Der gebrochene Fluch

Es war sehr kalt. Obgleich sich rings herum nichts als Wüste erstreckte und die scheinbare Unendlichkeit aus Steinen und Sand die Vorstellung von Trockenheit und hitzeflimmernder Luft entstehen ließ, war mit der Nacht eine empfindliche Kühle über das Land hereingebrochen, zusammen mit einem sacht, aber beständig wehenden Wind, der einen Hauch von Feuchtigkeit von der anderen Seite des Staudammes herantrug, so daß Aton noch mehr fror, als er es ohnehin getan hätte. Aber er war gar nicht sicher, ob es wirklich die äußere Kälte war, die ihn am ganzen Leib zittern ließ.

Aton saß auf den Fersen im Sand und versuchte sich daran zu erinnern, was in den letzten Stunden geschehen war. Sein Zeitempfinden war genauso durcheinandergeraten wie sein Erinnerungsvermögen. Er erinnerte sich an schemenhafte Gestalten, unheimliche Geräusche und ... Dinge, die plötzlich aus dem Schatten gekrochen waren. Was hier geschehen war, hatte nichts mit der Welt der Menschen, nichts mit ihrer Art zu denken und nichts mit ihren Gesetzen und ihrer Logik zu tun, und er hatte Dinge gesehen, die nicht für menschliche Augen gedacht waren. Vielleicht wäre er gestorben, hätte er wirklich gesehen, was geschah, und - er war nicht einmal sicher, ob Osiris oder Horus ihn nicht ganz bewußt vor der Wahrheit geschützt hatten, um sein Leben zu retten. Denn eines hatte er ganz deutlich gespürt, während er ihnen nahe gewesen war: Petach hatte sich geirrt. Die beiden Götter waren sowenig böse wie er. Sie waren stark, unglaublich stark, und sie waren zornig, unendlich zornig, und nach Jahrtausenden der Gefangenschaft in einer Welt der Schatten und des Beinahevergessenseins zu begierig auf das Leben, um noch irgendwelche Rücksichten zu nehmen, aber der wirkliche Grund für das, was sie taten, war nicht die pure Lust am Zerstören. Sie wollten leben, das war alles.

Aton hob müde den Kopf und sah in den Himmel hinauf. Die Nacht war sehr klar, wie die meisten Nächte in der Wüste, aber es war Neumond, so daß er trotzdem nicht sehr viel von seiner Umgebung erkennen konnte.

In drei Richtungen erstreckte sich die Wüste, so weit der Blick reichte, und in der Nacht war sie nicht mehr als eine schwarze Fläche ohne erkennbare Konturen. Nur im Osten erhob sich der gewaltige schwarze Schatten der Staumauer, die die Felsenschlucht, in der Echnaton damals ums Leben gekommen war, längst überragte. Vorhin, während Osiris und Horus taten, wozu sie gekommen waren, war die Nacht voller Geräusche und unheimlicher Bewegung gewesen, aber jetzt war es beinahe gespenstisch still.

Aton vergrub die Hand in dem feinen, fast weißen Sand, in dem er kniete, und als er sie wieder hervorzog, glitzerte das Udjatauge darin. Es war jetzt wirklich nicht mehr als ein Schmuckstück. Seine magische Kraft war aufgebraucht, ein für allemal, so daß es keinen Wert mehr für die Götter besaß; sowenig wie für Aton, denn der Anblick des kleinen Kunstwerkes machte ihm auf sonderbare Weise klar, wie wenig weltlicher Besitz und Schätze in Wirklichkeit zählten. Aus einem plötzlichen Impuls heraus wollte er es von sich schleudern, aber dann überlegte er es sich doch anders und steckte es ein. Wieder tastete sein Blick über die Wüste. Der Sand lag noch immer still und so unberührt wie seit dreitausend Jahren da, aber er glaubte zu spüren, wie sich tief unter ihm etwas bewegte. Sie würden kommen, das wußte er. Wenn die Sonne aufging, würde dieses scheinbar leblose Stück Erde etwas hervorbringen, das wie Leben aussah, aber keines war, und das den Tod verbreitete.

Einen Moment lang überlegte er, ob er aufstehen und zum Staudamm hinüberlaufen sollte, um die Menschen dort zu warnen - die Arbeiter und Ingenieure und die einheimischen Helfer, die in einem kleinen Hüttendorf am Ufer des Stausees lebten und noch nichts von dem Unglück ahnten, das sich über ihren Köpfen zusammenballte. Aber er verwarf den Gedanken wieder. Der Staudamm schien zum Greifen nahe zu sein, aber dieser Eindruck kam nur von der gewaltigen Größe der Betonmauer. In Wirklichkeit war er Kilometer entfernt, und er würde noch dazu einen enormen Umweg machen müssen, um die Mauer und die sie einschließenden Felswände zu umgehen, so daß er keine Chance hatte, vor Sonnenaufgang dort zu sein. Und selbst wenn - wer würde ihm glauben?

Nein, er würde hier sitzen bleiben und warten, bis die Sonne aufging. Vielleicht - wahrscheinlich sogar - würde er so das erste Opfer der Krieger werden, deren Regen er schon jetzt tief unter sich im Sand spürte, aber der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht mehr. Möglicherweise war Aton der einzige Mensch auf dieser ganzen Welt, der nicht nur glaubte, sondern wußte, mit unzweifelhafter, völliger Gewißheit wußte, daß der Tod nicht das Ende aller Dinge war. Er hatte es immer gewußt, nur war ihm dieses Wissen nie so recht klargewesen. Schließlich hatte er den Schlüssel zum ewigen Leben in sich getragen.

Ein Geräusch drang in seine Gedanken: ein leises, rhythmisches Dröhnen, das ganz allmählich näher kam. Noch bevor er den Schatten am Himmel sah, identifizierte er den Laut als das Rotorengeräusch des Hubschraubers. Sein Vater hatte also den Weg aus dem Grab herausgefunden und kehrte zurück.

Er stand nun doch auf und hob die Arme, um zu winken, aber dann wurde ihm klar, wie sinnlos das war - in der Dunkelheit würde sein Vater ihn nicht sehen; nicht einmal, wenn er nach ihm suchte.

»Er wird dich finden, keine Angst.«

Aton drehte sich herum und zog überrascht die Augenbrauen zusammen, als er Sascha erkannte. Sie war vollkommen lautlos hinter ihm aufgetaucht, und ihre Worte bewiesen endgültig, daß sie seine Gedanken erriet. Trotzdem antwortete er laut: »Ich habe keine Angst.«

»Ich weiß.« Sascha lächelte und kam näher, doch als Aton seinerseits auf sie zutreten wollte, machte sie eine abwehrende Geste, und er blieb stehen. Irgend etwas an ihr hatte sich verändert, aber er vermochte nicht zu sagen, was es war.

»Ich weiß auch, daß du gar nicht willst, daß er dich findet«, fuhr sie fort. »Aber glaub mir, das wäre ein sinnloses Opfer. Sie würden dich töten, ohne daß es irgend etwas ändern würde.«

»Sie werden viele töten«, antwortete Aton. »Und es ist meine Schuld.«

»Das ist es nicht.«

»Ich habe versagt«, widersprach Aton. Plötzlich klang seine Stimme bitter. Ihr Klang erschreckte ihn fast selbst. »Ich hätte es verhindern können. Ich weiß, daß ich das gekonnt hätte, aber ich habe versagt.«

»So wie ich«, sagte Sascha traurig. »Wir alle haben versagt, denn wir haben versucht, uns gegen das Schicksal aufzulehnen, und das ist eine Macht, der nicht einmal die Götter gewachsen sind. Aber selbst wenn es so wäre, gibt dir das nicht das Recht, dein Leben wegzuwerfen. Dazu hast du sowenig das Recht, wie Petach es gehabt hätte oder irgendein anderer.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« fragte Aton bitter. »Weglaufen und mich verkriechen, wahrend all diese Leute dort hinten vielleicht sterben?« Er deutete auf den schwarzen Schatten der Staumauer. »Und das wird passieren, das weißt du! Nichts kann es jetzt noch aufhalten!«

»Nichts ist unvermeidlich, solange es nicht geschehen ist«, erwiderte Sascha.

»Worte!« antwortete Aton bitter. »Nichts als Worte! Du ... du hast gesagt, du wärst hier, um mir zu helfen! Warum tust du es dann nicht?«

»Aber das tue ich doch«, sagte Sascha traurig. Sie ahnte wohl, daß sein scharfer Ton nur Ausdruck seiner Hilflosigkeit war und er ihr in Wahrheit gar nicht weh tun wollte.

»Wer bist du wirklich?« fragte Aton plötzlich. »Was bist du, Sascha - oder wie immer du heißt.«

»Aber das weißt du doch längst«, sagte Sascha lächelnd.

»Wenn das stimmt, dann hilf mir«, erwiderte Aton. »Und wenn schon nicht mir, dann all diesen anderen Menschen, die nichts mit alledem hier zu tun haben.«

»Das kann ich nicht«, antwortete Sascha. Sie lächelte noch immer, aber nun war es ein sehr trauriges, mitfühlendes Lächeln. »Und ich darf es nicht. Es gibt Dinge, in die einzumischen mir nicht gestattet ist, und es ist auch gut so. Dies ist dein Schicksal, Aton. Was zu tun ist, kannst nur du tun. Du allein und sonst niemand.«

»Tun?« keuchte Aton. »Aber was kann ich denn noch tun? Osiris und Horus haben die Beschwörung vollzogen. Sobald die Sonne aufgeht -«

»Erinnere dich, was Petach dir erzählt hat!«

Aton blinzelte. »Wie?«

»Echnaton hat nicht gesagt, daß die Götter seine Krieger wiedererwecken werden«, sagte sie.

»Was soll das heißen?« fragte Aton. »Was ... was meinst du damit?«

»Mehr darf ich dir nicht sagen«, erwiderte Sascha. »Aber du kennst die Antwort. Sie ist schon in dir, und ich bin sicher, du wirst sie finden. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen.«

Sie trat einen Schritt zurück und fixierte den Schatten am Himmel, und plötzlich kippte der Helikopter zur Seite und änderte in einem gewagten Manöver seinen Kurs, so daß er nun direkt auf Aton zuflog.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie. »Aber denke an das, was ich dir schon einmal gesagt habe. Manchmal muß man verlieren, um am Ende zu siegen.«

Und damit verschwand sie. Von einer Sekunde auf die andere war sie einfach nicht mehr da. Nur ihre Fußabdrücke im weichen Sand bewiesen noch, daß es sie überhaupt jemals gegeben hatte.

Aton blickte die Spuren im Sand so lange an, bis das Rotorengeräusch des Hubschraubers ganz nahe war und der Sturmwind der landenden Maschine die Abdrücke verwischte. Was hatte sie damit gemeint, er sollte sich daran erinnern, was Petach ihm erzählt hatte? Er hatte es doch keine Sekunde vergessen; und letztendlich war alles so gekommen, wie Petach vorausgesagt hatte.

Dann begriff er seinen Irrtum. Etwas in seinem Kopf schien deutlich hörbar klack zu machen, und von einer Sekunde auf die andere wußte er nicht nur, wie Saschas geheimnisvolle Worte gemeint gewesen waren, sondern auch, was er zu tun hatte.

Der Hubschrauber landete im Zentrum eines heulenden Tornados, den er selbst entfesselt hatte. Aton duckte sich unter einem plötzlichen Hagel winziger Steine und Sandkörner, drehte das Gesicht aus dem Wind und rannte los, noch bevor die Rotorblätter ganz aufgehört hatten, sich zu drehen.

Die Kanzel der kleinen Maschine öffnete sich, und Aton blickte direkt in die Gesichter seines Vaters und Petachs. Beide waren bleich vor Schrecken.

»Aton!« rief sein Vater erleichtert aus. »Du lebst! Gott sei Dank, du bist am Leben! Was ist -«

Aton schnitt ihm mit einer hastigen Bewegung das Wort ab und kletterte unverzüglich in die Kanzel. Er war so fahrig, daß er Petach dabei sehr unsanft auf die Füße trat, aber der Ägypter schien dies nicht zu bemerken. Sein Gesicht war nicht nur schreckensbleich wie das von Atons Vater, sondern hatte einen leichten Stich ins Grüne, und trotz des Ernstes ihrer Situation und allem, was geschehen war, konnte Aton ein schadenfrohes Grinsen nicht vollkommen unterdrücken. Wenn Petach schon bei einer normalen Autofahrt nervös wird, sobald die Tachonadel deutlich mehr als fünf Stundenkilometer anzeigt, dachte er, wie muß er sich dann erst an Bord eines Helikopters fühlen, der mit mehr als dem Fünfzigfachen dieser Geschwindigkeit über das Land fegt und in dem er nicht so geborgen und von allen äußeren Eindrücken abgeschirmt sitzt wie in einer großen Verkehrsmaschine?

»Was ist passiert?« fragte sein Vater erneut, als Aton sich endlich zwischen ihm und Petach hindurchgezwängt und auf der schmalen hinteren Sitzbank Platz genommen hatte. »Du warst plötzlich verschwunden, und ich -«

»Später!« unterbrach ihn Aton. »Flieg los, schnell! Wir müssen hinauf zum Damm. So schnell wie möglich! Jede Sekunde zählt!«

Sein Vater sah ihn zweifelnd an, aber er schien wohl zu spüren, wie bitterernst Atons Worte gemeint waren, denn er zögerte nur kurz, ehe er wieder den Motor anließ.

»Dich schickt der Himmel«, sagte Aton. »Ich dachte schon, es wäre alles vorbei, aber mit dem Hubschrauber schaffen wir es vielleicht doch noch.«

»Schaffen wir was?« fragte sein Vater erstaunt. Atons ersten Satz überging er - schließlich konnte er nicht ahnen, daß Aton die Worte ganz genau so gemeint hatte, wie sie klangen. Aton zögerte einen Moment, die Frage seines Vaters zu beantworten - und ehe er es tat, stellte er seinerseits eine Frage, die an Petach gerichtet und deren Antwort sehr wichtig für ihn war:

»Wo ist Yassir?«

»Verschwunden«, sagte sein Vater an Petachs Stelle, und der Ägypter nickte, um die Worte zu bestätigen, und fügte hinzu:

»Im selben Augenblick wie du. Wir dachten, er wäre bei euch. War er das denn nicht?«

»Ich ... weiß es nicht«, gestand Aton. »Ich kann mich kaum erinnern, was passiert ist. Ich habe nur Schatten gesehen und ... und unheimliche Geräusche gehört.«

»Vielleicht ... hat es ja nicht richtig funktioniert«, sagte sein Vater. Über ihren Köpfen heulte der Rotorkopf des Helikopters schrill auf, und die Rotorblätter wurden zu einem verschwommenen Kreis aus reiner Bewegung über dem durchsichtigen Kanzeldach. »Ich meine ... man müßte doch etwas sehen. Wenn all diese Krieger wirklich von den Toten auferstanden wären, müßten wir doch wenigstens eine Spur von ihnen sehen.«

»Noch ist es nicht soweit«, antwortete Petach ernst. »Die Sterne stehen noch nicht in der richtigen Konstellation. Doch sobald die Sonne aufgeht, werden sie kommen. Niemand kann sie jetzt noch aufhalten.«

»Aber wenn Aton doch nichts gesehen hat -«

»Menschliche Sinne«, unterbrach ihn Petach, »können die Welt der Götter nur unzulänglich wahrnehmen. Seien Sie froh, daß es so ist. Es gibt Dinge, die töten, wenn man sie nur sieht.«

Atons Vater warf ihm einen Seitenblick zu, aber er kam nicht zu einer weiteren Frage, denn in diesem Moment hob die Maschine ab, und er hatte für die nächsten Sekunden alle Hände voll zu tun, den Helikopter zu stabilisieren und auf Kurs zu bringen. Petach versteifte sich in seinem Sitz. Er gab sich alle Mühe, sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen, aber natürlich gelang es ihm nicht.

»Wir müssen die Arbeiter warnen«, sagte sein Vater, während sie sich der Staumauer näherten. Aton erkannte, daß die Entfernung noch viel größer war, als er geglaubt hatte. Selbst mit dem Hubschrauber würden sie drei oder vier Minuten brauchen, um sie zu erreichen. »Bis Sonnenaufgang ist noch Zeit. Wenn wir alle Wagen und Kamele nehmen und alles zurücklassen, können wir vielleicht die meisten in Sicherheit bringen.«

»Dann würden sie sich neue Opfer suchen«, antwortete Petach düster. »Nichts kann sie aufhalten, wenn sie einmal erwacht sind.«

Atons Vater sah ihn erneut auf jene sonderbare Weise an, aber er protestierte auch jetzt nicht. Noch vor wenigen Stunden hätte er ganz laut am Verstand seines Gesprächspartners gezweifelt, hätte irgend jemand von einem Heer ägyptischer Krieger erzählt, das nach mehr als dreitausend Jahren aus seinem Grab stieg und sich daranmachte, über die Lebenden herzufallen. Aber was er erlebt hatte, hatte sein Weltbild gründlich verändert.

»Vielleicht haben wir doch noch eine Chance«, sagte Aton.

Petach und sein Vater drehten sich gleichzeitig überrascht zu ihm herum und starrten ihn an, und der Helikopter begann prompt zu bocken und nach links abzudriften. Hastig griff Atons Vater nach dem Steuer und stabilisierte die Maschine wieder, behielt aber Aton über den Spiegel hinweg scharf im Auge.

»Wie meinst du das?« fragte Petach.

»Erzählen Sie mir noch einmal, wie Echnatons Fluch lautet«, bat Aton. »Wortwörtlich. Versuchen Sie sich zu erinnern. Jedes Wort ist wichtig!«

Petach sah ihn an, als zweifelte er an Atons klarem Verstand, aber dann wiederholte er die wenigen Sätze - und Aton hatte Mühe, einen triumphierenden Schrei zu unterdrücken. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Mit ein paar Worten erklärte er Petach und seinem Vater, was er vorhatte.

Sein Vater wurde noch blasser, als er es ohnehin schon war, und auch Petach riß ungläubig die Augen auf - doch Aton sah auch die verzweifelte Hoffnung, die darin aufglomm.

»Vielleicht ... bei Amun, vielleicht hast du sogar recht!« flüsterte er. »Es ist die letzte Chance, wir können es versuchen. Ist das möglich?«

Die letzte Frage galt Atons Vater, der mit verbissenem Gesicht hinter dem Steuer hockte. Er antwortete erst nach Sekunden, aber dann mit einem einfachen, klaren: »Ja.«

Petach drehte sich wieder zu Aton herum. Plötzlich huschte ein Schatten über sein Gesicht. »Selbst wenn du recht hast und dein Plan gelingt - du weißt, was das für Yassir bedeutet? Er würde niemals mehr Erlösung finden.«

»Nicht wenn ich es selbst tue«, widersprach Aton. »Mein Vater kann mir zeigen, was ich machen muß. Es ist ganz einfach. Wenn ich es eigenhändig tue, dann muß Echnaton ihn gehen lassen.«

»Dann wollen wir hoffen, daß ein vor dreitausend Jahren verstorbener Pharao für deine Spitzfindigkeit empfänglich ist«, sagte sein Vater.

»Selbst die Götter können sich nicht über die Gesetze erheben, die sie selbst erlassen haben«, sagte Aton. Das war ein Satz, der gut klang, von dem er aber keine Ahnung hatte, ob er auch der Wahrheit entsprach. Petach jedenfalls lächelte nur flüchtig, widersprach aber nicht, und für den Rest des kurzen Fluges verfielen sie alle in ein nervöses Schweigen.

Der Helikopter näherte sich der Staumauer; genauer gesagt dem würfelförmigen Maschinenhaus, das sich wie der Turm einer mittelalterlichen Burg genau in ihrer Mitte erhob.

»Ich lande direkt oben auf dem Damm«, sagte Atons Vater. »Der Helikopterlandeplatz ist zu weit entfernt. Wir verlieren eine halbe Stunde, wenn wir zu Fuß zum Maschinenhaus zurückgehen.«

Aton widersprach nicht, aber Petachs Gesicht färbte sich nun endgültig grün. »Der Damm ist dort oben doch kaum drei Meter breit!« wandte er ein. »Halten Sie das für eine gute Idee?«

»Nein«, antwortete Atons Vater.

»Aber Sie haben das schon einmal gemacht, oder?« krächzte Petach, während sich der Helikopter wie ein herabstoßender Eisenvogel der Mauerkrone näherte. »Wie ... wie oft sind Sie schon hier oben gelandet?«

»Einmal«, antwortete Atons Vater. »Dieses Mal mitgerechnet.«

Petach japste nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und beinahe im selben Moment setzte der Helikopter auf. Selbst Aton fuhr erschrocken zusammen, als er sah, wie dicht neben der Kante die Kufen der Maschine den Beton berührten. Sie würden alle auf Petachs Seite aussteigen müssen - auf der anderen gähnte ein fünfzig Meter tiefer Abgrund.

Hintereinander kletterten sie aus der Maschine. Petach, der es sehr eilig hatte, den Hubschrauber zu verlassen, bildete die Spitze, und Aton fuhr abermals erschrocken zusammen, als er sah, daß die Rotorblätter die Wand des Maschinenhauses bloß um Zentimeter verfehlt hatten. Sein Vater war nur ein Hobbypilot, aber diese Landung hätte ihm wahrscheinlich nicht einmal ein Luftakrobat so ohne weiteres nachgemacht.

Sein Vater war seinem Blick gefolgt, und auch er wurde eine Spur blasser. »Ups«, sagte er mit einem etwas schiefen Lächeln. »Das war knapp. Glück muß man haben.«

Glück? dachte Aton. Er sprach es nicht laut aus, aber er wußte, daß das nichts mit Glück zu tun hatte. Wahrscheinlicher war wohl eher, daß sich sein Schutzengel entschlossen hatte, auch auf den Rest seiner Familie ein wenig aufzupassen.

Im Maschinenhaus war Licht angegangen. Durch den Lärm des landenden Hubschraubers angelockt, erschienen zwei Techniker in weißen Overalls unter der Tür.

»Was -?« begann der eine von ihnen, wurde jedoch von Atons Vater sofort mit einer energischen Geste zum Schweigen gebracht.

»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit«, sagte er in befehlendem Ton. »Wecken Sie meine Frau, sofort. Sie soll hierherkommen, so schnell wie möglich. Dann laufen Sie hinunter ins Arbeitslager und wecken dort alle auf. Sie sollen sich für eine Evakuierung bereit halten.«

Der Gesichtsausdruck des Mannes machte klar, wie wenig er von dem verstand, was er hörte. »Aber was ist denn geschehen?« murmelte er. »Wieso -?«

»Stellen Sie keine Fragen, sondern tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!« herrschte ihn Atons Vater an. Noch während der Mann verdutzt herumfuhr und davoneilte, wandte er sich an den zweiten Techniker, der ganz offensichtlich keinen Deut mehr verstanden hatte als sein Kamerad.

»Wecken Sie die anderen Techniker! Und dann lassen Sie die Turbinen an. Ich brauche einen Notstart. In einer halben Stunde müssen die Dinger laufen!«

»Eine halbe Stunde?« fragte Aton, während Petach und er seinem Vater und dem Techniker ins Innere des Gebäudes folgten. In dem schwachen Licht hatten sie Mühe, nicht über die Elektrokabel, Ersatzteile, Kisten und Werkzeuge zu stolpern, die überall herumlagen. »Geht es nicht schneller?«

»Ich bin froh, wenn uns die Dinger nicht um die Ohren fliegen, wenn ich sie so schnell hochfahre«, antwortete sein Vater, »Die ganze Anlage ist noch lange nicht fertig.«

»Warum öffnen Sie nicht die Schleusen?« fragte Petach.

Atons Vater blieb stehen und sah ihn mit dem typischen Blick eines Mannes an, der soeben die dümmste Frage der Woche gehört hatte. »Wir haben kaum einen Meter Wasser auf der anderen Seite«, sagte er. »Der Druck reicht nicht. Nicht für das, was wir vorhaben. Ich bin nicht einmal sicher, ob er mit den Turbinen reicht.«

Sie gingen weiter. Nach wenigen Sekunden erreichten sie das, was einmal die Schaltzentrale des Staudammes werden würde: einen riesigen, halbrunden Raum, in dem sich irgendwann einmal blitzende Maschinenpulte und summende Computer aneinanderreihen würden, der jetzt aber eher aussah wie das Innere Deines zu groß geratenen, halb auseinandergenommenen Fernsehapparates. Überall an den Wänden standen erst halbfertige Apparaturen, bunte Kabel und Leitungen ringelten sich aus den Wänden, und auch hier herrschte ein einziges Durcheinander aus Werkzeugen, Leitungen und herumliegenden Einzelteilen. Nur ein einziges Schaltpult - das aber von beeindruckender Größe - schien zumindest halbwegs fertiggestellt zu sein. Auf seiner Oberfläche blinkten rote und grüne Lichter. Zeiger bewegten sich lautlos über Skalen, und auf einem halben Dutzend kleiner Bildschirme liefen blinkende Zahlenkolonnen von unten nach oben.

Petach trat staunend an das Pult heran und betrachtete es kopfschüttelnd. »Beeindruckend«, sagte er, und bevor Aton etwas darauf erwidern konnte, antwortete sein Vater mit hörbarem Stolz:

»Das ist unsere Art von Magie. Sie werden sehen - auf ihre Art ist sie so mächtig wie die Ihre.«

»Ich hoffe es«, murmelte Petach. »Denn wenn nicht, wird etwas Furchtbares geschehen.«

»Wieviel Zeit haben wir noch, bis die Sonne aufgeht?« fragte Aton.

Sein Vater überlegte einen Moment. »Eine Stunde, eher weniger«, sagte er. »Aber das ist egal. Entweder es klappt in dieser Frist oder nicht.« Er sah ungeduldig hoch. »Wo, zum Teufel, bleiben die Techniker?«

Wie auf ein Stichwort wurde in diesem Moment die Tür aufgestoßen, und eine ganze Anzahl verschlafen aussehender Männer betrat den Raum. Atons Vater ließ ihnen keine Zeit, irgendwelche Fragen zu stellen, sondern begann sofort mit erstaunlicher Ruhe Befehle zu erteilen, denen sie auch gehorchten. Rasch traten sie an die verschiedenen Schaltpulte und Geräte heran, von denen offenbar doch etliche bereits funktionierten.

Der Raum erwachte binnen Minuten zu blinkendem, piepsendem Leben, als das, was Atons Vater seine Art von Magie genannt hatte, aus seinem Dornröschenschlaf erwachte. Aton spürte, wie tief unter ihren Füßen gewaltige Maschinen anliefen. Er konnte sie nicht wirklich hören, aber er fühlte ihr Rumoren mit dem ganzen Körper, und plötzlich verstand er seinen Vater ein bißchen besser. Seine Worte waren mehr als bloßer Stolz gewesen. Es war eine Art von Magie, über die er gebot.

Nach einer Weile winkte ihn sein Vater zu sich heran und deutete auf das große Schaltpult. »Siehst du die drei roten Schalter?« fragte er.

Aton nickte. Die Tasten waren rund, feuerrot und jede so groß wie sein Handteller. Sie waren gar nicht zu übersehen.

»Wenn ich es dir sage, dann drückst du sie«, sagte er.

»Das ist alles?« wunderte sich Aton.

Vater nickte. »Alles andere erledigen wir. Du mußt nur diese Tasten drücken.«

»Moment mal!« mischte sich einer der Techniker ein. »Das ist die Notentleerung. Was soll das -«

»Ich weiß, was das ist«, unterbrach ihn Atons Vater in schneidendem Ton. »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!«

»Ich denke ja nicht daran!« erwiderte der Mann trotzig. »Das kostet mich meinen Job! Ich will erst wissen, was hier los ist!«

Aus den Reihen der anderen erklang ein zustimmendes Gemurmel, und Aton konnte regelrecht spüren, wie die Stimmung umschlug.

Vaters Gesicht verdüsterte sich. Er holte Luft zu einer scharfen Antwort, aber er kam nicht dazu. Petach trat rasch an ihm vorbei, legte dem Mann, der sich geweigert hatte, den Befehl auszuführen, die Hand auf die Schulter und sah ihn durchdringend an. Eine Sekunde lang hielt dieser seinem Blick stand, dann erschien ein verwirrter Ausdruck auf seinen Zügen, fast als fragte er sich, was er hier überhaupt tat. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und nahm seine Arbeit wieder auf.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Petach. »Tut, was euch befohlen wurde.«

Während sich die Männer einer nach dem anderen wieder ihrer Arbeit zuwandten, erschien ein leichtes Lächeln auf Petachs Zügen. »Sehen Sie?« fragte er. »Und das ist meine Art von Magie.«

Atons Vater ersparte sich eine Antwort, sondern trat wieder an das Pult heran und fuhr fort, Schalter umzulegen und auf Computertastaturen einzuhämmern. Der Herzschlag der Maschinen tief unter ihnen veränderte sich, ganz allmählich nur, aber doch spürbar, und an den Wänden begannen immer mehr Lämpchen zu blinken und Monitoren aufzuleuchten.

Aton verlor jedes Zeitgefühl. Er wußte, daß sich eine halbe Stunde zu einer wahren Ewigkeit dehnen konnte, wenn man darauf wartete, daß sie verging, und er durchlebte hundert Ewigkeiten, ehe sein Vater schließlich einen letzten Blick auf seine Instrumente warf und mit einem tiefen Seufzer vom Pult zurücktrat.

»Der Druck ist da«, sagte er. Er machte eine auffordernde Geste. »Alles andere mußt du tun.«

Aton streckte die Hände aus, dann erstarrte er mitten in der Bewegung. Plötzlich hatte er Angst davor, es zu tun. Angst wie niemals zuvor im Leben. Was, wenn es nicht funktionierte? Was, wenn er es tat und feststellte, daß er sich geirrt hatte, daß nichts mehr das Wirken der Götter aufhalten konnte? Seine Zweifel waren so stark, daß er um ein Haar vom Pult zurückgewichen wäre, lieber die sichere Katastrophe gegen die Ungewißheit eines vielleicht erneuten Versagens eingetauscht hätte. Aber dann trat er vor und drückte rasch hintereinander auf die drei roten Tasten.

Im allerersten Moment geschah nichts. Dann änderte sich das mechanische Herzklopfen des Staudammes erneut, wurde zu einem Brüllen und Tosen, und einen Moment später begann der ganze Staudamm fühlbar unter ihren Füßen zu zittern, als die gewaltigen Turbinen anliefen und sich Millionen und aber Millionen Liter Wasser mit unvorstellbarer Wucht über die Wüste ergossen, unter der Echnatons Krieger auf den Moment ihres Erwachens warteten.

Die Nacht war fast vollständig dem neuen Tag gewichen, als der Helikopter landete; nicht einmal weit von der Stelle entfernt, an der er das erste Mal niedergegangen war, um Aton aufzunehmen. In der kleinen Kabine herrschte eine drückende Enge, denn außer Aton und seinem Vater hatten sich Petach und Atons Mutter hineingequetscht - auf letzterem hatte Vater bestanden, um zumindest sie in Sicherheit bringen zu können, sollte ihr Plan doch fehlgeschlagen sein.

Aton wußte, daß seine Sorge überflüssig war. Alles war so gekommen, wie es hatte kommen müssen. Petach und auch einmal Sascha hatten zu ihm gesagt, daß der Mensch nicht in der Lage sei, dem Schicksal zu trotzen, und vielleicht war das die Wahrheit. Aber es gab eine zweite, viel wichtigere Wahrheit, die sich in dieser verbarg, und die war, daß man vielleicht nichts am Lauf des Schicksals ändern konnte, aber sehr wohl an dem, was er bewirkte. Es lag immer in der Macht der Menschen, das Beste aus dem zu machen, was geschah.

Der Hubschrauber setzte auf, und sein Vater schaltete den Motor aus. Diesmal wirbelten die Rotorblätter keinen Staub auf, und obwohl er gewußt hatte, was ihn erwarten würde, konnte Aton ein Frösteln nicht ganz unterdrücken, als er durch die Plexiglaskanzel nach draußen sah.

Was in der Nacht noch ein Meer aus staubfeinem Sand gewesen war, das hatte sich in einen braunen Morast verwandelt, der bis zum Horizont zu reichen schien. Das Wasser, das von der ganzen Kraft der Turbinen angetrieben aus den Schleusen herausgebrochen war, hatte den Wüstenboden meterweit aufgewühlt und in eine Landschaft verwandelt, die aus Kratern, Rinnen und Tälern bestand. Ein feuchter, modriger Hauch lag über der Szene.

Aton stieg langsam aus dem Hubschrauber. Die Maschine war fast bis über die Kufen im Morast versunken, und auch Aton sank ein gutes Stück in den Schlamm ein, aber das störte ihn nicht. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß sein Vater ihm folgen wollte, Petach ihn jedoch mit einer schnellen Bewegung zurückhielt.

Es wurde jetzt rasch hell, und als die Sonne als rotglühender Ball über den Horizont kroch, da erkannte Aton deutlich die dunklen Körper, die das Wasser aus dem Wüstenboden herausgespült hatte.

Obwohl er wußte, was er vor sich hatte, fiel es ihm schwer, sie als das zu identifizieren, was sie waren. Viele waren vom Wasser beschädigt, einige auch ganz in Stücke gebrochen, und kaum einer war noch als Mensch zu erkennen; jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber das waren sie: Echnatons Krieger, die von der künstlichen Flut, die Aton ausgelöst hatte, aus ihren Gräbern geholt worden waren. Sie waren alle da. Er mußte sie nicht zählen, um zu wissen, daß es hundertdreißig waren. Echnatons Leibgarde, die an dieser Stelle vor dreitausenddreihundert Jahren unter den Waffen ihrer Mörder gefallen war und seither auf den Tag ihres Auferstehens wartete.

Er war gekommen. Die Nacht war zu Ende, und obgleich man die Sterne jetzt nicht mehr sah, waren sie doch da, und sie standen in der richtigen Position. Die unheilige Macht, die Osiris, Horus und das Udjatauge entfesselt hatten, begann ihre Wirkung zu tun. Es war so, wie Petach gesagt hatte: Nichts konnte sie jetzt noch aufhalten. Sie erwachten. Jetzt.

Zuerst war es fast unmerklich. Nicht einmal Aton war sicher, ob er die Bewegung wirklich bemerkte oder ob er sie nur zu sehen glaubte, weil er darauf wartete: ein kleines Regen hier, das mühsame Heben einer Hand dort, das Drehen eines Kopfes, dessen Gesicht zum ersten Mal nach drei Jahrtausenden wieder dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Aton konnte die finsteren Mächte, die das Heer der Toten beseelte, regelrecht spüren; als wäre das eine Art unsichtbarer Dunkelheit, die sich rings um ihn herum zusammenballte und sich wie ein Schatten über die Krieger legte.

Die Flutwelle hatte einige von ihnen zerstört. Manche vermochten sich nicht mehr zu erheben, anderen fehlten Gliedmaßen oder Köpfe, doch das alles änderte nichts daran, daß sich rings um Aton allmählich ein Heer mumifizierter Krieger aus dem Morast erhob, deren Gesichter mit leeren Augenhöhlen nach Osten blickten, in die Richtung, in der sie die Nähe der Menschen spürten, die ihre ersten Opfer werden sollten.

Und dann waren auch die anderen da. Lautlos und von einer Sekunde auf die andere erschienen Osiris, Horus und schließlich sogar Yassir neben Aton, und nach einer kurzen Weile traten noch mehr Gestalten aus den Schatten: Anubis, der Gott mit dem Hundekopf, dem Aton schon einmal begegnet war. Isis, Bastet und als allerletzter Petach, obwohl sich Aton nicht erinnern konnte, daß er aus dem Helikopter gestiegen wäre.

Keiner von ihnen sprach ein Wort, doch Aton spürte die Größe dieses Augenblicks. Etwas geschah. Etwas, was er nicht mit Worten, nicht einmal in Gedanken zu erfassen vermochte, das aber ungeheuer wichtig war und dessen bloßes Ahnen ihn schaudern ließ.

Lange standen die Götter schweigend im Kreis da, dann hob Osiris plötzlich seine Schattenhand und deutete auf einen der Krieger. Dieser bewegte sich träge. Er machte einen Schritt, dann noch einen, und die anderen erweckten Toten versuchten die Bewegung nachzumachen. Langsam wandte sich das ganze unheimliche Heer nach Osten. Den Hubschrauber, der nur wenige Schritte entfernt gelandet war, ignorierten sie - vielleicht eine letzte Gnade, die ihm Osiris gewährte, vielleicht auch, daß Petach seine unheimliche Macht ein letztes Mal einsetzte, um ihn und die Seinen zu schützen. Vielleicht war es auch so, wie Petach gesagt hatte: Was hier geschah, ging Aton und die Menschen seines Landes im Grunde nichts an.

Ganz langsam formierten sich die Krieger zu einer doppelten Kette, mit müden, ungelenken Bewegungen, als wäre die Zeit in ihren Gräbern zu lange gewesen, als daß sie sofort wieder die Kontrolle über ihre Körper zurückerlangten. Aber obwohl langsam, war ihr Voranschreiten doch zugleich unaufhaltsam. Nur Minuten vergingen, und der erste trat aus dem Schatten der Felswand heraus ins Licht der Morgensonne.

Trotz der Entfernung konnte Aton deutlich sehen, was geschah. Der Krieger war vor mehr als dreitausend Jahren gestorben, und sein Körper war von Sand und Hitze ebenso gründlich und zuverlässig mumifiziert worden, wie es die Priester mit den alten Pharaonen getan hatten.

Aber das Wasser hatte alles geändert. Sein Körper, ja selbst die ausgetrockneten Knochen hatten sich vollgesogen wie ein Schwamm, der Jahrtausende in der Wüstensonne gelegen hatte. Und als er ins Sonnenlicht hinaustrat, begann er zu zerfallen.

Die Macht des Gottes Aton trocknete ihn binnen Sekunden aus. Gesicht, Hände und Körper verloren ihre braune Farbe und bleichten aus, die mumifizierte Haut riß an tausend Stellen, und plötzlich war er von einer Wolke aus feinem grauem Staub umgeben, in den sich sein Körper zu verwandeln begann. Die Beine hatten nicht mehr die Kraft, ihn zu tragen. Hilflos kippte er nach vorne und zerfiel endgültig zu Staub. Nach einem Augenblick war die Stelle, an der er gestürzt war, nicht mehr vom Wüstenboden zu unterscheiden. Selbst Waffen waren verschwunden.

Dem zweiten Krieger erging es nicht anders und auch nicht dem dritten und vierten und allen, die ihnen folgten. Sobald sie ins Licht des Sonnengottes hinaustraten, begannen ihre Körper zu Staub zu zerfallen, der einen Moment in der Luft schwebte und sich dann wieder mit dem Wüstensand vereinigte, der ihm drei Jahrtausende lang Schutz und Heimat gewesen war.

Aton sah nicht zu, bis alle Krieger verschwunden waren. Er wußte, daß es geschehen würde, und irgendwie, tief in sich drinnen, hatte er es wohl die ganze Zeit über gewußt, denn woher hätte er sonst die Kraft nehmen sollen, trotz allem immer weiterzumachen? Es hatte gar nicht anders kommen können. Osiris mochte Macht über die Toten haben, und das Udjatauge verlieh ihm die Kraft, sie wiederzuerwecken. Aber das war es nicht, was Echnaton seinem Mörder prophezeit hatte.

Du sollst leben bis zu dem Tag, an dem ein Toter all diese Krieger wieder aus ihrer Ruhe erweckt! So hatte Echnatons Fluch geheißen, so und nicht anders. Und er, Aton, vielleicht der einzige Mensch, der jemals wirklich von den Toten zurückgekehrt war, hatte mit eigener Hand die Schleusen geöffnet, deren künstliche Sintflut sie aus ihren Gräbern hob.

Sein Blick suchte Yassir. Der Ägypter stand da und blickte ihn an, und Aton, der Triumph, zumindest Erleichterung auf seinen Zügen erwartet hatte, sah sich getäuscht: Yassir sah sehr traurig drein. Er sagte nichts, denn die Zeit des Redens war vorbei, aber Aton las das stumme Flehen um Vergebung in seinen Augen, und einen Moment, bevor das Leben darin erlosch, beantwortete er diese Bitte auf die gleiche, wortlose Art. Er verzieh Yassir. Er vergab ihm, weil er ihn verstand. Vielleicht hätte er an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Er konnte ihm nicht böse sein.

»Ich verzeihe dir«, sagte er laut. »Auch du wurdest belogen, Yassir. Du hättest keine Erlösung gefunden. Nur ich allein konnte tun, was Echnaton verlangt hatte. Die Magie des Auges hätte sie erweckt, aber den Fluch nicht gebrochen. Ich war es, der sie am Ende aus ihren Gräbern holen mußte, nicht du, nicht Osiris oder das Udjatauge. Nur ich hatte die Macht dazu. Und ich habe es getan. Du bist frei.«

Der Ausdruck von Schmerz auf Yassirs Gesicht wich einem Lächeln, und dann starb er. Die Zeit holte ihn ein. Binnen einer Sekunde alterte er um Jahrtausende, zerfiel vor Atons Augen zu einem Greis und schließlich zu Staub, noch bevor sein zusammenbrechender Körper zu Boden sank. Echnatons Fluch hatte sich erfüllt. Yassir - Eje - war endlich frei.

Und die anderen?

Aton sah auf und blickte nacheinander in die Gesichter der alten ägyptischen Götter - in das geheimnisvolle Katzengesicht der Bastet, das er nun viel deutlicher erkannte als in der Dunkelheit des Friedhofes von Bubastis, in die sanften Züge der Isis, die nichts von der mütterlichen Wärme verloren hatten, die sich den Menschen schon vor drei Jahrtausenden zeigte, in die grausamen Vogelaugen des Horus, die ihn so aufmerksam und mißtrauisch musterten wie bei jeder Begegnung mit ihm, in das stolze Schakalgesicht des Anubis und schließlich in die wogenden Schatten, die das Antlitz des Osiris verbargen.

Er hatte keine Angst. Er stand leibhaftigen Göttern gegenüber, aber er verspürte nicht die mindeste Furcht. Vielleicht weil diese Wesen trotz allem gar nicht so fremd waren, wie ihr Aussehen glauben machte. Petach hatte sich geirrt, als er von der abgrundtiefen Bosheit und dem Haß sprach, die Osiris und Horus beseelten, vielleicht hatte er auch absichtlich die Unwahrheit gesagt, weil er - damals durchaus zu Recht - annahm, daß Aton nicht begreifen würde, wovon er sprach. Trotz aller Fremdartigkeit, trotz ihrer unvorstellbaren Macht und ihres unvorstellbaren Alters war das, was diese Geschöpfe antrieb, nichts anderes als das, was jeder sterbliche Mensch an ihrer Stelle auch empfunden hätte: Sie wollten einfach leben. Sie waren Götter, aber sie waren sterbliche Götter, und sie waren nicht unfehlbar. Sollte er sie deshalb hassen?

Und er spürte, daß es ihnen umgekehrt nicht anders erging. Osiris und der falkenköpfige Horus hätten ihn auch jetzt noch zerschmettern können, aber sie verzichteten darauf, ihn für den Verrat, den er begangen hatte, zu bestrafen. Sie standen einfach da, und dann, ganz allmählich, begannen sie zu verblassen. Die Kraft, die ihnen Leben eingehaucht hatte, der Glaube eines einzigen Menschen an ihre Existenz, war nicht mehr vorhanden. Ihre Gestalten wurden leicht, transparent und nebelhaft. Es dauerte lange - Minuten, die sich zu Ewigkeiten dehnten -, aber schließlich waren es wirklich nur noch Schatten, die Aton umstanden, bis auch diese verschwunden waren.

Als allerletztes verging Petach. Aton war nicht sehr überrascht, denn im Grunde hatte er es die ganze Zeit über gewußt, auch wenn Petach dafür gesorgt hatte, daß dieses Wissen nie sein Bewußtsein erreichte. Petach? Ptah. Aton lächelte. Er hatte sich nicht einmal sehr viel Mühe gegeben, seinen Namen zu ändern. Er hätte es merken müssen.

Aton drehte sich herum, um zum Helikopter zurückzugehen, und bemerkte erst jetzt, daß er noch immer nicht allein war. Hinter ihm stand Sascha. Sie war wohl die ganze Zeit dagewesen. In ihren Augen stand ein sonderbares, warmes Lächeln, von dem er erst jetzt wirklich begriff, was es bedeutete.

»Ich wußte, daß du es schaffst«, sagte sie.

»Du hast mir nach Kräften dabei geholfen«, erwiderte Aton. Er sah zum Helikopter hinüber. Die Türen waren aufgegangen, und seine Eltern hatten die Maschine verlassen, wagten es aber nicht, näher zu kommen. Sie mußten gesehen haben, was geschah. Er würde ihnen eine Menge zu erklären haben.

»Ich habe es versucht.« Saschas Lächeln wurde ein wenig unsicher. »Ich fürchte, ich habe mich nicht besonders geschickt angestellt. Eure Welt ist viel komplizierter, als ich dachte.«

»Es war in Ordnung«, sagte Aton in einem großmütigen Ton, für den er sich sofort schämte. Wer war er, einem Wesen wie ihr großmütig vergeben zu wollen?

Aber Sascha schienen die Worte durchaus zu schmeicheln - und wer weiß? Vielleicht war ja auch sie nicht ganz gegen menschliche Schwächen gefeit. Dann wurde sie wieder ernst.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie.

Aton hatte das erwartet. Ihre Aufgabe war ebenso erfüllt wie seine. Trotzdem stimmte ihn der Gedanke traurig. »Werden wir uns wiedersehen?« fragte er.

»Bestimmt«, antwortete Sascha. »Irgendwann. Zu irgendeiner Zeit, in irgendeiner Welt. Leb wohl.«

Und damit verging auch sie. Doch für einen unendlich kurzen Moment, den hundertsten Teil einer Sekunde vielleicht nur und so klar, daß er den Anblick nie mehr im Leben vergessen sollte, sah er sie so, wie sie wirklich war:

Groß. Weiß. Unbeschreiblich schön. Und mit einem Paar gewaltigen, schneeweißen Flügeln, die sich hoch über ihren Schultern in die Luft erhoben.

Aton blieb noch einige Sekunden stehen, ehe er langsam den Kopf hob und in den Himmel hinaufsah. Vielleicht war es Magie, vielleicht war auch viel mehr Zeit vergangen, als er gespürt hatte, doch die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Er fühlte ihre wärmenden Strahlen auf dem Gesicht, und plötzlich begriff er, daß sie unendlich mehr als das, was die meisten Menschen in ihr sahen, so wie vielleicht alles auf dieser Welt eine zweite oder dritte oder möglicherweise auch unendlich viele Bedeutungen hatte. Was hatte Sascha gesagt? Eure Welt ist viel komplizierter, als ich dachte.

Ob sie wohl ahnt, wie recht sie damit hat? dachte Aton.

Während rings um ihn herum die Kraft des Gottes, dessen Namen er trug, Echnatons Heer endgültig zu Staub zerfallen ließ, ging Aton langsam auf den Hubschrauber und seine Eltern zu. O ja, dachte er noch einmal und fast belustigt. Ich werde eine Menge zu erklären haben. Eine ziemliche Menge sogar.

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