Der Tempel der Katzengöttin

Die plötzliche Dunkelheit gab ihnen einen zusätzlichen Ansporn. Und wenn Aton bisher noch immer geglaubt hatte, mit seiner Furcht vor dem Dunkel allein zu sein, so bewies die Reaktion der beiden anderen, daß das nicht stimmte. Auch Sascha und Yassir beschleunigten unwillkürlich ihre Schritte, und die letzten Stufen legten sie schon beinahe rennend zurück. Der Ausgang des Treppenschachtes lag unter einem dichten Gestrüpp verborgen, durch das sie sich mühsam hindurchkämpften. Spitze Dornen und Stacheln zerkratzten ihre Haut. Trotzdem atmeten sie alle drei hörbar erleichtert auf, als sie endlich wieder im Freien waren. Erst jetzt spürte Aton, wie dunkel und unheimlich es dort unten gewesen war und wie verbraucht und stickig die Luft. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Stunden wieder frei atmen zu können, und zum ersten Mal seit derselben Zeit hatte er nicht ununterbrochen Angst davor, sich herumzudrehen und die Gestalt eines ihrer unheimlichen Verfolger hinter sich zu erblicken.

»Wo sind wir?« fragte Sascha.

Yassir sah sich einen Augenblick aufmerksam um, ehe er antwortete. »Bubastis«, sagte er dann und deutete auf etwas, was Aton nur als schwarzen Schatten vor einem noch schwärzeren Hintergrund auszumachen vermochte. »Das dort ist der Tempel der Bastet. Wir sind weit außerhalb von Kairo.«

»Also doch«, sagte Sascha kopfschüttelnd. Sie sah auf die Uhr und runzelte plötzlich die Stirn.

»Das ist seltsam«, sagte sie.

»Was?« fragte Aton.

»Sie ist stehengeblieben«, antwortete Sascha. »Zu der Zeit, als wir die Pyramide betreten haben.«

Nach allem, was sie bisher erlebt hatten, hätte Aton das nicht einmal erschrecken dürfen, ja, eigentlich nicht einmal mehr überraschen. Trotzdem spürte er ein neuerliches eiskaltes Frösteln. Vielleicht würde er sich nie daran gewöhnen, mit Mächten zu tun zu haben, die mit den scheinbar unumstößlichsten Gesetzen der Natur spielten wie Kinder mit ihren Bauklötzchen.

»Es muß fast Morgen sein«, sagte Yassir mit einer Geste in den Himmel. »In einer Stunde spätestens geht die Sonne auf.«

Die Aussicht auf das Ende der Nacht und damit der Dunkelheit hätte Aton erleichtern müssen, aber sie tat es nicht. Er konnte nur daran denken, daß sie einen weiteren Tag verloren hatten. Vielleicht, dachte er, war das sogar der einzige Grund für den Angriff der Hundekrieger gewesen. Ihre Chancen, noch rechtzeitig genug zur Baustelle zu kommen, um seine Eltern und all diese ahnungslosen Menschen dort zu warnen, waren praktisch auf Null gesunken.

Saschas Gedanken mußten sich auf ganz ähnlichen Bahnen bewegen wie seine, denn auch sie sah sich eine Weile unschlüssig und mit düsterem Gesicht um und wandte sich dann wieder an den Ägypter. »Und wie kommen wir jetzt zurück?« fragte sie.

»Das wird nicht leicht«, antwortete Yassir. »Es gibt hier eine Bahnlinie, aber ich weiß nicht, wie oft die Züge verkehren. Vielleicht kann ich etwas organisieren«, fügte er hastig hinzu, als er sah, wie Sascha und Aton gleichzeitig erschrocken zusammenfuhren. »Wir sollten so schnell wie möglich die Stadt erreichen. Ich werde versuchen, ein paar Freunde dort anzurufen, die uns helfen können.«

»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, sagte Sascha bestimmt. Sie machte eine fragende Handbewegung. »Welche Richtung?«

Yassir antwortete nicht gleich, sondern sah sich abermals einige Sekunden lang suchend um. Schließlich deutete er irgendwo in die Dunkelheit hinein. »Dort entlang. Der Weg ist etwas weiter, aber ich denke, dafür auch sicherer.«

»Weshalb ist der andere unsicher?« wollte Sascha wissen.

»Es ist nichts«, versicherte Yassir hastig. »Aber wir müßten direkt durch die Tempelruine. Das ist bei dem schlechten Licht nicht ganz ungefährlich.«

Weder Sascha noch Aton widersprachen dem Ägypter. Nach dem, was hinter ihnen lag, verspürten auch sie wenig Lust, einen Tempel zu betreten, der einer der alten ägyptischen Gottheiten geweiht war, gleich, ob sie nun auf ihrer Seite oder der Osiris' oder der anderen stand.

Sie hatten gerade erst einige wenige Schritte zurückgelegt, da ertönte hinter ihnen, genau dort, wo der verborgene Eingang zu dem unterirdischen Flußlabyrinth lag, ein Geräusch, das sie alle drei auf Anhieb erkannten, noch ehe sie herumfuhren und die hundeköpfige Gestalt sahen, die sich mit roher Gewalt ihren Weg durch das Dornengestrüpp brach. Hinter ihr wuchsen ein zweiter, dritter und vierter Schatten aus dem Boden.

»Nach Norden!« schrie Yassir. »Lauft nach Norden.«

Aton hatte keine Ahnung, wo Norden war, und er lief einfach drauflos. Hinter ihnen erschall zorniges Heulen, und das Geräusch splitternder Äste wurde von einem hastigen Trappeln abgelöst, in das sich hechelnde Laute mischten. Aton wußte, daß sie keine Chance hatten, ein Wettrennen mit diesen Kreaturen zu gewinnen, und Yassir schien in diesem Moment zu demselben Schluß zu kommen, denn er schwenkte scharf nach rechts ab, und Sascha und Aton folgten ihm sofort.

»In den Tempel!« schrie Yassir. »Schnell!« Gleichzeitig deutete er auf den schwarzen Umriß, den er noch vor kaum einer Minute unbedingt hatte umgehen wollen.

Die Verfolger kamen immer näher. Aton glaubte ihre hechelnden, heißen Atemzüge bereits im Nacken zu spüren, und die bloße Vorstellung gab ihm noch einmal zusätzliche Kraft, schneller zu laufen. Mit einem gewaltigen Satz überwand er einen Mauervorsprung, der vor ihm aus der Dunkelheit emporwuchs, hörte ein schrilles Jaulen und einen dumpfen Aufprall hinter sich, und plötzlich waren Säulen vor ihm; gewaltige Felsquader und schräg aufeinander zulaufende Wände, zwischen denen nur noch ein kleiner Ausschnitt des Nachthimmels sichtbar war.

»Hier entlang! Folgt mir!« Yassirs Stimme erklang irgendwo in der Dunkelheit vor ihnen. Aton konnte ihn selbst nicht mehr sehen, orientierte sich aber an Saschas Schatten, der dicht vor ihm herhetzte. Sie liefen eine zerborstene, nur aus fünf oder sechs Stufen bestehende Treppe hinauf und stürmten durch etwas, was einmal ein Saal gewesen sein mußte, vorbei an niedergebrochenen Mauerresten, formlosen Schatten, die am Tage sicherlich einen prachtvollen Anblick geboten hätten. Bei der herrschenden Dunkelheit aber verwandelten sie sich in tödliche Fallen. Jeder Schritt schien Aton gefährlicher als der vorhergehende, und ein einziger Fehltritt oder gar ein Sturz konnten das Ende bedeuten, denn die Hundekrieger waren dicht hinter ihnen.

Allerdings hörte er ihre Schritte gar nicht mehr. So wagte er es schließlich, sich trotz des Risikos kurz im Laufen herumzudrehen - und erlebte eine Überraschung.

Er war allein. Die Verfolger waren zurückgeblieben und standen in einer knurrenden, zornig gestikulierenden Gruppe da, fast als stellte der Eingang des Tempels eine unsichtbare Grenze dar, die sie nicht zu überschreiten wagten.

Aton lief noch einige Schritte und blieb schließlich stehen, und nach ein paar Sekunden gesellten sich auch Sascha und Yassir wieder zu ihm. Der Anblick der unschlüssig dastehenden Hundekrieger schien die beiden ebenso zu überraschen wie ihn, denn sie blickten eine ganze Weile schweigend zu der Gruppe zurück, die zwar immer unruhiger und lauter wurde, es aber nicht wagte, näher zu kommen. Auch Aton konnte sich eines abermaligen Fröstelns nicht erwehren, denn das Benehmen der Hundekrieger bewies eindeutig, daß dieser Tempel mehr war als ein Haufen tot daliegender Steine.

»Was haben sie?« fragte Sascha.

»Sie wagen es nicht, den Tempel zu betreten«, antwortete Yassir. »Dieser Ort ist Bastet geweiht.«

»Dann sind wir hier in Sicherheit?«

Yassir zögerte eine Sekunde. »Ich weiß es nicht. Wir können jedenfalls nicht einfach hierbleiben.« Er sah sich einige Sekunden unschlüssig um und deutete dann zögernd in die Richtung, in die sie bisher gelaufen waren. »Dort drüben beginnt die Straße. Wenn wir sie erreichen, haben wir vielleicht eine Chance.«

Die Idee gefiel Aton nicht besonders. Sobald sie den Tempel verließen, würden die unheimlichen Kreaturen sie wieder verfolgen, und er sprach das auch laut aus.

»Das stimmt«, bestätigte Yassir. »Aber der Tempel ist sehr groß. Wenn sie ihn umgehen müssen, verlieren sie viel Zeit. Wenn wir direkt über das Gräberfeld laufen, schneiden wir sicher zwei Kilometer ab.«

»Und es wird bald hell«, fügte Sascha hinzu.

Aton fragte sich, woher sie wußte, daß Osiris' Krieger ihnen nur in der Nacht gefährlich waren. Denn daß sie bisher nur in der Dunkelheit zugeschlagen hatten, bedeutete nicht, daß sie es nicht anders konnten. Doch sie hatten gar keine andere Wahl, als dieses Risiko einzugehen.

Er wollte gerade vorschlagen, hier abzuwarten, bis die Sonne aufging, als Sascha erschrocken die Luft zwischen den Zähnen einsog. In die Gruppe der Hundekrieger war Bewegung gekommen. Zögernd, ununterbrochen jaulend, geifernd und mit kleinen, abgehackten Schritten überwand das erste der unheimlichen Geschöpfe die unsichtbare Grenze, die sie bisher aufgehalten hatte. Längst nicht mehr so schnell wie bisher und auf eine Art, die deutlich machte, wie unangenehm es ihnen war, diesen Boden zu betreten, kamen die Geschöpfe wieder näher. Soviel zum Thema Sicherheit, dachte Aton.

Sie rannten weiter. Auch die Verfolger legten wieder an Tempo zu, und nach einer kurzen Atempause war die wilde Verfolgungsjagd abermals im Gange.

Tiefer und tiefer bewegten sie sich in den Tempel hinein. Die Ruine, die tagsüber vielleicht nur aus zerbrochenen Säulen und Mauerresten bestand, verwandelte sich in der Dunkelheit in ein schier endloses Labyrinth, in dem Aton und Sascha ohne Yassirs Führung bereits nach wenigen Schritten hoffnungslos die Orientierung verloren hätten. Auch so stolperten sie fast blind einher und prallten mehr als einmal schmerzhaft gegen Hindernisse. Yassir lief immer schneller, und schließlich geschah, was geschehen mußte: Sascha blieb plötzlich stehen und sah sich verzweifelt um. Sie hatten Yassir verloren.

Ihre Verfolger schienen indes weitaus besser sehen zu können als sie, denn ihre Schritte kamen bereits wieder näher. Sascha warf einen gehetzten Blick zu ihnen zurück, dann deutete sie nach rechts und lief los. Aton folgte ihr. Sie passierten eine Tür, durchquerten einen langgestreckten Raum ohne Decke und jagten mit Riesensprüngen eine Treppe hinauf. Plötzlich blieb Sascha abermals stehen - die Stufen führten in einen Raum hinauf, den es nicht mehr gab: Vor ihnen waren sieben oder acht Meter Nichts, darunter ein Gewirr von Steinen und Trümmern, auf dem sie zerschmettert wären, hätte Sascha nicht im letzten Moment die Gefahr erkannt.

Allerdings mochte ihre Rettung nur von kurzer Dauer sein, denn noch bevor Aton sich herumdrehte, hörte er schon wieder das Hecheln und die tappenden Schritte ihrer Verfolger.

»Was jetzt?« fragte er verzweifelt.

Seine Gedanken überschlugen sich. Ihre Lage war aussichtslos. Bei hellem Tageslicht und einem anderen Boden als dem Trümmerfeld, das unter ihnen gähnte, hätte er den Sprung vielleicht sogar gewagt, auch wenn er mit Sicherheit mit einem gebrochenen Bein oder Schlimmerem enden mußte. So aber war es glatter Selbstmord. Aber sie konnten auch nicht zurück, denn genau in diesem Moment tauchte der Schatten des ersten Verfolgers am Fuße der Treppe auf.

»Bleib hier!« schrie Sascha. »Ganz egal, was passiert, rühr dich nicht von der Stelle!« Gleichzeitig fuhr sie herum und rannte dem Hundekrieger entgegen.

Ungefähr auf halber Höhe der Treppe stießen sie zusammen. Für einen Moment schienen die beiden ungleichen Gegner zu einem einzigen Schatten zu verschmelzen, dann erscholl ein schrilles Jaulen, und der Hundekrieger segelte plötzlich in hohem Bogen durch die Luft und prallte gegen seinen Kameraden, der mit hüpfenden Sprüngen die Treppe heraufkam. Während die beiden sich überschlagend und übereinanderkugelnd in die Tiefe stürzten, fuhr Sascha herum und rannte auf Aton zu. Sie machte keine Anstalten, stehenzubleiben oder auch nur langsamer zu laufen. Ganz im Gegenteil - plötzlich breitete sie die Arme aus und stieß sich mit aller Kraft ab!

Aton stieß einen gellenden Schrei aus und griff haltsuchend um sich, aber es war zu spät. Saschas Anprall riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn über den Rand der Treppe hinaus. Himmel und Erde begannen sich vor seinen Augen zu überschlagen, und er fühlte, wie er wie ein Stein zu fallen begann. Aber plötzlich erfüllte ein mächtiges, dunkles Rauschen die Luft, ein weißer Wirbel hüllte ihn ein, und dann griff etwas ungemein Sanftes und doch sehr Starkes nach Aton und bremste seinen Sturz.

Trotzdem prallte er so heftig auf, daß bunte Sterne vor seinen Augen tanzten. Stöhnend richtete er sich auf und sah sich nach Sascha um. Sie hockte neben ihm auf dem Boden, unverletzt, wie es schien, aber benommen. Als er sie ansprach, dauerte es eine Sekunde, ehe sie überhaupt reagierte.

»Bist du verletzt?« fragte er.

»Nein«, antwortete Sascha. »Und du?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Aton vorsichtig. Es gab zwar keine Stelle an seinem Körper, die nicht weh tat, aber er schien doch ohne Verletzungen davongekommen zu sein. Und erst in diesem Moment begriff er überhaupt, was geschehen war. Das hieß - eigentlich begriff er es natürlich nicht. »Was ist passiert?« fragte er. In ungläubigem, fast entsetztem Ton fügte er hinzu: »Was hast du getan?«

»Etwas ziemlich Verrücktes, schätze ich«, antwortete Sascha zerknirscht. Sie lächelte unsicher. »Aber wie heißt es so schön: Ungewöhnliche Situationen verlangen ungewöhnliche Maßnahmen.«

»Du weißt genau, was ich meine«, antwortete Aton ernst. »Wie hast du das gemacht? Wir sind nicht-«

»- gesprungen«, unterbrach ihn Sascha in plötzlich scharfem Ton. »Es war riskant, aber es hat funktioniert, oder?«

»Aber das ist unmöglich«, protestierte Aton.

»Wir haben Glück gehabt, das ist alles«, behauptete Sascha. Sie erhob sich und machte eine auffordernde Geste. Aton folgte ihr, aber er zögerte noch eine Sekunde, hob den Kopf und sah zu der Mauerkrone hinauf, von der sie herabgesprungen waren. Gegen den Sternenhimmel zeichneten sich die Schatten der beiden Hundekrieger deutlich ab. Sie hatten sie entdeckt, wagten es aber offensichtlich nicht, auf demselben Wege hier herunterzukommen wie sie - was Aton nur zu gut verstehen konnte.

»Worauf wartest du?« fragte Sascha ungeduldig. Sie rannte los, so daß Aton ihr folgen mußte, ob er wollte oder nicht.

Sie erreichten das andere Ende der Tempelruine, und vor ihnen lag nun eine weite, von niedrigem Gebüsch und Gras bedeckte Ebene: das Gräberfeld, von dem Yassir gesprochen hatte. Von dem Ägypter selbst war keine Spur zu entdecken.

Nach einem letzten raschen Blick in die Runde traten sie aus dem Schatten der Tempelruine heraus und begannen das Gräberfeld zu überqueren. Es war weit größer, als Aton im ersten Moment geglaubt hatte. Unbehelligt überquerten sie die Hälfte des Feldes und sahen schließlich die Straße, von der Yassir gesprochen hatte. Und damit war ihre Glückssträhne vorläufig zu Ende.

Im ersten Moment dachte Aton, es wäre Yassir, als er den Schatten sah, der plötzlich am Straßenrand auftauchte und sich ihnen näherte. Doch dann erschien eine zweite Gestalt hinter der ersten und einen Augenblick später eine dritte. Sascha und er blieben abrupt stehen und fuhren erschrocken herum. Aber auch der Anblick hinter ihnen war nicht viel erfreulicher. Von dem Schatten der Tempelruine hoben sich die dunklen Umrisse von drei, vier weiteren Hundekriegern ab, und auch aus den anderen Richtungen näherten sich die Verfolger.

»O nein!« stöhnte Aton. »Jetzt haben sie uns.«

»Gibst du immer so schnell auf?« fragte Sascha.

Schnell?! Aton hätte gelacht, hätte er die Kraft dazu gehabt. Er war vor diesen Geschöpfen fast um die halbe Welt geflohen und hatte Dinge getan, von denen er vor einer Woche noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte - und Sascha nannte es schnell? Aber Sascha kam seiner Antwort zuvor, indem sie sagte: »Es ist nie vorbei, ehe es wirklich vorbei ist, weißt du? Bleib dicht bei mir. Vielleicht kann ich sie irgendwie ablenken.«

Aton fragte sich, woher sie diesen Optimismus nahm. Ihm selbst war buchstäblich zum Heulen zumute. Sie waren umzingelt. Die Hundekrieger näherten sich aus allen Richtungen, und im Umkreis von Kilometern gab es nichts, wohin er laufen konnte. Er war zu Tode erschöpft. Die Fahrt auf dem Fluß und die Verfolgungsjagd durch die Ruine forderten ihren Tribut.

Die Krieger mit den Hundeköpfen bewegten sich nicht nur auf sie zu, sondern zugleich auch auseinander, so daß sie einen Kreis um Sascha und Aton bildeten, der sich langsam, aber unbarmherzig zusammenzog. Sascha breitete die Arme aus und stellte sich schützend vor ihn; eine Geste von nur noch symbolischer Bedeutung. Der Ring schloß sich langsam weiter. Die Hundekrieger hatten es jetzt nicht mehr eilig, und warum auch? Es war vorbei. Wenn sie nicht sofort und alle zugleich über sie herfielen, dann wahrscheinlich nur noch, weil sie ihren Triumph genießen wollten.

Plötzlich blieben die Krieger stehen. Etwas bewegte sich. Zwischen ihnen. Vor ihnen. Hinter und neben ihnen - mit einem Male war überall Bewegung, als wäre der ganze Erdboden in Aufruhr geraten. Es war nicht wie ein Erdbeben. Der Boden schwankte nicht, sondern wogte und zitterte wie die Oberfläche eines dunklen Sees, unter der sich Millionen winziger Fische bewegten. Und das unheimlichste vielleicht überhaupt war: Das Zittern beschränkte sich nur auf den Bereich, in dem die Hundekrieger standen. Der Kreis, in dessen Zentrum sich Aton und Sascha aufhielten, blieb vollkommen ruhig. Und dann tauchte etwas aus diesem Wogen und Zittern empor.

Zwischen den Füßen des vordersten Hundekriegers schien eine Art übergroßer Maulwurfshügel zu entstehen. Winzige Erdklümpchen und Steine spritzten hoch, und etwas Dunkles, Kleines begann sich mit ruckartigen Bewegungen und sehr schnell an die Erdoberfläche emporzuarbeiten. Und noch bevor Aton auch nur erkennen konnte, was es war, das da so plötzlich aus dem Boden auftauchte, wiederholt sich der Vorgang überall; nahezu gleichzeitig brach an Dutzenden Stellen der Erdboden auf und spie eine Anzahl kleiner, dunkler Körper aus, die Aton im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte. Und als er sie erkannte, brauchte er ein paar Sekunden, um es wirklich zu akzeptieren.

Es waren Katzen. Aton fühlte sich mit einem Mal an sein unheimliches Erlebnis im Museum erinnert, mit dem alles begonnen hatte. Die Geschöpfe, die plötzlich überall zwischen den Hundekriegern aus dem Boden quollen, waren Katzen, aber sie waren es auch nicht. Sie waren es einmal gewesen, aber das war drei-, vielleicht sogar viertausend Jahre her. Was da vor seinen und Saschas ungläubig aufgerissenen Augen aus dem Boden kroch, das waren Mumien. Die Mumien der Tiere, die hier, auf dem berühmten Katzenfriedhof von Bubastis, im Schatten des Tempels der Bastet, beigesetzt worden waren. Sie bewegten sich unsicher, taumelnd und wie benommen, als hätten sie Mühe, nach ihrem jahrtausendelangen Schlaf zu erwachen.

Manche schienen fast unversehrt, andere waren kaum mehr als das zu erkennen, was sie einmal gewesen waren, beinahe formlose Gebilde, die sich mit grotesken Bewegungen dahinschleppten. Aber eines waren ihnen allen gemein: Sie waren kaum aus ihren Gräbern emporgestiegen, da schüttelten sie ihre Mumienbinden halbwegs ab, stürzten sich auf die Hundekrieger und begannen sie mit Zähnen und Klauen zu attackieren.

Es war ein unwirklicher, bizarrer Kampf, der sich noch dazu in fast vollkommener Lautlosigkeit abspielte, was den Anblick noch unheimlicher machte. Die Hundekrieger waren den winzigen Angreifern weit überlegen; ihre Fußtritte und Hiebe schleuderten die Katzen meterweit davon. Aton sah, wie manche der Katzenmumien zu Staub zerfielen, wenn sie von einem Tritt getroffen wurden und zu Boden stürzten. Einige hatten nicht einmal mehr die Kraft, die Hundekrieger zu bekämpfen, sondern schleppten sich nur noch mühsam auf sie zu und blieben auf halber Strecke liegen. Doch was den einzelnen Tieren vielleicht an Kampfkraft fehlte, das machten sie durch ihre Zahl wieder wett. Immer mehr und mehr der unheimlichen Wesen brachen aus dem Boden hervor und drangen auf die Hundekrieger ein, so daß diese schon nach Augenblicken vollauf damit beschäftigt waren, sich der vergleichsweise winzigen Angreifer zu erwehren, und gar keine Gelegenheit mehr fanden, sich ihren eigentlichen Opfern zuzuwenden.

Das war ihre Chance, begriff Aton - und Sascha auch, denn sie fuhren in derselben Sekunde herum und stürmten los. Doch drei oder vier der hundegesichtigen Göttersoldaten schüttelten ihre Gegner ab und liefen auf sie zu. Sascha rannte den ersten einfach nieder und schleuderte den zweiten ebenfalls im vollen Lauf zu Boden. Aber dann stürzten sich zwei der unheimlichen Geschöpfe zugleich aus verschiedenen Richtungen auf sie, und obwohl sie sich tapfer und auch recht erfolgreich zur Wehr setzte, gelang es den Hundekriegern doch zumindest, sie aufzuhalten.

»Lauf!« schrie sie. »Lauf weg, Aton!«

Tatsächlich rannte Aton noch drei, vier Schritte weiter, aber dann blieb er stehen. Obwohl seine Furcht ihn schier zu überwältigen drohte, drehte er sich herum und sah zu Sascha zurück.

Die beiden anderen Hundekrieger hatten sich mittlerweile erhoben und drangen auf Atons selbsternannten Schutzengel ein. Sascha wehrte sich nach Kräften. Es mußte tatsächlich Karate oder etwas Ähnliches sein, das sie beherrschte, denn trotz der vierfachen Übermacht war der Kampf durchaus ausgeglichen - immer wieder schleuderte sie einen der Angreifer zu Boden oder versetzte ihm einen Hieb, der ihn haltlos zurücktaumeln ließ.

Er hätte davonlaufen können, niemand hätte ihn jetzt aufgehalten. Ja, er hätte fliehen können. Aber er tat es nicht, denn er wollte Sascha nicht im Stich lassen.

Aton lief wieder zurück, ergriff einen der Hundekrieger, der sich gerade von hinten an Sascha hatte heranschleichen wollen, am Arm und zerrte ihn so heftig herum, daß die Kreatur vor Überraschung aus dem Gleichgewicht geriet und auf die Knie herabfiel. Fast in der gleichen Sekunde riß Aton seine Hände erschrocken zurück, denn anders als ein Mensch verfügte sein Gegner nicht nur über Hände und Füße, mit denen er ihn attackieren konnte, sondern auch über zwei schreckliche Kiefer, die mit dornenspitzen Zähnen nach ihm schnappten. Aton entging dem heimtückischen Biß, aber er wich hastig zwei weitere Schritte zurück, und das Geschöpf nutzte die Gelegenheit, wieder auf die Füße zu springen und ihn erneut anzugreifen.

Panik ergriff Aton. Die Kiefer des Hundekriegers schnappten ein zweites Mal, diesmal nach Atons Kehle, und er entging dem Biß nur mit so knapper Not, daß die Zähne eine doppelte Spur brennender Kratzer auf seiner Haut hinterließen. Der Hund knurrte und versetzte Aton einen Stoß vor die Brust, der ihn zu Boden stürzen ließ. Aton hob schützend die Arme vor das Gesicht und stieß mit den Beinen nach der Kreatur. Der Hundekrieger wich seinen Tritten mit beinahe spielerischer Leichtigkeit aus und kam näher. Aton kroch rückwärts vor ihm davon, aber er folgte ihm im gleichen Tempo. Seine schrecklichen Fänge waren geöffnet. Aton spürte den heißen, trockenen Atem der Bestie im Gesicht, ihre Zähne blitzten wie weiße Dolche, die sich im nächsten Moment in seine Kehle bohren mußten. Er hörte Sascha entsetzt aufschreien und begann verzweifelt mit den Fäusten auf das Gesicht des Hundes einzuhämmern, aber dieser schien seine Hiebe nicht zu spüren. Es war, als schlüge Aton auf massiven Fels ein. Die Zähne näherten sich seiner Kehle, die Kiefer öffneten sich.

Plötzlich schoß etwas Kleines, Graues durch die Luft, landete mit einem klatschenden Geräusch auf der Brust des Hundekriegers und klammerte sich mit zwei Pfoten daran fest, während es mit den beiden anderen wie besessen auf die Augen und die empfindliche Nase einzuschlagen begann. Der Hund jaulte vor Schmerz, riß den Kopf zurück und versuchte, die Katze von sich herunterzuzerren. Es gelang ihm erst beim dritten oder vierten Versuch, und er wurde nicht nur den Angreifer, sondern auch ein gutes Stück Haut aus seinem Gesicht los.

Knurrend schleuderte er die Katze zu Boden und begann auf ihr herumzuspringen. Die Katze zerfiel unter seinen zornigen Tritten zu Staub, der in großen Wolken zwischen seinen trampelnden Füßen hervorwirbelte.

Aber mittlerweile waren weitere Katzen erschienen, die es ihrer Vorgängerin gleichtaten: Nicht wenige von ihnen verbissen sich in seine Beine und Füße und begannen, das schwarze Fell mit Zähnen und Klauen zu bearbeiten, andere sprangen nach seinem Gesicht, versuchten sich an seine Arme zu klammern, und gleich drei oder vier auf einmal kletterten an seinem Mantel empor, wobei sie offensichtlich reichhaltigen Gebrauch von ihren Krallen machten, dem schrillen Heulen des Hundekriegers nach zu urteilen. Es mußte ein gutes Dutzend Katzenmumien sein, das über ihn hereingebrochen war, aber er erledigte sie eine nach der anderen, und schließlich stand er wieder aufrecht da, schwankend und aus Dutzenden von Biß- und Kratzwunden blutend, sicher auch geschwächt, aber trotzdem noch immer so gefährlich wie vorher.

Aton hatte die winzige Atempause genutzt, wieder auf die Füße zu kommen, und wich nun Schritt für Schritt von dem Hundekrieger zurück. Sascha hatte einen ihrer Gegner mittlerweile vollends zu Boden gestreckt, nun sprang sie vor, ergriff eines der Geschöpfe und schleuderte es mit solcher Wucht gegen das andere, daß beide zu Boden sanken und wimmernd liegenblieben. Fast in der gleichen Sekunde erschien sie neben Aton. Ihr vorgestreckter Fuß traf den Hundekrieger, der ihn verfolgte, und schickte auch ihn zu Boden, aber es war auch jetzt nur eine kurze Zeitspanne, die sie gewonnen hatten. Obwohl der Moment dafür beinahe absurd schien, empfand Aton doch plötzlich ein tiefes Bedauern bei dem Gedanken, daß all diese Katzen nach Jahrtausenden aus ihrer Ruhe erwacht waren, nur um nun endgültig zu sterben; und noch dazu sinnlos. Möglicherweise hatten sie zwei oder drei der Hundegeschöpfe tatsächlich getötet oder zumindest so schwer verletzt, daß sie sich nicht mehr rührten, aber die anderen hatten die große Schwäche ihrer Gegner erkannt und beschränkten sich darauf, sie sich, so gut es ging, vom Leib zu halten und immer wieder plötzlich vorzustoßen, um mit blitzschnellen Hieben, Tritten oder auch Bissen einige der mumifizierten Katzen endgültig zu zerstören.

Sascha ergriff ihn grob an der Schulter und riß ihn unsanft aus seinen Gedanken. »Bravo!« sagte sie ärgerlich. »Das war äußerst intelligent von dir. Warum bist du nicht weggelaufen?«

Aton ersparte es sich, überhaupt darauf zu antworten. Sascha wußte so gut wie er, warum er es nicht getan hatte, und dazu kam noch etwas - ohne daß es nötig gewesen wäre, es auszusprechen, wußten sie beide, daß ihre unheimlichen Verbündeten ihnen nur hier helfen konnten. Bastets Zauber beschränkte sich einzig auf diesen Katzenfriedhof, nicht auf die von Menschen geschaffene Straße dahinter. Hätten sie die nähere Umgebung des Tempels verlassen, hätten ihre Feinde sie zweifellos wieder verfolgt und nach kurzer Zeit eingeholt.

Dieses Wissen war es wohl auch, das Sascha veranlaßte, nicht noch einmal in Richtung der Straße zu laufen, sondern wieder zum Tempel zurückzueilen, wobei sie Aton mit sich zerrte.

Nach wenigen Sekunden erreichten sie das Gewirr aus Steintrümmern und zerbrochenen Mauern, das ihnen vielleicht keine Sicherheit bot, in dem sie sich aber zumindest verstecken konnten. Aton sah verzweifelt in den Himmel hinauf. Er war so dunkel wie zuvor, aber wenn Yassirs Behauptung von vorhin der Wahrheit entsprach, dann mußte es nun wirklich bald hell werden. Das Tageslicht war ihr Verbündeter. Wenn sie sich lange genug verstecken konnten, dann hatten sie vielleicht doch noch eine winzige Chance, diese Nacht lebend zu überstehen.

Der Gedanke erinnerte ihn wieder an Yassir. Sie hatten den Ägypter aus den Augen verloren, und auch wenn Aton nicht wirklich glaubte, daß Yassir in Gefahr sei, so sah er sich doch einen Moment suchend um und wandte sich dann mit einer entsprechenden Frage an Sascha. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich habe ihn nicht gesehen. Vielleicht ist er ja entkommen. Oder hat sich irgendwo versteckt.«

Aton wollte eine weitere Frage stellen, aber Sascha schüttelte den Kopf und deutete mit einer Hand auf das Gräberfeld hinaus. Die Hunde hatten sie bisher nicht verfolgt, und als Atons Blick der Geste folgte, wurde ihm auch der Grund dafür klar.

Die bizarre Schlacht entwickelte sich anders, als er geglaubt hatte. Fast die Hälfte der Hundekrieger lag reglos am Boden, und die anderen sahen sich von einer immer größer werdenden Anzahl mumifizierter Katzen angegriffen. Immer mehr und mehr der Tiere brachen aus dem Boden hervor. Das ganze Gräberfeld schien zu wogender Bewegung erwacht zu sein. Es war ein furchtbarer Anblick, doch zugleich so faszinierend, daß Aton den Blick nicht davon wenden konnte.

Und dabei stand ihm das Unheimlichste noch bevor.

Sascha hob plötzlich den Arm und deutete mit einem überraschten Ausruf zur Straße hinüber. Schweres Rollen und helles Klappern erklang, und plötzlich löste sich etwas aus dem Dunkel. Es war ein zweirädriger, hölzerner Wagen, der von zwei gewaltigen Hengsten in der Farbe der Nacht gezogen wurde. Es war der Streitwagen. Hinter der blind gewordenen goldenen Brüstung stand die Mumie mit Schild und Lanze, aber nun war ein zweiter Passagier hinzugekommen. Aton konnte kaum mehr als seinen Schatten erkennen, doch schon an diesem Schatten war etwas unheimlich Bedrohliches. Er war sehr groß, viel größer als die Mumie, unglaublich breitschultrig und irgendwie von falscher Form, ohne daß Aton dieses Gefühl im mindesten hätte begründen können.

Der Wagen kam sehr schnell näher. Mit einem Mal verlor der Angriff der Katzen mehr und mehr an Stärke, und als der Streitwagen schließlich von der Straße ab- und auf das Gräberfeld einbog, da ließen die überlebenden Tiere eines nach dem anderen von ihren Opfern ab und wandten sich zur Flucht.

Aus der schwarzen Woge, die über die Hundekrieger hereingebrochen war, wurde eine, die vor ihnen zurückwich. Die ersten Tiere hatten bereits die Tempelruine erreicht und suchten in deren Schatten Schutz, so daß Aton instinktiv ein kleines Stück zurückwich, denn obwohl sie ihnen geholfen hatten, auf eine andere Art machten ihm die auf so unheimliche Weise wieder zum Leben erwachten Katzenmumien fast ebenso große Angst wie die Hunde.

Aton konnte den zweiten Passagier des Wagens noch immer nicht genau erkennen, aber das unheimliche Gefühl, das die Gestalt ausstrahlte, war noch intensiver geworden; etwas wie eine unsichtbare Dunkelheit schien den breitschultrigen Riesen zu umgeben, der den Wagenlenker um beinahe zwei Haupteslängen überragte. Trotz der großen Entfernung und der Dunkelheit konnte Aton den Blick der Gestalt deutlich fühlen; er war fast so intensiv wie eine Berührung und so unangenehm, daß er beinahe laut aufgestöhnt hätte.

Der Wagen näherte sich den verbliebenen Hundekriegern und wurde dabei langsamer, und so, wie sein Auftauchen die Katzen in die Flucht geschlagen hatte, schien er den hundegesichtigen Wesen neue Kraft zu verleihen. Noch immer ein wenig zögernd, aber schneller werdend, näherten sie sich der Tempelruine, wobei sie die Katzenmumien, die ihnen in den Weg gerieten, einfach niedertrampelten. Die Katzen ihrerseits versuchten nicht mehr, ihre alten Feinde anzugreifen, sondern suchten ihr Heil einzig in der Flucht.

Doch dann geschah etwas Sonderbares. Je mehr sie sich dem eigentlichen Tempel näherten, desto langsamer wurden die Hunde wieder und desto unwilliger der Rückzug der Katzen.

Schließlich kam der Vormarsch des halben Dutzends spitzgesichtiger Hundekreaturen vollends zum Stehen, und sie hätten auch gar nicht weitergehen können, denn sie sahen sich einer dichtgedrängten Menge aus Hunderten, wenn nicht Tausenden mumifizierter, nichtsdestotrotz aber höchst lebendiger Katzen gegenüber, die eine undurchdringliche Mauer zwischen ihnen und dem eigentlichen Tempel bildete.

Atons Blick löste sich von der unheimlichen Szene und suchte wieder den Kampfwagen. Er war dort stehengeblieben, wo er mit den Hunden zusammengetroffen war. Die Mumie hatte sich nicht gerührt, sondern stand reglos da und starrte zu Aton und Sascha hinüber, aber die andere Gestalt war vom Wagen herabgestiegen und kam nun mit langsamen, gemessenen Schritten näher. Die Hunde wichen respektvoll zur Seite, um ihr Platz zu machen, aber erst als sie die vorderste Linie der Katzenarmee beinahe erreicht hatte, erkannte Aton sie deutlicher.

Und diesmal konnte er einen Schrei nicht mehr unterdrücken.

Von den Füßen bis zu den Schultern glich die Gestalt einem Menschen, wenn auch einem wahren Riesen von mehr als zwei Metern Größe und so breiten Schultern, daß er fast mißgestaltet wirkte. Aber sein Kopf war nicht der eines Menschen. Wie bei den Hundegeschöpfen thronte über seinen Schultern ein Tierschädel - der eines gewaltigen Falken.

»Horus!« flüsterte Sascha. Ihre Stimme bebte vor Entsetzen. »Mein Gott, das ... das ist Horus!«

Aton hätte nicht einmal antworten können, wenn er es gewollt hätte. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und sein Herz schlug plötzlich so hart, daß sein ganzer Körper im Takt seines Pulses zu zittern begann. Er wußte, daß Sascha recht hatte. Er hatte es gespürt, lange bevor er die Gestalt wirklich sah, und trotzdem versetzte ihm ihr Anblick einen Schock, wie er schlimmer nicht hätte sein können. Der Gedanke, einem leibhaftigen Gott gegenüberzustehen, war fast mehr, als er ertragen konnte.

Aber es war Horus. Kein Mensch, der sich eine Maske übergestülpt hatte, keine Laune der Natur - Aton wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß sie tatsächlich dem Falkengott der alten Ägypter gegenüberstanden. Er konnte das unglaubliche Alter und die unvorstellbare Macht dieses Geschöpfes beinahe körperlich spüren. Und die unbeschreibliche Bosheit, die es umgab.

Bis zu diesem Moment war Aton nicht sicher gewesen, daß es so etwas wie das absolut Böse überhaupt gab; sowenig wie das vollkommen Gute. Horus' Anblick aber überzeugte ihn beinahe vom Gegenteil. Vielleicht war dieses Geschöpf nicht immer so gewesen. Vielleicht hatte es einst andere Gefühle gekannt, hatte es gute und schlechte Seiten gehabt, Stärken und Schwächen wie jede denkende Kreatur. Aber wenn, so hatten Jahrtausende, die es am Rande des Vergessens dahingedämmert hatte, all diese Unterschiede ausgelöscht. Ungezählte Jahrhunderte, die es in jenem grauen Schattenreich zwischen Vergessen und Leben hatte existieren müssen, hatten es zu einem Wesen werden lassen, das nur noch aus Zorn und Haß auf alles Lebendige, auf alles Fühlende, auf alles, was in der Lage war, zu lachen und Freude zu empfinden, bestand. Vielleicht war es nicht das Böse an sich, dem Aton gegenüberstand, aber es kam ihm doch so nahe, wie es nur ging. Sein bloßer Anblick lähmte ihn, und das Gefühl seiner Nähe erfüllte ihn mit einer Kälte, die alles, was nicht Angst und Entsetzen war, aus ihm herauszubrennen schien.

Und er war mit diesen Empfindungen wohl nicht allein, denn Sascha ließ plötzlich ein leises Stöhnen hören und trat näher an ihn heran. Zitternd schmiegten sie sich aneinander wie zwei verängstigte Tiere, die sich vor den Gewalten eines Unwetters fürchteten, die sie nicht verstehen konnten.

Auch die Katzen wichen vor Horus zurück, so weit es ging. Aber es waren so viele, daß sie sich gegenseitig behinderten und nicht wenige einfach niedergetrampelt wurden. Und so groß ihre Furcht auch sein mochte, als auf Horus' Wink hin einer der Hundekrieger versuchte, ihre Reihen zu durchbrechen, wandten sie sich um und trieben ihn mit Krallenhieben und Bissen zurück.

Auch Horus blieb stehen, wenn auch - dessen war sich Aton vollkommen sicher - nicht aus Furcht vor den Katzen. Die Geschöpfe konnten ihm sowenig etwas antun, wie Aton oder Sascha es gekonnt hätten. Sein Zögern hatte einen anderen Grund, und Aton wußte auch, welchen. Der Gedanke steigerte seine Furcht ins Unermeßliche, aber er lähmte ihn auch noch mehr.

Der Blick der schwarzen Falkenaugen wanderte für einen Moment über die Armee der Katzen, löste sich dann von ihr, um die Tempelruine abzusuchen, und verharrte dann, direkt auf Aton und Sascha gerichtet.

Es war, als hätte ihn glühende Kohle berührt. Aus der eisigen Lähmung in seinem Inneren wurde ein loderndes, grausames Feuer, das ihn mit einem Schmerz erfüllte, der nicht körperlich war, aber viel schlimmer, als es jede körperliche Pein hätte sein können. Er spürte ... Zorn und einen Haß, der sich mit Worten nicht beschreiben ließ, und eine unvorstellbare Gier nach Leben und Macht. Plötzlich wußte er, daß er sich getäuscht hatte. Dieses Geschöpf würde sich nicht damit zufriedengeben, die Herrschaft über einige wenige Menschen an sich zu reißen oder auch nur über sein früheres Reich. Aton krümmte sich wie in körperlicher Qual, und neben ihm begann Sascha zu zittern und leise zu stöhnen. Atons Schulter pochte. Das leise Kribbeln, das er gewöhnlich bei körperlichen Anstrengungen oder auch großer Aufregung empfand, wurde zu einem qualvollen Hämmern, und er hatte kaum noch die Kraft, sich auf den Beinen zu halten.

Plötzlich riß Horus die Arme in die Höhe, und in derselben Sekunde löste sich etwas Unsichtbares, unvorstellbar Starkes aus seinem Schatten und fuhr unter die Katzen. Wo es sie traf, da zerbarsten sie einfach zu Staub. Binnen Sekunden klaffte in der Katzenarmee eine mehr als zehn Meter breite Bresche, in der nichts Lebendiges mehr war. Und im selben Moment stürmten auch die verbliebenen Hundekrieger wieder vor.

Diesmal versuchten die Katzen nicht mehr, sie aufzuhalten, sondern ergriffen in heller Panik die Flucht. Doch so verheerend dieser Angriff auch gewesen sein mochte, vielleicht rettete er Aton und Sascha das Leben, denn im selben Augenblick, in dem sich Horus' Aufmerksamkeit den Katzen zuwandte, wich die tödliche Lähmung von ihnen, und sie fuhren beide in einer einzigen Bewegung herum und stürmten davon, tiefer in das steinerne Labyrinth der Tempelruine hinein. Hinter ihnen erscholl ein schrilles, enttäuschtes Jaulen, gefolgt von einem Kläffen und Hecheln, und dann erklang ein Geräusch, wie er es nie zuvor im Leben gehört hatte und nie wieder hören sollte: Es war der Schrei eines Vogels, aber so laut, so wild und so voller Zorn und Haß, daß Aton ebenfalls aufschrie und im Laufen die Hände auf die Ohren preßte. Das konnte dem Geräusch nichts von seiner schrecklichen Wirkung nehmen, denn es schien direkt in seinem Kopf zu entstehen, und es war etwas, was er in Wirklichkeit viel mehr fühlte als hörte. Halb blind vor Schmerz und Angst taumelte er weiter, prallte gegen ein Hindernis und wäre gestürzt, hätte Sascha ihn nicht wieder einmal am Arm ergriffen und einfach mit sich gezerrt.

Während sie ihre verzweifelte Flucht fortsetzten, sah Aton immer wieder über die Schulter zurück, und der Anblick schien bei jedem Mal schlimmer zu werden. Die Gestalt mit dem Falkenkopf folgte ihnen, nicht schnell, aber mit der absoluten Unaufhaltsamkeit einer Naturkatastrophe. Hinter ihm schritten die Hundekrieger einher, und die überlebenden Katzen waren in den Tempel zurückgewichen und bildeten noch immer eine lebendige Barriere zwischen Horus und seinen Kriegern und Sascha und Aton. Aber sie versuchten jetzt kaum noch, die Hundegeschöpfe oder gar Horus selbst anzugreifen.

Wo der Falkengott entlangschritt, da zerbarsten sie in kleinen, wirbelnden Staubexplosionen, sobald er auch nur eine nachlässige Handbewegung machte, und den viel größeren Hundekriegern bereitete es nun keine Mühe mehr, die Angreifer abzuschütteln oder fortzuschleudern.

Sie hatten die Ruine bereits fast zur Hälfte durchquert, als Sascha plötzlich stolperte, nach einem letzten ungeschickten Schritt auf die Knie herabsank und dann ganz fiel. Aton wurde mitgerissen. Er konnte seinen Sturz im letzten Moment abfangen und wandte sich um, um Sascha hochzuhelfen.

Die wenigen Sekunden, die sie durch dieses Mißgeschick verloren, waren zu viele. Als sich Sascha, ungeschickt und noch halb benommen von dem Sturz, wieder auf die Füße erhob, waren sie umzingelt. Horus selbst war in einigen Schritten Abstand stehengeblieben und starrte sie aus seinen schrecklichen Vogelaugen an, aber die Hundekrieger hatten sie eingekreist und begannen wieder näher zu kommen. Diesmal war nichts mehr da, was ihnen helfen konnte. Die meisten Katzen waren tot oder geflohen, und die wenigen Tiere, die sich noch in ihrer Nähe aufhielten, stellten keine ernsthafte Behinderung der Hundekrieger dar.

Horus hob wieder die Hände. Und es geschah etwas, was Aton schon einmal erlebt hatte, und da am eigenen Leib. Horus' ausgestreckter Arm deutete auf Sascha. Eine halbe Sekunde lang waren seine Finger gespreizt, dann schlossen sie sich mit einem Ruck zur Faust, und im selben Moment taumelte Sascha zurück, schlug beide Hände gegen die Kehle und begann verzweifelt um Atem zu ringen.

Ihr Schrei wurde zu einem erstickten Keuchen, das nach einer Sekunde ganz verstummte, und ihr Gesicht wurde zu einer Grimasse der Qual. Sie taumelte zwei, drei Schritte rückwärts, sank auf ein Knie herab und krümmte sich. Aton war mit einem Satz bei ihr, aber er konnte nichts tun, als ihre Schultern zu ergreifen und sie festzuhalten. Horus' furchtbarer Zauber erstickte sie. Sie würde sterben, hier und jetzt und vor seinen Augen und ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Horus hätte ebensogut Aton selbst angreifen können, doch Aton begriff plötzlich, daß er dies ganz absichtlich nicht getan, sondern statt dessen sie angegriffen hatte, wohl wissend, daß Aton vermutlich keine Rücksicht auf sein eigenes Leben genommen hätte. Wie jeder Mensch hatte Aton Angst vor dem Tod und viel mehr noch vor einem qualvollen Sterben, aber er hatte doch begriffen, daß es in diesem Ringen der Götter um mehr als ein oder auch hundert Menschenleben ging, sondern um die Zukunft eines ganzen Volkes, ja, vielleicht sogar der ganzen Welt. Möglicherweise hätte er sein eigenes Leben geopfert, aber der Gedanke, daß Sascha an seiner Stelle sterben sollte, war mehr, als er ertrug. Eine Sekunde lang starrte er sie noch hilflos und voller Verzweiflung an, dann fuhr er herum und trat mit einem Schritt zwischen sie und den Falkengott.

»Hör auf!« rief er. »Ich gebe auf. Du hast gewonnen.«

Einen Herzschlag lang blieb Horus' Arm noch reglos ausgestreckt, die Hand weiter geschlossen, und für dieselbe Zeit ruhte sein Blick durchdringend auf Atons Gesicht, und Aton spürte, wie etwas tief in sein Innerstes griff und sich davon überzeugte, daß er die Wahrheit sprach. Horus las nicht seine Gedanken, aber Aton wußte auch, daß es unmöglich war, dieses Geschöpf zu belügen. Schließlich öffnete Horus die Hand und ließ den Arm sinken.

Hinter ihm atmete Sascha keuchend ein und stürzte vollends zu Boden, aber Aton sah sich nicht nach ihr um, sondern hielt dem Blick des Falkengottes ruhig stand. Sein eigener Mut überraschte ihn ein wenig, aber eigentlich war es gar kein Mut. Es war etwas anderes, etwas auch für ihn Neues, das jenseits von Begriffen wie Tapferkeit oder Furcht lag und das vielleicht dem Bewußtsein entsprang, am Ende seines Weges angelangt zu sein, an einem Punkt, an dem ihm Mut sowenig weiterhalf wie Angst und an dem er nichts mehr tun, sondern nur noch abwarten konnte, was mit ihm getan wurde. Statt vor Horus zurückzuweichen, trat er einen weiteren Schritt auf ihn zu und sagte noch einmal: »Laß sie leben. Du kannst mich haben, aber laß sie gehen.«

Es war nicht so, daß er die Stimme des Falkengottes in seinen Gedanken hörte, aber er spürte doch, daß Horus den Handel akzeptierte. Sascha war nicht wichtig für ihn. Nicht einmal wichtig genug, um sie zu vernichten, wenn es keinen Grund dafür gab. Horus starrte ihn an, fünf Sekunden, zehn, schließlich fast eine Minute lang, und dann streckte er abermals die Hand aus und hielt sie fordernd in Atons Richtung.

Aton zögerte noch einmal, für eine allerletzte, kostbare Sekunde, und Horus gewährte ihm diese letzte Gnade, noch ein einziges Mal zu bestimmen, was er tat, dann gab er sich einen Ruck, trat mit einem raschen Schritt auf den Falkengott zu - und wurde so plötzlich und mit so überraschender Kraft zurückgerissen, daß er das Gleichgewicht verlor und rücklings zu Boden stürzte. Der Aufprall war so hart, daß er nur verschwommen sehen konnte. Er erblickte die blondhaarige, schlanke Gestalt Saschas über sich, denn niemand anderer als sie war es gewesen, die ihn im letzten Moment zurückgerissen hatte, aber er konnte sie nicht klar erkennen. Ihre Umrisse waren auf sonderbare Weise verschwommen, und für einen Moment glaubte er, etwas wie ein sanftes Leuchten zu erkennen, das ihre Gestalt umgab. Mit weit ausgebreiteten, erhobenen Armen stand sie zwischen ihm und Horus, und Aton konnte das Aufflammen mörderischer Wut in den Augen des Falkengottes erkennen.

»Rühr ihn nicht an!« sagte Sascha. »Du hast keine Macht über ihn. Du darfst das nicht tun! Ich werde es verhindern.«

Aton spürte so etwas wie Ärger auf Sascha in sich. Verstand sie denn nicht, daß ihr Angriff nicht nur aussichtslos war, sondern sein Opfer im nachhinein sinnlos machte? Horus hatte sein Opfer akzeptiert, und niemand brach einen Handel mit den Göttern. Er würde sie vernichten, und Aton hatte kein zweites Leben, das er noch einmal für sie eintauschen konnte.

Erstaunlicherweise jedoch griff der Falkengott Sascha nicht sofort an. Er stand einfach da und musterte sie, und in dem Moment, in dem er den Arm hob, um sie mit der Beiläufigkeit und Gedankenlosigkeit, mit der ein Mensch ein lästiges Insekt zerquetscht, aus dem Weg zu schleudern, erscholl hinter ihm ein so schrilles Jaulen, daß Aton und Sascha zusammenzuckten und Horus überrascht herumfuhr.

Einer der Hundekrieger war unter einer lebenden, braungrauen Flut verschwunden, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Und praktisch in derselben Sekunde wurden auch die anderen von buchstäblich Hunderten kleiner Angreifer attackiert und augenblicklich zu Boden gerissen. Die Katzen waren zurück. Und sie fielen mit solcher Wut und Schnelligkeit über die Hundekrieger her, daß die dämonischen Geschöpfe buchstäblich in Stücke gerissen wurden, ehe sie auch nur wirklich begriffen, was geschah.

Auch Horus' Reaktion kam zu spät. Zwar konnten Aton und Sascha spüren, wie er abermals jene düsteren Kräfte zu entfesseln begann, die den Tod in die Reihen der Katzen getragen hatten, aber ebenso deutlich spürten sie, daß mit einem Male noch etwas anderes da war, eine zweite, unsichtbare Kraft, die von vollkommen anderer Natur als jene des Horus war, aber ebenso stark, wenn nicht auf ihre Weise sogar mächtiger. Der tödliche Wirbelsturm, der unter die Katzen fuhr, erlosch fast im Augenblick wieder. Trotzdem zogen sich die Tiere nach einigen Augenblicken zurück, denn ihre Gegner waren besiegt. Die Hundekrieger lagen am Boden und regten sich nicht mehr.

Horus wandte sich wieder zu ihnen um, und Aton spürte, wie sich seine furchtbare Kraft abermals sammelte, um sich auf ihn oder vielleicht auf Sascha zu entladen. Die junge Polizistin breitete schützend die Arme aus und wich einen Schritt zurück, blieb dabei jedoch genau zwischen Horus und Aton. Obwohl Aton wußte, wie wenig sie gegen den Falkengott auszurichten imstande war, empfand er für einen Moment eine tiefe Dankbarkeit, denn letzten Endes war er ein wildfremder Mensch für Sascha, und anders als er ihr war umgekehrt sie ihm absolut nichts schuldig. Und trotzdem zögerte sie keinen Sekundenbruchteil, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um das seine zu retten. Auch wenn sie so gut wie er wissen mußte, wie sinnlos es war.

Aber der tödliche Angriff, auf den er gefaßt war, kam auch jetzt nicht. Horus starrte Sascha und ihn aus seinen schrecklichen Raubvogelaugen an, und seine geistige Kraft hatte sich zu einer unsichtbaren Faust geballt, die bereit war, zuzuschlagen und alles zu zerschmettern, was sich ihr in den Weg stellte, aber er tat es nicht. Und plötzlich spürte Aton, daß sie nicht mehr allein waren. Ohne daß er auch nur den mindesten Laut gehört oder etwas gesehen hätte, fühlte er, daß hinter ihnen jemand stand. Erst eine gute Sekunde später, was in ihrer Situation eine endlose Zeit schien, gewahrte er einen Schatten aus den Augenwinkeln, und dann trat Yassir neben sie. Er war nicht allein. In seiner Begleitung trat niemand anderer als Petach aus der Nacht hervor, und da war noch eine dritte Gestalt, die ein schwarzer Schemen blieb, obwohl sie kaum einen Schritt hinter Petach und dem Ägypter stand.

Dann herrschte Schweigen. Petach und Yassir starrten den Falkengott an, und Horus erwiderte ihren Blick aus seinen unergründlichen, alten Augen, und dann, langsam, unendlich langsam, löste sich der geistige Würgegriff. Die körperlose Drohung, die wie der Schatten eines Gewitters über der Szene lag, verging.

Petach wandte sich zu ihnen um. Sein Blick streifte für eine Sekunde Atons Gesicht, aber dann wandte er sich an Sascha und bedeutete ihr mit einer Geste, die Arme herunterzunehmen.

»Tun Sie das nicht«, sagte er ruhig. »Er würde Sie vernichten.«

»Ich bin nicht ganz so hilflos, wie Sie -« begann Sascha, wurde aber von Petach sofort und in sehr bestimmtem Ton, wenn auch mit einem Lächeln, unterbrochen.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er. »Trotzdem: Manchmal reichen Tapferkeit und Mut allein nicht aus.«

Sascha zögerte. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, daß sie Angst hatte, und trotzdem nahm sie die Hände erst herunter, als auch Aton neben sie trat und ihr den Arm auf die Schulter legte.

Petach schenkte ihm ein kurzes, dankbares Lächeln, dann wandte er sich wieder zu der Gestalt mit dem Falkenkopf um.

»Geh!« sagte er ruhig. »Du kannst uns nicht besiegen. Nicht hier.«

Horus schwieg. Lange, endlos lange blickte er Petach an, dann drehte er den Kopf und sah zu der schattenhaften Gestalt hinter Petach und Yassir hin, und schließlich, nach noch längerer Zeit, in der das Schweigen langsam unerträglich zu werden begann, sah er nach Osten. Der Himmel dort begann sich allmählich grau zu färben, der Tag kam.

Aton sollte nie erfahren, was der wahre Grund war, aus dem Horus die Konfrontation in diesem Moment scheute - Petach, der heraufdämmernde Morgen mit dem Licht der Sonne, die sein natürlicher Feind war, oder jene dritte, schemenhaft erkennbare Gestalt. Doch schließlich wandte sich Horus um und begann mit ruhigen Schritten den Weg zurückzugehen, den er gekommen war.

Aton sah ihm mit klopfendem Herzen nach. Der Streitwagen stand noch immer dort, wo Horus ihn verlassen hatte. Langsam ging der Falkengott zu ihm zurück, stieg ein, und sofort setzte sich das Gefährt in Bewegung. Weder sein Fahrer noch Horus selbst sahen noch einmal zu ihnen zurück, doch während der Wagen über das Gräberfeld und schließlich wieder auf die Straße hinausrollte, war nicht nur Aton klar, daß die endgültige Konfrontation nur aufgeschoben war. Die Kraftprobe, die sowohl Petach als auch Horus in diesem Moment noch gescheut hatten, würde kommen. Und das sehr bald.

»Du hast also getan, was ich geraten habe, und bist zu Yassir gegangen«, drang Petachs Stimme in Atons Gedanken. Der Ägypter deutete ein zufriedenes Nicken an, als Aton sich zu ihm herumdrehte. »Das war sehr klug von dir. Und Ihnen -« er wandte sich an Sascha und hob die Hand, als wollte er sie berühren, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als sie instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurückwich, »- möchte ich meinen Dank aussprechen. Ohne Sie wäre Aton jetzt wohl nicht mehr am Leben.«

»Was man von Ihnen wahrlich nicht behaupten kann«, erwiderte Sascha scharf.

Ihre Worte schienen Petach traurig zu stimmen, aber er widersprach nicht. Aton spürte jedoch, daß irgend etwas in ihm vorging - ebenso wie in Sascha, die den Ägypter weiter mit kaum verhohlener Feindseligkeit ansah. Petach wußte mehr über Sascha, als er jetzt aussprach, und vor allem mehr als Aton. Aber vielleicht war es umgekehrt auch genauso. Nicht zum ersten Mal, seit sein Abenteuer begonnen hatte, hatte Aton das Gefühl, von allen Beteiligten der zu sein, der mit Abstand am wenigsten wußte. Und wer war diese dritte, schattenhafte Gestalt, die noch immer hinter Petach und Yassir stand und die Szene schweigend, aber offenbar sehr aufmerksam verfolgte?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen (und kaum eine Sekunde später sollte Aton sehr sicher sein, daß sie genau das getan hatte), wandte die Gestalt in diesem Moment den Kopf und sah nun direkt in seine Richtung, und plötzlich konnte Aton sie deutlich erkennen.

Er hätte nicht überrascht sein dürfen. Tatsächlich hätte er eigentlich wissen müssen, wem er gegenüberstand - aber er stieß trotzdem einen überraschten Schrei aus und prallte einen Schritt zurück.

Die Gestalt war völlig anders, als es Horus gewesen war: Sie war kleiner, schlanker und von fast grazilem Wuchs, und es handelte sich um eine Frau, denn die Umrisse ihres Körpers zeichneten sich unter dem reichgefältetem Gewand ab, das sie trug. Und doch gab es etwas, was sie mit dem Falkengott gemein hatte: Auch ihr Kopf war nicht der eines Menschen. Auf ihrem schlanken Hals thronte der Kopf einer Katze. Aton stand niemand anderem als Bastet gegenüber, der ägyptischen Katzengöttin, der dieses Heiligtum hier geweiht war.

Bei seinem Schrei war auch Sascha herumgefahren und hatte automatisch schon wieder eine gespannte Haltung angenommen, wie um ihn zu verteidigen. Doch auch sie schien ihr Gegenüber in diesem Moment zum ersten Mal wirklich zu erkennen, denn sie verharrte wie gelähmt mitten in der Bewegung, und auch auf ihrem Gesicht machte sich das gleiche fassungslose Erstaunen breit, das Aton verspürte.

»Erschreckt nicht«, sagte Petach. Aber Aton hörte seine Worte kaum. Sein Blick hing wie gebannt am Gesicht der Katzengöttin, und obwohl ihn dessen Anblick mit einer Furcht erfüllte, die jener, die er in Horus' Nähe verspürt hatte, sehr nahe kam, empfand er doch zugleich eine tiefe Bewunderung für dieses Wesen. Es war ein unheimliches Gefühl, einem Menschen mit einem Katzenkopf gegenüberzustehen, viel unheimlicher als das, mit dem ihn Horus' Anblick erfüllt hatte, vielleicht, weil dieses schmale, von zwei großen, jadegrünen Augen beherrschte Gesicht trotz allem noch menschlicher als das des Falken war, und trotzdem war der einzige wirklich klare Gedanke, den Aton in den ersten Sekunden zu fassen imstande war, der, wie unbeschreiblich schön und edel Bastet ihm erschien. Aton hatte Katzen anderen Haustieren bisher niemals vorgezogen, ja, er hatte im Grunde nie wirklich verstanden, warum es Menschen gab, die Katzen für den Inbegriff von Stolz und Schönheit hielten, aber Bastets Anblick änderte das. Er hatte niemals ein Geschöpf gesehen, das ihm so edel erschien, niemals ein Gesicht, in dem sich Sanftmut und Kraft auf so unbeschreibliche Weise vereinten.

»Du ... du bist Bastet, nicht wahr?« flüsterte er.

Die Katzengöttin reagierte nicht. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht änderte sich nicht, und es war nach einigen Sekunden auch Petach, der antwortete, nicht sie: »Ja. Aber ihr müßt sie nicht fürchten. Sie steht auf unserer Seite.«

Ohne daß es einer weiteren Erklärung bedurft hätte, begriff Aton, daß Bastet ihm nicht antworten würde, egal, welche Frage er stellte oder was immer er auch sagte. Vielleicht konnte sie es gar nicht. So wandte er sich mit seiner nächsten Frage auch direkt an Petach, obwohl sie vielmehr Bastet galt.

»Warum hat sie uns geholfen?«

»Weil sie zu denen gehört, die wissen, daß man den natürlichen Lauf der Welt nicht aufhalten kann«, antwortete Petach. Eine leise Spur von Resignation mischte sich in seine Stimme. »Leider ist sie beinahe die einzige, die so denkt. Osiris' und Horus' Einfluß wird immer stärker, je näher die Stunde des Erwachens rückt. Aber sie ist unsere Verbündete. Solange wir uns in ihrer Nähe aufhalten, kann uns nichts geschehen.«

»Na wunderbar«, sagte Sascha spöttisch. »Dann brauchen wir ja nur den nächsten Tag in dieser Ruine zu bleiben.«

Aton fuhr zusammen. Sascha hatte in wenige Worte gekleidet, was er unterschwellig schon die ganze Zeit über gespürt hatte. Ihr Sieg war kein wirklicher Sieg. Horus hatte ihnen nichts anhaben können, das stimmte, aber der Schutz, den ihnen Bastet gewährte, war auf diesen Ort hier beschränkt, das Zentrum ihrer Macht, vermutlich der Ort, an dem sie die letzten dreitausend Jahre verbracht hatte. Sobald sie diesen Tempel verließen, würde die gnadenlose Jagd weitergehen. Und sie konnten nicht einfach abwarten. Der Morgen, der im Osten jetzt immer schneller heraufdämmerte, war der letzte, der ihnen noch blieb, um das Unvermeidliche vielleicht doch noch aufzuhalten.

»Sind Sie deshalb hierhergekommen?« Es fiel Aton schwer, seinen Blick von Bastets Gesicht zu lösen und Petach anzusehen.

Der Ägypter nickte. Ein Schatten huschte über seine Züge. »Ja. Auch für mich ist dies einer der wenigen Orte, an dem ich noch sicher bin.«

»Wo sind Sie gewesen?« fragte Sascha.

»An ... einem schrecklichen Ort«, antwortete Petach und machte zugleich eine Geste, die sie beide erkennen ließ, daß er nicht weiter über dieses Thema reden wollte. »Aber wir sollten nicht über das reden, was war, sondern über das, was ist und sein wird.« Er deutete nach Osten. »Sobald es hell geworden ist, bringe ich euch von hier fort.«

»Von dem einzigen Ort, an dem wir sicher sind?« fragte Sascha mit unüberhörbarem Spott in der Stimme.

»Solange das Licht des Gottes Aton am Himmel steht, seid ihr überall sicher«, antwortete Petach ruhig. »Und die Zeit drängt. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Aton widersprach nicht, obwohl ihm der Gedanke, mit Petach zu gehen, alles andere als behagte. Bisher hatte er jedesmal, wenn er das tat, eine böse Überraschung erlebt, und eine war schlimmer als die andere gewesen. Aber sie mußten zum Staudamm, um seine Eltern und die anderen dort zu warnen, und die Strecke dorthin wäre auch ohne den Umweg, den sie gegen ihren Willen gemacht hatten, lang genug gewesen. Er sprach den Gedanken laut aus, doch Petach schüttelte den Kopf.

»Dieser Ort ist im Moment der letzte, an den du dich wünschen solltest«, sagte er. »Es würde deinen sicheren Tod bedeuten, wärest du auch nur in der Nähe, wenn Echnatons Krieger erwachen.«

»Warum, zum Teufel, haben Sie ihn dann überhaupt hierhergebracht?« fragte Sascha scharf. »Hätten Sie ihn zu Hause gelassen, wäre er sicher gewesen.«

»Nein«, antwortete Petach ruhig. »Zeit und Raum bedeuten für sie nicht dasselbe wie für uns. Aber es gibt Plätze, an denen ihre Macht nichts ausrichten kann. Und an einen solchen werde ich euch bringen.«

»Wer sagt Ihnen, daß wir das wollen?« fragte Sascha.

Petach blinzelte. »Ich verstehe Ihre Feindseligkeit nicht«, sagte er und sprach damit das aus, was Aton genau in diesem Moment dachte. »Ich bin hier, um Aton zu beschützen - ebenso wie Sie.«

»Dessen bin ich mir mittlerweile gar nicht mehr so sicher«, murmelte Sascha. Die Worte galten nicht Petach, aber er hörte sie trotzdem, und die Trauer auf seinem Gesicht wurde größer.

»Es tut mir leid, wenn Sie das so sehen«, sagte er, und es klang nicht nur ehrlich, Aton spürte auch, daß es genauso gemeint war. Sascha wollte antworten, doch Petach schnitt ihr mit einer zugleich sanften wie energischen Geste das Wort ab und machte eine Kopfbewegung zur Straße hin.

»Wir sollten gehen«, sagte er. »Es ist ein gutes Stück zur Stadt, und wir haben keine Zeit zu verlieren.«

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