Kriegsrat

In dieser Nacht hatte er wieder seinen Traum. Aton erinnerte sich nicht an Einzelheiten, aber er erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, und sein Atem ging so schnell, als wäre er nicht nur im Traum, sondern wirklich stundenlang durch düstere Gänge und unterirdische Gewölbe geirrt, gejagt von einem gesichtslosen Schatten. Die Furcht saß ihm noch tief in den Knochen, so daß auch nach seinem Erwachen noch eine Minute verging, bis er es wagte, die Augen zu öffnen und sich umzusehen.

Seine Umgebung war ihm fremd, aber sie war durchaus normal. Keine gemauerten Gänge aus tonnenschwerem Stein, keine Treppen, die ins Nichts führten, keine Ungeheuer, die in den Schatten lebten. Er befand sich in einem ganz normalen, wenn auch etwas spärlich eingerichteten Zimmer. Die Gardinen waren zugezogen, aber durch den Stoff schimmerte helles Tageslicht, und von irgendwoher kam ganz leise Radiomusik.

Aton setzte sich langsam auf. Er war so abrupt erwacht, daß er einige Augenblicke brauchte, seine Gedanken und Erinnerungen zu sortieren und sich wieder darauf zu besinnen, wo er überhaupt war: in Saschas Wohnung. Sie waren am vergangenen Abend ohne Umwege direkt hierhergefahren, und anders, als Aton erwartet hatte, hatten sie den Rest der Nacht nicht damit verbracht, stundenlang zu reden und über das Geschehene nachzudenken. Die junge Frau hatte seine zahllosen Schrammen und Kratzer notdürftig versorgt und ihn dann unverzüglich ins Bett geschickt, und zu seiner eigenen Überraschung war Aton auf der Stelle eingeschlafen.

Er fragte sich, wie spät es war. Er konnte nirgends eine Uhr entdecken, aber das Licht verriet ihm, daß der Tag schon lange angebrochen sein mußte. Mit einem Ruck schwang er sich aus dem Bett und sah sich ein zweites Mal und aufmerksamer im Zimmer um. Dabei entdeckte er ein sauber gefaltetes, weißes Hemd, gleichfarbige Socken und Turnschuhe auf einer kleinen Kommode neben der Tür. Alle Dinge paßten, als wären sie für ihn gemacht; schließlich hatte Sascha genau seine Größe und, da sie sehr schlank war, auch beinahe seine Statur.

Er zog sich an, verließ das Zimmer und ging in die Richtung, aus der die Musik kam. Die Wohnung war überraschend groß, aber zur Gänze ebenso spärlich eingerichtet wie das Zimmer, in dem er erwacht war. Im Wohnzimmer gab es nur einen Tisch mit dazugehörigen Stühlen, eine Anrichte und ein einfaches Holzregal, auf dem das Radio stand, das er gehört hatte. Das danebenliegende Schlafzimmer war gar nur mit einem einfachen, wenn auch sehr großen Bett ausgestattet, und auch in Küche und Bad entdeckte er nur das absolut Notwendigste. Seine neue Verbündete schien keinen Wert auf weltlichen Besitz zu legen. Es gab weder Bilder noch Bücher, und noch etwas Entscheidendes fehlte: Sascha. Aton rief ein paarmal ihren Namen und lief durch alle Räume, dann trat er an eines der Fenster. Es führte auf einen kleinen Hinterhof hinaus, in dem Sascha stand und ihren Wagen betrachtete - genauer gesagt das, was davon übrig war.

Aton verließ die Wohnung, lief die Treppe hinunter und trat in den kleinen, an allen Seiten von einer Mauer umschlossenen Innenhof. Sascha blickte hoch, als sie das Geräusch der Tür hörte, und ein flüchtiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das aber den niedergeschlagenen Ausdruck nicht ganz überdecken konnte.

Der weiße Toyota sah aus, als hätte er eine Meinungsverschiedenheit mit einem zornigen Elefantenbullen gehabt. Die gesamte rechte Seite war eingedrückt. Das rechte Vorderrad stand ein wenig schräg, was Aton vermuten ließ, daß auch die Achse etwas abbekommen hatte, und mit Ausnahme der Heckscheibe waren sämtliche Fenster zerbrochen. Aton glaubte nicht, daß man diesen Wagen noch reparieren konnte.

»Es tut mir sehr leid«, sagte er.

Sascha machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. »Die Hauptsache ist, dir ist nichts passiert«, antwortete sie. Dann wurde ihr Lächeln ein bißchen gequält. »Ich frage mich nur, wie ich das der Versicherung erklären soll.«

»Fährt er noch?« fragte Aton.

»Bis zur nächsten Schrottpresse wird es reichen.« Sascha seufzte, dann fragte sie Aton: »Wollen wir frühstücken?«

Sie gingen ins Haus zurück. Vorhin, als Aton die Wohnung nach Sascha durchsucht hatte, war es ihm gar nicht aufgefallen, doch auf dem Herd stand bereits ein dampfender Kessel, und die junge Frau trug rasch den Rest eines einfachen Frühstücks auf: Toast, Marmelade, weiche Eier, Tee für Aton und Kaffee für sie selbst.

Sie aßen schweigend, und Sascha, die als erste fertig war, wartete geduldig, bis Aton das letzte Stück Toast hinuntergeschluckt hatte.

»Also?« begann sie dann. Nur dieses eine Wort - aber es erinnerte Aton sofort an sein Versprechen vom vergangenen Abend. Er war es Sascha schuldig, ehrlich zu sein, sie hatte schließlich ihr Leben für ihn riskiert, und er wollte es auch. Vielleicht ließ sich all das Schreckliche ein wenig leichter ertragen, wenn er es mit jemandem teilte.

Aton erzählte Sascha die ganze Geschichte; von seinem unheimlichen Erlebnis im Museum angefangen bis zu dem Moment am vergangenen Abend, in dem Saschas Wagen aufgetaucht war. »Was danach passiert ist, wissen Sie ja«, schloß er.

»Gestern abend waren wir schon beim Du angekommen«, sagte Sascha. »Ich schlage vor, wir lassen es dabei.«

»Gerne«, antwortete Aton. Er druckste einen Moment herum, bevor er die Frage stellte, die ihm schon auf der Zunge lag, seit er Sascha durch das Fenster beobachtet hatte, wie sie ihren ramponierten Wagen musterte. »Warum haben Sie ...« Er verbesserte sich. »Warum hast du nicht die Polizei verständigt?«

»Warum sollte ich?« gab sie zurück und lächelte. »Ich bin die Polizei, schon vergessen?«

Sie lachte, aber Aton blieb ernst. »Du weißt genau, was ich meine«, sagte er.

Sascha zuckte mit den Schultern. »So genau weiß ich das selbst nicht«, gestand sie. »Vielleicht, weil ich noch immer nicht ganz sicher bin, ob ich das alles nun tatsächlich erlebt oder nur geträumt habe.«

Aton konnte sie sehr gut verstehen. Noch vor zwei Tagen war es ihm ja nicht anders ergangen - und manchmal ertappte er sich sogar jetzt noch bei dem Gedanken, ob er nicht in Wahrheit einen ganz besonders häßlichen Alptraum erlebte, bei dem irgendwie das Ende abhanden gekommen war. Trotzdem sagte er: »Träume zerschlagen keine Autoscheiben.«

»Stimmt«, bestätigte Sascha. »Und Halluzinationen normalerweise auch nicht.« Sie schüttelte den Kopf, griff nach ihrer Kaffeetasse und begann sie in den Händen zu drehen, ohne daraus zu trinken. »Das ist die phantastischste Geschichte, die ich je gehört habe«, sagte sie schließlich. »Und die unglaublichste. Ich weiß nicht ...«

»Aber du hast es doch selbst gesehen«, sagte Aton. »Ich meine, den Wagen und die Mumie und -«

»Ich habe etwas gesehen«, fiel ihm Sascha mit leicht erhobener Stimme ins Wort. Sie stellte ihre Tasse ab und sah ihn fest an. »Ich weiß, daß es nichts ist, was ich jemals zuvor gesehen habe. Und daß ich es nicht erklären kann. Aber wenn ich etwas nicht verstehe, bedeutet das noch lange nicht, daß ich an Geister und Untote glaube oder gar an die Existenz dreitausend Jahre alter ägyptischer Gottheiten. Vielleicht hat sich wirklich alles so zugetragen, wie du behauptest, aber es gibt auch andere mögliche Erklärungen.«

»So?« fragte Aton enttäuscht. »Und die wären - außer der, daß ich eigentlich in eine Klapsmühle gehöre?«

»Petach könnte irgend etwas mit dir getan haben, zum Beispiel«, antwortete Sascha. »Du hast selbst erzählt, daß er und sein Kumpan dir ein Schlafmittel oder irgendeine andere Droge verabreicht haben. Vielleicht hat er das schon vorher getan. Wer weiß, vielleicht ist er einfach ein geschickter Trickbetrüger, der will, daß du all das glaubst.«

»Aber warum denn?«

»Woher soll ich das wissen?« gab Sascha zurück. »Bisher kenne ich nur den Namen dieses Mannes - und ich weiß nicht, ob er echt ist. Wir müssen zuerst einmal mehr über ihn herausfinden.«

»Aber was kann er von mir wollen?«

»Vielleicht nichts von dir, aber von deinen Eltern. Weißt du, für mich hört sich das alles so an, als hätte er sehr geschickt dafür gesorgt, daß ihr getrennt werdet. Dein Vater ist Architekt, nicht wahr?«

»Bauingenieur«, korrigierte sie Aton. »Er leitet den Bau eines Staudammes in Ägypten.«

»Das könnte schon eine Spur sein«, sagte Sascha. »Vielleicht hatte Petach einfach vor, dich zu entführen, um deine Eltern zu erpressen.«

Das klang zwar einleuchtend, aber irgendwie spürte Aton, daß es nicht so war. Er schüttelte den Kopf. »Das hätte wenig Sinn«, sagte er. »Meine Eltern sind nicht reich. Ich meine, sie haben das Haus und die Sammlung - aber viel mehr ist nicht da.«

»Wer sagt dir, daß es um deinen Vater geht? Vielleicht hat es etwas mit seiner Arbeit zu tun.«

»Bestimmt nicht«, widersprach Aton überzeugt. »Niemand kann etwas gegen diesen Staudamm haben. Auf der Baustelle finden Tausende von Leuten Arbeit, und wenn er erst fertig ist, wird ein großer Teil der Wüste bewässert und fruchtbar werden.«

Sascha lächelte flüchtig. »Hat dein Vater dir das erzählt?«

»Ja«, antwortete Aton. »Aber das ändert nichts daran, daß es die Wahrheit ist.«

»Vielleicht stimmt das sogar«, sagte Sascha. »Trotzdem ... der Nahe Osten war schon immer ein unsicheres Gebiet. Die Menschen dort denken nicht so wie wir, weißt du? Es ist manchmal schwer für uns, ihre Beweggründe zu verstehen und nachzuvollziehen. Aber es hat wenig Sinn, wild herumzuraten.« Sie nippte noch einmal an ihrem Kaffee, verzog das Gesicht und schüttete den Rest in die Kanne zurück. Dann stand sie auf. »Hast du irgend jemanden, zu dem du gehen kannst? Verwandte? Freunde deiner Eltern?«

Aton schüttelte auf jede Frage den Kopf, und Sascha überlegte angestrengt. »Dann sollten wir deine Eltern anrufen«, sagte sie. »Weißt du, in welchem Hotel sie wohnen?«

Aton nickte. »Im Palast-Hotel in Kairo. Aber ich glaube nicht, daß sie noch dort sind. Und auf der Baustelle gibt es zwar Telefon, aber ich habe die Nummer nicht.«

»Aber die muß doch herauszufinden sein.«

Aton dachte einen Moment nach. Natürlich hätte er einfach nach Hause fahren und in den Papieren seines Vaters nachsehen können - aber er hatte das sichere Gefühl, daß das Haus seiner Eltern im Augenblick der Ort war, an dem er sich auf der ganzen Welt am wenigsten sehen lassen sollte. »Vielleicht über die Firma«, sagte er. »In der Hauptverwaltung müßten sie die Nummer haben. Aber ob sie sie mir geben ...«

»Wenn nicht dir, dann ganz bestimmt mir«, versicherte Sascha. »Wozu bin ich Polizistin? Das finde ich heraus, keine Sorge. Und ich werde mich auch ein wenig nach eurem Freund Petach und diesem Arzt erkundigen.« Sie sah auf die Uhr. »Es wird ohnehin allmählich Zeit, zum Dienst zu gehen. Wenn ich ein paar Minuten eher auf der Wache bin, komme ich vielleicht an den Computer heran.«

»Du mußt weg?« fragte Aton erschrocken.

»Keine Sorge«, sagte Sascha beruhigend. »Du bist hier in Sicherheit. Niemand weiß, daß du hier bist. Solange du die Wohnung nicht verläßt, bist du nicht in Gefahr. Und ich bin ja bald zurück.«

»Wann?« fragte Aton.

»Meine Schicht geht bis acht«, erklärte Sascha. »Vielleicht kann ich es so einrichten, daß ich zwischendurch kurz herkomme. Ich bin auf jeden Fall pünktlich zurück. Und ich bringe uns etwas zu essen mit. Magst du Pizza?«

Eigentlich gehörte Pizza nicht unbedingt zu Atons Lieblingsgerichten, aber er nickte. Sascha verließ die Küche und kam wenige Augenblicke später wieder zurück, jetzt in der grünen Uniform, in der Aton sie kennengelernt hatte. Seltsam - er konnte sich gar nicht erinnern, im Schlafzimmer einen Kleiderschrank gesehen zu haben.

Nachdem Sascha ihm noch einmal eingeschärft hatte, das Haus unter keinen Umständen zu verlassen, telefonierte sie nach einem Taxi und ging. Aton blieb allein zurück, und die Tür hatte sich kaum hinter ihr geschlossen, da kamen auch die Einsamkeit und das Gefühl des Verlassenseins wieder, die die Gegenwart der jungen Frau für eine kurze Weile vertrieben hatte. Eigentlich nur um auf andere Gedanken zu kommen, begann er den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Als er die Tassen und Teller einräumte, stellte er fest, daß der Schrank ansonsten vollkommen leer war, und auch die beiden Kaffeelöffel lagen einsam in der Schublade.

Aton ging ins Wohnzimmer zurück und sah sich nach irgend etwas um, womit er sich die Zeit vertreiben konnte, aber er wurde nicht fündig. Es schien in diesem Haus kein einziges Buch zu geben, und auch nach einem Fernseher hielt er vergebens Ausschau. Das Radio war ein billiges Transistorgerät, das nur einen einzigen Sender zu empfangen schien, sosehr er auch an der Skala drehte. Diese Wohnung war wirklich seltsam. Hätte er es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, daß hier eigentlich niemand lebte.

In Ermangelung irgendeiner anderen Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben, setzte er sich an den Tisch, bettete den Kopf auf die Arme -

und fand sich praktisch auf der Stelle in seinem Traum wieder. Es war die gleiche Szenerie, die er seit Jahren kannte. Wieder irrte er durch lange, finstere Gänge, deren Wände mit unheimlichen Bildern aus einer jahrtausendealten Vergangenheit übersät waren. Wieder wußte er, daß er seit Stunden herumirrte und verzweifelt den Ausgang suchte, sich dabei aber immer nur tiefer und tiefer in das schier endlose unterirdische Labyrinth hineinbewegte, und wieder spürte er, daß etwas hinter ihm war, was ihm folgte. Er hatte all seinen Mut zusammengerafft und den immer schwächer werdenden Strahl der Taschenlampe in die Dunkelheit hinter sich gerichtet, aber nichts gesehen. Trotzdem war etwas da. Er konnte spüren, daß es ihn belauerte, und er glaubte das Tappen großer, weicher Pfoten zu vernehmen, manchmal sogar ein unheimliches, raschelndes Atmen. Die Schimäre war hinter ihm, aber wie es nun einmal die Art von Alptraum-Wesen war, blieb sie stets am Rande des Sichtbaren, ein formloser Schatten, zu undeutlich, um ihn zu erkennen, aber auch mit zuviel Substanz, um bloße Einbildung zu sein.

Er hatte das Ende seiner Kräfte erreicht. Er war fünf Jahre alt, und was ihm das stundenlange Umherirren in den Gängen nicht geraubt hatte, das hatte ihn die Angst gekostet, die immer schlimmer wurde. Er wollte hier heraus. Er wollte wieder ans Licht, an die Sonne, und er wollte zurück zu seinen Eltern.

Auch ohne das Ding hinter sich wäre er halb verrückt vor Angst gewesen, so war die Furcht fast mehr, als er ertragen konnte. Vor einigen Minuten hatte er eine Treppe gefunden, eine Treppe mit Stufen, die so hoch waren, daß er sie einzeln emporklettern mußte. Jetzt schleppte er sich wieder durch einen weiteren, steinernen Gang, und der einzige Grund, aus dem er nicht aufgegeben hatte, war der, daß der Gang nach oben führte, nicht so steil wie die Treppe, aber spürbar aufwärts, in die Richtung, in der das Tageslicht und die Menschen waren.

Die Batterien seiner Lampe begannen nun immer schneller nachzulassen, und der Moment, in dem sie endgültig erlöschen würde, war nicht mehr fern.

Plötzlich sah er ein Licht vor sich. Sehr weit vor sich und auch sehr schwach. Es war kaum mehr als ein Hauch, ein mattgelber Schimmer, den er mehr erahnte als wirklich sah, aber er wurde stärker, ah er sich darauf zubewegte, und der Anblick erfüllte ihn mit einer solchen Hoffnung, daß er rascher ausschritt. Er war sogar geistesgegenwärtig genug, die Lampe auszuschalten, um die ohnehin fast aufgebrauchten Batterien zu schonen. Die Dunkelheit schien dadurch irgendwie stofflicher zu werden, und er hatte das Gefühl, daß ihm die Schwärze den Atem abschnürte doch zumindest für den Moment noch war die Vernunft stärker als die Furcht - er sagte sich, daß er die Batterien später vielleicht noch dringend benötigen würde, und drängte die Angst tapfer zurück.

Der Lichtschein kam näher. Bald sah er, daß er aus einer hohen Tür fiel, die in die rechte Seite des Ganges eingelassen war. Es war kein Tageslicht, wie er enttäuscht feststellte, sondern ein gelblicher Schein, wie von einer Fackel, der aber nicht flackerte.

Künstliches Licht aber bedeutete, daß dort vorne Menschen waren, und Menschen bedeuteten einen Ausgang aus diesem Labyrinth. Der Gedanke gab ihm noch einmal Kraft. Er verfiel in einen leichten Laufschritt, aber er hatte die Gefahren der Dunkelheit vergessen. Er stolperte, wäre um ein Haar gestürzt und prallte gegen die Wand.

Als er sich wieder aufrichtete, hörte er das Geräusch.

Eigentlich war es die ganze Zeit hinter ihm gewesen, nur hatte er es nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Vielleicht hatte er es auch nicht hören wollen. Aber jetzt war es zu deutlich, um es weiter zu ignorieren: Schritte. Nicht die Schritte von Menschen.

Die Schritte eines Wesens mit mehr als zwei Beinen und großen, tappenden Pfoten, aber auch harten Krallen, die über den Stein scharrten. Aus angstvoll aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Er konnte nicht wirklich etwas sehen, aber seine Furcht erfüllte die Schwärze mit wirbelnden Schatten und formlosen, schrecklichen Dingen, die auf ihre Weise vielleicht schlimmer waren, als hätte er tatsächlich etwas gesehen. Noch ehe der Schatten wirklich Gestalt annehmen konnte, fuhr er herum und rannte auf die Tür zu, so schnell er nur konnte.

Der unsichtbare Verfolger holte rasch auf. Das Tappen kam immer schneller näher, und er hörte jetzt ein rasselndes Atmen, wie das Hecheln eines Hundes, aber ungleich drohender, böser. Er wagte es nicht, zu seinem Verfolger zurückzublicken, denn er wußte, daß er ihn im selben Moment einholen würde, in dem er es tat, wie es alle Ungeheuer in seinem Traum taten. Erst als er nur mehr einen einzigen Schritt von der Tür und dem rettenden Licht entfernt war, wagte er es, im Laufen den Kopf zu drehen und einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen.

Er wünschte sich, er hätte es nicht getan. Aus dem Schatten war ein Etwas geworden, ein riesiges, vierbeiniges Scheusal mit Zähnen und Klauen und roten Augen, die wie Tümpel aus kochendem Blut in einem Gesicht aus Schwärze waren. Was er befürchtet hatte, geschah: Im selben Augenblick, in dem er die Schimäre ansah, sprang sie. Ihr riesiges Maul klappte auf und zeigte spitze Zähne. Krallenbewehrte Pfoten streckten sich nach ihm aus. Er schrie vor Schreck und Todesangst, warf sich mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung durch die Tür und -

erwachte. Sein Herz raste. Sein Hals tat weh, und in seinen Ohren war noch das Echo des Schreis, den er tatsächlich ausgestoßen hatte. Anders als am Morgen war Aton sofort und vollkommen wach und wußte, daß er nur seinen Traum geträumt hatte. Aber in die Angst, die ihn auch jetzt wieder ein kleines Stück weit in die Welt der Wirklichkeit und des Wachseins hinein verfolgt hatte, mischte sich ein beinahe ebenso starkes Gefühl der Enttäuschung. Dieser Traum war anders gewesen als alle zuvor. Er hatte sich bisher nicht an diesen Teil seines Abenteuers erinnert, aber er spürte, daß es eine sehr wichtige Erinnerung gewesen wäre. Eine Sekunde länger, dachte er. Hätte er den Traum eine Sekunde länger geträumt und gesehen, was auf der anderen Seite der Tür lag, dann hätte er vielleicht endlich alles begriffen.

Einen Moment lang wünschte er sich fast verzweifelt, wieder einzuschlafen und den Traum fortzusetzen, aber natürlich ging das nicht. Aton stand auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Dieser Traum war mehr als ein Traum gewesen. Er ... begann sich zu erinnern, was damals wirklich geschehen war, in jenen Stunden, in denen er hilflos durch das Labyrinth unter der Wüste geirrt war. Bisher hatte er angenommen, daß diese Stunden mit nichts anderem erfüllt gewesen waren als mit seiner verzweifelten Suche nach dem Ausgang, aber das stimmte nicht. Etwas war damals geschehen, dessen Auswirkungen er jetzt, mehr als zehn Jahre später, zu spüren begann. Und er würde sich erinnern, was. Bald.

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