Das sichere Haus

Es dauerte eine geraume Weile, bis Aton das unangenehme Schweigen brach, das sich nach ihrer Flucht im Wagen ausgebreitet hatte, und er tat es mit einer ziemlich banalen Frage: »Woher hast du diesen Wagen?«

»Er gehört einem Freund«, antwortete Sascha. »Ich habe ihn mir geliehen, weil ich mir dachte, daß wir ihn vielleicht ...«

Sie zögerte und lachte nervös. »... benötigen würden. Allerdings hätte ich mir nicht träumen lassen, daß wir ihn so dringend brauchen.« Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Straßenverkehr, der trotz der vorgerückten Stunde noch dicht war.

Aton sah aus dem Fenster. Der Anblick der Passanten, der hellerleuchteten Schaufenster, der Autos und Straßenbahnen hatte etwas sehr Beruhigendes. Aber er machte ihm zugleich auch klar, wie dünn die Mauer in Wahrheit war, die sich zwischen dieser und jener anderen unheimlichen Welt befand, in der Petach und die Gespenster der Vergangenheit lebten. Er drehte sich herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Aber auch hinter ihnen war nichts als andere Autos und Passanten.

»Glaubst du, daß sie uns verfolgen?« fragte Sascha, der dies natürlich nicht entgangen war.

Aton hätte gern mit einem überzeugten Nein geantwortet, aber er konnte es nicht. Bisher hatten die Dämonen aus der Vergangenheit stets zugeschlagen, wenn er allein gewesen war oder in einer menschenleeren Gegend. Aber Saschas Wohnung lag in einem ganz normalen Haus, in dem auch andere Menschen lebten. Vielleicht gab es nirgends völlige Sicherheit. So antwortete er zögernd: »Ich hoffe nicht.«

»Das war verdammt knapp«, sagte Sascha und schauderte. »Eine halbe Sekunde später, und ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern warf ihm einen Blick zu. »Das war ziemlich leichtsinnig von dir, weißt du das?«

»So?« gab Aton zurück, in einem Tonfall, der schärfer ausfiel, als er beabsichtigt hatte. »Du hast eine seltsame An, danke zu sagen.«

»Ich weiß, daß du mir das Leben gerettet hast«, antwortete Sascha ernst. »Und ich bin dir auch dankbar dafür. Trotzdem war es ziemlich leichtsinnig. Dieses Ding hätte dich umbringen können.«

»Möglich«, antwortete Aton. »Aber ich glaube nicht, daß das seine Absicht war. Weißt du, wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie das längst gekonnt.«

Sascha sagte nichts dazu, und selbst Aton wunderte sich einen Moment lang über seine eigenen Worte. Aber zugleich - als wäre es erst nötig gewesen, sie auszusprechen, um die darin enthaltene Wahrheit zu begreifen - spürte er auch, daß es genauso war. Sicher, die Sphinx hatte ihn angegriffen, und er hatte den Dolch des Mumienkriegers an der Kehle gespürt; und doch - es war nicht sein Tod, den diese Geschöpfe wollten.

»Dieser Hund«, sagte Sascha plötzlich. »Das war Anubis, nicht? Der Hund, von dem du erzählt hast.«

»Ja«, antwortete Aton. »Petach muß ihn geschickt haben.«

»Er hat uns geholfen«, gab Sascha zu bedenken. »Wäre er nicht aufgetaucht, hätte das Biest uns beide erwischt.«

Aton zuckte nur mit den Schultern. Auch er hatte schon über diese Frage nachgedacht, ohne zu irgendeiner Lösung zu kommen. »Vielleicht streiten sich ja Petach und die anderen gerade darum, wer mich angreifen darf«, sagte er.

Auch Sascha lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Du sprichst ein wichtiges Thema an«, sagte sie. »Vielleicht die entscheidende Frage überhaupt.«

»Und die wäre?«

»Was Petach und die anderen überhaupt von dir wollen«, antwortete Sascha. Aton wollte etwas sagen, doch Sascha hob rasch die Hand und führte den begonnenen Gedanken weiter. »Petach hat dir erzählt, was damals geschehen ist«, sagte sie. »Die Geschichte von Echnaton und Eje -«

»Eje?«

»Ich habe in ein paar Büchern gelesen und mich erkundigt«, erwiderte Sascha mit einem flüchtigen Lächeln. »Mit großer Wahrscheinlichkeit war es Echnatons väterlicher Freund und Berater Eje, der ihn damals umbringen ließ, um sich selbst auf den Thron Ägyptens zu setzen. Nehmen wir einmal an, daß es wirklich so war. Ich will sogar für einen Moment meinen gesunden Menschenverstand abschalten und so tun, als wäre alles genau so, wie Petach dir erzählt hat. Selbst wenn das alles stimmt, frage ich mich, welche Rolle du bei alledem spielst. Es muß etwas mit deinem Unfall seinerzeit zu tun haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Hast du damals irgend etwas getan oder mitgenommen?«

Auch Aton hatte schon angestrengt in dieser Richtung überlegt. Bei allem Unheimlichen, das ihm widerfahren war, glaubte er doch keine Sekunde, nur durch Zufall in diesen Kampf mythischer Gewalten hineingezogen worden zu sein.

Aber er hatte nichts mitgenommen, und wenn er irgend etwas getan hatte, so erinnerte er sich jedenfalls nicht mehr daran.

Er überlegte einige Sekunden, dann zuckte er hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich kann mich an nichts von damals erinnern. Ich war ja noch ein kleines Kind.«

»Und Petach und seine Freunde werden uns wohl kaum die Wahrheit sagen, wenn wir sie fragen«, fügte Sascha seufzend hinzu. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, dann lenkte sie den Wagen auf die mittlere Fahrspur und gab mehr Gas. Sie fuhr weit schneller, als es in der Stadt erlaubt war, aber das schien sie nicht zu stören.

»Wohin fahren wir eigentlich?« erkundigte sich Aton.

»An einen sicheren Ort«, antwortete Sascha. »An einen Ort, an dem uns Petach und diese Monster nichts tun können.«

»Das hast du schon einmal gesagt«, erinnerte sie Aton.

Sascha zuckte mit den Schultern. »Ich gebe zu, ich habe sie unterschätzt«, gestand sie. »Aber das wird nicht noch einmal passieren. Außerdem haben wir sie selbst auf unsere Spur gebracht.«

Diese Antwort beruhigte Aton nicht sonderlich. Er war ziemlich sicher, daß Petach über kurz oder lang seinen Aufenthaltsort auch herausgefunden hätte, hätte er nicht versucht, Kontakt mit seinen Eltern aufzunehmen.

Der Gedanke erinnerte ihn wieder an etwas, was er in all der Aufregung der letzten halben Stunde völlig vergessen hatte. Der beunruhigte Ton in der Stimme seines Vaters war nicht zu überhören gewesen, und viel mehr noch hatte er gespürt, daß auch bei ihm etwas nicht stimmte. Er mußte seine Eltern von dem unterrichten, was hier geschehen war, und vor allem: Er mußte sie warnen. Er sprach den Gedanken laut aus, und zu seiner Überraschung widersprach Sascha nicht, sondern nickte zustimmend.

»Wir müssen sogar noch mehr tun«, sagte sie. »Wie es aussieht, sind deine Eltern wahrscheinlich die einzigen, die uns helfen können. Sie waren damals dabei.«

»Aber sie wissen doch nichts«, sagte Aton.

Sascha machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie glauben, nichts zu wissen«, sagte sie. »Es ist erstaunlich, woran sich die Leute manchmal erinnern, wenn man nur hartnäckig genug nachfragt. Ich werde mich erkundigen, was auf der Baustelle deines Vaters los ist, und versuchen, irgendwie Kontakt mit ihm aufzunehmen. Keine Sorge«, fügte sie beruhigend hinzu, als Aton zusammenzuckte. »Ohne daß Petach es merkt. Gottlob verfüge ich über gewisse Möglichkeiten, von denen er nichts wissen kann. Aber zuerst einmal brauchen wir einen sicheren Unterschlupf für dich.«

Wieder fuhren sie eine ganze Zeitlang schweigend durch die Stadt, dann stellte Aton eine Frage, die ihn schon seit einer Weile beschäftigte. »Wieso tust du das eigentlich?« fragte er.

»Was?«

»Du hättest längst deine Vorgesetzten benachrichtigen müssen«, sagte Aton. »Eigentlich schon gestern. Ich meine, ich bin dir dankbar, daß du mir hilfst, aber du riskierst eine ganze Menge, nehme ich an.«

»Ich riskiere Kopf und Kragen, um genau zu sein«, antwortete Sascha ruhig. »Zumindest meinen Job. Aber kannst du dir vorstellen, was meine Vorgesetzten sagen, wenn ich mit dieser Geschichte zu ihnen komme? Trotzdem werde ich es spätestens morgen früh tun müssen.« Sie seufzte. »Sobald ich mir ein paar passende Ausreden habe einfallen lassen, heißt das.«

Sie mußten ihr Ziel jetzt fast erreicht haben, denn Sascha fuhr langsamer und bog schließlich in eine Seitenstraße ein. Die Häuser hier waren kleiner und einfacher als die an der Hauptstraße, und in den meisten brannte kein Licht mehr, obwohl es nicht sehr spät war. Sascha betätigte den Blinker und lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand. Sie stiegen aus.

Aton sah sich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen um. Die Gegend gefiel ihm nicht. Obwohl nur einen Straßenzug vom belebten Zentrum der Stadt entfernt, schienen sie sich in einer völlig anderen Welt zu befinden. Es war sehr dunkel. Es gab keine Straßenlaternen, und die meisten Fenster waren schwarz, als wären die Wohnungen dahinter verlassen. Er sah überhaupt keine Passanten, und mit Ausnahme ihres eigenen auch keinen einzigen Wagen, der am Straßenrand abgestellt war.

»Wo sind wir hier?« fragte er schaudernd.

Sascha deutete auf das Gebäude, vor dem sie ausgestiegen waren. Aton entdeckte erst jetzt die Leuchtbuchstaben über der Tür, die verkündeten, daß es sich um das Hotel ASTORIA handelte. Ein hochtrabender Name - aber auch das einzig elegante an diesem Gebäude, das wenig mehr als eine Ruine zu sein schien. Mit Ausnahme eines beleuchteten Fensters im Erdgeschoß war auch dieses Haus vollkommen dunkel. Zweifelnd blickte er Sascha an.

Die junge Frau lächelte aufmunternd und machte zugleich eine Geste, ihr zu folgen. »Keine Sorge«, sagte sie. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«

Sie betraten das Hotel. Hinter der Tür, die sich mit einem Knarren in den Angeln bewegte, als wäre sie seit zehn Jahren nicht mehr geöffnet worden, erstreckte sich ein kleiner, staubiger Flur, an dessen linker Seite sich eine uralte Theke befand. Dahinter saß ein kleines, verhutzeltes Männchen in einer blauschwarzen Phantasieuniform, das bei ihrem Eintreten müde und ohne das geringste Interesse aufsah. Sascha bedeutete Aton, nichts zu sagen, und wechselte einige halblaute Worte mit dem Portier. Aton konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber der Mann händigte ihr einen Schlüssel aus, ohne auch nur aufzustehen, und vertiefte sich dann wieder in die Zeitung, in der er bei ihrem Eintreten geblättert hatte. Die ganze Szenerie hatte etwas Unwirkliches, fand Aton.

Sascha deutete mit einer Kopfbewegung auf die Treppe am hinteren Ende des Flures, und sie gingen sie rasch hinauf. Das Zimmer, dessen Schlüssel ihr der Portier gegeben hatte, lag im ersten Stockwerk, unmittelbar an der Treppe. Sascha schloß auf, tastete einen Moment lang im Dunkeln herum und fand schließlich den Lichtschalter, der mit einem deutlich hörbaren Klacken einrastete. Eine altmodische Stofflampe unter der Decke verbreitete gelbes Licht, und was Aton in dem blassen Schein sah, das verstärkte das seltsame Gefühl noch, das sich in ihm breitgemacht hatte. Das Zimmer war uralt. Die Einrichtung war halbwegs sauber, aber sehr spärlich und mußte schon altmodisch gewesen sein, bevor er geboren worden war.

»Nicht unbedingt das Hilton, aber sicher und warm«, erklärte Sascha, während sie die Tür hinter sich ins Schloß drückte.

»Was ist das hier?« fragte Aton.

»Wir benutzen dieses Hotel dann und wann, um Leute unterzubringen«, sagte Sascha. Aton sah sie fragend an, und sie fügte mit einem angedeuteten Lächeln hinzu: »Das ist das, was wir ein sicheres Haus nennen. Siehst du denn gar keine Kriminalfilme?«

Aton erwiderte ihr Lächeln nicht. Er bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Sascha war sich dessen offensichtlich gar nicht bewußt, aber sie hatte genau das in Worte gekleidet, was er spürte, seit er dieses Gebäude das erste Mal gesehen hatte.

Alles hier wirkte nicht echt. Es sah genauso aus, als wäre er in einen uralten Kriminalfilm geraten. Dieses fast menschenleere Haus in einer verkommenen Gegend, der senile Portier, der seine Gäste nicht zur Kenntnis nahm, dieses Zimmer, dem man ansah, daß es vermutlich seit Jahren niemanden mehr beherbergt hatte ... Als Aton zum Fenster trat und einen Blick auf die Straße hinauswarf, sah er in einen kleinen, an drei Seiten von schmuddeligen Backsteinmauern umgebenen Hinterhof, in dem sich leere Kisten und Kartons, ganze Berge von Flaschenkästen und überquellende Mülleimer stapelten. Was jetzt noch fehlte, dachte er spöttisch, war eigentlich nur ein schwarzer Citroën, der Wagen, den Ganoven in französischen Kriminalfilmen traditionsgemäß fuhren.

»Ich werde dich nun ein oder zwei Stunden allein lassen«, sagte Sascha.

Aton drehte sich mit einem Ruck zu ihr herum, und er mußte wohl sehr erschrocken dreingesehen haben, denn sie fügte in beruhigendem Tonfall hinzu: »Keine Sorge, du bist hier wirklich sicher. Solange du das Haus nicht verläßt, kann dir nichts passieren. Und nicht telefonierst«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Aton fand das nicht lustig. Saschas Worte erinnerten ihn nachhaltig wieder daran, daß er vielleicht nicht der einzige war, dem Gefahr drohte. »Wohin willst du?« Noch während er die Frage aussprach, erinnerte er sich wieder daran, daß Sascha noch einmal kurz telefoniert hatte, bevor sie die Wohnung verließen. »Ich weiß, zum Flughafen. Ihr wollt euch Petach schnappen.«

»Ich habe einiges mit ihm zu bereden«, bestätigte Sascha.

»Du hast gesehen, was -« begann Aton, wurde aber sofort unterbrochen.

»Er hat uns überrascht. Außerdem waren wir allein. Das nächste Mal wird es ein bißchen anders aussehen.« Sie machte ein grimmiges Gesicht. »Ich könnte gar nicht mehr zurück, selbst wenn ich wollte. Du kannst nicht die halbe Stadt in Schutt und Asche legen und denken, daß niemand etwas dagegen unternimmt. Ob dieser Petach nun tatsächlich das ist, was du glaubst, oder nur ein geschickter Betrüger - wir werden ihm das Handwerk legen, und zwar ein für allemal.«

Aton ahnte, wie sinnlos es wäre, Sascha von ihrem Vorhaben abbringen zu wollen. Etwas sagte ihm, daß alle Polizisten der Welt Petach nicht daran hindern konnten, genau das zu tun, was er wollte, aber er war nicht in der Stimmung, zu diskutieren. Außerdem konnte er jede Hilfe gebrauchen, die ihm angeboten wurde. Sascha und ihre Kollegen würden Petach nicht verjagen, aber doch ein wenig aufhalten, und vielleicht gewann er so die Zeit, die er so dringend brauchte, um einen klaren Kopf zu bekommen und endlich so etwas wie Sinn in diese scheinbar so verworrene Geschichte zu bringen. Er hatte immer mehr das Gefühl, vor den Teilen eines gigantischen Puzzles zu stehen, das er nur richtig zusammensetzen mußte. Das Problem war nur, daß er keine Ahnung hatte, wie das Bild aussah, das es ergeben sollte.

Sascha deutete sein Zögern wohl falsch, denn sie fügte plötzlich hinzu: »Wenn du willst, rufe ich jemanden an, der herkommt und dich bewacht.«

»Das ist nicht nötig«, antwortete Aton erschrocken. Und irgendwie hatte er das Gefühl, daß Sascha erleichtert über diese Antwort war. Sie wandte sich zur Tür.

»Mach niemandem auf«, sagte sie. »Das beste wird sein, wenn du das Zimmer gar nicht verläßt. Ich komme zurück, so schnell ich kann.«

Sie ging. Aton schloß die Tür hinter ihr sorgfältig ab, dann drehte er sich wieder herum und sah sich unschlüssig im Zimmer um. So anders es auch war - in einem Punkt ähnelte es sehr Saschas Wohnung: Bis auf das Nötigste war es vollkommen leer. Es gab nicht die geringste Möglichkeit der Zerstreuung, nichts, womit man sich beschäftigen, sich ablenken konnte. Er war nicht müde, so daß er hätte schlafen können, und selbst wenn er es gewesen wäre, hätte er ganz bestimmt keine Ruhe gefunden.

Aton beschäftigte sich fast eine Stunde lang damit, ruhelos in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen und dann und wann am Fenster stehenzubleiben, um einen Blick auf den Hof hinauszuwerfen, und seine Gedanken drehten sich in dieser Zeit immer schneller und immer wilder im Kreis. Er versuchte, das Problem logisch anzugehen, aber das machte es eher schlimmer. Je intensiver er über alles nachdachte, was seit jenem schicksalhaften Tag in Crailsfelden geschehen war, desto weniger Sinn schien alles zu ergeben. Selbst wenn sich alles ganz genau so abgespielt hatte, wie Petach behauptete, und selbst wenn es nicht nur ein Trick und geschickte Täuschungen, sondern tatsächlich das Wirken mythischer Mächte war - die Geschehnisse, von denen Petach erzählt hatte, hatten sich vor dreitausenddreihundert Jahren zugetragen. Was um alles in der Welt hatte er damit zu tun?

Aton ging in Gedanken sogar noch einen Schritt weiter. Selbst wenn er - was vollkommen ausgeschlossen war - ein direkter Blutsverwandter Echnatons (oder Ejes) sein sollte, so war es nach all dieser Zeit kaum wahrscheinlich, daß er noch irgendeinen Einfluß auf das Geschehen von damals oder seine Auswirkungen hatte. Nein, es mußte eine andere Erklärung geben. Eine viel einfachere, vielleicht aber auch viel phantastischere.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und verließ, wenn auch mit einem schlechten Gefühl, das Zimmer. Der Hotelflur lag vollkommen leer und still vor ihm.

Es dauerte eine Weile, bis es Aton auffiel, aber dann sah er es so deutlich, daß er sich fragte, wie um alles in der Welt er auch nur eine Sekunde lang nicht hatte sehen können, wie unheimlich dieser Flur war. Es gab nicht das geringste Stäubchen. Nirgendwo lag etwas herum, keine Faser, kein Fetzchen Papier, nichts. Es gab keine Spur von Unordnung. Die zerschlissenen Läufer auf dem Boden lagen so präzise da, als hätte sie jemand mit einem Lineal ausgerichtet, die kleinen Messingschildchen an den Zimmertüren waren auf Hochglanz poliert, die Tapeten wirkten alt und fleckig, aber völlig unbeschädigt, ohne den winzigsten Riß, die allerkleinste, abgeschabte Stelle. Und es war still. Unheimlich still.

Aton machte einen Schritt auf die Treppe zu, blieb dann wieder stehen und trat an die Tür des Nachbarzimmers heran. Er zögerte. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er das Ohr an das Holz preßte und lauschte. Nichts. Nach ein paar Sekunden streckte er zögernd die Hand aus, legte sie auf die Klinke und drückte sie ganz langsam hinunter. Die Tür schwang lautlos nach innen, und Aton legte sich in Gedanken bereits eine Entschuldigung zurecht, falls er direkt in das Gesicht eines erbosten Hotelgastes blicken, sollte.

Aber in dem Zimmer war niemand, den er hätte stören können, und es konnte auch niemand da sein, denn es gab kein Zimmer.

Vor Aton lag nur ein gewaltiges, schwarzes Nichts, aus dem ihm ein Hauch unheimlicher Kälte entgegenwehte.

Aton blieb sekundenlang wie gelähmt stehen und starrte in die Leere. Furcht stieg in ihm hoch, doch er versuchte sie zu unterdrücken. Mit einer erzwungen ruhigen Bewegung schloß er die Tür wieder, ging einige Schritte den Flur entlang und öffnete das nächste Zimmer.

Das Ergebnis war dasselbe. Auch hinter dieser Tür war nichts als Schwärze und Leere.

Aton öffnete alle Türen auf der Etage, ohne irgend etwas anderes zu finden als eben nichts, und er war auch sicher, daß das Ergebnis dasselbe gewesen wäre, hätte er auch die beiden oben liegenden Stockwerke untersucht. Er sparte sich jedoch die Mühe und ging langsam die Treppe ins Erdgeschoß hinunter.

Der Portier saß noch immer hinter der Theke und blätterte in seiner Zeitung, als wäre inzwischen gar keine Zeit vergangen, und er sah auch erst auf, als Aton bereits an ihm vorüberging. Dann aber erwachte er sehr schnell aus seiner Lethargie. Mit einer für einen Mann seines Alters und seiner Statur überraschend flinken Bewegung huschte er um die Theke herum und vertrat Aton den Weg.

»Wo willst du hin?« fragte er in wenig freundlichem Ton.

»Ich ... ich wollte nur ...« stammelte Aton, aber der Portier unterbrach ihn mit einer energischen Geste.

»Deine Freundin hat gesagt, du sollst das Haus nicht verlassen«, sagte er. »Ich glaube, es ist besser, du tust, was sie sagt.«

Der Tonfall, in dem er sprach, machte seine Worte zu einem Befehl, und obwohl er einen Kopf kleiner und schmächtiger als Aton war, erweckte er ganz den Eindruck, diesem Befehl notfalls auch mit Gewalt Nachdruck zu verleihen. Aton zögerte. Aber allein die Vorstellung, die Treppe wieder hinauf und in dieses unheimliche Zimmer zurückkehren zu sollen, war fast mehr, als er ertrug. »Ich ... ich muß dringend weg«, sagte er. »Es ist etwas -«

Wenn es ein Zufall war, dann der größte, den Aton je erlebt hatte, aber in diesem Moment wurde die Eingangstür geöffnet, und Sascha kam zurück. Sie schien die Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen und richtig zu deuten, denn für einen Moment breitete sich Sorge auf ihrem Gesicht aus.

Dann lächelte sie. Aber Aton entging weder der beredte Blick noch die kleine, rasche Bewegung mit der Hand, die sie zu dem alten Mann hin machte. Er hörte, wie sich der Portier herumdrehte und an seinen Platz zurückschlurfte, und Sascha schloß die Tür hinter sich und kam dann auf ihn zu.

»Dir war ziemlich langweilig in deinem Zimmer, wie?« fragte sie. »Meine Schuld. Ich hätte dir ein Buch oder irgend etwas anderes mitbringen sollen, womit du dich ablenken kannst.«

»Wieso bist du schon zurück?« fragte Aton, ohne auf die Worte einzugehen. »Was ist mit Petach?«

»Er war natürlich nicht da«, antwortete Sascha. »Wir haben den ganzen Flughafen nach ihm abgesucht, ohne ihn zu finden. Es war wahrscheinlich auch ziemlich naiv von mir, im Ernst anzunehmen, daß er einfach dasitzt und auf uns wartet.«

Aton versuchte in Gedanken die Zeit abzuschätzen, die seit Saschas Aufbruch vergangen war. Er wußte nicht genau, wo in der Stadt sie waren, aber bis zum Flughafen hinaus und wieder zurück war es selbst mit einem schnellen Wagen sicherlich eine halbe Stunde. Es war schwer vorstellbar, daß die Polizistin - selbst mit einer ganzen Armee von Kollegen - in der kurzen verbliebenen Zeit den kompletten Flughafen abgesucht haben sollte.

Sascha ging an ihm vorbei und machte eine beiläufige Geste, ihr zu folgen, aber Aton rührte sich nicht von der Stelle. Sie blieb stehen und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Was ist los?« fragte sie. Sie lächelte. »Ich weiß, daß es hier nicht sehr gemütlich ist, aber -«

»Was ist mit den anderen Zimmern?« unterbrach sie Aton.

»Den anderen Zimmern?« Wenn Sascha log, dann war sie eine ausgezeichnete Schauspielerin. Die Verwirrung auf ihrem Gesicht wirkte echt. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»In diesem Haus stimmt etwas nicht«, sagte Aton. Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen. Er mußte sich sehr zusammennehmen, doch irgendwie brachte er das Kunststück fertig, seiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu verleihen. »Es gibt keine anderen Zimmer«, sagte er. »Nur dieses eine, in das du mich gebracht hast.«

»Keine anderen Zimmer?« Sascha schüttelte verwirrt den Kopf und tauschte einen fragenden Blick mit dem Portier.

Der alte Mann sah ebenso verständnislos drein wie auch sie, dann maß er Aton kopfschüttelnd und auf eine sehr beredte Art.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, sagte Sascha.

»Nein?« antwortete Aton. »Na, dann komm mit.«

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte er die Treppe hinauf und an ihrem Zimmer vorbei, erreichte die Tür, hinter der er zuerst auf diese unheimliche schwarze Leere gestoßen war, und riß sie auf.

Dahinter lag ein kleiner, schäbiger Raum, der ein Zwilling ihres eigenen Zimmers hätte sein können.

Aton starrte das Zimmer ungläubig und mit schierem Entsetzen an. Auf den zweiten Blick war es dem seinen doch nicht so ähnlich, wie er im allerersten Moment geglaubt hatte. Es gab Unterschiede. Was er in seinem eigenen Raum und auch draußen vermißt hatte, das sah er nun hier: Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Zeitung, die Bettdecke war nicht ganz glatt gezogen, und auf dem Spülbecken rechts neben der Tür, das nur einen Kaltwasserhahn hatte, stand ein benutztes Glas. In der Luft hing der Geruch von kaltem Zigarettenqualm, als wäre jemand vor kurzer Zeit erst hier gewesen und hätte geraucht.

»Also?« fragte Sascha, die nachgekommen war. »Was soll mit diesem Zimmer sein?«

Aton drehte sich wortlos um und trat an die nächste Tür. Er hatte es fast erwartet, trotzdem bereitete ihm der Anblick abermals einen Schock. Auch hinter dieser Tür lag ein kleines Hotelzimmer, und dies wies sogar ganz deutliche Spuren eines Bewohners auf. Aton probierte eine dritte und vierte Tür - mit dem gleichen Ergebnis - hinter der fünften schließlich entdeckte er tatsächlich einen Menschen. Ein verschlafenes Gesicht sah die beiden Störenfriede aus noch trüben Augen an, und Aton schloß rasch wieder die Tür, ehe der Mann richtig erwachen konnte.

»Also?« fragte Sascha. Sie hatte seinem Treiben bisher wortlos zugesehen, aber nun war ihre Geduld ganz offensichtlich am Ende. »Was soll das?«

Aton sah sie nur hilflos an. Er hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Hatte er sich das alles tatsächlich nur eingebildet?

Sascha wiederholte ihre Frage, aber Aton antwortete auch jetzt nicht darauf, sondern drehte sich schweigend um und hatte es plötzlich sehr eilig, wieder in das Zimmer zurückzugehen, das ihm vor einer Viertelstunde noch solche Angst eingeflößt hatte.

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