Der lange Traum

Mit dem ersten wirklichen Licht des Tages war Bastet verschwunden, und kaum eine Minute später hatten sie den Tempel verlassen und kurz darauf die Straße erreicht. Trotz Petachs Versicherung, daß das Sonnenlicht sie schützte, beschlich Aton ein ungutes Gefühl, als die Sicherheit der Tempelruine hinter ihnen zurückblieb, und er sah sich ein paarmal nervös um, beinahe davon überzeugt, im nächsten Moment schon wieder den Streitwagen hinter ihnen auftauchen zu sehen. Aber alles blieb ruhig, und sie hatten sogar in anderer Hinsicht Glück: Der Weg zur Stadt erwies sich als wesentlich weiter, als er nach Petachs Worten angenommen hatte, doch schon nach einigen Minuten kam ein Lastwagen gefahren, dessen Fahrer anhielt und sie auf der Ladefläche zumindest bis zur nächsten Ortschaft mitnahm.

Sie stiegen vom Wagen, und nicht nur Sascha sah sich sichtlich enttäuscht um. Die Ortschaft bestand vielleicht aus zwei Dutzend Gebäuden, die sich rechts und links der einzigen Straße reihten und zwischen denen sich nicht das mindeste Leben regte. Wie um alles in der Welt sollten sie von hier weg und wieder zurück nach Kairo kommen?

Noch bevor Aton eine entsprechende Frage stellen konnte, bedeutete Yassir ihnen mit einer Geste zu warten und ging schnell zu einem der Häuser hinüber. Aton beobachtete, wie er an die Tür klopfte, die schon nach einigen Augenblicken geöffnet wurde. Yassir redete eine Weile mit dem Mann, der aus dem Haus trat, wobei er seine Worte mit heftigen Gesten unterstrich und dabei auch ein paarmal zu ihnen zurück deutete, dann wandte er sich um und kam mit schnellen Schritten wieder auf sie zu. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Ihr könnt hier warten. Der Mann wird euch Unterkunft und eine Mahlzeit gewähren.«

»Und Sie?« fragte Sascha.

»Ich werde einen Wagen besorgen«, antwortete Yassir. »Es gibt hier kein Telefon, aber bis zum nächsten Ort ist es nicht sehr weit. Ich bin in zwei, längstens drei Stunden zurück.«

Drei Stunden! Aton atmete hörbar ein, um zu einem heftigen Protest anzusetzen, aber diesmal brachte ihn Sascha mit einer entsprechenden Bewegung zur Ruhe. »Eine kleine Pause wird uns allen guttun«, sagte sie entschieden. »Es nützt nichts, wenn wir bis zur Erschöpfung weiterlaufen und uns vielleicht im entscheidenden Moment die Kräfte verlassen.« Sie deutete fragend auf das Haus. »Spricht der Mann unsere Sprache oder wenigstens Englisch?«

Yassir verneinte. »Er weiß alles, was nötig ist«, sagte er.

»Und darüber hinaus kann ich übersetzen«, fügte Petach hinzu.

Sascha bedachte ihn mit einem feindseligen Blick. Sie sagte nichts, aber ihr Ausdruck machte klar, daß ihr das nicht genügte. Auch Aton war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, noch mehr auf Petach angewiesen zu sein. Aber in einem Punkt hatte Sascha durchaus recht: Er war sehr müde. Auf dem Lastwagen war er schon beinahe eingeschlafen, und jetzt hatte er kaum noch die Kraft, sich auf den Füßen zu halten.

Ohne weitere Einwände folgten sie Yassir und betraten das Haus.

Sein Inneres war noch kleiner und ärmlicher, als Aton bei seinem Anblick vermutet hatte. Es bestand aus einem einzigen, großen Raum, vor dessen Fenster hölzerne Läden angebracht waren, so daß alles in einem unangenehmen Halbdunkel lag.

Ein durchdringender, wenn auch nicht einmal unangenehmer Geruch lag in der Luft, und es gab nur wenige Einrichtungsgegenstände. Der Hausherr, seine Frau und zwei vielleicht zehnjährige Kinder blickten ihnen stumm und mit unverhohlener Neugier entgegen, aber nachdem Yassir einige weitere Worte mit ihm gewechselt hatte, deutete der Mann stumm in den hinteren Teil des Raumes, wo sich einige einfache Lagerstätten befanden; im Grunde nicht mehr als strohgefüllte Säcke, die auf dem nackten Boden lagen. Aton erschien jedoch allein ihr Anblick so verlockend wie der eines seidenbezogenen Himmelbettes. Er war hungrig, und er hatte auch Durst, aber er schlug die entsprechende Einladung ihres Gastgebers mit einem Kopfschütteln aus, ging zu einem der Säcke und streckte sich darauf aus. Und schlief sofort ein.

Und träumte wieder seinen Traum. Er war wieder fünf Jahre alt, und er irrte wieder durch das unterirdische Labyrinth, aber es war später. Die Erinnerung an einen großen Schreck quälte ihn, obwohl er nicht zu sagen vermochte, von welcher Art er gewesen war, und er war verletzt. Seine Schulter tat entsetzlich weh, und bei jedem Schritt schoß ein brennender Schmerz durch seinen rechten Fuß, so daß er nur noch ungeschickt humpeln konnte. Irgendwie war es ihm gelungen, den Verfolger abzuschütteln, aber er hatte Angst, daß ihn dieser wieder einholen würde, und er wußte, daß er nicht noch einmal die Kraft hatte, ihm davonzulaufen.

Das Labyrinth schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder tauchten neue Abzweigungen vor ihm auf, erreichte er eine neue Treppe, eine neue Gangkreuzung, eine andere Tür, die in einen weiteren Stollen, einen weiteren leeren Raum, zu einem weiteren Tunnel führte. Er hatte es längst aufgegeben, sich den Weg merken zu wollen. Er wollte nur noch hier heraus. Er wollte zurück ins Licht, zurück zu seinen Eltern, zurück in die Welt, die er verstand und in der es keine löwenköpfigen, geflügelten Ungeheuer gab, die ihn jagten. Auch sein Gesicht tat weh. Er hatte sich die Wange aufgeschürft, und seine Haut spannte von den eingetrockneten Tränen, denn er hatte geweint, bis sein Hals zu schmerzen begann und ihm die Tränen ausgingen. Manchmal rief er jetzt noch nach seiner Mutter oder seinem Vater, aber nicht sehr oft, denn seine Stimme erweckte ein schauriges Echo in diesen leeren, unheimlichen Gängen, und außerdem konnte er damit das Ungeheuer wieder auf seine Spur bringen. Es war noch da. Obwohl es ihm einmal ganz nahe gewesen war, hatte er es niemals wirklich gesehen, aber er hatte seine Nähe gespürt, und er spürte sie noch immer. Diese unheimliche Welt unter der Erde war das Reich des Ungeheuers, und Aton war nicht sicher, ob es nicht einfach nur mit ihm spielte, ihn einfach nur eine Weile jagte und ihn in der Illusion beließ, doch noch entkommen zu können, nur um dann im allerletzten Moment über ihn herzufallen.

Plötzlich hörte er eine Stimme. Sie war leise, und sie redete in einer Sprache, die er nicht verstand, und doch erschien sie ihm wie der süßeste Klang, den er je vernommen hatte. Trotz der Schmerzen in seinem rechten Fuß und der Anstrengung, die jeder Schritt bedeutete, beschleunigte er sein Tempo, und als er an der nächsten Abzweigung ankam, hörte er die Stimme ganz deutlich. Er erkannte jetzt, daß es zwei Stimmen waren, vielleicht sogar noch mehr, das konnte er nicht genau sagen, denn auch sie wurden von lang widerhallenden, unheimlich verzerrten Echos begleitet.

Etwas war daran, was ihm angst machte, aber das fiel ihm kaum noch auf, denn seit er dieses unterirdische Labyrinth betreten hatte, war er praktisch auf nichts gestoßen, das ihn nicht auf die eine oder andere Weise ängstigte. Zumindest war diese neue Furcht nicht so stark, daß er nicht weitergegangen wäre. Stimmen bedeuteten Menschen, und Menschen bedeuteten, daß er endlich hier herauskam.

Im Gegensatz zu dieser Hoffnung führte der Tunnel nun in schrägem Winkel nach unten und somit tiefer in die Erde hinein, aber nach einer Weile sah er Licht - nicht diesen unheimlichen, grauen Schein, der das unterirdische Labyrinth erfüllte, sondern richtiges gelbes Licht, das flackerte und einen leichten Brandgeruch mit sich brachte: Fackeln. Die Stimmen waren lauter geworden, und nun hörte er sie immerhin deutlich genug, um zu begreifen, warum er sie nicht verstand. Die Männer redeten in einer fremden Sprache, nicht in der Atons, aber es schien auch kein Arabisch zu sein, denn diese Sprache hatte er oft genug gehört, um sie an ihrem Klang zu erkennen. Nicht daß das irgend etwas änderte. Die Männer da vorne hätten Russisch mit starkem Hindu-Akzent reden können, ohne daß Aton langsamer geworden wäre. Außerdem wurde der Boden immer abschüssiger. Er rannte jetzt und hätte wahrscheinlich gar nicht mehr stehenbleiben können, selbst wenn er es gewollt hätte.

Kurz vor dem Ende des Tunnels kam er dann tatsächlich ins Stolpern und wäre gestürzt, wäre er nicht gegen die Wand geprallt und zurückgetaumelt. Er kämpfte um sein Gleichgewicht, drohte dadurch aber nun nach hinten zu kippen. Aton machte einen hastigen Schritt zur Seite, spürte, wie er seine Balance zurückgewann und praktisch in derselben Sekunde etwas unter seinem Fuß nachgab. Mit einem Schrei landete er endgültig auf dem Hosenboden und schlitterte immer schneller weiter, denn das, worüber er in den letzten Minuten gelaufen war, war kein massiver Fels mehr gewesen, sondern Geröll, und der Boden war so abschüssig, daß er in einer immer größer und lauter werdenden Steinlawine auf das Licht und die Stimmen zupolterte. Und eine Sekunde später wurde aus dem, was ihn bisher nur erschreckt hatte, eine tödliche Gefahr.

Der Stollen mündete in eine große, halbrunde Höhle natürlichen Ursprungs, aber nicht zu eben der Erde, sondern in einer Höhe von mindestens fünf, wenn nicht mehr Metern, und Atons Schwung war nun so groß, daß er inmitten einer Flut von Felsbrocken und Geröll noch meterweit ins Leere hinausflog, ehe er, einen gellenden Schrei auf den Lippen, zu stürzen begann. Boden, Wände und Decke der Höhle schienen sich rings um ihn herum hundertfach zu überschlagen, und der Aufprall war so hart, daß er ihm beinahe das Bewußtsein geraubt hätte.

Keuchend vor Schmerz und Benommenheit blieb er liegen. Die Stimmen waren verstummt, als er so plötzlich vom Himmel gefallen war, aber dafür näherten sich jetzt hastige Schritte, und der Tanz der Schatten an der Höhlendecke wurde hektischer, als das Licht der Tackeln näher kam. Aton nahm all das nur wie durch einen dichten Schleier wahr, der sein Bewußtsein zu umschließen versuchte. Er sah zwei Gestalten, die auf ihn zurannten, mit wehenden Gewändern, weit ausgreifenden Schritten und jede eine lodernde Fackel in der Hand schwenkend. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen, aber ihre Kleidung war sonderbar - der eine trug einen einfachen, weißen Burnus mit einem braunen Überwurf, der andere jedoch war in ein prachtvolles, gold und blau gestreiftes Gewand gehüllt, und auf seiner Brust schimmerte und glänzte etwas Goldenes, das Aton nicht genau erkennen konnte.

Aber es war gleich. Trotz der Benommenheit und des rasenden Schmerzes in seinem Bein und seiner Schulter fühlte er sich erleichtert wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Es war völlig gleich, wer die beiden waren, sie waren Menschen, und sie würden ihn hier herausbringen. Und es war wohl auch einzig dieser Gedanke, der ihm die Kraft gab, die Bewußtlosigkeit zurückzudrängen und sich sogar halb aufzusetzen, ehe er mit einem Schmerzenslaut wieder zurücksank.

Der Mann in dem weißen Burnus kniete neben ihm nieder und beugte sich besorgt über Aton. Er hatte ein schmales, asketisch wirkendes Gesicht und gutmütige Augen, und er streckte zwar die Hände nach ihm aus, berührte ihn aber nicht, als wisse er, daß er ihm nicht helfen, ihm damit nur unnötige Schmerzen zufügen würde. »Wie geht es dir?« fragte er. »Bist du verletzt?« Er bediente sich Atons Muttersprache, und das war seltsam, denn Aton hatte bisher kein Wort gesagt, so daß der Mann ja gar nicht wissen konnte, welcher Nationalität er war.

Aber Aton war in diesem Moment viel zu aufgeregt, um darauf zu achten. Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte er den Kopf, und auf Petachs Gesicht breitete sich ein flüchtiges Lächeln aus, denn um niemand anderen handelte es sich bei dem Mann in dem weißen Burnus. Obwohl Aton vollkommen in seinem Traum gefangen war, erkannte er dies mit völliger Klarheit, und er wunderte sich auch ein bißchen, daß er Petach nicht schon längst wiedererkannt und sich an die Szene von damals erinnert hatte. Aber dieses Wissen half ihm nicht, aus seinem Traum zu entfliehen.

»Beweg dich nicht«, sagte Petach. »Du bist in Sicherheit, keine Angst. Dir wird nichts geschehen.« Er hob den Kopf und tauschte einen Blick mit dem Mann in dem blaugoldenen Gewand, dessen Gesicht Aton immer noch nicht deutlich erkennen konnte, denn er war in einigen Schritten Entfernung stehengeblieben und hatte die Fackel gesenkt und ein wenig zur Seite geneigt, fast als legte er Wert darauf, unerkannt zu bleiben. Trotzdem schien etwas Vertrautes an seinen Zügen zu sein, auch wenn er dieses Beinahe-Wiedererkennen erst im nachhinein der Traumszene hinzufügte.

Für eine ganze Weile sahen sich Petach und der Fremde einfach nur an, und obwohl keiner von ihnen ein Wort sagte, ja sich in Petachs Gesicht nicht ein Muskel rührte, spürte Aton doch deutlich, daß zwischen ihnen irgendeine Art geheimnisvoller Unterhaltung stattfand. Schließlich nickte der andere. Petach erwiderte die Bewegung, dann wandte er sich wieder zu Aton um und untersuchte ihn flüchtig, aber doch auf eine Art, die Aton erkennen ließ, daß er wußte, was er tat.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte er. Er bemerkte Atons Erschrecken und fügte rasch und beruhigend hinzu: »Es ist auch nicht sehr schlimm, keine Angst. Wir werden dich von hier fortbringen, und einer eurer Ärzte wird sich um dich kümmern. Es wird alles gut.«

Seine Worte bewirkten das Gegenteil dessen, was sie sollten. Eines hatte Aton bereits gelernt: Wenn Erwachsene sagten, daß es keinen Grund gäbe, Angst zu haben, bedeutete das fast immer, daß es ihn sehr wohl gab. Außerdem war er kein Dummkopf. Der Schmerz in seiner Schulter war so heftig, daß man kein Arzt sein mußte und auch kein Erwachsener, um zu begreifen, daß sie gebrochen war.

»Deine Eltern gehören zu den Touristen, die die Gräber besuchen, nicht wahr?« fuhr Petach fort, während er aufstand und Aton dabei vorsichtig auf die Arme nahm. »Wie bist du überhaupt hier heruntergekommen ? Der Eingang ist doch -«

Er verstummte abrupt, und auch der andere Mann fuhr zusammen und hob den Blick, für einen Moment geriet sein Gesicht nun doch ins Licht der Fackel, und Aton glaubte wieder etwas Vertrautes darin zu erkennen. Aber die Schatten bedeckten es wieder, ehe aus diesem Glauben Gewißheit werden konnte, und dann hörte auch er, was Petach so plötzlich mitten im Satz hatte abbrechen lassen, und der Schrecken, der das Erkennen dieses Geräusches begleitete, war so heftig, daß er jeden Gedanken an den anderen Mann sofort vergaß.

Sie hörten Schritte. Nicht die Schritte eines Menschen, sondern schwere, tappende Pfoten, riesige Krallen, die über Fels scharrten, und das Schaben eines gewaltigen Körpers, der sich mühsam, aber sehr schnell durch die schmalen Gänge zwängte.

Auch Petach schienen diese Laute nicht fremd zu sein. Er drehte sich auf der Stelle herum und fiel schon nach einigen Metern in einen raschen Laufschritt, den sein Begleiter ebenfalls mithielt und der Aton erneut Schmerzen bereitete. Aber er biß tapfer die Zähne zusammen, denn er wußte, daß das, was da hinter ihnen herankam, schlimmer war als jeder Schmerz, den ihm die Erschütterungen von Petachs Schritten zufügen konnten. Dabei wußte er nicht einmal, was es war. In seinen Erinnerungen gähnte ein Loch. Er wußte, daß er vor diesen Schritten geflohen war, lange und vergeblich, und dann hatte er das Licht gesehen und die Kammer betreten, die ...

Er wußte nicht mehr, was darin gewesen war, was er erlebt oder getan hatte. Erst viel später hatte er sich wieder in den lichtlosen Gängen dieses unterirdischen Labyrinths wiedergefunden, erfüllt von dem sicheren Wissen, etwas Unglaubliches, Faszinierendes erlebt zu haben, aber zugleich auch, ohne sich erinnern zu können, was es gewesen war. Aber es hatte etwas mit diesen Schritten zu tun, und sie bedeuteten Gefahr, entsetzliche, unvorstellbare Gefahr, die viel schlimmer war als jeder Schrecken, den diese Tunnel sonst noch bergen konnten.

Petach lief immer schneller, aber das schwere Tappen des Verfolgers blieb nicht hinter ihnen zurück, sondern schien im Gegenteil lauter zu werden. Er hatte die Kraft und Schnelligkeit eines Dämons, und er war hier zu Hause. Die endlosen Stollen und Tunnel waren seine Heimat, seine Welt, in der er sich so geschickt und sicher zu bewegen vermochte wie ein Fisch im Wasser, während Petach, Aton und der Fremde nur Eindringlinge waren.

Der Weg führte nun allmählich wieder nach oben. Sie stürmten einige Treppen hinauf, durch zwei, drei weitere leere Räume, und endlich, als Aton schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, jemals wieder Tageslicht zu sehen, schimmerte weit vor ihnen ein winziger, heller Fleck.

Doch die Erleichterung, die dieser Anblick bedeutete, hielt kaum eine Sekunde. Hinter ihnen erscholl ein zorniges Brüllen, das von den Wanden des Tunnels aufgefangen und als hundertfach gebrochenes, verzerrtes Echo zurückgeworfen wurde, und plötzlich blieb Petach stehen, setzte Aton ab und stellte sich schützend vor ihn.

Atons verletztes Bein gab unter dem Gewicht seines Körpers nach, und er wankte, stürzte gegen die Wand und hatte kaum die Kraft, sich an dem rauhen Stein festzuhalten. Und dann schrie auch er auf, als er sah, was hinter Petach und ihm aufgetaucht war.

Das Ungeheuer war so groß, daß es Mühe hatte, sich in dem Tunnel überhaupt vorwärtszubewegen. Es hatte den Körper eines Löwen, aber unter der gewaltigen schwarzen Mähne blickte Aton ein menschliches Gesicht an, und aus seinen Schultern wuchs ein Paar riesiger, ebenfalls schwarzer Flügel, die jetzt eng zusammengefaltet am Leib lagen, trotzdem aber rechts und links an den Wänden des Tunnels entlangstreiften. Seine Krallen waren so groß und ebenso tödlich wie Messer, und das tiefrote Lodern in seinen Augen ließ keinen Zweifel daran aufkommen, weshalb es gekommen war.

»Lauf!« schrie Petach. »Lauf weg, Junge! Wir halten sie auf.«

Aton vergaß den Schmerz in seiner Schulter. Er vergaß das grausame Stechen in seinem Fuß, seine Schwäche und Müdigkeit, stieß sich von der Wand ab und rannte los, erfüllt von der absoluten Kraß, die die Todesangst verleiht. Die Sphinx brüllte erneut und so laut, daß Wände und Boden des Stollens zitterten und sich kleine Steine und Staubfahnen von der Decke lösten, und sie hätte sicher unverzüglich zur Verfolgung angesetzt, hätten Petach und der andere nicht ihre Fackeln geschwungen und sie damit zurückgetrieben. Aton bezweifelte, daß sie dem Ungeheuer damit ernsthaften Schaden zufügen konnten, aber das Feuer schien es zumindest zu ängstigen, denn es wich tatsächlich ein kleines Stück zurück, ehe es die Tatzen hob und die beiden Menschen mit wütenden Krallenhieben auf Distanz hielt.

Aton rannte, so schnell er nur konnte. Der Flecken hellen Tageslichts kam rasch näher, aber er wußte auch, daß Petach und der andere die Sphinx nicht lange aufhalten konnten - und daß seine Kräfte nicht ewig reichten. Hinter ihm wurden das Brüllen und das Geräusch des zornigen Vor und Zurück des Ungeheuers lauter, und dann hörte er einen Schmerzensschrei und Augenblicke später ein triumphierendes Fauchen. Als ersieh umblickte, sah er, daß Petach gestürzt war und auf dem Boden lag. Der andere Mann stand breitbeinig über ihm und schwang seine Fackel mit beiden Händen. Das brennende Holz zeichnete lange Spuren aus Flammen und Funken in die Luft, und tatsächlich gelang es ihm, die Sphinx so lange zurückzudrängen, bis Petach sich auf die Füße erhoben hatte.

»Lauf!« schrie Petach noch einmal. Er hatte sich zu Aton umgewandt und gestikulierte heftig mit beiden Armen. Aton versuchte auch, schneller zu laufen, aber es ging nicht. Er spürte, wie seine Kräfte nun rapide nachließen und der Schmerz in seinem Fuß mit jedem Schritt schlimmer wurde. Aber erfühlte auch, daß er in Sicherheit war, wenn es ihm nur gelang, ins Freie zu kommen. Die Sphinx war ein Geschöpf der Nacht, eine Kreatur der Finsternis, die nur im Dunkeln existieren konnte und für die das Tageslicht ein Feind war. Es war nicht mehr weit. Dicht vor ihm endete der gemauerte Stollen und ging in eine niedrige, natürlich entstandene Höhle über. Das Laufen wurde auf dem unebenen Grund noch schwieriger, aber der Anblick des rettenden Tageslichts gab ihm noch einmal zusätzliche Kraft.

Und beinahe hätte er es auch geschafft.

Der Höhlenausgang war vielleicht noch zehn Meter entfernt, als hinter ihm ein ungeheuerliches Brüllen aufklang. Aton sah sich im Laufen um - und schrie abermals erschrocken auf. Die Sphinx hatte Petach und den anderen einfach niedergerannt. Einer ihrer Flügel brannte, und die Fackeln der beiden Männer hatte tiefe Spuren in ihr Fell gegraben, aber das schien die Wut der Bestie noch zu steigern. Mit einem einzigen, gewaltigen Satz brach sie aus dem Tunnelende hervor, breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. Mit weit vorgestreckten Krallen raste sie auf Aton zu.

Aton kreischte vor Angst und Entsetzen, riß in einer instinktiven Bewegung schützend die Arme vor das Gesicht und verlor dadurch endgültig die Balance.

Er stürzte. Die Krallen der Sphinx verfehlten sein Gesicht um Haaresbreite, aber eine ihrer Schwingen traf seine Schulter, und obwohl sie ihn im Grunde nur streifte, reichte diese Berührung doch aus, Aton mitten im Sturz herumzuwirbeln und wieder in die Höhe zu reißen.

Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise und Sterne. Er hatte sich auf die Zunge gebissen und schmeckte Blut, und als er sich hochstemmen wollte, wäre er beinahe unter der Anstrengung zusammengebrochen. Wahrscheinlich schaffte er es nur, weil in diesem Moment auch die Sphinx bereits wieder in die Höhe kam und zu einem zweiten Angriff ansetzte. Und diesmal war sie so nahe, daß sie ihn gar nicht verfehlen konnte!

Der Anblick war so schrecklich, daß Aton selbst seine Angst für einen Sekundenbruchteil vergaß. Das Ungeheuer war gestürzt.

Wo es gegen die Wand geprallt war, war der Felsen geborsten, und das dämonische Gesicht der Sphinx war voller Blut. Ihr rechter Flügel brannte noch immer, aber nichts von alledem schien sie irgendwie zu behindern. Und sie bewegte sich trotz ihrer Größe unvorstellbar schnell und elegant.

Aton sprang hoch und rannte blindlings auf den hellen Fleck neben sich zu. Die Strecke betrug vielleicht fünf oder sechs Schritte für Aton - aber für die Sphinx war es nur ein einziger kraftvoller Satz. Aton wagte es nicht, sich zu dem Ungeheuer herumzudrehen, aber er spürte, wie der Boden unter ihr erzitterte, als die Sphinx sich abstieß, und er konnte regelrecht fühlen, wie etwas Riesiges auf ihn zuflog.

Aton sah nun doch über die Schulter zurück. Die Sphinx war gesprungen und schien wie ein lebender Berg auf ihn herabzustürzen. Fänge und Krallen blitzten wie tödliche Dolche, und der brennende Flügel zeichnete eine Funkenspur in die Luft. Aton war noch einen Schritt vom Ausgang entfernt, aber er wußte, daß er es nicht schaffen würde.

Doch dann sah er noch etwas anderes: Petach riß plötzlich in einer beschwörend wirkenden Geste beide Arme in die Luft und ... dann war da plötzlich noch eine andere unsichtbare Gewalt, so stark und zerstörerisch wie die Sphinx, aber hundertmal schneller.

Den Bruchteil einer Sekunde bevor die tödlichen Klauen Aton packen konnten, erreichte sie die Sphinx und riß sie mitten in der Bewegung herum. Mit unvorstellbarer Gewalt wurde das Ungeheuer gegen die Felswand geschleudert, daß der ganze Berg zu erbeben schien, und auch Aton fühlte sich von einer unsichtbaren Riesenhand getroffen, so daß er den letzten Schritt hinaus ans Tageslicht nicht ging, sondern regelrecht aus dem Ausgang hinausgeworfen wurde, Himmel und Erde führten einen irren Hexentanz rings um ihn auf, als er auf Stein und Geröll in die Tiefe schlitterte, denn der Höhlenausgang lag hoch in der Flanke einer steilen, felsigen Böschung.

Irgendwie gelang es Aton, seine rasende Rutschpartie abzubremsen. Mit aufgeschürften Händen und Knien und inmitten einer gewaltigen Staubwolke kam er zum Stillstand - aber es war noch nicht vorbei.

Aton hatte kaum den Kopf gehoben, um nach oben zu sehen, da schien sich der gesamte Höhlenausgang in einen feuerspeienden Vulkan zu verwandeln. Inmitten einer weißen und orangefarbenen Flammenwolke brach die Sphinx aus dem Berg, tobend und brüllend vor Schmerz und wahnsinnigem Zorn, aber um nichts langsamer als bisher. Eine Steinlawine löste sich unter ihren stampfenden Schritten und polterte den Abhang hinunter.

Und nun hatte ihn die Sphinx erspäht. Aton sah jetzt mit eigenen Augen, daß seine Vermutung richtig gewesen war: Das Ungeheuer konnte im hellen Tageslicht nicht existieren. Die Sonnenstrahlen töteten es. Die Flammen, die bisher nur an seinem rechten Flügel gezüngelt hatten, breiteten sich rasend schnell über seinen gesamten Körper aus und begannen ihn zu vernichten.

Doch so schnell das Licht des Gottes Aton die Sphinx auch verzehrte - es war nicht schnell genug. Mit gewaltigen Sätzen, die lichterloh brennenden Flügel weit ausgebreitet, raste die Sphinx auf Aton zu. Selbst wenn sie nicht mehr die Kraft hatte, ihn anzugreifen, würde sie Aton einfach unter sich begraben und zermalmen.

In diesem Moment erschien Petach im Höhleneingang. Er wiederholte die beschwörende Bewegung, die er schon einmal drinnen in der Höhle gemacht hatte - und die Kräfte, die er diesmal entfesselte, waren ungleich stärker.

Die Sphinx wurde regelrecht zerfetzt. Petachs Zauber traf sie kaum zwei Meter von Aton entfernt und ließ sie in Millionen winziger Trümmer zerbersten, die rings um Aton niederregneten, glühend heiß und so hart wie der Stein, der sie vermutlich auch gewesen war, ehe ein uralter, finsterer Zauber sie mit Leben beseelt hatte.

Der Berg zitterte. Petachs Kräfte, einmal entfesselt, tobten weiter, ließen die Luft stöhnen und den Fels unter Aton knirschen. Er begann wieder zu rutschen, versuchte vergeblich, sich mit den bloßen Händen in den Boden zu krallen. Und diesmal gelang es ihm nicht mehr, seinen rasenden Sturz abzubremsen. Schneller und schneller werdend, schlitterte er die Böschung hinab, schlug gegen Felsen, wurde von Steinen getroffen und riß eine immer größer werdende Trümmerlawine los.

Sein Vater, seine Mutter und die gut zwanzig anderen Touristen, die durch den Lärm der Geröllawine angelockt herbeigeeilt kamen, brauchten mehr als eine halbe Stunde, um Aton unter den Trümmern hervorzuziehen ...

An dieser Stelle endete der Traum, und er hörte so sonderbar auf, wie sein ganzer Ablauf gewesen war: Aton erwachte nicht einfach. Der Traum gab ihn frei, weil er an seinem Ende angelangt und zumindest dieser Teil der Geschichte damit zu Ende erzählt war: Die verborgenen Türen seiner Erinnerung (bis auf eine, die ihr Geheimnis beharrlich weiter verteidigte) hatten sich geöffnet und ihm gezeigt, was dahinter lag, und nun gab es nichts mehr, was er noch wissen mußte, er durfte erwachen.

Das erste, was er sah, als er die Augen aufschlug, war Petachs Gesicht. Der Ägypter saß mituntergeschlagenen Beinen neben ihm und blickte sehr ernst auf ihn herab, und in seinem Gesicht mischten sich Sorge und Kümmernis mit einer sonderbaren Entschlossenheit.

»Jetzt weißt du endlich alles«, sagte Petach, und die Worte ließen Aton endgültig begreifen, daß sein Traum kein Traum gewesen war - Petach hatte ihn geschickt, und vielleicht hatte er das heute nicht einmal zum ersten Mal getan, sondern von Anfang an. Zumindest war er bei ihm gewesen, während er noch einmal jene schrecklichen Stunden durchlebte, die um ein Haar mit seinem Tod geendet hätten.

Aber war es tatsächlich nur um ein Haar gewesen? Plötzlich war Aton sich dessen nicht einmal mehr sicher. Es war verrückt, aber je länger Aton darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, daß er damals wirklich gestorben war, nicht nur beinahe. Das war natürlich absurd - wäre er damals von der Steinlawine erschlagen worden, dann könnte er jetzt kaum hier sein. Aber das Gefühl blieb, und als er abermals in Petachs Augen sah, da erkannte er darin, daß er auch diesen Gedanken erriet. Und ihm nicht widersprach.

»Sie waren dabei, damals«, murmelte Aton. »Als ... als der Unfall geschah. Aber es war kein Unfall.«

Petach sah plötzlich schuldbewußt drein, und nach allem, was Aton nun wußte, hatte er auch allen Grund dazu. Trotzdem lächelte er nach einigen Sekunden, blieb Aton aber eine Antwort schuldig.

»Warum haben Sie es mir nicht gleich gesagt?« fuhr Aton nach einer Weile fort. »Sie hätten es mir erzählen müssen. Die ganze Geschichte, nicht immer nur so viel, wie ich unbedingt wissen muß.«

Diesmal antwortete Petach. »Vermutlich hast du recht«, sagte er. »Aber ich wollte ...« Er stockte, suchte einen Moment nach den richtigen Worten und setzte dann noch einmal neu und in verändertem Ton an. »Was ich dir ganz am Anfang erzählt habe, ist die Wahrheit. Ich dachte, ich könnte dich aus allem heraushalten, dir das Schlimmste ersparen. Ich habe mich geirrt.«

»Und nicht nur in diesem Punkt«, murmelte Aton und setzte sich auf. Petach hielt seinem Blick zwar weiter stand, aber Aton spürte deutlich, wie sehr ihn seine Worte verletzten. Doch sein Mitgefühl mit dem Ägypter hielt sich in Grenzen. Der Traum hatte ihn diesmal nicht mit Schrecken und Herzklopfen ins Wachsein hinüber verfolgt wie sonst, aber er war noch immer aufgewühlt und betroffen von dem, was er erlebt hatte. Zumal er nun wußte, daß es alles andere als ein bloßer Traum gewesen war.

»Der andere«, sagte er. »Der Mann, der bei Ihnen war. War das -?«

»Der Wanderer«, bestätigte Petach. »Eje. Ja, du hast ihn wiedererkannt.«

Wie hätte er das nicht? Jetzt, wo er wieder wach und völlig Herr seiner Sinne war, erinnerte er sich sofort an das Gesicht des Mannes, der ihn durch die unterirdische Pyramide und in den See hineingejagt hatte. Er würde dieses Gesicht niemals vergessen, solange erlebte. Aton nickte. »Natürlich. Immerhin hätte er mich um ein Haar schon einmal erwischt.«

Seltsam - aber Petach sah für einen Moment so aus, als wäre das nicht das, was er erwartet hatte. Doch er sagte nichts dazu, denn in diesem Moment sprach Aton endlich die Frage aus, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte.

»Wieso haben Sie mir geholfen?« fragte er. »Ich war doch ein völlig Fremder für Sie. Und die Sphinx hätte Sie töten können.«

»Weil es unsere Schuld war, daß du dort warst«, antwortete Petach. »Meine Schuld, um genau zu sein.«

»Ihre Schuld?«

»Die geheime Tür, durch die du in das unterirdische Labyrinth eingedrungen bist«, sagte Petach betrübt. »Ich vergaß, sie zu schließen, als wir es vor dir betraten. So konntest du uns folgen und bist durch meine Unachtsamkeit in große Gefahr geraten.«

»Was haben Sie überhaupt dort gemacht?« fragte Aton.

»Der Wanderer und ich kamen an jenen Ort, um ... etwas Bestimmtes zu holen, das wir für einen ganz bestimmten Zweck benö -«

»Bitte«, unterbrach ihn Aton. »Sprechen Sie nicht schon wieder in Rätseln. Ich verspreche Ihnen, daß ich alles tue, was Sie verlangen, aber ich will jetzt endlich alles wissen.«

Petach lächelte flüchtig. »Entschuldige«, sagte er. »Ich glaube, ich bin es jetzt so lange gewohnt, nicht die Wahrheit zu sagen, daß ich schon gar nicht mehr anders kann. Also gut - du hast recht. Es wird Zeit, daß du alles erfährst. Das meiste weißt du ja ohnehin schon.« Er seufzte tief, richtete sich ein wenig auf und sah sich aufmerksam im Raum um, ehe er weitersprach, fast als müsse er sich erst davon überzeugen, daß sie auch wirklich allein waren.

»Bis vor wenigen Tagen«, begann er, »dachte ich immer noch, daß du durch einen reinen Zufall in diese Geschichte verwickelt worden wärst. Aber nun bin ich nicht mehr sicher. Du hast damals etwas getan, was der Wanderer und ich jahrhundertelang vergebens versuchten.«

»Ich?« wunderte sich Aton. »Aber ich habe doch gar nichts getan!«

»Du erinnerst dich nicht daran«, verbesserte ihn Petach. »Das bedeutet nicht, daß es nicht geschehen wäre.«

Atons Miene verdüsterte sich. »Also haben Sie mir doch noch nicht alles erzählt«, sagte er vorwurfsvoll.

»Alles, wovon ich weiß«, sagte Petach. »Was in Echnatons Grab geschah, das wissen auch der Wanderer und ich nicht. Es ist uns nie gelungen, jene letzte Tür zu durchschreiten, hinter der du gewesen bist.«

»Echnatons Grab?« wiederholte Aton ungläubig. »Aber wir waren doch nur -«

»Im Tal der Könige«, unterbrach ihn Petach mit einem Lächeln. »Dort, wo die meisten Pharaonen beigesetzt wurden. Dort liegen auch Echnaton und seine Frau Nofretete begraben. Man hat ihr Grab nie gefunden, und es wird auch niemals entdeckt werden, solange diese Welt besteht, aber es ist dort. Und du warst darin. Du erinnerst dich nicht?«

Aton versuchte es. Aber dieser Teil seiner Erinnerung blieb ihm weiter verborgen. Er erinnerte sich wieder, wie er sich von seinen Eltern getrennt hatte, wie er durch die verborgene Tür im Fels in das unterirdische Labyrinth eingedrungen und plötzlich gestürzt war, um sich nach einer langen, schmerzhaften Rutschpartie in einer vollkommen fremden, unheimlichen Welt wiederzufinden, wie er die Schritte gehört und zu rennen begonnen hatte - aber die Bilder in seinem Kopf hörten auf, als sie an jener letzten Tür anlangten, durch die er auf der Flucht vor dem unsichtbaren Verfolger gestürmt war. Er schüttelte den Kopf.

Petach machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, fuhr aber nach einigen Sekunden in seiner Erzählung fort. »Du erinnerst dich, was ich dir über Echnatons Fluch erzählte? Daß etwas Bestimmtes nötig ist, um seine toten Krieger wieder zum Leben zu erwecken? Es handelt sich um das Udjatauge, einen magischen Gegenstand, der einen Teil der Kraft des Gottes Horus birgt. Der Wanderer hat lange danach gesucht; Jahrhunderte, bis er erfuhr, daß Nofretete es mit ins Grab ihres Gemahls legen ließ - vielleicht mit Bedacht, vielleicht auch wirklich, ohne zu wissen, was sie tat. Gleichwie: Ohne das Udjatauge kann die Beschwörung nicht stattfinden, und die Toten können nicht aus ihrer Ruhe erwachen.«

»Sie waren dort, um es zu holen?«

Petach nickte. »Nicht zum ersten Mal. Und nicht zum ersten Mal vergebens. Weder der Wanderer noch ich können Echnatons Grab betreten. Es wird von mächtigen Dämonen beschützt - einen davon hast du kennengelernt -, und es liegt ein Zauber über seinem Eingang, der es uns unmöglich macht, ihn zu durchschreiten. Trotzdem hatten wir die Hoffnung, daß die Kraft des Zaubers im Laufe der Jahrhunderte vielleicht geschwunden war oder es uns irgendwie gelänge, ihn zu brechen.«

»Aber das ist nicht geschehen«, vermutete Aton.

Petach sah ihn eine Sekunde lang schweigend an, dann schüttelte er mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Wir waren guter Dinge«, sagte er. »Wir glaubten schon, es diesmal schaffen zu können, denn der Dämon, der das Grab bewachte, zeigte sich nicht.«

»Ich weiß«, murrte Aton. »Er war anderweitig beschäftigt.«

»Er jagte dich, ja«, bestätigte Petach. »Doch damals konnte ich das nicht wissen. Ich sah nur einen Jungen, der von der Sphinx verfolgt wurde, und natürlich versuchte ich ihm zu helfen. Hätte ich geahnt, weshalb sie dich wirklich verfolgte, dann hätte ich vielleicht anders reagiert.«

»Aber warum hat sie mich denn gejagt?« fragte Aton.

»Du weißt es wirklich nicht?« fragte Petach noch einmal. Aton antwortete gar nicht, und Petach wiederholte seine Frage nicht, sondern fuhr fort: »Weil dir gelungen ist, was der Wanderer und ich unzählige Male vergebens versuchten.«

Es dauerte einen Moment, bis Aton begriff. »Das Auge?« flüsterte er. »Sie ... Sie meinen, ich ... ich habe das Urjaauge aus dem Grab -«

»Das Udjatauge«, verbesserte ihn Petach mit einem flüchtigen Lächeln, das sofort wieder von Sorge und Ernst abgelöst wurde. Er nickte. »Ja. Was genau in Echnatons Grabkammer geschehen ist, kann auch ich nur raten. Ich hatte gehofft, daß dir die Erinnerung hilft, mir auch jene letzte Frage zu beantworten, aber wenn du es nicht weißt ...« Er machte eine Handbewegung, als Aton etwas sagen wollte, und fuhr fort: »Was immer es war, wer immer dir geholfen hat und warum auch immer - als du die Grabkammer wieder verlassen hast, da hast du das Udjatauge bei dir getragen.«

Er legte eine dramatische Pause ein, und dann sagte er: »Und du hast es noch.«

»Wie bitte?« fragte Aton überrascht. Ungläubig sah er Petach an. »Aber das kann nicht sein. Ich ... ich hatte gar nichts bei mir, als ich herauskam. Ich meine, selbst wenn ich es eingesteckt hätte, ohne es zu merken, hätte ich es später gefunden. Im Krankenhaus oder zu Hause. Aber ich habe nie -«

Er verstummte, als Petach die Hand ausstreckte und seine Schulter berührte - genauer gesagt den winzigen, harten Knoten unter seinem Schlüsselbein, der ihm als Erinnerung an sein lebensgefährliches Abenteuer geblieben und ihm all die Jahre hindurch so vertraut geworden war, daß er ihn gar nicht mehr richtig bemerkt hatte. Unwillkürlich hob auch er die Hand, aber plötzlich wagte er es nicht mehr, die kaum sichtbare Erhebung unter seiner Haut zu berühren.

»Der ... Stein?« flüsterte er.

»Es ist kein Stein«, sagte Petach. »Die Ärzte im Krankenhaus hielten es dafür, aber er ist es nicht. Er war es nie. Es war auch nicht die Verletzung, durch die er in deinen Körper geriet. Er war in dir, als du die Grabkammer verlassen hast, und du hast ihn die ganzen zehn Jahre bei dir getragen, ohne es zu wissen. Niemand wußte es, auch der Wanderer und ich nicht. Erst viel später begriff ich, was wirklich geschehen war, aber da war es bereits zu spät, die Dinge noch aufzuhalten.«

Aton fühlte einen Schauder eiskalter Furcht. Für einen Moment fiel es ihm schwer, Petachs Worten weiter zu folgen. Er hatte die Lösung aller Rätsel, die sich ihm in der letzten Woche gestellt hatten, die ganze Zeit über bei sich getragen, und er hatte es nicht einmal gewußt!

»Deshalb sind sie also so massiv hinter mir her«, murmelte er.

Petach nickte. Er sagte nichts.

»Und deshalb haben Sufi und Sie mich in ... in dieses seltsame Krankenhaus gebracht«, fuhr Aton fort. »Sie wollten es herausschneiden. Warum haben Sie es mir nicht gesagt? Ich ... ich hätte nichts dagegen gehabt.«

»Ich dachte, es wäre das beste für dich, wenn du sowenig wie möglich weißt«, gestand Petach. »Aber ich sehe nun ein, daß das falsch war. Es tut mir leid. Ich hoffe, du glaubst mir.«

Seltsam - Aton hatte wahrlich jeden Grund, Petach nichts mehr zu glauben, aber irgendwie spürte er, daß der Ägypter die Wahrheit sprach. Und noch mehr: Er wußte auch plötzlich, daß es nichts geändert hätte. Petach mochte ein Mann von großer Macht sein, unendlich viel mehr vermutlich, als Aton selbst jetzt noch annahm, aber auch ihm waren Grenzen gesetzt. Das Schicksal hatte entschieden, daß die Dinge so und nicht anders ablaufen sollten, und selbst er konnte daran wohl nichts ändern.

»Vielleicht verstehst du nun, warum ich es nicht zulassen konnte, daß du zu deinem Vater gehst«, fuhr Petach nach einer Weile fort. »Morgen früh, wenn die Sonne das nächste Mal aufgeht, ist der Moment des Erwachens gekommen.«

»Und was würde geschehen, wenn ... wenn ich in der Nähe wäre?« fragte Aton - obwohl er die Antwort darauf ganz genau kannte.

»Es wäre dein Tod«, sagte Petach ernst. »Und nicht nur der deine. Die Sterne stehen in der richtigen Position, und mit dem Auge des Horus in der Nähe ...« Er seufzte. »Ich habe dir erzählt, was geschieht, wenn sie erwachen, jetzt und in der Nähe all dieser ahnungslosen Menschen.«

»Aber sie werden nicht aufgeben«, sagte Aton leise. »Vielleicht sind wir ja sicher, solange die Sonne am Himmel steht, aber sobald es dunkel wird ...«

»Sie werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um deiner habhaft zu werden«, bestätigte Petach. »Aber hab keine Sorge - es gibt einen Ort, an den ihre Macht nicht reicht, und dorthin werden wir gehen. Den einzigen Ort auf der Welt, der selbst den Göttern verschlossen ist.«

»Echnatons Grab«, sagte Aton.

Petach nickte. »Ja. Wir müssen es zurückbringen. Du bist dort sicher, und ohne dich und das, was du bei dir trägst, kann sich die Prophezeiung nicht erfüllen.«

»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, sagte Aton.

Er war von dem, was er von Petach erfahren hatte, viel zu aufgewühlt und betroffen, als daß an Schlafen noch zu denken gewesen wäre, obwohl er sich nach den Aufregungen der vergangenen Nacht so müde fühlte, daß seine Glieder Zentner zu wiegen schienen. So stand er auf und folgte dem Ägypter ins Freie, als Petach sich nach einer Weile erhob und das Haus verließ.

Der kleine Ort war zum Leben erwacht, was aber nicht mehr hieß, als daß auf der staubigen Straße eine Handvoll Menschen zu sehen waren, aber die Familie, die das Gebäude normalerweise bewohnte, war nicht dabei. Petach sah in nördlicher Richtung die Straße hinunter, offensichtlich wartete er auf jemanden.

»Wie kommen wir von hier weg?« fragte Aton. Er hatte die Karte Ägyptens nicht im Kopf, aber er wußte doch, daß das Tal der Könige nicht unbedingt um die nächste Ecke lag. Selbst mit einem schnellen Wagen würden sie einen gut Teil des Tages brauchen, um dorthin zu kommen. Er hoffte nur, daß das Sonnenlicht sie tatsächlich so zuverlässig vor ihren Verfolgern schützte, wie Petach behauptete. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, daß er sich irrte.

Am Ende der Straße erschien eine Staubwolke. Petachs Haltung spannte sich ein wenig, und Aton trat einen Schritt weiter auf die Straße hinaus, um besser sehen zu können. Der wirbelnde Staub verdichtete sich zu den Umrissen eines schwarzlackierten Landrovers, der rasch näher kam. Yassir, der wie versprochen aus dem Nachbarort zurückkehrte und den angekündigten Wagen mitbrachte.

Wie auf ein Stichwort hörten sie Schritte hinter sich, und als Aton den Blick wandte, erkannte er Sascha, die hinter ihnen aus dem Haus trat. Der Anblick verblüffte ihn ein wenig, denn er war vollkommen sicher gewesen, beim Erwachen mit Petach allein in der einfachen Hütte zu sein. Und es gab in dem nur aus einem Raum bestehenden Haus keinen Fleck, an dem sie seinen Blicken hätte verborgen bleiben können. Aber er vergaß seine Verwunderung sofort, als er den Ausdruck von Sorge und Zorn auf Saschas Gesicht erblickte.

Mit schnellen Schritten näherte sie sich Petach, kam jedoch gar nicht dazu, etwas zu sagen, denn der Ägypter hob befehlend die Hand und brachte das Kunststück fertig, in einem Ton, der zugleich scharf wie auch sehr freundlich klang, zu sagen: »Hier trennen sich unsere Wege. Aton und ich reisen von hier ab allein weiter.«

In Saschas Augen blitzte es kampflustig auf. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Wenn Sie mich wirklich so gut kennen, wie Sie behaupten, dann sollten Sie wissen, daß ich Ihnen den Jungen ganz bestimmt nicht überlasse.«

Petach seufzte. Er sah mehr traurig als zornig drein, aber er machte auch zugleich nicht den Eindruck, daß er willens sei, sich auf Diskussionen einzulassen. Ehe er antwortete, warf er einen raschen Blick auf die Straße. Der Wagen würde sie in längstens einer Minute erreicht haben.

»Seien Sie vernünftig«, sagte Petach. »Ich weiß, wer Sie sind, und auch, wozu Sie in der Lage sind. Glauben Sie mir - Sie können mich nicht besiegen. Und Sie sind auch nicht hier, um gegen mich zu kämpfen.«

Atons Verwirrung wuchs ins Unermeßliche. Sein Blick irrte zwischen Sascha und Petach hin und her. »Was bedeutet das?« fragte er. »Was soll das heißen - wer du bist, und wozu du in der Lage bist?«

Sascha lächelte, ohne Petach jedoch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Auf ihrem Gesicht lag Entschlossenheit, und ihre ganze Haltung verriet Anspannung. Sie antwortete nicht auf Atons Frage, und wahrscheinlich hatte sie sie gar nicht gehört.

»Ich werde ihn nicht allein lassen«, beharrte sie. »Vor allem jetzt nicht.«

Der Wagen war da. Yassir brachte den Landrover in einer Staubwolke zum Stehen und stieg aus, und offensichtlich erfaßte er die Situation mit einem einzigen Blick, denn er trat schweigend neben Petach und funkelte Sascha herausfordernd an. Die beiden hatten sich ja nie verstanden, aber Aton fühlte, daß es jetzt nur noch einer Winzigkeit bedurfte, um die Situation zum Explodieren zu bringen.

»Bitte«, sagte Petach. »Was nun geschieht, hat mit Ihnen und denen, die Sie geschickt haben, nichts mehr zu tun. Ich verspreche Ihnen, daß Aton nichts geschieht. Was immer in meiner Macht steht, werde ich für ihn tun. Sie haben getan, wozu Sie hierhergesandt wurden, und Sie haben Ihre Aufgabe hervorragend erfüllt. Aber nun ist sie beendet. Wir helfen nur unseren gemeinsamen Feinden, wenn wir uns nun gegenseitig bekämpfen.« Er lächelte sanft. »Manchmal muß man verlieren, um am Ende zu gewinnen, wissen Sie?«

Atons Gedanken begannen wild hinter seiner Stirn zu kreisen. Unseren gemeinsamen Feinden? Ich weiß, wozu Sie gesandt wurden? Was sollte das heißen? Was zum Teufel -?

Ganz im Gegenteil, Aton, sagte Sascha. Aber sie sagte es nicht wirklich. Sie starrte Petach unverwandt weiter an, und ihre Lippen hatten sich nicht bewegt, und tatsächlich hatte Aton ihre Stimme gar nicht gehört - sowenig, wie er die Frage laut ausgesprochen hätte, so daß Sascha sie hören konnte. Die Worte waren direkt in seinem Kopf gewesen, und noch während sich Aton bestürzt fragte, ob er nun endgültig dabei war, den Verstand zu verlieren, hörte er Saschas Stimme ein zweites Mal und auf die gleiche, unheimliche Art: Keine Angst, Aton, sagte sie. Ich werde auf dich achtgeben.

»Bitte«, sagte Petach noch einmal. »Zwingen Sie mich nicht zum Schlimmsten.«

Sascha antwortete nicht darauf. Aber sie machte auch keinen Versuch mehr, ihn oder Aton zurückzuhalten, und nur einen Augenblick später stiegen sie in den Wagen und verließen die Ortschaft.

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