Der Überfall

Aton versuchte seinen Sturz abzufangen, aber seine Kraft reichte nicht aus. Er wurde auf das Bett geschleudert, und vermutlich bewahrte ihn nur das weiche Bettzeug vor einer schweren Verletzung, denn der Sturm traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlages. Rings um ihn herum gingen scharfkantige Glasscherben und Splitter des Fensterrahmens nieder, und das Zimmer war von einer Sekunde auf die andere von höllischem Lärm und durcheinanderwirbelndem Weiß erfüllt; Schnee und Eis, in die sich auch noch die Federn des aufgeschlitzten Bettzeugs mischten.

Aton richtete sich auf und hob schützend den Arm über das Gesicht. Der Hagel aus Glassplittern hatte aufgehört, aber er konnte trotzdem kaum etwas sehen, geschweige denn hören.

Der Sturm erfüllte das Zimmer mit einem unbeschreiblichen Lärm, in den sich auch noch Anubis' hysterisches Kläffen und ein an- und abschwellendes Heulen mischte, das Aton erst nach einigen Sekunden als das Schrillen der Alarmanlage erkannte, die durch das Zerbrechen des Fensters ausgelöst worden war. Es war eiskalt im Zimmer, und das Schneetreiben hier drinnen war so dicht, daß es sich kaum mehr von dem draußen unterschied. Aton konnte die gegenüberliegende Wand fast nicht mehr erkennen.

Auch Petach war von der plötzlichen Böe vom Stuhl gefegt worden, hatte sich aber rascher wieder erhoben als Aton.

Jetzt versuchte er das Fenster zu erreichen, aber der Sturm schlug ihm mit solcher Macht entgegen, daß er weit nach vorne gebeugt gehen mußte und trotzdem kaum von der Stelle kam. Seine Augenbrauen und sein Haar waren bereits weiß, und auch in seinen Kleidern glitzerten Eiskristalle.

»Aton!« schrie er. »Das Fenster! Wir müssen die Läden schließen! Hilf mir!«

Aton stemmte sich mit aller Kraft gegen den Sturm, aber er kam erst wirklich von der Stelle, als er ein Stück zur Seite wich und sich dem Fenster nicht mehr unmittelbar näherte.

Hinter ihm kämpfte auch Anubis gegen den Sturm, allerdings auf typische Hundeart: ziemlich laut und nicht besonders clever. Er hatte alle viere in den Boden gestemmt und biß laut kläffend nach den Sturmböen, die wie mit eisigen Krallen nach seinem Gesicht schlugen. Bastet hatte sich längst verkrochen; Katzen waren eben doch klüger als Hunde.

Als Aton das Fenster erreichte, hatte sich Petach bereits hinausgelehnt und angelte mit der Hand nach einem der Läden. Mit der anderen mußte er sich am Fensterbrett festklammern und zusätzlich die Füße gegen den Boden stemmen, um nicht ins Zimmer zurückgeschleudert zu werden.

»Wir müssen das Fenster zumachen, ehe das ganze Haus wegfliegt!« schrie er über das Toben des Sturms hinweg. Das war natürlich übertrieben, aber im Grunde hatte Petach recht. Sie konnten nicht tatenlos zusehen, wie der Sturm hier drinnen alles verwüstete. Trotzdem verstand Aton Petachs Erregung nicht ganz. Der Ton in seiner Stimme grenzte an Panik.

Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, einen der beiden Laden zu lösen und einzuhaken, aber der andere wurde vom Sturm so gegen die Wand gepreßt, als wäre er festgenagelt.

Ihre Finger waren klamm vor Kälte, und das Atmen bereitete ihnen große Mühe.

»Du mußt dich weiter hinausbeugen!« schrie Petach. »Ich halte dich, keine Angst.«

Aton wartete, bis Petachs Hände seine Hüften sicher umschlossen hatten, dann beugte er sich weit ins Freie. Der Sturm heulte lauter auf. Eiskristalle stachen in seine Augen, so daß sie sich mit Tränen füllten und er kaum noch etwas sah. Halb blind und mit Fingern, die nach Sekunden so steif gefroren waren, daß jede Berührung weh tat, tastete er nach dem kleinen Riegel, der den Fensterladen an der Wand hielt.

Irgendwie bekam er ihn auf, aber den Laden zu schließen überstieg fast seine Kräfte.

Erst als Petach mit Zugriff, schien es ihnen zu gelingen, aber im letzten Moment brüllte der Sturm plötzlich auf, riß ihnen den Laden aus den Händen und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, daß er in Stücke brach.

Und nicht nur das Heulen des Sturms wurde lauter. Irgend etwas geschah mit dem Licht. Es wurde schwefelgelb und schien plötzlich aus allen Richtungen zugleich zu kommen, denn es gab keine Schatten mehr, und die wirbelnden Schneeflocken sahen plötzlich aus wie Millionen glühender Funken, die in einem Feuersturm daherkamen.

»Mein Gott!« sagte Aton erschrocken. »Was ... was ist denn das für ein seltsamer Sturm?«

»Das ist kein Sturm«, antwortete Petach. »Das ist ...« Er stockte, beugte sich vor und blickte in den Garten hinunter, und Aton konnte sehen, wie sein Gesicht blaß wurde.

Als er Petachs Blick folgte, erschrak er ebenfalls. Unten im Garten, inmitten der tobenden Schneemassen, stand eine Gestalt, kaum mehr als ein Schatten, und sah zu ihnen herauf.

Doch Petach schien zu wissen, um wen es sich handelte, denn er prallte mit einem Schreckensruf zurück und fuhr herum.

»Raus hier!« schrie er. »Schnell!«

Doch bevor sich Aton vom Fenster abwenden konnte, sah er etwas, das ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Die Gestalt - die er noch immer nur als tiefenlosen schwarzen Schatten erkennen konnte - hatte den Kopf gehoben und riß die Arme in die Höhe, und irgend etwas löste sich von ihr und raste mit irrsinnigem Tempo auf das Fenster zu.

Aton konnte nicht erkennen, was es war, denn Petach riß ihn vom Fenster fort, aber es war riesig, finster und brodelnd, fast als hätte der Sturm selbst versucht, Gestalt anzunehmen.

Dann hatten sie das Zimmer auch schon durchquert und waren draußen auf dem Korridor. Petach ließ Atons Arm los, wirbelte herum und griff hastig nach der Türklinke. Irgend etwas Gewaltiges, Schwarzes füllte plötzlich den Raum hinter ihm aus, und Aton vermochte hinterher nicht mehr zu sagen, ob es Petach gewesen war, der die Tür im letzten Augenblick zuzog, oder ob eine unsichtbare Gewalt sie von drinnen ins Schloß schmetterte.

Der Schlag schien das ganze Haus bis in seine Grundfesten zu erschüttern. Petach wurde zu Boden geschleudert, und in der Tür zeigte sich ein fingerbreiter Riß, der sie wie ein gezackter Blitz von oben bis unten spaltete. Hätte sich unter dem dünnen Furnier nicht massives Metall verborgen, wäre sie vermutlich in tausend Stücke zersprungen.

Aber auch so würde sie keinem zweiten derartigen Angriff standhalten. Aton sah, daß zwischen Rahmen und Wand ein fast handbreiter Spalt entstanden war, aus dem Kalk und zerborstene Ziegelsteine zu Boden fielen. Dahinter flackerte ein unheimliches gelbliches Licht, in dem sich irgend etwas zu bewegen schien.

»Lauf, Aton!« schrie Petach. »Geh mit Anubis! Ich versuche es aufzuhalten!« Er zerrte Aton in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn auf die Treppe zu taumeln ließ. Er fand am Treppengeländer Halt, stolperte noch ein paar Stufen nach unten und blieb wieder stehen, um sich zu Petach herumzudrehen.

Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Tür von einem zweiten, noch gewaltigeren Schlag getroffen und einfach aus den Angeln gerissen wurde. Das schwere Türblatt flog wie ein Geschoß an Petach vorbei, dem es im allerletzten Moment gelang, sich zur Seite zu drehen, prallte gegen die gegenüberliegende Wand und zerbrach endgültig in zwei Teile. Hinter ihm ergoß sich eine Flut aus schwefelgelbem Licht auf den Flur, das Aton die Tränen in die Augen trieb. Trotzdem sah er, wie Petach einen Schritt zurücktaumelte, wieder stehenblieb und die Arme ausbreitete, als wollte er das Licht mit bloßen Händen aufhalten.

Und er wollte es nicht nur - er tat es auch. Das gelbe Leuchten hüllte seine Gestalt ein, verschlang sie förmlich, bis sein Körper sich vor Atons Augen aufzulösen schien wie eine Statue, die in geschmolzenen Stahl gestürzt war - und wich wieder zurück! Petach wankte, aber seine Arme blieben weiter erhoben, und Aton konnte regelrecht spüren, wie er, was immer sich in diesem Leuchten verbarg, mit der puren Kraft seines Willens zurückdrängte. »Lauf!« schrie Petach noch einmal. »Tritt in den Kreis! Dort bist du sicher!«

Aton verstand nicht, was er meinte, aber wenn er auch noch zögerte, Anubis tat es nicht. Die Kiefer des Hundes schlossen sich - ohne ihn zu verletzen, aber mit großer Kraft - um seinen Arm und zogen ihn die Treppe hinunter.

Auf halber Höhe drehte Aton noch einmal den Kopf und sah zu Petach hoch. Der Ägypter stand noch immer mit weit ausgebreiteten Armen da und hielt das Licht zurück. Er schrie irgend etwas, aber Aton konnte es nicht verstehen. Der Sturm und das noch immer anhaltende Heulen der Alarmanlage hatten sich zu einem wahren Crescendo gesteigert, das jeden anderen Laut einfach verschluckte. Aber er ahnte trotzdem, daß Petachs Worte nicht ihm galten.

Anubis zerrte ihn unbarmherzig die Treppe hinab, so daß er nicht verfolgen konnte, was weiter geschah. Auf der untersten Stufe stolperte er und fiel auf Hände und Knie, und als er benommen den Kopf hob, sah er auch die Katze wieder. Bastet stand keinen Meter von ihm entfernt, doch sie war kaum wiederzuerkennen. Jedes einzelne Haar auf ihrem Körper war gesträubt. Ihre Ohren waren dicht an den Schädel gelegt und der Schwanz peitschte nervös hin und her. Bastets Zähne waren drohend gefletscht, und in ihren Augen flackerte Todesangst vor etwas hinter ihm.

Noch immer auf Händen und Knien hockend, fuhr er herum - und konnte einen entsetzten Schrei nicht unterdrücken.

Auch hinter dem kleinen Fenster im oberen Teil der Hintertür war jenes unheimliche gelbe Licht erschienen, und in diesem Leuchten konnte Aton sehr wohl etwas erkennen. Etwas Schattenhaftes näherte sich der Tür, und plötzlich flog sie nach innen und mit solcher Wucht gegen die Wand, daß die Scheibe zerbrach. Eingehüllt in eine Woge aus Licht, Kälte und wirbelndem Schnee betrat der Schatten das Haus und wurde endlich zu einer Gestalt.

Anubis heulte auf, wirbelte herum und raste davon, und auch Aton schrie wieder entsetzt auf, als er die Gestalt erkannte. Es war kein Gespenst, sondern ein Mensch - beziehungsweise das, was einmal ein Mensch gewesen war. Was von seinem Körper nicht unter grauen Binden verborgen war, das war ledern und tiefbraun. Am linken Arm trug er einen Schild, und in der rechten Hand eine Lanze mit dreieckiger Spitze.

Es war die Mumie! Die Mumie aus dem Museum! Sie war gekommen, um nachzuholen, was ihr beim ersten Mal mißlungen war!

Der Gedanke lähmte Aton regelrecht. Schnee und Kälte schlugen über ihm zusammen, und die Mumie näherte sich ihm unaufhaltsam und mit sonderbar schwerfälligen, eckigen Bewegungen, so daß es ihm ein leichtes gewesen wäre, aufzuspringen und davonzulaufen. Aber er war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Über sich hörte er Petach schreien, aber er konnte sich einfach nicht bewegen. Er konnte kaum noch atmen.

Und vermutlich hätte der Unheimliche ihn auch erreicht und getötet, wäre Bastet nicht gewesen. Die Katze stieß plötzlich ein schrilles, kreischendes Fauchen aus, einen Laut, wie Aton ihn nie zuvor aus dem Mund eines Tieres gehört hatte, und schoß wie ein grauer Blitz beinahe waagerecht durch die Luft auf die Mumie zu.

Die Mumie versuchte, ihre Waffen zu heben, aber ihre Bewegungen waren viel zu schwerfällig. Bastet prallte gegen ihre Brust, klammerte sich mit den Hinterläufen daran fest und begann mit den Vordertatzen und Zähnen ihr bandagiertes Gesicht zu bearbeiten. Staub und Stoffetzen flogen unter den angreifenden Krallen davon.

Der unheimliche Angreifer wankte. Bastet schlug und hackte wie toll auf ihn ein, so daß er zuerst seinen Schild, dann die Lanze fallen ließ und mit beiden Händen nach ihr griff. Bastet klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest, aber die Mumie riß sie einfach von sich herunter, ohne darauf zu achten, daß an Bastets Krallen ein guter Teil der vermoderten Bandagen hängenblieb. Darunter kam ledrige, gerissene Haut zum Vorschein, und Aton blickte in Augenhöhlen, die leer, aber nicht ohne Leben waren.

Aus Bastets Fauchen wurde ein gequältes Kreischen, als die Mumie sie packte und zu Boden schleuderte. Die Katze schlitterte meterweit davon, prallte gegen die Wand und blieb wimmernd liegen. Der Mumienkrieger starrte einen Moment lang aus seinen leeren Augenhöhlen auf sie hinab, dann hob er Lanze und Schild auf und drehte sich langsam wieder zu Aton herum.

Und endlich erwachte Aton aus seiner Erstarrung - um ein Haar zu spät. Die Mumie hatte ihn fast erreicht, als er hochsprang und rückwärts vor ihr davonzustolpern begann.

Das grausige Geschöpf stieß einen zischenden, zornerfüllten Laut aus und zielte ungeschickt mit der Lanze nach Aton. Er konnte geschickt der rostigen Spitze ausweichen, aber er prallte dabei so unglücklich gegen den Türrahmen, daß er erneut das Gleichgewicht verlor und stürzte.

Als er sich wieder aufrichten wollte, war die Mumie über ihm. Aton begann sich mit verzweifelter Kraft zu wehren, aber der unheimliche Angreifer packte ihn einfach und zerrte ihn so heftig in die Höhe, daß seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren und für einen Moment in der Luft pendelten. Die schrecklichen, halbvermoderten Finger berührten sein Gesicht, tasteten über seine Augen, die Nase, den Mund und das Kinn und glitten weiter nach unten, auf der Suche nach seiner Kehle. Aton hämmerte verzweifelt mit den Fäusten auf das Gesicht der Mumie ein, aber es war, als schlüge er in einen trockenen Schwamm: Unter seinen Fingern wirbelten trockener Staub und kleine Stoffetzchen davon, aber irgendeine andere Wirkung blieb aus. Dafür hatten die Finger der Mumie seine Kehle erreicht und würden zweifellos gleich zudrücken.

Und dann war plötzlich eine andere Hand da, schmaler, sehniger und vor allem lebendiger als die der Mumie, die den Arm des Unheimlichen ergriff und mit einem einzigen kraftvollen Ruck zurückbog.

Aton taumelte nach hinten und begann hustend nach Luft zu ringen, während Petach die Mumie packte und gegen die Wand warf. Nicht einmal er war den Kräften des lebenden Toten gewachsen, aber er bewegte sich sehr viel schneller als dieser, so daß der Kampf zumindest für den Moment ausgeglichen schien.

Aton fragte sich allerdings, wie lange das wohl so bleiben würde. Petach mochte einige Tricks auf Lager haben, aber er kämpfte gegen einen Feind, der weder Schmerz noch Erschöpfung kannte und den man wahrscheinlich auch nicht töten konnte - tot war er schon seit ein paar tausend Jahren.

»Lauf endlich weg, Aton!« schrie Petach wieder. »In den Kreis!«

Der Anblick des hageren Mannes, der inmitten eines tobenden Schneesturms mit einer dreitausend Jahre alten Mumie kämpfte, reichte endgültig aus, Aton davon zu überzeugen, daß es besser war, auf Petach zu hören. Während Petach mit immer verzweifelter werdenden Sprüngen der Lanze des Angreifers auswich, fuhr Aton auf der Stelle herum und stürzte durch die Wohnzimmertür.

Der Anblick, der sich ihm bot, war beinahe noch gruseliger als alles, was er zuvor gesehen hatte. Schnee und Sturm hatten auch dieses Zimmer erobert und mit ihnen das unheimliche schwefelgelbe Licht. Zwischen den Bücherregalen und Vitrinen tobte ein Mini-Orkan, der alles durcheinanderwirbelte, was nicht niet- und nagelfest war.

Nur genau in der Mitte des Raumes, dort, wo Petach die beiden Feuerschalen aufgestellt hatte, war ein Bereich vollkommener Ruhe geblieben. Auch das gelbe Licht herrschte dort nicht, sondern der klare, milde blaue Schein der beiden brennenden Feuer.

Aber das war noch nicht alles. Das erstaunlichste überhaupt waren die Skarabäen, die Petach auf dem Boden ausgestreut hatte.

Sie waren zum Leben erwacht.

Was vor einer halben Stunde noch aus Stein, Ton, Bronze und Holz gewesen war, das war nun zu einer wild durcheinanderkrabbelnden Masse winziger sechsbeiniger Käfer geworden. Ihre gepanzerten Körper rieben sich mit einem unheimlichen Rascheln und Schaben aneinander, das trotz des noch immer herrschenden Lärmes deutlich zu hören war und Aton eine Gänsehaut über den Rücken jagte; ebenso wie das schreckliche Gefühl, aus unendlich vielen starren Käferaugen zugleich gemustert zu werden.

Trotzdem rannte er weiter auf die winzige Insel aus Stille und sanftem Licht inmitten des tobenden Chaos zu - und blieb kaum einen Schritt davon entfernt stehen.

Er konnte sich nicht mehr bewegen.

Es war, als wäre die Verbindung zwischen seinem Willen und seinem Körper unterbrochen. Alles, was ihm überhaupt noch möglich war, war den Kopf zu drehen und zur Tür zurückzublicken.

Die Mumie hatte Petach offensichtlich überwältigt. Sie machte keinen Versuch, Aton zu verfolgen, sondern stand einfach nur da und starrte ihn an. Und zugleich stieg dieses mit Worten kaum zu beschreibende Gefühl in ihm auf, das er bei seiner Begegnung im Wald gehabt hatte - als griffe eine unsichtbare, eiskalte Hand nach ihm und begänne langsam, das Leben aus ihm herauszupressen. Er bekam keine Luft mehr. Aton spürte, wie sein Herz immer schwerer schlug und sich sein Magen und alle anderen Organe zusammenzogen.

Es tat überhaupt nicht weh, aber es war ein furchtbares Gefühl, und er spürte, daß etwas noch viel Furchtbareres geschehen würde, wenn es ihm nicht gelang, den Bann zu brechen.

Er versuchte es. Er versuchte es mit aller Kraft, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Und plötzlich spürte er, wie er sich - völlig ohne sein eigenes Zutun - herumzudrehen begann und einen ersten Schritt auf die Mumie zu machte.

Noch bevor er den zweiten tun konnte, erschien Petach unter der Tür. Sein Gesicht war blutüberströmt, und seine Kleider waren zerrissen, aber seine Bewegungen waren so schnell und kraftvoll wie zuvor. Blitzartig umschlang er die Mumie von hinten mit den Armen, wirbelte sie herum und stieß sie so heftig gegen ein Regal, daß die meisten Bücher von den Brettern fielen und die Schreckgestalt unter sich begruben.

»Der Kreis!« schrie Petach.

Aton konnte sich wieder bewegen, denn als Petach die Mumie gepackt hatte, war der unsichtbare Bann von ihm abgefallen. Mit einem Satz war er in der Mitte der lebendigen Skarabäen, und im selben Moment, in dem er aus dem Sturm heraus war, sank auch dessen Heulen auf ein erträgliches Maß herab, ebenso wie das Wimmern der Alarmanlage. Dafür wurde das Rascheln und Knistern der krabbelnden Käfer lauter. Die Tiere bewegten sich immer schneller. Aton sah, daß sie jetzt zwei unterschiedlich große Kreise bildeten, die sich an zwei Stellen überschnitten, so daß der Bereich, in dem Aton stand, im Grunde kein Kreis war, sondern eine Art doppelter Halbmond.

An den beiden Schnittstellen hätte eigentlich ein heilloses Chaos entstehen müssen, aber die winzigen sechsbeinigen Geschöpfe wichen sich wie durch Zauberei immer wieder im letzten Moment aus. Die Bewegung der beiden Kreise kam nicht einmal ins Stocken. Nur das Schaben der aneinanderreihenden Chitinpanzer war zu hören.

Ein Gefühl dumpfer Hilflosigkeit überkam Aton. Er war dem Tod um Haaresbreite entronnen, und was tat er? Er stand inmitten eines Kreises aus Käfern und verließ sich darauf, von einem jahrtausendealten Hokuspokus beschützt zu werden. Erst dann fiel ihm der Fehler in diesem Gedanken auf. Schließlich war es ja auch derselbe jahrtausendealte Hokuspokus, der ihn überhaupt erst in Gefahr gebracht hatte.

Er sah zu Petach hinüber.

Die Mumie hatte sich wieder erhoben und wankte auf den Ägypter zu. Sie konnte nicht mehr richtig gehen; einige der morschen Knochen mußten bei dem Sturz zerbrochen sein.

Aber sie war deswegen nicht weniger gefährlich. Das linke Bein hinter sich herschleifend, taumelte sie vorwärts - und stieß so plötzlich mit der Lanze zu, daß Petach dem Angriff nicht mehr ausweichen konnte. Die rostige Spitze durchbohrte seine Brust. Petach taumelte zurück, brach in die Knie und sank zur Seite. Die Mumie drehte sich herum und humpelte auf Aton zu. In ihren leeren Augenhöhlen flackerte die pure Mordlust. Bastets Krallen hatten die Bandagen vor ihrem Gesicht zerfetzt, so daß Aton direkt in ihr erstarrtes Totenkopf-Grinsen sah.

Jetzt hatte die Mumie den Kreis erreicht, hob ihren verletzten Fuß, um darüber hinwegzutreten - und wich wieder zurück. Ihr pergamenttrockenes Gesicht war nicht in der Lage, irgendwelche Gefühle auszudrücken, und trotzdem glaubte Aton das Mißtrauen zu fühlen, das das furchtbare Geschöpf plötzlich erfüllte.

Wie sich in der nächsten Sekunde zeigte, war diese Vorsicht durchaus berechtigt. Die Mumie überwand ihre Bedenken und führte die Bewegung zu Ende. Die Skarabäen ergossen sich wie eine summende, zangenbewehrte lebende Flut über das Bein des Unheimlichen, und plötzlich flogen Staub und winzige Stoffetzen in die Höhe. Ein besonders unternehmungslustiger Pillendreher krabbelte am Bein der Mumie in die Höhe und begann sich in ihre Hüfte hineinzufressen, während die Armee der anderen den Fuß binnen Sekunden bis auf die Knochen abnagte. Die Mumie wich einen Schritt zurück, starrte auf ihren skelettierten Fuß hinab und dann wieder auf die Skarabäen, die ungerührt weiter ihre Kreise zogen.

Aton war kaum weniger verblüfft als die Mumie. Zugleich aber begann er neue Hoffnung zu schöpfen. Verrückt oder nicht, Petachs Zauber schien zu wirken. Er sah die durcheinanderwuselnden Käfer an, und plötzlich erschien ein schadenfrohes Grinsen auf seinem Gesicht.

»Was ist los, Kumpel?« fragte er. »Traust du dich nicht? Komm doch her. Ich glaube, sie warten schon auf dich.«

Atons Schadenfreude hielt noch ungefähr eine Sekunde vor - und dann fiel ihm schlagartig jene alte Volksweisheit ein, nach der Hochmut meistens vor dem Fall kommt. Und sie schien einer gewissen Wahrheit nicht zu entbehren. Die Mumie bewegte sich nämlich erneut, aber diesmal riskierte sie keinen weiteren Fuß, sondern stieß mit ihrer Lanzenspitze nach den Skarabäen. In der ersten Sekunde kam Aton dieses Vorgehen geradezu lächerlich vor - der Unheimliche konnte unmöglich vorhaben, all diese unzähligen Käfer einzeln aufzuspießen.

Das hatte er auch nicht. Die Käfer fluteten über die Lanzenspitze hinweg wie zuvor über den Fuß der Mumie. Sie versuchten erst gar nicht, dem rostigen Eisen Schaden zuzufügen, sondern rannten unbeeindruckt weiter - aber nicht sehr lange. Atons Augen wurden groß vor Schreck, als er sah, wie die Bewegungen der Tiere, die mit der Lanzenspitze in Berührung gekommen waren, langsamer wurden und schließlich ganz erlahmten - weil sie sich wieder in Holz, Ton und Bronze zurückverwandelten!

Die Lanzenspitze bewegte sich hin und her, und bei jedem einzelnen Skarabäus, dessen Weg sie kreuzte, erlosch der Zauber, der ihn zum Leben erweckt hatte. Die Zahl der Käfer war beträchtlich, aber die Lanzenspitze pflügte mit tödlicher Präzision durch das Insektenheer, und auch wenn es noch dauern mochte - der Moment war abzusehen, in dem Atons Leibwache nur noch aus leblosem Ton und Stein bestehen würde.

Mit wachsender Verzweiflung sah sich Aton nach einem Fluchtweg um. Zwischen ihm und der einzigen Tür befand sich die Mumie. Bis zum Fenster waren es nur wenige Schritte, aber es war verschlossen, und Aton wußte, daß das Glas so stark war, daß er ihm allenfalls mit einem schweren Hammer beikommen würde. Er saß in der Falle. Der größte Teil der Skarabäen war bereits erstarrt, und es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis sein magischer Schutz endgültig dahin war.

Wenn er wenigstens eine Waffe gehabt hätte! Aber der zusammengedrückte Kreis, in dem er gefangen war, war leer bis auf die beiden Kanopenkrüge und die Opferschalen, in denen die Feuer brannten. Er konnte allerhöchstens mit Tonkäfern nach der Mumie werfen.

Das brachte ihn auf eine Idee. Inmitten der Käferschar lagen kleine Fetzchen der Bandagen, die die Käfer vom Fuß der Mumie abgerissen hatten. Voller Ekel und mit spitzen Fingern nahm Aton eines davon auf und warf es ins Feuer. Der Stoff flammte auf und zerfiel binnen einer Sekunde zu Asche.

Aton zögerte nicht länger. Die Zahl seiner Beschützer war mittlerweile allenfalls noch dreistellig. Wenn er noch weiter wartete, brauchte er sich gar keine Gedanken mehr zu machen. Entschlossen hob er die Opferschale auf, drehte sich herum und goß die brennende Flüssigkeit über der Mumie aus.

Das Ergebnis übertraf seine kühnsten Hoffnungen. Nur wenige Tropfen der brennenden Flüssigkeit fielen zu Boden; der allergrößte Teil sickerte sofort in die uralten, staubtrockenen Binden ein - und die Mumie stand in hellen Flammen!

Es ging so schnell, daß Aton kaum wirklich sah, was passierte. Dreitausend Jahre alter Stoff, vertrocknete Haut und mürbe Knochen glühten auf und zerfielen binnen Sekunden zu Asche. Der ganze Vorgang dauerte nicht einmal eine halbe Minute.

Doch so kurz die Flammen auch brannten, sie brannten heiß genug, einen der zahlreichen elektronischen Wachhunde des Hauses auszulösen. Der magischen Katastrophe folgte eine computergesteuerte. Aton fand nicht einmal Zeit, Erleichterung zu empfinden, da löste die automatische Brandschutzanlage den Sprinkler aus, und ein eiskalter künstlicher Wolkenbruch ging auf Aton herab. Die Überreste der Mumie und die zahllosen kleinen Brandherde auf dem Boden erloschen zischend, eine Sekunde später auch das Feuer in der zweiten Opferschale.

Trotzdem wurde es nicht dunkel. Aton nahm erst jetzt das flackernde blaue Licht, das durch das Fenster hereinfiel, wahr und das schrille Kreischen und Heulen, das sich in den noch immer anhaltenden Lärm hier drinnen mischte. Der magische Sturm hielt weiter an, schien sogar noch schlimmer zu werden. Wie war er eigentlich auf die Idee gekommen, daß es nur diese einzige Mumie gab? Wahrscheinlich stritten sich dort draußen gerade Dutzende von diesen Biestern darum, wer ihm den Garaus machen durfte!

Eine Reihe dumpfer, lang nachhallender Schläge traf die Haustür, und einen Augenblick später hörte er das Klirren von Glas. Sie kamen, um ihn zu holen!

Aton fuhr herum und stürmte aus dem Zimmer. Die Haustür flog mit einem ungeheuren Krachen aus dem Rahmen, und ein grelles, blauweißes Licht stach wie ein Messer in Atons Augen. Halb blind fuhr er herum, riß schützend die Hand über das Gesicht und stolperte in die entgegengesetzte Richtung davon - und direkt in die Arme einer anderen Gestalt, die das Haus offensichtlich durch die Hintertür betreten hatte. Starke Hände schlossen sich um Atons Oberarme und hielten ihn mit unbarmherziger Kraft fest. Aton bäumte sich auf und warf sich mit aller Gewalt zurück, aber es war zwecklos. Das grelle Licht stach unbarmherzig in seine Augen, obwohl er die Lider fest zusammengepreßt hielt, und jemand begann ihn heftig zu schütteln und schrie etwas, was er nicht verstand.

Vermutlich war es das, was ihn wieder zur Besinnung brachte. Die Mumie hatte ihn nicht angeschrien. Sie hatte ihm auch nicht mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet, und sie hatte erst recht keine grüne Uniform mit einer dazu passenden Schirmmütze getragen, unter der ein blonder Pferdeschwanz hervorquoll, wie die junge Polizistin, die ihn gepackt hatte und ihn sanft, aber beharrlich schüttelte.

»So beruhige dich doch!« sagte sie. »Was ist los? Bist du verletzt? Was ist hier passiert?«

»Petach«, stammelte Aton. »Er ist tot, und ... die Mumie ... oben ...«

Obwohl die Polizeibeamtin kaum verstanden haben konnte, was er mit diesen gestammelten Worten meinte, schien sie für den Moment genug gehört zu haben. Vorsichtig, aber mit großem Nachdruck drehte sie Aton herum und schob ihn auf die offenstehende Hintertür zu. »Ich bringe den Jungen raus«, wandte sie sich an ihre Kollegen, die durch die Vordertür hereingekommen waren. »Seht oben nach. Da ist ein Fenster eingeschlagen!«

Aton sah aus den Augenwinkeln, wie die beiden Beamten ihre Pistolen zogen und hintereinander die Treppe hinaufstürmten - als ob menschliche Waffen gegen das, was über dieses Haus hereingebrochen war, irgend etwas nutzten! Aber er sagte nichts. Die Männer hätten ihm sowieso nicht geglaubt. Wenn er es recht bedachte, dann glaubte er das, was ihm gerade zugestoßen war, ja selber nicht.

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