Duell der Götter

Die Dunkelheit war nicht so vollkommen, wie es von oben den Anschein gehabt hatte. Wie beim ersten Mal, als Aton das unterirdische Grablabyrinth betreten hatte, dauerte es nur wenige Sekunden, bis sich seine Augen an das graue Dämmerlicht gewöhnt hatten, das die schmalen Gänge erfüllte, und er wieder sehen konnte. Die Treppe war sehr steil und so schmal und niedrig, daß sie nur hintereinander und gebückt gehen konnten, und bevor sie ihr unteres Ende erreichten, blieb Petach stehen und wies nach oben, und sie konnten hören, wie der schwere Sarkophag wieder an seinen Platz glitt und den Eingang verschloß. Aton glaubte nicht, daß dies ihre Verfolger lange würde aufhalten können; dafür wurde das Gefühl, lebendig begraben zu sein, wieder stärker in ihm - und diesmal entsprach es sogar der Wahrheit, denn sie befanden sich ja tatsächlich in einem Grab.

Die Treppe endete in einer quadratischen Kammer, von der mehrere Türen abzweigten. Ihre Wände waren über und über mit Bildern bedeckt, bei deren Anblick sein Vater in eine regelrechte Verzückung geriet, aber Petach dämpfte seine Begeisterung mit einer befehlenden Geste und deutete auf den Durchgang zur Rechten.

Aton versuchte sich zu erinnern, ob er damals dieselbe Tür benutzt hatte, wußte es aber nicht. Seine Erinnerung war nicht so komplett, wie er bisher geglaubt hatte - der Traum hatte ihm gezeigt, wie sein Abenteuer geendet hatte, aber nicht, wie es begann. Er erinnerte sich auch jetzt nur daran, stundenlang durch ein wahres Labyrinth von Gängen und Stollen geirrt zu sein, sprach aber die Sorge, mit der ihn dieser Gedanke erfüllte, nicht aus. Petach kannte sich offensichtlich hier unten aus, würde ihnen den richtigen Weg zu Echnatons Grab weisen.

Ein schmaler Gang nahm sie auf. Sein jenseitiges Ende verschwand in grauer Entfernung, aber er war zumindest etwas breiter als die Treppe, so daß Aton und sein Vater nebeneinander gehen konnten. Petach eilte voraus, dicht gefolgt von Sascha, deren nervöse Bewegungen und Blicke deutlich machten, wie unwohl sie sich in dieser Umgebung fühlte, und Yassir bildete den Abschluß. Während sie durch die stauberfüllten Gänge liefen, fand Aton zum ersten Mal, seit sie das Tal der Könige erreicht hatten, Gelegenheit, über die Frage nachzudenken, warum Sascha eigentlich gekommen war - und vor allem, warum sie seinen Vater mitgebracht hatte. Er wußte noch immer nicht, wer sie wirklich war - wenn er auch nach Petachs Worten zumindest zu wissen glaubte, was sie nicht war: nämlich eine ganz normale junge Polizeibeamtin aus seiner Heimatstadt, der er durch einen reinen Zufall begegnet war -, aber wie auch immer, sie mußte wissen, daß ihm sein Vater hier am allerwenigsten helfen konnte. Bestenfalls würde er sie behindern, und sehr viel wahrscheinlicher war, daß auch er in Gefahr geriet.

Er fragte sich, welches Geheimnis Sascha verbarg. Jetzt fielen ihm auch all die kleinen Ungereimtheiten und seltsamen Vorkommnisse wieder ein, die ihm in ihrer Gegenwart widerfahren waren. Ihre Wohnung, die so sonderbar leer und unfertig wirkte, als hätte sie jemand eigens für seinen Besuch dort eingerichtet, aber nur an das Allernotwendigste gedacht und selbst dabei einiges vergessen. Das Hotel, das mehr einer Theaterkulisse als einem wirklichen Hotel geglichen hatte und in dem es Räume gab, die erst dann existierten, als er sich vorgestellt hatte, wie sie eigentlich aussehen sollten, und das sich am Ende als seit Jahren von Menschen verlassene Ruine herausstellte. Und da war noch mehr: ihre Fähigkeit, immer im genau richtigen Moment am richtigen Ort aufzutauchen, und ... ja, auch Dinge zu tun, die sie eigentlich gar nicht konnte. Er bedauerte es, sie nie nach alledem gefragt zu haben, aber er tat es auch jetzt nicht - es war nicht der richtige Moment, und wahrscheinlich würde sie ihm auch nicht antworten.

Er erinnerte sich, daß sie einmal gesagt hatte, sie wäre sein Schutzengel. Natürlich hatte er das für einen Scherz gehalten, aber jetzt war er nicht mehr sicher.

Sie erreichten eine Abzweigung. Petach blieb stehen und schloß für einen Moment die Augen, so daß Aton zuerst glaubte, er hätte Mühe, sich an den richtigen Weg zu erinnern. Dann begriff er, daß der Ägypter lauschte. Und einen Augenblick später hörte er es auch: ein entferntes, schweres Schleifen und Gleiten. Und etwas wie mühsame Atemzüge. Die Sphinx. Sie hatten den Wächter des Grabes geweckt, und er kam, um nachzusehen, wer seine Ruhe störte.

»Schnell jetzt!« sagte Petach. Er deutete nach links und eilte mit weit ausgreifenden Schritten los, und es bedurfte keiner weiteren Aufforderung, daß die anderen ihm ebenso schnell folgten. Sie alle hatten die Schritte und das Atmen gehört, und auch wenn Sascha, Atons Vater und vielleicht auch Yassir nicht wirklich wissen konnten, was sich ihnen da näherte, so waren diese Geräusche doch so schrecklich, daß sie sie zur Eile antrieben.

Trotz ihres schnellen Tempos kamen die unheimlichen Laute näher. Aton versuchte sich verzweifelt zu erinnern, an welcher Stelle des Labyrinths der Eingang zu Echnatons Grab lag, aber es gelang ihm nicht. Die Schritte der Sphinx kamen näher, und ihr Atem war jetzt ganz deutlich zu hören. Noch war das Ungeheuer nicht zu sehen, aber sie alle spürten seine Nähe, die Gegenwart eines Wesens, das aus einer fremden, vollkommen unbegreiflichen Welt stammte und dessen einziger Daseinszweck das Wachen und Toten war. Aton hatte bisher angenommen, daß Petach es damals vernichtet hatte, aber das stimmte nicht. Das Geschöpf war so unsterblich und unverwundbar wie die Mächte, die es erschaffen hatten. Man konnte es aufhalten, vielleicht für eine kurze Zeit zurückjagen in die Dimensionen des Schreckens, aus denen es stammte, aber nicht zerstören.

Auch sein Vater sah sich immer wieder nervös um. Der Ausdruck von Begeisterung, der auf seinem Gesicht erschienen war, als sie das Labyrinth betraten, war längst Entsetzen gewichen, und auch wenn er nicht wußte, was es war, was ihnen folgte, so empfand er doch die gleiche Furcht wie Aton und die anderen.

»Was ist das?« fragte er mit zitternder Stimme. »Petach, was ... was um alles in der Welt ist das?«

»Schneller!« sagte Petach anstelle einer Antwort. »Es ist nicht mehr weit! Hinter der nächsten Biegung!« Er begann nun wirklich zu rennen, und auch die anderen verfielen in einen schnellen Laufschritt, aber es war so, wie Aton es schon mehrmals erlebt hatte: Je rascher sie sich bewegten, desto rascher wurde auch ihr Verfolger, und er wußte, daß er im Gegensatz zu ihnen weder Erschöpfung noch Müdigkeit kannte und nicht mehr langsamer werden würde. Er begann die Anstrengung bereits jetzt zu spüren. Sein Atem wurde immer schwerer, und er bekam Seitenstiche. Auch sein Vater keuchte. Aber sie würden dieses Tempo auf Gedeih und Verderb halten müssen.

Endlich hatten sie die Gangbiegung erreicht, und tatsächlich - nur noch ein knappes Dutzend Schritte von ihnen entfernt befand sich eine Tür. Aton erkannte sie sofort wieder, obwohl sich das Bild von dem aus seinem Traum unterschied: Das milde Licht, das er damals gesehen hatte, war nun erloschen, und hinter der Tür lag nur der diffuse graue Schein, der auch den Gang erfüllte. So schnell sie konnten, liefen sie auf den Durchgang zu, aber Petach blieb einen Schritt davor stehen und wandte sich mit einer auffordernden Geste zu Aton um.

»Öffne sie!« sagte er. »Schnell!«

Öffnen? dachte Aton verwirrt. Die Tür war nicht verschlossen.

Genaugenommen gab es gar keine Tür, sondern nur diesen offenen Durchgang. Und trotzdem schien es Petach unmöglich zu sein, hindurchzuschreiten. Er versuchte es, aber er hatte nicht einmal einen halben Schritt getan, als er wieder zurückwich. Irgend etwas Unsichtbares war da, das ihn daran hinderte, den Raum hinter der Tür zu betreten. Auch Yassir und schließlich sogar Sascha versuchten es, aber mit demselben Ergebnis.

»Schnell!« drängte Petach. Aton hatte noch immer keine Ahnung, was der Ägypter eigentlich von ihm erwartete, aber er trat ohne zu Zögern an ihm vorbei - und durch die Tür hindurch. Er spürte nichts. Keinen Widerstand, keine unsichtbare Kraft, die ihn zurückhalten wollte. Verblüfft drehte er sich zu Petach und den anderen herum und winkte ihnen, aber das unheimliche Geschehen wiederholte sich: Weder Petach noch sein Vater oder die beiden anderen waren in der Lage, ihm zu folgen.

Dafür erblickte er etwas, was ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: Hinter der Biegung des Ganges erschien die Sphinx. Sie war so groß und bot einen so furchteinflößenden Anblick wie in seinem Traum, aber diesmal war es kein Traum. Das Ungeheuer war wirklich, und es raste mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes heran. Als es Petach und die anderen erblickte, stieß es ein markerschütterndes Brüllen aus.

Aton reagierte ganz instinktiv, ohne über das nachzudenken, was er tat. Während Petach und die anderen herumfuhren und sich auf ihren Gesichtern das blanke Entsetzen ausbreitete, streckte er die Hand aus, ergriff Saschas Arm und zerrte sie zu sich herein.

Es ging. Das unsichtbare Hindernis war nicht mehr da. Aton hatte alle Kraft in diese Bewegung gelegt, darauf gefaßt, gegen irgendeine Art von Widerstand ankämpfen zu müssen, und so verlor Sascha durch den plötzlichen Ruck das Gleichgewicht, stolperte ungeschickt gegen ihn und hätte auch ihn fast zu Fall gebracht. Sie taumelten zwei Schritte von der Tür zurück, ehe es Aton endlich gelang, sie loszulassen und seine Balance wiederzufinden. Sofort war er wieder bei der Tür und streckte die Hände nach Yassir aus, der dem Eingang am nächsten stand. Während er ihn zu sich hereinzog, kam die Sphinx unerbittlich näher. Petach hatte beide Arme in die Höhe gerissen und machte jene beschwörende Geste, mit der er das Ungeheuer auch damals zurückgehalten hatte, aber diesmal hatte sie nicht die beabsichtigte Wirkung, die Sphinx zu stoppen. Ihr Vormarsch wurde zwar langsamer, und Aton konnte sehen, wie auch sie gegen einen plötzlichen, unsichtbaren Widerstand ankämpfte, aber sie kam näher. Nur noch ein paar Sekunden, und sie würde Petach und seinen Vater erreicht haben.

Auch Yassir hatte den Durchgang passiert. Atons Vater hatte seinen Schock mittlerweile zumindest soweit überwunden, daß er sich wohl daran erinnerte, nicht ganz wehrlos zu sein, denn er hatte seine Pistole gezogen und legte auf die Sphinx an.

Aton wußte, wie wenig die Waffe gegen diesen Dämon auszurichten imstande war, aber er verschwendete keine Zeit darauf, seinem Vater eine Warnung zuzurufen. Er stand zu weit vom Eingang entfernt, als daß er ihn erreichen konnte, also sprang er mit einem Satz wieder in den Stollen hinaus, ergriff seinen Vater von hinten an den Schultern und zerrte ihn mit sich. Im gleichen Moment drückte dieser ab.

In der Enge des Stollens klang das Geräusch der Pistole wie ein Kanonenschuß. Die Kugel traf das Ungeheuer, aber sie hatte nicht die Kraft, es zu verletzen. Funkensprühend prallte sie von seinem steinernen Leib ab, fuhr gegen die Decke und von dort aus heulend und als gefährlicher Querschläger im Zickzack durch den Gang.

Zu einem zweiten Schuß kam Atons Vater nicht. Rücklings stolperten sie durch die Tür, und Aton stürzte gleich wieder durch den Ausgang und griff nach Petach.

Er schaffte es nicht ganz. Seine ausgestreckten Hände berührten den Ägypter, und obwohl sich Petach völlig auf die Sphinx konzentriert hatte, schien er doch mitbekommen zu haben, was hinter ihm vorging, denn er sprang sofort rückwärts, so daß er Aton mehr durch die Tür hindurchstieß, als dieser ihn zog. Aber so schnell sie auch waren, die Sphinx war eine Winzigkeit schneller. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie in Sicherheit waren, versetzte sie Petach einen kraftvollen Tatzenhieb. Der Ägypter schrie auf, wurde von den Füßen gerissen und gegen die Wand geschleudert. Stöhnend und blutüberströmt brach er zusammen, Aton ergriff Petach und zerrte ihn mit verzweifelter Kraft in Sicherheit. Die Sphinx raste brüllend an ihnen vorbei, und noch bevor sie kehrtmachen und zu einem zweiten Angriff ansetzen konnte, hatte Aton Petach vollends durch die Tür gezogen, und sie waren gerettet.

Sein Vater half ihm, Petach noch ein Stück weiter in den Raum zu ziehen und auf den Rücken zu drehen. Ein Gefühl eisigen Entsetzens breitete sich in Aton aus, als er sah, wie schwer der Ägypter verletzt war. Der Krallenhieb der Sphinx hatte sein Gesicht und seine rechte Schulter zerschmettert, und er verlor unglaublich viel Blut. Daß er überhaupt noch lebte, schien ein wahres Wunder.

»Mein Gott!« sagte sein Vater. »Das ist ja furchtbar. Wir ... wir müssen ihm irgendwie ... helfen.«

»Lassen Sie ihn«, sagte Yassir. Er war näher gekommen und hatte sich über Atons Schulter gebeugt, um auf Petach hinuntersehen zu können, und auf seinem Gesicht zeigte sich weder Schrecken noch Mitgefühl.

Atons Vater fuhr auf. »Was soll das heißen?« fuhr er Yassir an. »Wir können -«

»- nicht das geringste für ihn tun«, unterbrach ihn Yassir ruhig. »Und es gibt etwas Wichtigeres.« Er sah Aton an. »Du weißt, was zu tun ist?«

Aton war nicht ganz sicher, ob er Yassir verstand. Im Grunde wußte er überhaupt nichts - nicht einmal, wo sie wirklich waren. Die erwartete Grabkammer jedenfalls erwies sich nur als kurzer, staubiger Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Zugleich aber spürte er, daß er es wissen würde, wenn es soweit war. Unter den entsetzten Blicken seines Vaters stand er auf, drehte sich herum und ging auf die Tür zu.

»Aber wir ... wir können ihn doch nicht einfach hierlassen!« protestierte sein Vater. Er deutete auf Petach zurück. »Er stirbt!«

»Das macht nichts«, sagte Sascha gelassen. »Darin hat er Übung. Er macht das öfter.«

Aton sah, wie sich ein flüchtiges Lächeln auf Yassirs Gesicht ausbreitete, als er die Fassungslosigkeit seines Vaters bemerkte, aber der Ägypter wurde sofort wieder ernst und trat wortlos neben ihn und wartete, bis Aton die Tür durchschritt und in den dahinterliegenden Raum trat.

Und seinen Irrtum erkannte. Er hatte nicht vergessen, wie dieses Grab aussah. Er war schon einmal hiergewesen, und er hatte sich daran erinnert, die ganze Zeit über schon. Er hatte es nur nicht gewußt.

Vor ihm lag die gewaltige, pyramidenförmige Höhle, in deren Mitte sich der künstliche See mit dem Pharaonengrab befand. Die Illusion, die er damals auf dem Flughafen gehabt hatte, war keine gewesen, sondern eine Rückkehr zu jenem schicksalhaften Tag vor zehn Jahren, an dem er Echnatons Grab das erste Mal betreten hatte.

Der Anblick war gigantisch, unfaßbar und erschreckend zugleich, denn es war das Grab aus seiner Erinnerung und gleichzeitig auch nicht. Es hatte sich verändert. Die drei Jahrtausende, die seit seiner Erschaffung verstrichen waren, hatten das Bild eingeholt. Statt goldener Pracht sah Aton überall Verfall und Zerstörung, statt schimmerndem Metall und Edelsteinen Staub und Trümmer. Die Statuen, die Alabasterkrüge und die vielen anderen Gegenstände, die längs der einwärts geneigten Wände aufgereiht waren, lagen zerstört da, und aus der Decke waren tonnenschwere Steine gebrochen und niedergestürzt. Der künstliche See war ausgetrocknet. Anstelle der schimmernden Wasserfläche befand sich nun ein tiefes, gemauertes Becken mit schlammigem Grund, von dem ein übler Geruch aufstieg, und selbst über die große Entfernung hinweg konnte Aton sehen, daß auch die künstliche Insel in seiner Mitte nur mehr ein Trümmerfeld war.

Trotzdem schlug ihn der Anblick so sehr in seinen Bann, daß er einfach dastand und sich umsah. Auch Verfall und Zerstörung konnten etwas Großartiges haben, begriff er plötzlich, denn auch sie gehörten zum natürlichen Verlauf der Dinge. Alles, was entstand, mußte irgendwann auch wieder vergehen, dies war vielleicht das unerschütterlichste Gesetz der Natur. Diese Erkenntnis war sehr wichtig. Wichtig für ihn und wichtig für das, weswegen sie gekommen waren, denn vielleicht war dies der eigentliche, wirkliche Grund seines Hierseins. Was Echnaton getan hatte, war mehr als die Rache eines sterbenden Mannes an seinem Mörder gewesen. Er hatte in den natürlichen Verlauf von Werden und Vergehen eingegriffen und damit an Dinge gerührt, die selbst die Götter nicht ändern durften, und sie waren hier, um diesen Frevel wiedergutzumachen. Nicht um es aufzuhalten, wie Petach glaubte. Das konnten sie nicht. Aton erkannte plötzlich mit einer Klarheit, die keinen Zweifel zuließ, daß sie diese Chance niemals gehabt hatten. Keine Macht dieser Welt würde verhindern können, was in dieser Nacht geschah. Echnatons Prophezeiung würde sich erfüllen, ganz gleich, wie sehr sie auch dagegen ankämpften.

Ein Geräusch riß ihn aus seinen Gedanken. Aton sah auf und blickte direkt ins Gesicht seines Vaters, der hinter ihm aus der Tür getreten war und sich mit einem Ausdruck der völligen Fassungslosigkeit umsah.

»Das ist ... unglaublich. Einfach ... einfach unfaßbar! Echnatons Grab! Das ... das ist tatsächlich Echnatons Grab! Aber wenn ... wenn es existiert, dann ... dann ist vielleicht alles andere auch ... auch wahr!«

Aton begriff im ersten Moment nicht ganz, aber dann wurde ihm klar, daß die Begeisterung seines Vaters eine verzweifelte war, um nicht den Verstand zu verlieren. Sein Vater war kein Narr. Er wußte sehr wohl, daß das Geheimnis um das verschollene Grab des Pharaos vielleicht das kleinste von allen war, auf das sie hier gestoßen waren. Aber es war das einzige, was er noch halbwegs einordnen konnte, die einzige Erkenntnis, die wenigstens noch etwas mit der Welt des Normalen und Erfaßbaren gemein hatte, die er kannte. Er hatte Dinge erlebt und gesehen, die mit den Maßstäben seiner Welt nicht mehr zu erklären waren, und er war niemand, der es gewohnt war, Wunder zu akzeptieren, sondern der ganz im Gegenteil stets und immer nach einer Erklärung suchte und sie wohl auch meistens fand. Hier, in dieser geheimen Welt unter der Oberfläche der Erde, funktionierte die Frage nach dem Wie nicht mehr, und so klammerte er sich mit aller Macht an das einzige, was er noch halbwegs begriff, und versuchte im übrigen einfach die Augen vor allem anderen zu verschließen.

Vielleicht hätte der Anblick der Grabkammer seinem Vater noch einige weitere Minuten geholfen, all die anderen, viel unheimlicheren Rätsel zu ignorieren, die ihnen bisher begegnet waren, aber schon im nächsten Augenblick erklangen hinter ihm Schritte, und Petach betrat als letzter die Grabkammer. Er war vollkommen unversehrt. Sein Haar und sein Gewand waren voller Blut, und er wirkte ein wenig blaß, aber er war unverletzt, und er lächelte sogar, als er Atons Blick begegnete. Aton war nicht überrascht, denn er hatte damit gerechnet, wenn auch nicht so schnell, und auch Sascha hob nur sacht die linke Augenbraue, um eine leise Verwunderung anzudeuten. Atons Vater jedoch wurde leichenblaß. Seine Augen quollen aus den Höhlen, und er wankte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen. »Aber das kann doch nicht sein!« jammerte er. »Das ist doch -«

Petach brachte ihn mit einer Geste zum Verstummen. Aton tat sein Vater ein bißchen leid, denn er konnte nur zu gut nachfühlen, was er in diesem Moment empfand, aber was Petach mit seiner Handbewegung andeutete, war nur zu wahr: Sie hatten keine Zeit für Erklärungen.

»Das also ist es«, sagte Petach. Die Worte bewiesen, daß er tatsächlich noch nie hiergewesen war, ja offensichtlich nicht einmal gewußt hatte, wie dieser Raum aussah. Vielleicht war Aton der einzige Mensch überhaupt, der ihn je in seiner ganzen Pracht und unversehrt erblickt hatte. Er fragte sich, was Petach - und vor allem sein Vater! - wohl gesagt hätten, hätten sie diesen Raum so gesehen wie er ihn damals.

»Das Grab liegt auf der Insel«, sagte Aton und wies in diese Richtung. »Jedenfalls ... war es dort.«

Seine Worte - und vor allem wohl das kaum merkliche Stocken darin - veranlaßten Petach zu einem verwirrten Stirnrunzeln. Aber er stellte keine entsprechende Frage, sondern machte nur eine auffordernde Geste, und sie gingen los. Aton entging nicht, daß sich Petach zwei- oder dreimal rasch und nervös umsah, während sie sich dem Ufer des künstlichen Sees näherten.

Auch Sascha wirkte mit einem Male regelrecht ängstlich. Plötzlich erinnerte sich Aton wieder daran, wie es ihr in der Kammer in der Cheopspyramide ergangen war. Wenn es darin etwas gegeben hatte, was ihr angst machte, dann mußte es auch hier sein und ungleich schlimmer. Er fragte sich wieder, warum sie überhaupt gekommen war.

Als sie das Ufer des gemauerten Bassins erreichten, erklang hinter ihnen ein dumpfer Knall, der unmittelbar darauf in ein ungeheuerliches Brüllen und Fauchen überging. Es hörte sich so nahe an, als wäre es direkt hinter ihnen entstanden, doch als sie erschrocken herumfuhren, waren sie allein. Es war das Brüllen der Sphinx, die draußen vor dem verschlossenen Eingang der Grabkammer ihre Wut hinausschrie.

Seltsamerweise schien der Lärm Petach eher zu beruhigen als zu erschrecken. Er lächelte sogar flüchtig.

»Was ist so komisch?« erkundigte sich Sascha. Sie versuchte vergeblich, ihre Stimme so herausfordernd und feindselig klingen zu lassen wie bisher.

»Nichts«, antwortete Petach. »Ich finde nur den Gedanken beruhigend, daß sie ihre Aufgabe weiter erfüllt. Das verschafft uns noch ein wenig zusätzliche Zeit.«

Sascha schien nicht zu begreifen, was er damit meinte, aber Aton sagte: »Sie meinen, es sind ... Horus und Osiris?«

»Und ihre Krieger, ja«, bestätigte Petach ernst. »Sie kann sie nicht besiegen, aber sie werden eine Weile damit beschäftigt sein, sie zu verjagen. Ich habe selbst gespürt, wie stark sie ist.« Er schauderte ein wenig. »Echnaton hat das furchtbarste Wesen zu seinem Wächter erkoren, das jemals auf dieser Welt gelebt hat. Aber rasch jetzt! Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Es kostete Aton etliches an Überwindung, in den gemauerten See hinabzuklettern. Seine Wände waren jetzt brüchig und so porös, daß es nicht sehr schwierig war, die Entfernung bis zu seinem Grund zu überwinden, aber der Boden war von einer knöchelhohen Schicht aus klebrigem, schwarzem Schlamm bedeckt, von der ein schrecklicher Gestank ausging.

Der Weg zu der gemauerten Insel in der Mitte des Wasserbeckens erschien ihm ungleich weiter als damals, als er ihn auf dem Boot zurückgelegt hatte. Jeder Schritt auf dem klebrigen Untergrund kostete große Kraft; der Morast schien sich wie mit tausend winzigen Fingern an ihre Füße zu klammern, so daß ihre Schritte von unheimlichen, saugenden Geräuschen begleitet wurden, die von den Wänden des Wasserbeckens hundertfach gebrochen und verzerrt widerhallten. Manchmal ragten spitze Knochen aus dem Schlamm, hier und da schien sich etwas in der zähen, klebrigen Masse zu bewegen, und ungefähr auf halber Strecke kamen sie an etwas vorüber, was das Skelett eines Krokodils hätte sein können, wäre es nicht viel zu groß dafür gewesen.

Trotz Petachs immer deutlicher werdender Ungeduld blieben sie einen Moment stehen, um es zu betrachten. Sein Vater maß die verblichenen Knochen mit Blicken, in denen Furcht und Entsetzen längst die Neugier übertrafen, und auch Aton spürte ein eisiges Frösteln. Er hatte dieses Geschöpf gesehen, als es noch lebte, und plötzlich war er sehr froh, es damals nicht wirklich erkannt, sondern nur als Schemen im Wasser wahrgenommen zu haben.

Sie gingen weiter. Wahrscheinlich hatten sie alles in allem kaum mehr als zehn Minuten gebraucht, bis sie die Insel erreichten, aber Aton war es, als wären sie Stunden unterwegs. Die letzten Schritte kosteten ihn fast mehr Kraft, als er aufzubringen imstande war, und auch die anderen - vor allem Sascha, die Mühe zu haben schien, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten - atmeten erleichtert auf, als die gemauerte Treppe vor ihnen lag, die zur Oberfläche der Insel hinaufführte.

Vom Eingang her erscholl wieder jenes fürchterliche Brüllen und Fauchen, diesmal aber begleitet von einem ganzen Chor anderer, schriller Schreie, einem wütenden Kläffen und Geifern und einem Geräusch, als zerbräche Fels.

Aton sah erschrocken zurück. Sie befanden sich noch immer auf dem Grund des Wasserbeckens, so daß er den Eingang von hier aus nicht sehen konnte, aber das Krachen und Bersten wiederholte sich, und das Brüllen der Sphinx klang plötzlich gequält. Petach hatte recht. Sie hatten nicht mehr viel Zeit.

Die Insel bot einen genauso traurigen Anblick wie die ganze Höhle. Die Zeit hatte auch hier ihren Tribut gefordert. Die lebensgroßen Statuen der Krieger und die anderen Figuren waren zum größten Teil umgestürzt und zerbrochen, so daß sich Schutt und Trümmer mit Gold und funkelnden Edelsteinen mischte. Der gewaltige Baldachin, der das zweite, kleinere Wasserbecken in der Mitte der Insel überspannt hatte, war zusammengebrochen. Einer der mannsdicken Pfeiler hatte die Barke getroffen und ihr Heck zerschmettert, die anderen bildeten einen wirren Haufen aus zerbrochenem Holz, über den sie nur mühsam und äußerst vorsichtig hinwegsteigen konnten, denn die Splitter waren spitz und hatten rasiermesserscharfe Kanten.

Auch der kleine See war ausgetrocknet. Die goldenen Fische lagen zerbeult und blind geworden auf dem Boden, die Barke war von ihrem Sockel gerutscht. Die hölzernen Männer, die sie gelenkt hatten, lagen wie erschlagene Wächter ringsum verstreut, und auch der kleine Baldachin über der Barke hatte sich zur Seite geneigt, so daß die goldenen Schlangen, die seine Pfeiler bildeten, sich nun mit ihren aufgerissenen Mäulern gegenseitig zu bedrohen schienen.

Aton zögerte noch, den letzten Schritt zu tun und in das ausgetrocknete Bassin hinunterzusteigen. Vorhin, als sie die Grabkammer betreten hatten, da hatten der Zerfall und die Zerstörung durchaus etwas Großartiges gehabt, machten sie doch das unvorstellbare Alter dieses Ortes deutlich. Jetzt erschütterte ihn der Anblick, denn er führte ihm deutlich vor Augen, wie vergänglich alles war, was der Mensch erschuf. Nach dem Glauben der Ägypter war dieser Ort für die Ewigkeit gedacht gewesen. Der Mann, der hier bestattet worden war, war ein König gewesen, mehr noch, ein Mensch, der von seinen Untertanen wie ein Gott verehrt worden war. Und doch hatten gerade drei Jahrtausende - für einen Menschen sicher eine unvorstellbar lange Zeit, in Wahrheit jedoch kaum mehr als ein Lidzucken in der Ewigkeit - ausgereicht, ihn nahezu vollkommen zu zerstören. Bald würde nichts mehr von ihm geblieben sein, nichts mehr daran erinnern, daß es ihn je gegeben hatte.

Er begann die Blicke Petachs und der anderen beinahe körperlich zu spüren, und es erinnerte ihn daran, daß er nicht hergekommen war, um über die Vergänglichkeit des Menschen zu philosophieren - genaugenommen würde sich wohl in den nächsten Augenblicken entscheiden, wie es um ihre eigene Vergänglichkeit bestellt war ... Rasch ging er weiter, trat mit einem entschlossenen Schritt in das leere Bassin hinab und näherte sich der Barke. Er mußte in Schlangenlinien gehen, um den übereinandergestürzten Statuen auszuweichen, die zum größten Teil zerbrochen auf dem Beckengrund lagen. Sein Vater, Sascha und die beiden Ägypter folgten ihm, aber sie taten es in gehörigem Abstand, und sie machten jetzt auch keine Versuche mehr, ihn irgendwie anzutreiben.

Atons Herz begann schneller zu schlagen, als er sich den beiden Sarkophagen näherte. Als die Barke von ihrem Sockel gerutscht war, hatten auch sie sich bewegt. Sie waren gegeneinandergeprallt und hatten sich ein wenig gedreht, so daß sich die goldenen Gesichter des Mannes und der Frau - Echnaton und Nofretete, denn um keine anderen konnte es sich bei den beiden Toten im Inneren der gewaltigen goldenen Särge handeln - anzublicken schienen, was Aton auf sonderbare Weise berührte, denn es sah ganz so aus, als hätten sich die beiden absichtlich gedreht, um noch im Tode für die Ewigkeit vereint zu sein.

»Nofretete!« flüsterte sein Vater. Er war neben Aton stehengeblieben und blickte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf die beiden Sarkophage hinab. Sein Gesicht war so bleich wie das eines Toten, und seine Stimme bebte. »Das ... das ist Nofretete!«

Er deutete auf das Frauengesicht, und erst jetzt, als hätte es erst dieser Worte bedurft, erkannte auch Aton die weltberühmten Züge. Es gab keinen Zweifel - das goldene Gesicht glich dem einer Büste, die unzählige Male in Büchern und Zeitschriften abgebildet worden war.

»Dann ... dann muß das da ...« Die Stimme seines Vaters brach. Er begann am ganzen Leib zu zittern, als er sich zu dem zweiten Sarkophag herumdrehte und das Gesicht des toten Pharaos ansah. »Dann muß das hier Echnaton sein«, sagte er schließlich mühsam. »Ich ... ich habe es nicht geglaubt, aber ... aber es ist wahr. Wir ... wir haben Echnatons Grab gefunden. Großer Gott, Aton - weißt du, was das bedeutet?«

»Daß die Welt, wie Sie sie kennen, vielleicht bald nicht mehr existieren wird«, antwortete Petach an Atons Stelle.

Atons Vater blickte ihn verunsichert an. Nach ein paar Sekunden lachte er, aber es klang nicht sehr überzeugend. Aton wollte weitergehen, aber sein Vater streckte rasch die Hand aus und riß ihn fast grob an der Schulter zurück.

»Faß es nicht an!« sagte er.

»Aber ich -«, begann Aton, doch sein Vater unterbrach ihn in befehlendem Ton:

»Du wirst nichts tun, bevor ich nicht weiß, was hier geschieht. Warum sind wir hier? Was erwartet er von dir?«

»Nichts, was er nicht freiwillig täte«, sagte Petach ruhig. »Bitte lassen Sie ihn los. Aton weiß, was zu tun ist. Und er weiß, wie wichtig es ist.«

»Wollen Sie mir erzählen, daß wir hier sind, um den Weltuntergang aufzuhalten?« fragte Atons Vater.

»Sie wird nicht untergehen«, antwortete Petach. »Aber sie wird sich verändern - und nicht zum Guten.« Er machte eine Geste in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Sie haben sie gesehen, aber Sie wissen nicht, wer sie wirklich sind. Sie glauben es zu wissen, aber das stimmt nicht. Diese beiden Götter dort draußen sind nicht mehr, was sie waren. Der Osiris und der Horus, die es einst gab, existieren schon lange nicht mehr. Sie sind böse geworden. Sie bestehen nur noch aus Zorn und Haß, und sie werden Zorn und Haß in die Herzen der Menschen säen, die an sie glauben. Es gibt schon zu viel Leid und Unrecht auf der Welt, und sie werden es hundertfach vermehren, glauben Sie mir.«

»Das ist ... Unsinn«, widersprach Atons Vater nervös. »Gut und Böse haben immer nebeneinander existiert. Das eine bedingt das andere.«

»Das ist richtig«, antwortete Petach. »Es ist ein kompliziertes Gleichgewicht, das die Welt in Gang hält. Aber jedesmal, wenn sich die Waagschale weiter auf die Seite der Dunkelheit neigt, wird ihr Übergewicht größer, und sie senkt sich ein wenig schneller. Osiris wird die Welt nicht vernichten - aber vielleicht wird er sie zu einem Ort machen, an dem Sie nicht mehr würden leben wollen.« Er machte eine Handbewegung, als Atons Vater abermals widersprechen wollte, und fuhr mit erhobener, fast zorniger Stimme fort:

»Ich rede nicht von Ihrer Welt. Ich rede nicht von Ihren Städten und Ihren Menschen oder Ihrem Land. Aber ich rede von den Menschen hier, den einfachen Bauern und Handwerkern, den Menschen, die nicht viel haben und darum nur zu bereit sind, den Versprechungen falscher Götter zu glauben. Sie werden sterben. Sie werden leiden, und sie werden die Saat des Bösen an ihre Kinder weitergeben. Osiris wird sicher nie wieder so mächtig werden, wie er einst war, aber es werden Hunderte sein, die seinetwegen sterben müssen, vielleicht Tausende. Wollen Sie das?«

Er trat herausfordernd einen Schritt auf Atons Vater zu und sah ihn kalt an. »Sie haben recht - es betrifft nicht Sie. Es betrifft nicht Aton oder Ihre Frau oder Ihre Freunde und Verwandten zu Hause. Es geht um mein Volk, nicht um das Ihre. Wenn es Ihnen gleich ist, daß es zugrunde geht, dann sagen Sie es, und Aton und Sie können gehen. Ich verspreche Ihnen, daß ich Sie nicht aufhalten werde. Wollen Sie das wirklich?«

»Nein.«

Es war Aton, der antwortete, nicht sein Vater, aber dieser sah ihn nur unsicher und zutiefst erschrocken an, und Aton fügte nach einer Sekunde hinzu: »Nein, das will er ganz bestimmt nicht. Und ich auch nicht.«

Er trat dicht an die beiden nebeneinanderliegenden Sarkophage heran und sah auf sie hinab. Sein Blick glitt über Echnatons Hände, die Krummstab und Fliegenwedel des Pharaos hielten, und dann über die seiner Gemahlin Nofretete, die leer waren. Sie waren es nicht immer gewesen. Er erinnerte sich - jetzt, endlich, erinnerte er sich an alles - daß bei seinem ersten Besuch in der Grabkammer ein goldenes Amulett in ihnen gelegen hatte.

Suchend sah er sich auf dem Boden um und entdeckte es schon nach Augenblicken. Es war zwischen die beiden Sarkophage gerutscht und halb von Schlamm und eingetrocknetem Staub bedeckt. Aber als er es aufhob und sauberwischte, schimmerte es so unversehrt und kostbar wie am ersten Tag.

»Das ist ... das Udjatauge!« sagte sein Vater ungläubig.

Aton nickte nur. Mit fast bedächtigen Bewegungen entfernte er den letzten Rest von Schmutz und Unrat von dem Amulett, und schließlich sahen sie alle, daß es nicht komplett war. Das Auge, eingefaßt in ein feines Filigran aus Gold und blauer Emaille, war so groß wie seine Hand, aber etwas fehlte: Die Pupille war nicht da. An ihrer Stelle gähnte nur ein kreisrundes Loch, so groß wie Atons Daumennagel.

»Du mußt es zurücklegen«, sagte Petach. »Nur du bist in der Lage dazu. Weder ich noch einer der anderen Götter können es berühren. Gib es Nofretete zurück, und es ist ihrem Zugriff für immer entzogen.«

Atons Hand strich ein letztes Mal über das Amulett, und er glaubte die pulsierende magische Kraft zu spüren, die in dem kleinen Schmuckstück aus Gold und Emaille gebannt war.

Dann wanderten seine Finger fast ohne sein Zutun zu seiner Schulter hinauf und glitten über den winzigen, harten Knoten unter seiner Haut, und diesmal spürte er ganz deutlich, wie etwas in ihm auf den magischen Ruf antwortete. Er fühlte einen leichten Schmerz.

Hinter ihm bückte sich Petach zu einer der Wächterstatuen und zog den Dolch aus dem Gürtel des hölzernen Kriegers. Die Waffe war dreitausend Jahre alt, aber sie schimmerte wie neu, und ihre Klinge war scharf wie ein Skalpell.

»Es wird weh tun«, sagte Petach.

»Ich weiß«, antwortete Aton. Er begann zu zittern. Er sollte tapfer sein - der Schmerz würde nicht annähernd so schlimm sein wie das, was ihn erwartete, wenn Petach es nicht tat. Aber dieses Wissen änderte nichts daran, daß er plötzlich schreckliche Angst hatte.

»He!« protestierte Atons Vater. »Was ... was haben Sie vor?!« Er hob die Arme, um Petach zurückzureißen, aber diesmal war es zur allgemeinen Überraschung niemand anderer als Sascha, die ihn zurückhielt, indem sie ihm sanft die Hand auf die Schulter legte.

»Lassen Sie ihn«, sagte sie. »Es muß sein.«

Atons Vater schlug ihre Hand beiseite und funkelte sie kampflustig an. »Was muß sein?« fragte er scharf. »Was hat er mit dem Messer vor?«

»Das Auge«, sagte Aton. Er wies mit einer Kopfbewegung zuerst auf das Amulett in seinen Händen, dann auf seine eigene Schulter. »Das fehlende Stück. Es ist in mir.«

»In dir? Was soll das heißen? Das ist doch -« Plötzlich stockte sein Vater. Seine Augen weiteten sich abermals, und seine Stimme sank zu einem kaum noch hörbaren Flüstern herab. »Der Unfall. Es ... es muß damals passiert sein, als ... als du verschüttet worden bist. Du bist damals schon hiergewesen.« Er atmetete hörbar ein. »Großer Gott, jetzt verstehe ich endlich. Deshalb konntest du es überleben.«

Petach blinzelte. »Wie meinen Sie das?«

Atons Vater beachtete ihn gar nicht, sondern blickte unverwandt weiter seinen Sohn an. Aton sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, das auszusprechen, was er nun sagte. »Da ist etwas, was ... was wir dir nie erzählt haben, Aton. Ich ... dachte, es wäre nicht nötig, und deine Mutter und ich, wir haben es auch nie verstanden. Sowenig wie alle anderen.«

»Was?« fragte Aton beunruhigt.

»Der Unfall, damals«, antwortete sein Vater, während er seinem Blick auswich. »Wir haben dir immer erzählt, daß du schwer verletzt gewesen bist, als wir dich ins Krankenhaus brachten. Aber das ... das stimmt nicht.«

»Was war ich dann?« fragte Aton. Ein sehr ungutes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Er wußte, was sein Vater antworten würde.

»Du warst unter Tonnen von Felsen begraben, Aton«, sagte sein Vater. Er hatte noch immer nicht die Kraft, ihn direkt anzublicken, sondern fixierte einen imaginären Punkt irgendwo hinter ihm. »Dein Rückgrat war gebrochen. Du hattest einen vier- oder fünffachen Schädelbruch und zahlreiche innere Verletzungen. Du warst tot.«

»Was sagen Sie da?« keuchte Petach, auch Yassir sah erschrocken auf. Nur Sascha reagierte überhaupt nicht, so als wäre das, was sie da hörte, keineswegs neu für sie.

»Er verblutete in meinen Armen«, sagte Atons Vater leise. Er hatte sich zu Petach gewandt, als fiele es ihm leichter, ihm von jenen schrecklichen Ereignissen damals zu berichten als seinem Sohn. »Der Arzt, der kam, konnte nur noch seinen Tod feststellen. Meine Frau und ich waren vollkommen verzweifelt, und da ich schon damals ein Mann von gewissem Einfluß war, rief man einen Helikopter, der Aton ins Krankenhaus nach Kairo brachte. Dort bestätigte man seinen Tod. Meine Frau brach vollkommen zusammen, und auch ich ...« Er atmete hörbar ein. Die Erinnerung drohte ihn zu überwältigen, und er brauchte eine Weile, bis er genug Kraft geschöpft hatte, um fortzufahren.

»Ich erinnere mich kaum an die darauffolgenden Stunden. Wir verbrachten die Nacht im Krankenhaus. Am nächsten Morgen ließ man uns noch einmal zu ihm, um Abschied zu nehmen. Und als wir das Zimmer betraten - schlug er die Augen auf.«

»Sind Sie ganz sicher, daß die Arzte keine Fehldiagnose gestellt haben?« fragte Petach. Das Gehörte schien ihn über die Maßen zu beunruhigen, was Aton sich nicht erklären konnte.

Atons Vater lachte bitter. »Sicher? Ich habe die Röntgenaufnahmen gesehen, Petach! Er war nicht scheintot, wenn Sie das meinen. Es war auch nicht jene Art von klinischem Tod, aus dem die Menschen manchmal nach zehn Minuten oder einer Stunde wieder aufwachen und von irgendwelchen Lichtern und Tunnels erzählen. Er war eindeutig tot, und zwar für beinahe vierundzwanzig Stunden. Und dann schlug er die Augen auf und war so gut wie unverletzt! Das ganze Krankenhaus hat kopfgestanden. Ich mußte all meinen Einfluß geltend machen, um Aton überhaupt mitnehmen zu können. Am liebsten hätten sie ihn gleich in Stücke geschnitten, um nachzusehen, wie er dieses Kunststück fertiggebracht hat. Aber jetzt verstehe ich es endlich.« Er deutete auf das Amulett in Atons Händen.

»Das ist das Udjatauge. Ich meine: das echte Auge des Horus, nicht irgendeine Nachbildung. Das Amulett des ewigen Lebens. Deshalb ist er von den Toten wiederauferstanden.«

»Ja«, sagte Petach düster. »So ist das also.« Er tauschte einen Blick mit Yassir, und Aton sah, daß plötzlich auch auf dem Gesicht des Ägypters derselbe sonderbar erstaunt-betroffene Ausdruck erschienen war wie auf dem Petachs. Etwas an dem, was sein Vater erzählt hatte, schien für die beiden Männer von ungemeiner Wichtigkeit zu sein.

»So ist was?« fragte er betont.

Petach seufzte tief. »Wir haben uns gefragt, warum Osiris ausgerechnet jetzt solch gewaltige Anstrengungen unternimmt, um deiner habhaft zu werden. Es ist nicht ungefährlich für ihn, sich offen gegen mich zu stellen. Aber nun begreife ich es. Du bist der, auf den er mehr als dreitausend Jahre gewartet hat.«

»Ich weiß«, antwortete Aton.

Petach schüttelte mit einem verzeihenden Lächeln den Kopf. »Du verstehst nicht.« Er deutete auf das Amulett. »Es geht nicht nur darum. Selbst mit dem Udjatauge fiele es ihm schwer, Echnatons Krieger gegen meinen Willen zu erwecken. Er mag der Herr der Toten und der Nacht sein, aber der Tag und die Lebenden gehören mir. In deinen Händen jedoch wird das Auge des Horus zu einem Instrument unüberwindlicher Macht.«

»Aber wieso denn nur?« fragte Aton.

»Ich habe dir nie den ganzen Wortlaut von Echnatons Fluch erzählt«, antwortete Petach. Er schloß für eine Sekunde die Augen. In seinem Gesicht arbeitete es. »Ich hielt es nicht für nötig - ich Narr! Hätte ich es doch gewußt! Wäre ich doch damals geblieben, um nach dir zu sehen!«

»Den ganzen Wortlaut?« wiederholte Aton. »Was meinen Sie?«

Petach seufzte abermals. Dann drehte er sich mit einer langsamen Bewegung zu Yassir herum und sagte:

»Sag es ihm.«

Auch Aton wandte den Kopf - und unterdrückte nur noch mit Mühe einen Schrei.

Yassir war nicht mehr Yassir. Das hieß - natürlich war er es, aber im Grunde war er es nie gewesen. Er hatte sich nicht etwa verändert. Seine Gestalt, sein Gesicht und die dunklen, wachen Augen, alles war unverändert, aber erst jetzt erkannte Aton ihn wirklich.

Yassir war der Wanderer. Eje. Der Verräter. Der Verfluchte.

»Als der Pharao starb«, sagte Yassir, »da verfluchte er seinen Mörder. Er verdammte ihn dazu, so lange leben zu müssen, bis ein Toter all seine toten Krieger wieder aus ihren Gräbern führt.«

»Du, Aton«, sagte Petach. »Denn du bist der Prophezeite. Du bist im Reich der Toten gewesen, und du bist zurückgekehrt.«

Aton verspürte einen eisigen Schauer. Er versuchte vergeblich zu glauben, was er hörte. Er wußte, daß es die Wahrheit war, aber der Gedanke war so phantastisch, daß er sich einfach weigerte, ihn zu akzeptieren.

»Dann haben wir keine andere Wahl mehr«, flüsterte Petach. »Wir müssen es tun. Jetzt, ehe sie hier sind. Gerieten sie auch nur in deine Nähe, so wäre alles verloren.«

Er hob sein Messer und trat auf Aton zu, und auf seinem Gesicht machte sich ein ebenso entschlossener wie mitleidsvoller Ausdruck breit.

Aber auch Yassirs Züge waren in Aufruhr. Aton konnte regelrecht sehen, welchen Kampf hinter seiner Stirn tobte. Er glaubte Petach, wenn er sagte, daß Eje sich geändert hatte. Die mehr als hundertdreißig Lebensspannen, die er gelebt hatte, hatten ihn geläutert - er hatte mit dem Mann, der er damals gewesen sein mochte, kaum noch mehr als das Aussehen gemein. Er glaubte Petach auch, wenn er sagte, daß sie gemeinsam hier waren, um Osiris und Horus daran zu hindern, Echnatons Prophezeiung zu erfüllen, selbst wenn dies das weitere Leben für Yassir bedeutete. Und trotzdem wußte er, welche Qual Yassir nun durchlebte, hatte er doch das Ende seines Martyriums greifbar nahe vor Augen, die letzte Ruhe, den Frieden, den er sich so lange und so vergebens gewünscht hatte. Vielleicht war das, was er nun erlebte, Echnatons wahrer Fluch, die schlimmste Strafe, die noch auf den Verräter wartete.

»Bist du bereit?« fragte Petach.

Aton nickte tapfer, schloß die Augen und biß die Zähne zusammen, um sich gegen den furchtbaren Schmerz zu wappnen, den er erwartete.

Der Schmerz war grauenhaft, aber er währte nur kurz, denn Petachs Messer hatte kaum seine Schulter berührt, da trat Sascha neben ihn und legte ihm sanft die Hand auf den anderen Arm, und im selben Moment erlosch die sonnenheiße Qual in seiner Schulter. Er spürte nicht einmal mehr, was Petach tat. Ein Gefühl weißer Wärme hüllte ihn ein, und statt höllischer Qual hatte er ein Empfinden von Geborgenheit und Schutz, wie er es nie zuvor im Leben verspürt hatte.

Trotzdem verlor er nach einigen Augenblicken das Bewußtsein.

Er erwachte mit einem tauben Gefühl in der Schulter in Saschas Armen. Es konnte nicht sehr viel Zeit vergangen sein, denn er spürte, wie sich jemand an seiner Schulter zu schaffen machte, und das erste, was er sah, als sich die roten Schleier vor seinen Augen lichteten, war sein Vater, der mit nacktem Oberkörper neben ihm kniete. Er hatte sein Hemd ausgezogen und in Streifen gerissen, um einen Verband zu improvisieren, und in seinen Augen stand eine Verzweiflung geschrieben, die Aton mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit erfüllte.

Es tat gut, einen Menschen bei sich zu wissen, der sich um einen sorgte.

»Beweg dich nicht«, sagte sein Vater rasch, als Aton aufzustehen versuchte. Mit erstaunlicher Geschicklichkeit legte er den Verband fertig an, überprüfte sein Werk mit kritischem Blick und fragte schließlich: »Hast du große Schmerzen?«

Aton lauschte eine Sekunde in sich hinein, aber da war nichts. Seine Schulter war einfach nur taub. Er versuchte den Arm zu bewegen und stellte überrascht fest, daß er es konnte.

»Mir tut überhaupt nichts weh«, sagte er.

»Spiel nicht den Helden«, sagte sein Vater. »Dazu ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment.«

»Aber es ist wahr!« protestierte Aton. Nur zum Beweis seiner Worte setzte er sich auf und hob den Arm. Sein Vater blinzelte überrascht, aber dann machte sich schon wieder Schrecken auf seinem Gesicht breit. Allerdings war sein Blick jetzt nicht mehr auf Aton gerichtet, sondern auf etwas hinter ihm. Beunruhigt drehte Aton den Kopf - und fuhr ebenfalls erschrocken zusammen, als er in Saschas Gesicht blickte.

Sie saß hinter ihm auf den Fersen, und bisher hatte er ganz selbstverständlich angenommen, daß sie ihn gestützt hatte, als er erwacht war - aber die Wahrheit war wohl eher, daß sie sich gegenseitig gestützt hatten. Sascha war kraftlos nach vorne gesunken. Ihr Gesicht war schweißüberströmt und bleich, und sie zitterte am ganzen Leib. In ihren Augen stand eine Qual geschrieben, deren Anblick Aton einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

»Sascha!« rief er erschrocken. »Was hast du?«

Er bekam keine Antwort, aber die junge Frau sank weiter nach vorne, kippte plötzlich zur Seite und wäre hart auf den steinernen Boden gestürzt, hätten Aton und sein Vater nicht rasch zugegriffen und sie aufgefangen. Gemeinsam ließen sie Sascha zu Boden gleiten und drehten sie vorsichtig herum.

»Was ist los mit ihr?« fragte sein Vater.

Aton hätte viel darum gegeben, es zu wissen. Vielleicht, dachte er, ist es dasselbe wie in der Kammer unter der Pyramide. Auch dort hatte irgend etwas an Saschas Kräften gezehrt, und er hatte ihr angesehen, wie schwer es ihr gefallen war, in jenem Raum auszuharren. Und wie ungleich schwerer mußte es dann erst hier für sie sein. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Sie ... sie scheint Schmerzen zu haben.«

»Deinen Schmerz«, sagte eine Stimme hinter ihm. Aton sah auf und blickte in Petachs Gesicht. »Es ist dein Schmerz, den sie erleidet«, sagte Petach, und als Aton antworten wollte, hob er rasch die Hand und machte eine abwehrende Geste. »Das ist der Grund, aus dem sie hier ist - dir zu helfen. Und nun komm. Unsere Zeit läuft ab, und ihr Opfer soll nicht umsonst gewesen sein.«

Aton bemerkte erst jetzt, daß Petach etwas in der anderen Hand hielt; etwas Kleines, Schimmerndes, das zwischen seinen Fingern funkelte und blitzte wie ein Edelstein, aber keiner war. Langsam stand er auf, sah aber noch einmal auf Sascha hinab, ehe er sich vollends zu Petach herumdrehte. Sie lag mit halbgeschlossenen Augen da, und von Zeit zu Zeit kam ein leises Stöhnen über ihre Lippen. Die linke Hand hatte sie auf die Schulter gepreßt, in der der grausame Schmerz tobte, der eigentlich ihm zukam. Aton fühlte sich unendlich schuldig, und er hätte alles getan, um mit Sascha tauschen zu können - aber natürlich hatte Petach recht: Sascha hatte all dies aus keinem anderen Grund auf sich genommen als dem, ihm zu helfen, und er war es ihr einfach schuldig, die Chance zu nutzen, die sie ihm verschaffte.

Petach reichte ihm die Pupille des Udjatauges. Zögernd nahm Aton das Bruchstück entgegen, betrachtete es einen Moment und streckte die Hand dann nach dem Rest des in Gold gefaßten Anhängers aus, den Petach ihm hinhielt. Seine Finger bewegten sich fast von selbst. Rasch und mit einer Sicherheit, als hätte er es hundertfach geübt, setzte er das fehlende Stück in das Udjatauge ein und drehte sich dann um, um auf den Sarkophag zuzugehen. Nofretetes goldenes Gesicht schien ihm zuzulächeln, um ihm Mut zu machen, als er sich ihrem Sarg näherte - und trotzdem blieb er noch einmal stehen, kurz bevor er ihn erreichte.

»Wird es hier wirklich ... sicher sein?« fragte er stockend.

»Nur der, der es in ihre Hände gelegt hat, kann es auch wieder daraus nehmen«, antwortete Petach. »Vertrau mir ein letztes Mal, Aton. Es ist so, wie ich sage: Ohne den Stein bist du nicht mehr als ein sterblicher Mensch, der von keinem Nutzen für sie ist. Und ohne dich ist das Udjatauge nicht mehr als ein Schmuckstück. Wenn diese Nacht vorüber ist, wird auch seine magische Macht erloschen sein, für die nächsten fünfhundert Jahre und vielleicht mehr, bis wieder ein sterblicher Mensch den Tod besiegt und hierherkommt.«

Aton zögerte noch eine letzte Sekunde - und dann trat er mit einem entschlossenen Schritt an den Sarkophag heran und streckte die Hände aus.

»Neiiiiin!«

Der gellende Schrei und das Gefühl von Bewegung erreichten Atons Sinne gleichzeitig. Er spürte die Gefahr und versuchte sich nach vorne zu werfen, um das Udjatauge an seinen angestammten Platz in Nofretetes Hände zurückzulegen, aber er war nicht schnell genug. Yassir prallte mit entsetzlicher Wucht gegen ihn und riß ihn von den Beinen. Das Udjatauge flog in hohem Bogen davon und klirrte meterweit entfernt zu Boden, und während Aton stürzte, sah er, wie Yassir mit weit vorgestreckten Armen nach dem Schmuckstück sprang.

Auch Petach schrie auf. Seine Hände sprühten blaues Feuer, aber Yassir entwickelte eine übermenschliche Schnelligkeit. Mit einer einzigen, blitzartigen Bewegung riß er das Udjatauge an sich und warf sich gleichzeitig zur Seite. Petachs magische Blitze verfehlten ihn um Haaresbreite und sengten ein rotglühendes Loch in den Stein, wo er eben noch gelegen hatte, und dann war Yassir auch schon wieder auf den Beinen, wich ein paar Schritte zurück und preßte das Schmuckstück an sich. Mühsam rappelte sich Aton wieder hoch, machte einen Schritt in Yassirs Richtung und blieb wieder stehen, als er das warnende Funkeln in dessen Augen registrierte. Aton wich rasch wieder zurück und trat an die Seite seines Vaters.

»Tu das nicht«, sagte Petach. Die Worte galten Yassir, und seine Stimme klang drohend. Er hatte die Hände erhoben, bereit, seine magische Macht gegen Yassir einzusetzen, aber aus irgendeinem Grund zögerte er noch.

»Gib es zurück. Du weißt, daß es sein muß.«

»Ich ... ich kann nicht«, stammelte Yassir. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Gesicht zuckte unentwegt, und seine Augen flackerten. Er sah aus wie ein Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes Höllenqualen litt, und das tat er wohl auch in diesem Moment.

»Ich kann dich verstehen«, sagte Petach sanft. »Besser, als du vielleicht glaubst. Aber du weißt, daß ich es nicht zulassen kann.«

»Nein«, beharrte Yassir. »Du ... du begreifst nicht. Er ist der Prophezeite. Er ist der, der ... der Echnatons Fluch brechen kann. Nur er! Er ist der erste in dreitausend Jahren, und vielleicht werden wieder dreitausend Jahre vergehen, bis ein anderer wie er kommt! Ich kann nicht noch einmal so lange warten! Ich ertrage das nicht mehr!«

»Du weißt, was geschehen wird, wenn das Udjatauge und Aton in Osiris' Hände fallen«, sagte Petach. »Ich kann das nicht zulassen.«

»Das ist mir gleich!« widersprach Yassir heftig. »Ich weiß, was ich dir versprochen habe, aber ich kann mein Wort nicht halten. Nicht jetzt. Nicht, wo ich weiß, daß er wirklich der ist, auf den ich so lange Zeit gewartet habe!« Er wich einen weiteren Schritt zurück, das Udjatauge noch immer wie einen Schatz an sich gepreßt.

Petach seufzte tief. Er sah sehr traurig drein. »Also läßt du mir keine andere Wahl«, sagte er. Er streckte die Hände in Yassirs Richtung aus. Seine Finger begannen zu leuchten.

Aber bevor er seine unheimliche Macht erneut einsetzen konnte, geschah etwas, womit keiner von ihnen gerechnet hatte. Ein unheimliches Grollen erklang, und plötzlich ballten sich unmittelbar hinter Yassir die Schatten zu einer tieferen, lebendigen Schwärze zusammen. Von einer Sekunde auf die andere wurde es sehr kalt, und Aton wußte schon, was geschehen würde, noch bevor Horus und Osiris aus der Dunkelheit hervortraten und Gestalt annahmen.

Petach stieß einen keuchenden Schrei aus. Ein sengender blauer Blitz zuckte aus seinen Fingerspitzen und durchbohrte Yassir, doch im selben Moment riß dieser die Arme in die Höhe und warf das Udjatauge hinter sich - direkt in Horus' ausgestreckte Hände!

Yassir wurde von den Füßen gerissen, prallte torkelnd gegen den Falkengott und stürzte. Brust und Rücken seines Gewandes schwelten, und wäre er ein normaler Mensch gewesen, hätte ihn Petachs Blitz sicher auf der Stelle getötet. Aber Echnatons Fluch, der ihn zu dreitausend Jahren Leben verdammt hatte, schützte ihn auch jetzt. Nach einem Augenblick nur stemmte er sich wieder in die Höhe. Sein Gesicht war verzerrt, denn er war vielleicht unsterblich, aber er empfand Schmerz wie jeder andere auch, doch die Qual auf seinen Zügen entsprang nicht nur der körperlichen Pein.

Sein Blick suchte den Atons. »Bitte verzeih mir«, flüsterte er. »Ich ... ich mußte es tun. Ich weiß, was ich dir antue, aber ich ... ich kann nicht noch einmal so lange warten. Dreitausend Jahre sind zu viel. Niemand erträgt eine solche Strafe, auch ich nicht.«

Seltsam - Aton empfand eine grenzenlose Enttäuschung und eine ebenso grenzenlose Furcht vor den beiden Göttergestalten neben Yassir und dem, was sie ihm vielleicht antun würden, aber es gelang ihm nicht, wirklichen Zorn auf Yassir zu verspüren. Er bildete sich nicht ein, wirklich nachempfinden zu können, was es hieß, dreitausend Jahre und mehr leben zu müssen, aber allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit einem Entsetzen, das mit Worten nicht zu beschreiben war.

Nach einer Weile löste sich sein Blick von Yassir und suchte die beiden Götter. Horus betrachtete das Udjatauge, dann reichte er es an die nur aus wogender Schwärze zu bestehen scheinende Gestalt Osiris' neben sich weiter, und nun wies sein ausgestreckter Arm auf Aton. Die Bedeutung dieser Geste war klar.

Aton machte einen Schritt in seine Richtung, aber sein Vater riß ihn grob zurück und vertrat ihm den Weg, um sich schützend zwischen ihn und den Falkengott zu stellen.

»Nein«, sagte er entschlossen. »Ihr bekommt ihn nicht.«

Horus starrte ihn nur an. Aton zweifelte keine Sekunde daran, daß er ihn einfach zerschmettern konnte, so mühelos, wie ein Mensch ein lästiges Insekt zerquetschte, aber er tat es nicht, sondern sah ihn nur aus seinen unheimlichen Falkenaugen an, und nach einer Sekunde begann Atons Vater am ganzen Leib zu zittern. Nach einer weiteren trat er zur Seite.

»Es ist in Ordnung«, sagte Aton ruhig. »Wir haben verloren. Hab keine Angst. Sie werden mir nichts tun. Es ist nicht mein Tod, den sie wollen.«

Er lächelte seinem Vater beruhigend zu, wandte sich wieder zu Horus und Osiris um und machte einen weiteren Schritt, da war Petach mit einem Sprung hinter ihm und riß ihn zurück. Mit schier übermenschlicher Kraft umklammerte er seine Arme und drückte sie an den Körper, und seine andere Hand hob das Messer, mit dem er das Udjatauge aus seiner Schulter entfernt hatte, und preßte die Klinge an seinen Hals.

»Nein«, sagte er entschlossen. »Ihr bekommt ihn nicht. Einen Schritt weiter, und er stirbt.«

Tatsächlich rührten sich Horus und Osiris nicht - aber Aton konnte fühlen, wie sich ihre unheimlichen Kräfte auf Petach konzentrierten. Der Ägypter begann zu zittern, ganz wie sein Vater zuvor. Aber anders als dieser hielt er dem geistigen Angriff der beiden Götter stand. Zumindest vorläufig.

Aton wagte nicht zu atmen. Alles war so schnell gegangen, daß er gar nicht richtig begriffen hatte, wie ihm geschah - und vor allem, warum es geschah. Petachs Hände zitterten so stark, daß das Messer Atons Haut ritzte und ein einzelner, warmer Blutstropfen an seinem Hals herabrann.

»Um Gottes willen, Petach!« keuchte sein Vater. »Was tun Sie?!«

»Ich habe keine Wahl!« antwortete Petach. Seine Stimme klang verzweifelt. »Verstehen Sie doch! Ohne Aton ist das Auge nichts wert! Aber mit ihm kann keine Macht der Welt sie noch aufhalten. Es werden Tausende sterben, wenn Echnatons Krieger erwachen!«

»Aber das können Sie nicht tun!« stöhnte Atons Vater. »Bitte, Petach! Aton kann nichts dafür! Er hat mit eurem Kampf nichts zu tun!«

»Ich muß es tun«, antwortete Petach. »Ich ... kann sie nicht aufhalten. Sie sind zu stark für mich. Aber ich kann auch nicht zulassen, daß es geschieht!«

»Dann sind Sie nicht besser als sie.«

Es war nicht Atons Vater, der diese Worte gesprochen hatte, sondern Sascha. Sie hatte sich in die Höhe gestemmt und stand zitternd da, schwach und mit einem Gesicht, das von Schmerz und Erschöpfung gezeichnet war. Ihr Blick hielt den Petachs gefangen, und die Kraft, die Aton trotz allem darin las, stand der in Horus' oder Petachs Augen nicht nach.

»Er ist nur einer«, antwortete Petach. »Ein Leben gegen Hunderte, vielleicht Tausende. Wenn er sie begleitet, wird unendliches Leid über mein Volk kommen. Und vielleicht auch über Ihres.«

»Vielleicht«, sagte Sascha. »Das wird das Schicksal entscheiden. Aber Sie können das Böse nicht aufhalten, indem Sie Böses tun. Sie wissen, daß ich recht habe.«

Petach begann immer heftiger zu zittern. »Es ... darf ... nicht ... geschehen«, stöhnte er.

»Und Sie dürfen Aton nicht töten«, sagte Sascha leise. »Jedes Menschenleben ist kostbar.«

Aton war, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die Messerklinge an seinem Hals bewegte sich nicht. Petach hatte noch nicht zum tödlichen Stoß ausgeholt, aber erzog die Waffe auch nicht zurück, und Aton wußte, daß die nächste Sekunde über sein Leben oder seinen Tod entscheiden würde. Aber er hatte noch immer keine Angst.

Unendlich langsam senkte Petach das Messer und ließ ihn los. Aton taumelte einen Schritt zur Seite, preßte die Hand gegen den schmerzenden Hals und rang keuchend nach Luft. Sein Vater wollte auf ihn zutreten, aber Sascha hielt ihn zurück, denn schon kamen Horus und Osiris auf ihn zu.

Aton wandte sich noch einmal zu Petach um, während sich ihm die beiden Götter näherten. Petachs Gesicht war mit einem Male so ausdruckslos und starr wie die beiden goldenen Gesichter auf den Sarkophagen, aber in seinen Augen stand eine tiefe Enttäuschung und eine Furcht, die Aton schaudern machte. Und trotzdem wußte Aton, daß er richtig gehandelt hatte. Es war so, wie Sascha sagte: Niemand konnte das Böse bekämpfen, indem er Böses tat.

Horus' Hand berührte seine Schulter, und im selben Moment begannen die Grabkammer und die Gestalten von Petach, Sascha und seinem Vater vor Atons Augen zu verblassen.

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