fühlen, wie unglaublich kalt das Metall war.

»Gib es mir!« verlangte der Fremde wieder. Diesmal war es ein Befehl, der keinen Widerspruch zuließ. Seine Hand war fordernd ausgestreckt, und Aton wußte, daß die Lanze zustoßen würde, wenn er sich weigerte.

Es gab nur noch eine Richtung, in die er zurückweichen konnte. Ohne auch nur noch eine Sekunde darüber nachzudenken, ließ er sich nach hinten fallen.

Der Sturz in das drei Meter tiefergelegene Wasser schien endlos zu dauern. Und der Aufprall war so hart, als wäre er durch eine Glasscheibe gestürzt. Aton schrie vor Schmerz und Schrecken auf und sah entsetzt zu, wie seine kostbare Atemluft wie ein Vorhang aus winzigen silbernen Perlen vor seinem Gesicht in die Höhe stieg, während er tief in das glasklare, eiskalte Wasser hinabsank. Erst als er schon zwei oder vielleicht auch drei Meter unter der Wasseroberfläche war, begann er ungeschickte Schwimmbewegungen zu machen, um sich wieder in die Höhe zu arbeiten.

Er schaffte es, aber buchstäblich im allerletzten Moment. Das Wasser war so kalt, daß er direkt spüren konnte, wie jede Wärme und damit jede Kraft aus seinem Körper wich, und seine Kleider hatten sich binnen Sekunden vollgesaugt und drohten ihn in die Tiefe zu zerren. Die Atemnot wurde zur Qual, und Atons Herz klopfte, als wollte es jeden Moment zerspringen, als er endlich wieder durch die Wasseroberfläche stieß und keuchend nach Atem rang.

Im ersten Moment drehte sich alles um ihn. Er war nie ein sehr guter Schwimmer gewesen, und in dem eiskalten Wasser und seiner schweren Winterjacke gelang es ihm kaum, sich an der Oberfläche zu halten. Mit ungeschickten Bewegungen paddelte er auf das Ufer zu, griff nach dem rauhen Stein und glitt drei- oder viermal hilflos daran ab, ehe es ihm endlich gelang, sich irgendwo anzuklammern. Der Fremde stand über ihm. Er starrte aus brennenden Augen auf Aton herab und hatte die Lanze halb erhoben, wie um sie nach ihm zu schleudern, zögerte aber aus irgendeinem Grund noch.

Wahrscheinlich ist es auch nicht nötig, daß er seine Waffe benutzt, dachte Aton niedergeschlagen. Ihm war längst klargeworden, daß er sich mit dieser verzweifelten Flucht keinen Dienst erwiesen hatte. Er war zwar dem Fremden und seiner Lanze entkommen, doch nur, um sich in einer anderen, womöglich noch tödlicheren Falle zu fangen. In dem eisigen Wasser würde er nur wenige Minuten durchhalten, und die Wände, die annähernd drei Meter weit in die Höhe strebten, waren so glatt, daß selbst ein geschickterer Kletterer, als Aton es war, keinen Halt daran gefunden hätte. Verzweifelt sah er sich um, suchte nach einer Lücke, einem Riß, irgendeiner Unebenheit im Fels, an der er hätte hinaufklettern können.

Aber da war nichts. Die gemauerten Wände des Sees zogen sich an beiden Seiten glatt und senkrecht dahin, so weit er sehen konnte. Und hinter ihm ... selbst wenn er hätte erkennen können, was in der Mitte des Sees lag - die Strecke war einfach zu weit, um sie in diesem eiskalten Wasser zu durchschwimmen. Er würde ertrinken, ehe er auch nur die Hälfte geschafft hatte.

Da bemerkte er etwas, was alle seine Überlegungen hinfällig machte: Inmitten des Nebels, der den See bedeckte, bewegte sich etwas. Und diesmal war es mehr als ein Schatten.

Schwäche und Kälte begannen seinen Blick zu verschleiern, so daß er auch ohne die grauen Schwaden Mühe gehabt hätte, Einzelheiten zu erkennen. Es war ein langgestreckter, flacher Umriß, der allmählich an Substanz zu gewinnen schien, als wäre er nicht wirklich, sondern ein Teil des Nebels, der versuchte, Materie zu werden. Der Vorgang war so gespenstisch, daß Aton für einen Moment selbst den Fremden vergaß, der noch immer über ihm stand - und als er sich wieder an ihn erinnerte und mit einer erschrockenen Bewegung aufsah, erlebte er eine neue Überraschung: Auch der unheimliche Fremde hatte den Schatten erspäht. Er stand hoch aufgerichtet da und blickte angespannt auf den See hinaus, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck von ... Furcht?

Atons Gedanken arbeiteten mit zehnfacher Schnelligkeit.

Wenn das, was da auf ihn zukam, etwas war, wovor sich der Fremde fürchtete, dann war es vielleicht ... sein Verbündeter.

Aton überlegte nicht länger. Mit einer kraftvollen Bewegung stieß er sich ab und glitt wieder in den See hinein. Der Schatten war näher gekommen, aber noch immer nicht genau zu erkennen. Zumindest glaubte er so etwas wie ein Boot auszumachen, in dessen Heck sich eine Gestalt erhob. Er schwamm schneller, spürte zu seiner eigenen Überraschung, daß er offensichtlich noch über größere Kraftreserven als erwartet verfügte, und legte noch ein wenig an Tempo zu, so daß er überraschend gut vorwärts kam. Der Schatten wuchs schnell heran und stellte sich tatsächlich als Boot heraus; wenn auch eines, wie Aton es noch nie zuvor gesehen hatte.

Es war sehr flach, hatte einen hochgezogenen Bug und schien vollkommen aus Schilf gemacht zu sein. Die Gestalt in seinem Heck, die es mittels einer langen Stange vorwärts bewegte, trug einen schwarzen Kapuzenmantel, der ihren Körper und ihr Gesicht vollkommen verhüllte.

Atons Kräfte begannen nun wieder nachzulassen, aber das Boot war auch schon sehr nahe. Noch einmal warf sich Aton nach vorne, griff nach dem Rand des Schilfbootes und versuchte sich hinaufzuziehen.

Seine Kräfte reichten nicht. Er sank wieder zurück, geriet für einen kurzen Moment vollends unter Wasser und kam prustend und nach Atem ringend wieder an die Oberfläche.

Hinter ihm bewegte sich etwas. Aton spürte die Bewegung mehr, als er sie sah, aber sie war ganz deutlich. Hastig drehte er sich herum - und schrie gellend auf.

Ein Ungeheuer pflügte wie ein lebender Torpedo auf ihn zu.

Aton fühlte, wie ihm das Blut in den Adern gerann. Er sah einen kolossalen, mit grünen, glitzernden Schuppen bedeckten Körper, kleine, tückische Augen und ein wahrhaft gigantisches Maul voller spitzer Zähne.

Aton warf sich herum und griff ein zweites Mal nach dem Boot, und diesmal gelang es ihm, sich halb über seinen Rand zu ziehen. Er drohte auch jetzt wieder abzurutschen, aber da beugte sich die Gestalt im Heck vor, ergriff sein Handgelenk und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck endgültig aus dem Wasser. Aton sank mit einem erleichterten Seufzen in der Mitte des kleinen Bootes zusammen und schloß für eine Sekunde die Augen. Er war gerettet. Und diesmal buchstäblich im allerletzten Moment.

Seine Erleichterung hielt allerdings nicht sehr lange vor, nur bis zu dem Moment, in dem er die Augen wieder öffnete und die Hand seines Retters sah, die noch immer auf seinem Unterarm lag.

Es war keine Hand. Jedenfalls keine richtige. Sie hatte nämlich weder Haut noch Fleisch, sondern bestand nur aus blanken, weiß schimmernden Knochen.

Aton sprang mit einem Schrei hoch, so daß das ganze Boot ins Schwanken geriet und er sich hastig wieder auf die Knie herabsinken ließ, um nicht über Bord zu fallen oder gleich das Boot zum Kentern zu bringen. Die Knochenhand seines unheimlichen Retters verschwand wieder in den weiten Ärmeln des Mantels, und die Gestalt richtete sich auf und zog sich ins Heck des Bootes zurück. Mit klopfendem Herzen sah Aton zu ihr hoch. Er versuchte, das Dunkel unter der Kapuze mit Blicken zu durchdringen, aber es gelang ihm nicht. Die Schatten waren so tief, daß unter dem schwarzen Stoff ebensogut auch gar nichts hätte sein können.

Und vielleicht war das auch so ...

Aton war nun wirklich am Rande einer Panik. Seine Überlegung, daß der Feind seines Feindes automatisch sein Freund sein müsse, war vielleicht etwas naiv gewesen, aber jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen.

Wie es aussah, war es vielleicht zu spät, um überhaupt noch etwas zu tun. Die unheimliche Gestalt machte zwar keine Anstalten, sich ihm zu nähern, sondern stand hoch aufgerichtet im Heck des Bootes und stakte es weiter vorwärts, aber er war ihr trotzdem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Selbst wenn das Wasser nicht so mörderisch kalt gewesen wäre, wäre er weiter auf dem Boot gefangen gewesen - das Ungeheuer hatte sich ein Stück zurückgezogen, aber es war noch immer da, ein grüner, mindestens fünf Meter langer Koloß, der das kleine Boot umkreiste und nur darauf wartete, daß seine Beute wieder ins Wasser zurücksprang.

Aton erkannte jetzt auch, worum es sich handelte - nämlich um ein Krokodil, und zwar das mit Abstand häßlichste und bösartigste, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das Ungetüm war ein gutes Stück länger als das ganze Boot.

Wahrscheinlich hätte es das winzige Gefährt ohne Mühe einfach umwerfen können, dachte Aton. Aber das wollte es wohl gar nicht. Wahrscheinlich, überlegte er düster, hatte seine Aufgabe nur darin bestanden, ihn genau dorthin zu jagen, wo er jetzt war. Nein - er hatte sich wirklich nicht sehr klug benommen.

Zorn ergriff ihn; Zorn auf Petach, der ihn in diese ausweglose Situation gebracht hatte, aber auch Zorn auf diese Götter, die glaubten, mit Menschen spielen zu können wie mit Schachfiguren. Noch einmal stand er auf - sehr viel vorsichtiger diesmal, raffte all seinen Mut zusammen und trat der verhüllten Gestalt einen halben Schritt entgegen.

»Was willst du?« fragte er. Seine Stimme klang überraschend fest, aber der Nebel, durch den sie glitten, verschluckte auch jedes Echo, so daß sie ihm zugleich düster und unwirklich vorkam.

»Was willst du von mir?« fragte er noch einmal. »Wer bist du?«

Die Schwärze unter der Kapuze starrte ihn an. Er bekam keine Antwort, aber er spürte, daß dieser Mantel nicht leer war, wie es schien. Etwas war dort, etwas, das seine Worte genau hörte und verstand und das vielleicht tiefer als nur in sein Gesicht blickte. Und - seltsam genug, angesichts der Umstände, aber das Gefühl war ganz deutlich - Aton war nicht sicher, daß dieses Etwas ihm wirklich feindlich gesonnen war.

»Sag mir wenigstens, was ... was das alles zu bedeuten hat«, bat er. »Ich will euch ja helfen, aber ich weiß einfach nicht, wie.«

Er bekam auch diesmal keine Antwort, doch nach einer Weile begann sich das Boot zu drehen. Der Nebel wurde wieder dichter, als sie in die Richtung zurückzufahren begannen, aus der es gekommen war.

Aton drehte sich herum.

Der Nebel war so dicht wie eine graue Mauer, aber er spürte, daß ihr Ziel jetzt nicht mehr sehr weit entfernt sein konnte.

Und es vergingen auch nur wenige Minuten, bis erneut Schatten und formlose Umrisse vor ihnen aufzutauchen begannen.

Kurz darauf berührte das Boot eine niedrige, kunstvoll verzierte Mauer, die kaum eine Handbreit aus dem Wasser ragte.

Aton sah zu seinem unheimlichen Fährmann zurück. Die Gestalt blieb im Heck des Bootes stehen und rührte sich nicht, aber Aton war trotzdem klar, was sie von ihm erwartete: Sie hatten ihr Ziel erreicht. Es wurde Zeit, von Bord zu gehen.

Aton hob einen Fuß - und zögerte. Der Nebel war auch hier so dicht, daß er alles, was weiter als zwei oder drei Meter entfernt war, nur schattenhaft erkennen konnte, und hinter den grauen Schwaden konnten furchtbare Gefahren auf ihn lauern.

»Nein«, sagte er entschieden. »Ich gehe nicht.«

Er drehte sich zu dem Kapuzenmann um, um zu sehen, wie dieser auf seine Weigerung reagierte. Die Gestalt rührte sich nicht.

»Hast du mich verstanden?« fragte Aton herausfordernd. »Ich denke nicht daran, dorthin zu gehen. Ich rühre mich hier nicht von der Stelle, hörst du?«

Der Unheimliche stand einfach da und starrte ihn an, und es verging noch eine geraume Weile, bis Aton begriff, daß er das auch weiter tun würde - er würde einfach stehenbleiben, und Aton konnte hier warten, bis er Wurzeln schlug, ohne daß sich das Boot von der Stelle rührte. Aton wandte sich abermals um und sah auf die Insel hinauf. Der Nebel war nicht dünner geworden, aber er glaubte jetzt, trotzdem einen gewaltigen, finsteren Schatten in ihrem Zentrum zu erkennen.

Langsam hob er wieder einen Fuß, setzte ihn auf den vor Nässe glänzenden Stein und trat schließlich ganz vom Boot herunter.

Im selben Moment verschwand das Boot.

Es fuhr nicht etwa in den Nebel zurück oder löste sich auf, es war einfach nicht mehr da, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. Aton starrte auf das Wasser hinunter, wo es gelegen hatte, dann drehte er sich endgültig herum und begann, in den Nebel hineinzumarschieren.

Langsam näherte er sich dem Schatten im Zentrum der Insel.

Er konnte jetzt zumindest erkennen, daß es sich wohl um eine Art Gebäude handelte, genauer gesagt um ein mächtiges steinernes Dach, das von einer großen Anzahl fast mannsdicker Säulen getragen wurde. Ein halbes Dutzend flacher Stufen führte ins Innere dieses steinernen Baldachins hinein, und Aton hatte sie kaum betreten, da verschwand der Nebel wie weggezaubert.

Der Anblick war so phantastisch, daß Aton einfach stehenblieb und sich aus großen Augen umsah. Was er am Ufer des künstlichen Sees gesehen hatte, war schon schier unglaublich gewesen, doch dies hier war hundertmal großartiger.

Die Säulen, die das Dach trugen, waren nicht aus Stein, sondern aus schwarzem Ebenholz gefertigt. In regelmäßigen Abständen waren schmale, goldene Bänder in das schwarze Holz eingelassen, und neben jeder einzelnen Säule stand die lebensgroße Statue eines ägyptischen Kriegers. Gesichter und Augen waren so täuschend echt, daß Aton im ersten Moment tatsächlich glaubte, lebendigen Menschen gegenüberzustehen. Überall, einem nicht erkennbaren, aber vorhandenen Muster folgend, waren weitere Tier- und Menschenstatuen verteilt, und unter dem Dach schwebte ein überlebensgroßer Falke, der aus purem Gold bestand.

All diese Wunder jedoch verblaßten gegen den Anblick, der sich Aton in der Mitte des Tempels bot. Eingefaßt von einer kniehohen Mauer aus blütenweißem Marmor erhob sich dort ein sicherlich dreißig Schritte im Quadrat messendes Wasserbecken. Das Wasser war so klar, daß Aton es im ersten Augenblick kaum sah. Eine Anzahl kleiner, aus Gold und anderer. Edelmetallen gefertigter Fische war an haarfeinen Drähten darin aufgehängt, und die vier Eckpunkte des Beckens wurden von übermannsgroßen, geflügelten Wesen bewacht.

In der Mitte dieses Sees befand sich eine Barke. In Konstruktion und Form ähnelte sie dem Schilfboot, mit dem Aton die Insel erreicht hatte, aber sie war viel größer und bestand aus demselben mitternachtsschwarzen Holz wie die Säulen, die das Dach trugen. Wie diese war sie über und über mit goldenen Einlegearbeiten verziert, und als Aton näher herantrat, sah er, daß sie auf einem Sockel aus weißem Marmor ruhte, nicht im Wasser. Ein gutes Dutzend Männer stand an beiden Seiten des Rumpfes, wie Atons Fährmann mit langen Stangen ausgestattet, mit denen sie das Boot von der Stelle staken konnten. Auch diese Statuen waren so lebensecht, daß Aton sich kaum noch gewundert hätte, hätten sie ihre Stangen im nächsten Moment tatsächlich bewegt, um ihre Arbeit zu erfüllen. Wie die Krieger neben den Säulen bestanden sie aus sorgsam poliertem und bemaltem Holz, und wie bei diesen waren ihre Kleider echt, nicht etwa aufgemalt oder geschnitzt.

Im hinteren Teil der Barke gab es einen hohen, ganz in Gold und Blau gehaltenen Baldachin, um dessen Stützpfeiler sich kunstvoll geschnitzte Schlangen wanden, deren aufgerissene Mäuler sich drohend jedem Eindringling entgegenreckten.

Was darunter lag, konnte Aton im ersten Moment nicht richtig erkennen, so daß er kurz den Gedanken erwog, ins Wasser zu steigen und zu der Barke hinüberzuwaten. Aber irgend etwas warnte ihn davor. So ging er am Rand des Wasserbeckens entlang, bis er einen besseren Blick auf das hintere Drittel des Bootes hatte.

Aton riß ungläubig die Augen auf, als er sah, was sich unter dem Baldachin befand.

Es waren zwei Sarkophage.

Jeder mußte weit über zwei Meter messen, und wenn sie tatsächlich aus Gold waren, wie ihre Farbe glauben ließ, so mußten sie Tonnen wiegen. Wie bei den Särgen der ägyptischen Könige üblich, war ihre Form dem, der darin zur letzten Ruhe gebettet worden war, nachempfunden, bis hin zu den Gesichtern, deren Züge mit großer Kunstfertigkeit in das Gold hineinziseliert worden waren.

Es waren die Särge eines Mannes und einer Frau. Beide kamen Aton merkwürdigerweise bekannt vor, sie wirkten sehr edel, sehr stolz und zugleich irgendwie traurig. Ihre Hände waren auf der Brust gefaltet. Die des Mannes hielten den Krummstab und den Fliegenwedel eines Pharaos, in denen der Frau lag etwas, was er nicht erkennen konnte.

Aton stand lange Zeit am Rande des Wasserbeckens und sah auf das Boot und seine Fracht hinab. Eine sonderbare Art der Beklemmung hatte sich in ihm breitgemacht, als er begriff, daß er sich nirgendwo sonst als in einem Grab befand. Es war Jahrtausende alt, und wahrscheinlich existierte es gar nicht wirklich, denn logisch betrachtet konnte er all dies nicht wirklich erleben, und trotzdem hatte er das Gefühl, an einem heiligen Ort zu sein und an einem verbotenen Ort dazu, an dem die Lebenden nichts zu suchen hatten.

Und ganz plötzlich wußte er, daß er diesen Ort kannte.

Er war niemals hiergewesen, denn daran hätte er sich erinnert, ganz gleich, wieviel Zeit inzwischen vergangen und was alles geschehen war, aber dieser Ort war ihm trotzdem nicht fremd, sondern auf eine schon fast unheimliche Weise vertraut.

Warum war er hier?

Es war kein Zufall. Aton war nicht hier, weil ihn sein unheimlicher Verfolger hierhergejagt hatte. Er war aus einem bestimmten Grund hier, und er spürte ganz deutlich, daß er eigentlich wissen müßte, warum. Das Wissen war ganz deutlich in seinem Kopf, aber es war wie ein glitschiger Fisch im Wasser: Immer wenn er danach greifen wollte, schlüpfte es zwischen seinen Fingern hindurch. Er war hier, um ... etwas zu sehen? ... etwas zu tun? ... etwas zu begreifen?

Aber was?

»Helft mir!« flüsterte er. »Ich will euch ja helfen, aber ihr müßt mir sagen, wie! Was kann ich für euch tun? Was ist es, das ihr haben wollt?«

Es war wie vorhin draußen im Nebel auf dem See: Seine Stimme versickerte in der Stille, kein Echo kam zurück, nur dieses unheimliche, fast stoffliche Schweigen. Er wußte jetzt, daß er gut daran getan hatte, nicht zum Boot hinüberzugehen. Die Ruhe dieser beiden Toten dort in ihren goldenen Särgen war heilig, und niemand - auch er nicht - hatte das Recht, sie zu stören. Schon sein Hiersein war nicht richtig, der Klang seiner Stimme ein Frevel, der nicht ungestraft bleiben würde. Langsam drehte sich Aton herum - und prallte so abrupt zurück, daß er um ein Haar doch das Gleichgewicht verloren hätte und in das Wasserbecken zu stürzen drohte.

Hinter ihm stand der Fremde.

Irgendwie hatte er es geschafft, den See zu überqueren und noch dazu trockenen Fußes, obwohl Aton sicher war, daß sein unheimlicher Fährmann ihm nicht zur Verfügung gestanden hatte. Aber er war da, und er schien entschlossener denn je, sich von Aton dieses geheimnisvolle »Etwas« zu holen, denn in seiner rechten Hand blitzte die Klinge eines Dolches.

Aton entging dem Hieb nur durch pures Glück. Die Klinge zerfetzte seine Jacke an der Schulter, berührte die Haut darunter aber wie durch ein Wunder nicht, und zu einem zweiten Hieb ließ Aton es nicht kommen. Es war wohl der Mut der Verzweiflung, der ihn beseelte, vielleicht auch nur Zufall, der ihn das einzig Richtige tun ließ: Er packte den Angreifer mit beiden Händen, wirbelte ihn auf der Stelle herum und versetzte ihm dann einen Stoß, der ihn rücklings in das Wasserbecken stürzen ließ. Noch während dieser mit einem gewaltigen Platschen in dem glasklaren Wasser versank, raste Aton los.

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