Klar, daß Aton den Rest des Tages abhaken konnte - er verlief ganz genau so, wie er nach der Katastrophe im Museum erwartet hatte, allerhöchstens noch ein bißchen schlimmer: Nach ihrer Rückkehr ins Internat wurden sie alle zum Direktor zitiert, wo ihnen eine Standpauke blühte, nach der Aton noch am Abend die Ohren klingelten, und selbstverständlich war das, was passiert war, den ganzen Tag über das Gesprächsthema überhaupt. Aton ging an diesem Abend ungewöhnlich früh zu Bett, und das vor allem deshalb, weil er es leid war, immer wieder dieselben Fragen zu hören und immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen.
Aber nicht nur aus diesem Grund.
Nachdem sich seine Aufregung ein wenig gelegt hatte, hatte er die ganze Geschichte noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen, und dabei war etwas sehr Seltsames geschehen: Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, sich das unheimliche Erwachen der Mumie nicht eingebildet zu haben. Die offizielle Version - die sowohl Werner als auch Aton zu bezweifeln sich gehütet hatten! - war, daß Werner gegen die Vitrine gestolpert war und sie dabei zerschlagen hatte. Aber Aton wußte, daß das nicht stimmte; und Werner und seine beiden Freunde im Grunde wohl auch.
So war es eigentlich kein Wunder, daß Aton in dieser Nacht nicht besonders viel Ruhe fand. Er schlief erst lange nach Mitternacht ein und schrak ein paarmal schweißgebadet und mit heftig klopfendem Herzen aus einem Alptraum auf, an den er sich zwar nicht erinnerte, der aber schrecklich gewesen sein mußte, denn er erwachte jedesmal mit einem Gefühl von Beklemmung und Furcht, wie er es selten zuvor verspürt hatte. Schließlich, es mußte schon fast Morgen sein, sank er dann doch in einen tiefen, endlich traumlosen Schlummer - und verschlief prompt den Wecker.
Es war der Lärm, der vom Schulhof heraufdrang, der ihn schließlich weckte. Aton setzte sich auf, blinzelte einen Moment benommen - und fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe, als sein Blick auf die grünen Leuchtziffern des Radioweckers fiel. Es war zwanzig nach acht. Der Unterricht hatte vor fünf Minuten begonnen, und sein allererster wirklich klarer Gedanke war der, daß sie in der ersten Stunde Kunst mit Frau Steller hatten, die nun wahrlich keinen Spaß verstand, was Unpünktlichkeit anging. Und nach dem, was gestern geschehen war, vermutlich noch weniger als sonst.
Aton war zwar von allen Beteiligten am besten davongekommen, aber wie es mit solchen dummen Geschichten nun einmal ist - ganz egal, ob schuldig oder nicht, es reichte aus, irgendwie darin verwickelt zu sein, damit etwas hängenblieb.
Aton war mit einem Satz aus dem Bett. Er brachte das Kunststück fertig, sich in weniger als einer Minute komplett anzuziehen, und riß im Hinausgehen seine Schulmappe an sich.
So schnell er konnte, rannte er die Treppe hinunter, durch die große Halle und die Stufen auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinauf, wobei er immer zwei, drei auf einmal nahm. Seine Klasse lag im ersten Stockwerk des weitläufigen Gebäudes, aber ganz am Ende. Aton legte die Strecke in einer persönlichen Rekordzeit zurück - was aber nichts daran änderte, daß der Unterricht schon seit mehr als zehn Minuten lief, als er endlich in den entsprechenden Korridor einbog und zum Endspurt ansetzte. In Gedanken legte er sich schon eine passende Entschuldigung zurecht, damit Frau Stellers Zorn sich nicht gar zu heftig über ihm entlud.
Um ein Haar hätte er sie über den Haufen gerannt.
Die Klassentür wurde in der Sekunde aufgestoßen, in der er die Hand nach der Klinke ausstreckte, und Aton konnte im allerletzten Moment zur Seite springen, als Frau Steller heraustrat. Auf ihrem Gesicht erschien ein überraschter Ausdruck, als sie Aton vor sich sah. Sie schloß die Tür hinter sich und wies mit der anderen Hand in die Richtung, aus der er gekommen war. »Ich wollte dich gerade suchen.«
»Ich weiß«, stotterte Aton. »Es tut mir leid. Mein Wecker muß ... ich meine, ich habe nicht -«
»Schon gut«, unterbrach ihn Frau Steller. »Das erspart mir wenigstens einen Weg.«
In Anbetracht des Rufes, den Frau Steller im Sänger-Internat genoß, war diese Großmut nun wirklich ungewöhnlich und für Aton eher ein Grund zur Sorge als zur Erleichterung. Mit Unbehagen blickte er seine Lehrerin an, die weitersprach: »Der Direktor möchte dich sehen. Du sollst in sein Büro kommen.«
»Jetzt?« fragte Aton. »Ich meine, der Unterricht -«
»Jetzt gleich. Und ehe du fragst und noch mehr von meiner und der Zeit deiner Klassenkameraden verschwendest: Ich weiß nicht, was er von dir will. Aber vielleicht kannst du es dir denken.« Sie streckte die Hand aus. »Du kannst deine Schulsachen hierlassen. Und beeil dich bitte. Auch wenn es die letzten Tage vor den Weihnachtsferien sind, ist jede versäumte Unterrichtsstunde eine versäumte Chance.«
Aton verdrehte innerlich die Augen. Sprüche wie diese gehörten nun einmal zu Frau Steller. Niemand nahm sie wirklich noch ernst - was sie natürlich wußte und sich entsprechend darüber ärgerte. Aber er hatte im Moment anderes im Kopf, als sich über seine Klassenlehrerin lustig zu machen.
Rasch händigte er ihr die Tasche aus, drehte sich wieder um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Am Ende des Korridors wandte er sich jedoch nicht nach links, sondern nach rechts, der weiter nach oben führenden Treppe zu. Das Sänger-Internat war in den Mauern eines ehemaligen Kapuzinerklosters untergebracht. Die Klassenräume und auch die Zimmer der Schüler waren modernisiert und mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet worden, was man bei einem Internat dieser Kategorie auch erwarten konnte, aber das zweite Stockwerk, in der die Lehrerzimmer und die Verwaltung lagen, befand sich beinahe im Urzustand.
Die große Halle war düster und kahl, obwohl man sich bemüht hatte, diesen Eindruck durch Bilder und Vorhänge aufzuhellen: bunte Farbkleckse, die wie Fremdkörper wirkten.
Und selbst das aufgeregte Lärmen und Rufen und Lachen der Schüler, das täglich durch das Institut hallte, vermochte die unsichtbaren Schatten nicht zu vertreiben, die in den Ecken und den Winkeln zu nisten schienen.
Aton ging schneller und machte ein paar Schritte nach rechts, um einem Mitschüler auszuweichen, der ihm entgegenkam - genauer gesagt, seinem Schatten, den er aus dem Augenwinkel bemerkte, während er mit gesenktem Kopf die letzten Stufen der Treppe hinaufging, noch immer, ohne den Blick zu heben.
Als er an der Gestalt vorbeiging, streifte ihn ein eisiger Hauch.
Aton sah unwillkürlich auf - und erstarrte mitten in der Bewegung.
Er war allein. Nicht nur die Treppe - die gesamte Halle war völlig menschenleer!
Aber er hatte den Schatten doch ganz deutlich - Mit einem so heftigen Ruck, daß er um ein Haar auf der Stufe ausgeglitten wäre, fuhr er herum. Der Schatten ... war da, aber er war es auch zugleich nicht mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er ihn noch zu sehen, wie ein verblassendes Bild auf einem Fernsehschirm, der in diesem Augenblick ausgeschaltet worden war. Und dann war er verschwunden, so spurlos, wie nur Schatten verschwinden können.
Aber das ist doch unmöglich! dachte Aton. Er ... hatte sich den Schatten doch nicht eingebildet! Und diese Kälte. Die feinen Härchen auf Atons Handrücken hatten sich gesträubt, und er spürte jetzt noch den eisigen Schauer, der über seinen Rücken gejagt war.
Er mußte an gestern denken - und plötzlich hatte er Angst.
Sein Puls begann zu rasen. Er wußte nicht, wovor, nicht weshalb, aber die Angst war so intensiv, daß sie ihm fast den Atem nahm. Es war, als spüre etwas in ihm eine Drohung, eine schreckliche Gefahr, die sich unsichtbar über seinem Kopf zusammenbraute ...
Schluß! dachte er. Das ist doch alles kompletter Unsinn! Der scharfe Ton, in dem er sich selbst zur Ordnung rief, wirkte.
Sein Herz hörte auf, wie toll gegen seine Rippen zu schlagen, und er begriff, wie albern er sich benahm - natürlich war es nichts weiter als sein eigener Schatten gewesen, den er gesehen hatte. Und auch an der Kälte war absolut nichts Unheimliches. Schließlich herrschte draußen Winter, in einer guten Woche war bereits Weihnachten, und irgendwo im Haus hatte jemand ein Fenster geöffnet und gleich wieder geschlossen, so daß für ein paar Sekunden Durchzug entstanden war.
So einfach war das.
Trotzdem zitterten seine Hände noch leicht, als er das Büro des Direktors erreichte und ohne anzuklopfen das Vorzimmer betrat. Das Klappern einer mechanischen Schreibmaschine brach abrupt ab, als die Sekretärin unwillig hinter ihrem Schreibtisch aufsah.
»Du bist es, Anton«, sagte sie dann, und ihr Gesicht hellte sich auf.
Es war kein Versprecher. Meistens stellte sich Aton als Anton vor oder nuschelte seinen Namen so, daß der Unterschied nicht mehr so auffiel, und die meisten, die ihn nicht sehr gut kannten, sprachen ihn eben mit diesem Namen an. Aton war es nur recht.
Die Sekretärin machte eine Bewegung, als wollte sie aufstehen, lehnte sich dann aber zurück. »Geh nur rein«, sagte sie. »Direktor Zombeck wartet schon auf dich.«
Aton bedankte sich mit einem Kopfnicken und öffnete die Tür zu Zombecks Zimmer. Er ersparte sich die Frage, was der Direktor von ihm wollte. Er konnte es sich ganz gut denken ...
Der Raum roch muffig und war düster und von Schatten und Kälte erfüllt wie immer. Die wenigen Male, die Aton hiergewesen war, war er ihm stets gleich vorgekommen: Wie eine Gruft. Selbst die kostbaren alten Büromöbel, mit denen Zombeck sein Zimmer ausgestattet hatte, vermochten an diesem Eindruck nicht viel zu ändern.
Zombeck saß hinter seinem Schreibtisch und unterbrach das Gespräch, das er mit dem Mann ihm gegenüber geführt hatte, als er das Geräusch der Tür hörte.
Der Mann im Stuhl vor dem Schreibtisch wandte den Kopf und sah Aton an, und in diesem Moment erkannte ihn der Junge. Er hatte diesen Mann schon mehrmals gesehen, und zwar zu Hause bei seinen Eltern. Den Namen hatte er vergessen, aber er wußte, daß er ein Kollege und wohl auch so etwas wie ein Freund seines Vaters war.
»Komm näher, Aton«, sagte Zombeck. Er deutete auf den Mann. »Du kennst Herrn Petach?«
Aton nickte. »Wir haben uns ... schon ein paarmal gesehen«, sagte er zögernd. Verwirrt fragte er sich, was um alles in der Welt Petach hier tat. Ob es etwas mit dem zu tun hatte, was gestern geschehen war?
Petach war sehr groß und hager. Das wenige Haar, das er noch besaß, war grau mit weißen Strähnen und zu einem Kranz um den Kopf geworden. Eine randlose Brille mit kleinen runden Gläsern schien beständig von seiner Nase herunterzurutschen, und unter dem linken Auge saß ein kleiner Leberfleck. Petachs Gesicht war scharf geschnitten, und die dunkelgetönte Haut und die Form der Augen verrieten den Orientalen.
Aton trat zögernd einen Schritt näher - und hatte plötzlich einen Kloß im Hals, als er die Polaroidfotos sah, die zwischen Zombeck und Petach auf dem Schreibtisch lagen.
Die Bilder zeigten die kaputte Glasvitrine aus dem Museum.
Obwohl die Qualität der Fotos zu wünschen übrig ließ, war die Verheerung, die sein Zusammenprall mit Werner und dessen Freunden hinterlassen hatte, doch deutlich zu erkennen. Die Glieder der Kriegermumie waren verdreht, von der mumifizierten Katze war nun wirklich nicht viel mehr als ein Haufen Lumpen zu sehen, und die Vitrine ...
Aton spürte, wie sich ihm jedes einzelne Haar auf seinem Kopf sträubte.
Die Vitrine war zerborsten, und die Fotos machten deutlich, daß sämtliche Glasscherben nach außen gefallen waren. Der Boden vor dem zersplitterten Schrank war mit Tausenden winzigen Glasscherben übersät, und man hätte schon blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß diese Glasscheibe nicht eingeschlagen worden war, wie Zombeck und alle anderen glaubten. So, wie die Scherben dalagen, gab es nur eine einzige mögliche Erklärung: Irgend etwas war von innen aus dem Schrank herausgebrochen.
Aton fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, und sein Entsetzen war Zombeck nicht entgangen. Er sah Aton stirnrunzelnd an, dann schüttelte er den Kopf, schob die Bilder mit der Hand zusammen und drehte den Stapel demonstrativ herum.
»Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Ich habe mit dem Direktor der Ausstellung gesprochen. Er war ziemlich aufgebracht, aber ich denke, unsere Versicherung wird den Schaden begleichen; zumindest den materiellen Verlust. Was den Rest angeht ...« Er seufzte. »Werner behauptet zwar nach wie vor, du hättest ihn in den Schrank gestoßen, aber ich glaube ihm nicht. Dir wird nichts geschehen, keine Sorge. Ich werde nicht einmal deine Eltern von diesem Vorfall in Kenntnis setzen.«
Das war für Zombecks Verhältnisse nun wirklich eine unglaubliche Großzügigkeit, aber Aton war momentan nicht in der Stimmung, sie entsprechend zu würdigen. Er starrte noch immer die Bilder an, und auch wenn er nun nur noch die glänzenden schwarzen Rückseiten der Polaroids sehen konnte, löste allein dieser Anblick ein neuerliches, eisiges Frösteln in ihm aus.
»Danke«, murmelte er.
Zombeck schien mehr Dankbarkeit erwartet zu haben, denn erneut erschienen Falten auf seiner Stirn. Dann aber zuckte er die Achseln und sagte: »Herr Petach ist hier, um dich abzuholen.«
Aton blickte überrascht auf. »Abholen?«
»Dein Vater schickt ihn«, bestätigte Zombeck mit einem Nicken. »Leider hat er keine schriftliche Bestätigung bei sich, wie es in solchen Fällen üblich ist«, fuhr er mit einem Seitenblick auf Petach fort. Er deutete auf das Telefon auf seinem Schreibtisch. »Und deine Eltern sind im Moment telefonisch nicht zu erreichen. Deshalb habe ich dich rufen lassen.«
»Aber wieso abholen?« wunderte sich Aton. »Die Schule ist doch noch nicht -«
Zombeck unterbrach ihn mit einer unwilligen Handbewegung. »Der Unterricht ist in wenigen Tagen beendet«, sagte er. »Ich habe mit deiner Klassenlehrerin gesprochen. Der Lehrstoff ist ohnehin bereits durchgearbeitet. Und was deine Leistungen angeht ... Nun, du weißt ja selbst. Ich gäbe meine rechte Hand dafür, wenn auch nur die Hälfte unsere Schüler so wären wie du.«
»Aber wieso denn?« fragte Aton.
Petach sah ihn verwundert an. Wahrscheinlich überraschte ihn Atons Reaktion - jeder andere Junge seines Alters wäre vor Freude, um eine Woche Schule und erst recht um eine Woche Internat herumzukommen, auf einem Bein gehüpft.
Aber er hatte den allergrößten Teil seines Lebens in verschiedenen Internaten zugebracht, was am Beruf seines Vaters lag, der ihn zu häufigen Reisen und manchmal zu monate-, wenn nicht jahrelangen Auslandsaufenthalten zwang. Er wußte, welche Umstände es seinen Eltern manchmal bereitete, ihn zumindest in den Ferien bei sich zu haben. Oft hatten sie ihn kurzerhand auf ihre Reisen mitgenommen. Und er wußte auch, daß sein Vater gerade in diesem Jahr kaum Zeit für ihn hatte. Er arbeitete an einem wichtigen Projekt in Ägypten, und seine Anwesenheit war jetzt unumgänglich notwendig.
Es hatte bis zum letzten Moment nicht einmal festgestanden, ob er die Weihnachtstage zu Hause oder wieder mal im Schatten einer Dattelpalme verbringen würde.
»Es ist einfach bequemer«, sagte Petach nach einer Weile. Er sprach ein fast akzentfreies Deutsch. »Dein Vater hätte sich extra zwei Tage freinehmen müssen, um dich abzuholen, und da habe ich vorgeschlagen, dich gleich mitzubringen. Ich bin sowieso auf dem Weg zu ihm. Wir müssen zusammen einige Vorbereitungen für seine nächste Reise treffen. Und für mich war es nur ein Umweg von wenigen Stunden.«
Plötzlich verspürte Aton einen leisen Schrecken. War zu Hause etwas geschehen, von dem sein Vater aus irgendeinem Grund nicht wollte, daß man es hier im Internat erfuhr?
Oder war mit seinem Vater oder seiner Mutter etwas passiert, was Petach ihm auf dem Heimweg schonend beibringen wollte?
»Also?« fragte Zombeck. Aton spürte seine Unruhe. Der Direktor schien zu ahnen, daß hier etwas nicht stimmte. Und bevor sein Mißtrauen völlig erwachen konnte und sich Aton damit vielleicht doch noch eine Woche Unterricht - und damit auch eine Woche Werners Gesellschaft - einhandelte, nickte er.
»Dann geh hinunter und pack deine Sachen«, sagte Aton warf Petach einen letzten, forschenden Blick zu, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ das Büro, und nicht einmal eine Stunde später saß er auf dem Beifahrersitz von Petachs Wagen, und sie rollten durch das finstere Torgewölbe des ehemaligen Klosters und den Hügel hinab.
Dann geschah etwas Sonderbares: Aton drehte sich im Sitz des schweren Mercedes herum, soweit es der Sicherheitsgurt zuließ, und sah zum Internat zurück. Das Gebäude ruhte groß und wuchtig und irgendwie drohend auf dem Hügel, und plötzlich hatte Aton das sichere Gefühl, daß er nie wieder hierher zurückkehren würde. Er wußte nicht, woher es kam, aber es war mehr als eine Ahnung. Abermals fragte er sich, warum Petach wirklich gekommen war.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Petach in diesem Moment: »Bist du froh, nach Hause zu kommen?«
Aton drehte sich wieder im Sitz herum. Er antwortete nicht gleich, sondern sah eine ganze Weile nachdenklich auf die Straße hinaus, dann fragte er direkt: »Mein Vater hat Sie nicht geschickt, nicht wahr?«
Petach antwortete nicht darauf, aber sein Schweigen war beredt genug.
»Er weiß nicht einmal, daß Sie hier sind«, vermutete Aton.
Wieder vergingen Sekunden, in denen Petach weder antwortete noch ihn ansah, sondern so tat, als konzentrierte er sich darauf, den schweren Wagen zu lenken. »Ich bringe dich sicher nach Hause, keine Angst«, sagte er schließlich.
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, konterte Aton. »Warum tun Sie das? Mein Vater wird ziemlich ärgerlich sein, fürchte ich.«
»Das ist möglich«, antwortete Petach knapp. »Aber nicht sehr lange, glaub mir.«
»Ich habe vor einer Woche mit meinen Eltern telefoniert«, fuhr Aton fort. »Vater ist wieder einmal voll im Streß und weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Wahrscheinlich störe ich zu Hause nur.«
Petach runzelte die Stirn. »Ich glaube«, sagte er, »du tust deinen Eltern unrecht, Aton. Sie werden sich trotzdem freuen, dich zu sehen, auch wenn sie nicht viel Zeit für dich aufbringen können.«
Petach wandte den Blick von der Straße und sah ihn an.
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte er leise.
»So?« antwortete Aton einsilbig.
Petach nickte, und obwohl sich in seinem Gesicht nicht die mindeste Regung zeigte, hatte Aton plötzlich das Gefühl, ein Lächeln zu erblicken; ein warmes, väterliches Lächeln. »Ja«, sagte Petach. »Auch ich war einsam, als ich in deinem Alter war. Ich hatte keine Eltern. Und das ist nicht gut. Kinder gehören zu ihren Eltern.«
»Bringen Sie mich deshalb zurück?« fragte Aton.
»Auch«, sagte Petach.
»Und warum noch?« fragte Aton.
Wieder zögerte Petach mit einer direkten Antwort und konzentrierte sich ganz darauf, den Wagen die schmalen Kehren und Windungen der Straße entlangzusteuern, die sich durch den Wald dem Berg entgegenwand. »Weil es besser ist«, sagte er schließlich. »Du ... kannst nicht länger hierbleiben. Du bist hier nicht mehr sicher.«
»Nicht mehr sicher?« Aton richtete sich verstört in seinem Sitz auf und blickte wieder nach hinten. Aus der Entfernung wirkte das Internat noch düsterer und bedrohlicher. Und - war es nur seine Einbildung, oder sah er es wirklich? Für einen Moment glaubte er, etwas Körperloses, Finsteres zu erkennen, wie Schatten, die aus dem Nichts erschienen und sich zusammenballten, um einen drohenden Ring um das Klostergebäude zu bilden, ein Ring, der sich langsam, aber unerbittlich enger zusammenzog. Eine Armee der Nacht, die zum Sturm auf eine Festung ansetzte.
Die Straße beschrieb eine enge Kehre, und dann verbarg der Wald das Internat und eine Sekunde später ganz Crailsfelden vor ihren Blicken. Aton atmete unwillkürlich auf und drehte sich wieder nach vorn.
»Was soll das heißen?« fragte er.
Petach blickte starr geradeaus und fuhr sich mit der Zungenspitze nervös über die Lippen, wie jemand, der eigentlich schon zuviel gesagt hatte und seine Worte bedauerte, sie aber nicht mehr zurücknehmen konnte. »Manchmal entwickeln sich die Dinge anders, als man möchte«, sagte er schließlich. »Und es gibt Dinge, die lassen sich schwer erklären.«
Das war nicht die Antwort, die Aton hatte hören wollen - ganz und gar nicht. Statt ihn zu beruhigen, bewirkten Petachs Worte das genaue Gegenteil. Aber er machte keine Anstalten, irgendeine weitere Erklärung abzugeben, sondern lächelte nur und begann plötzlich von seiner Heimat zu erzählen.
Und dabei blieb es, fast für den Rest des Tages.