Anubis

Es war spät in der Nacht, als sie das Haus erreichten, in dem Atons Eltern lebten. Petach hatte den Wagen bis zur Autobahn gelenkt und war dort auf den ersten Parkplatz gefahren, um mit zwei Mullbinden und einigen Streifen Heftpflaster die blutigen Schrammen an Atons Hand- und Fußgelenken mehr schlecht als recht zu verbinden, danach waren sie, ohne noch einmal anzuhalten, durchgefahren. Trotzdem hatte der Zeiger der Uhr am Instrumentenbrett des Mercedes die Zwei schon lange hinter sich gelassen, als sie an ihrem Ziel angekommen waren.

Das Haus lag in völliger Dunkelheit da. Petach parkte den Wagen direkt vor der Tür und hupte dreimal hintereinander - das Gebäude lag inmitten eines großen Gartens, so daß es keine Nachbarn gab, die er damit hätte stören können - und öffnete den Wagenschlag, machte aber eine rasche Bewegung, als Aton ebenfalls aussteigen wollte. »Warte hier«, sagte er. »Ich sehe nach, ob deine Eltern zu Hause sind.«

Warum um alles in der Welt holte Petach ihn eine Woche vor den Weihnachtsferien ab, wenn er nicht einmal wußte, ob seine Eltern überhaupt da waren? Verwirrt beobachtete Aton, wie Petach die wenigen Stufen zur Haustür hinaufeilte und den Klingelknopf drückte.

Es verging eine geraume Weile, bis drinnen im Haus Licht anging und die Tür geöffnet wurde; nur einen Spaltbreit, so weit es die stets vorgelegte Sicherheitskette zuließ. Das Haus war nicht nur das Wohnhaus seiner Eltern, sondern beherbergte auch das kleine Privatmuseum, in dem sich Stücke von unschätzbarem Wert befanden.

Diese Kette war nur eine von zahlreichen Sicherheitsmaßnahmen, die sein Vater auf Anraten der Polizei nach einem Einbruch vor einigen Jahren angebracht hatte. Das nach außen hin zwar große, aber eher unauffällige Landhaus war in Wirklichkeit eine Festung, die zu betreten gegen den Willen seiner Bewohner beinahe unmöglich war. Es zu verlassen übrigens auch.

Aton sah, wie Petach mit jemandem sprach, dann wurde die Tür geschlossen und in der nächsten Sekunde gänzlich aufgerissen, und er sah den Umriß seines Vaters gegen das helle Neonlicht des Flures. Aton öffnete die Wagentür und ging zum Haus hinauf.

»Mein Junge!« begrüßte ihn sein Vater, auf dessen Gesicht noch ein überraschter Ausdruck lag. Er kam ihm einen Schritt entgegen, blieb aber dann wieder stehen und wandte sich an Petach.

»Sosehr ich mich freue, meinen Sohn zu sehen«, sagte er in ärgerlichem Tonfall, »ich verstehe nicht ganz, was das bedeuten soll, geschätzter Kollege.«

Petach machte eine Handbewegung. »Nun, ich war ohnehin in der Nähe, und da ich weiß, daß Ihr Sohn in einigen Tagen sowieso nach Hause gekommen wäre, hielt ich es für eine gute Idee, ihn gleich mitzubringen. Immerhin sind es sechs oder sieben Stunden Fahrt für Sie - und das gleich zweimal. Ich dachte, es wäre Ihnen recht.«

Atons Vater sah aus, als würde er jeden Moment explodieren. Aber er beherrschte sich noch. »Sie hätten mich zumindest informieren können«, sagte er. »Es ist reiner Zufall, daß wir überhaupt zu Hause sind. Und Aton verliert eine Woche Schulzeit.«

Petach machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bei seinem Notendurchschnitt spielt das wohl kaum eine Rolle.«

»Und Direktor Zombeck war damit einverstanden«, ergänzte Aton.

Sein Vater blinzelte. Er kannte Direktor Zombeck - daß er einem Schüler freiwillig auch nur eine Stunde erließ, war schier unmöglich. Aber auf der anderen Seite kannte er auch seinen Sohn und wußte, daß Aton nicht log. Schließlich hob er mit einem resignierenden Seufzen die Schultern und deutete zum Haus.

»Gehen wir erst mal rein«, sagte er. »Es ist kalt. Laßt uns drinnen weiterreden.«

Sie betraten das Haus, und Aton steuerte ganz gewohnheitsmäßig das Kaminzimmer an, das Wohnraum und Bibliothek zugleich war und fast das gesamte Untergeschoß des Hauses beherrschte.

»Aton, warte«, rief ihm sein Vater nach - aber die Warnung kam zu spät. Etwas Schwarzes, ungemein Großes schoß plötzlich um die Ecke, baute sich vor Aton auf und musterte ihn aus dunklen Augen. Das Ungeheuer aus dem Wald! Es war gekommen, um ihn zu holen!

»Er tut dir nichts«, sagte sein Vater. »Er will nur mit dir spielen, das ist alles.« An den Hund gewandt und in strengem Tonfall fügte er hinzu: »Er ist ein Freund. Hörst du? Ein Freund.«

Aton sah seinen Vater zweifelnd an, und dann fiel sein Blick auf Petach. Das Gesicht des Ägypters zeigte einen angespannten Ausdruck. »Wie haben Sie den Hund genannt?« fragte er langsam. »Anubis?«

»Ich fand, der Name paßt zu seinem Aussehen«, bestätigte Atons Vater. »Gefällt er Ihnen nicht?«

»Wer?« fragte Petach ausweichend. »Der Name oder der Hund?«

»Beides«, antwortete Atons Vater. Er klang schon wieder leicht verärgert.

»Es ist ein prachtvolles Tier«, sagte Petach ausweichend. »Nur ...«

»Seit wann haben wir einen Hund?« fragte ihn Aton. Seine Furcht vor dem Dobermann verschwand.

»Seit das letzte Mal eingebrochen wurde«, antwortete sein Vater.

»Eingebrochen?« Aton erschrak. »Wieso -?«

»Es ist nichts passiert«, sagte sein Vater und machte eine beruhigende Geste. »Die Alarmanlage hat sie verscheucht. Deine Mutter und ich waren nicht zu Hause. Aber trotzdem ... Solche Leute sind unberechenbar. Möglicherweise kommen sie wieder, oder es kommen andere, die sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Jedenfalls habe ich mich mit der Polizei beraten, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß ein guter altmodischer Wachhund vielleicht immer noch das sicherste Mittel ist, Langfinger abzuschrecken.«

»Das mag wohl sein«, sagte Petach. Er musterte den Hund von Kopf bis Fuß. »Woher haben Sie ihn?«

»Aus dem Tierheim«, antwortete Atons Vater. Nun klang seine Stimme eindeutig stolz.

»Aus dem Tierheim?« wiederholte Petach überrascht. »Ein solch prachtvolles Tier?« Seine Stimme klang zweifelnd, und Aton konnte das sehr gut verstehen. Er kannte sich bei Hunderassen nicht besonders gut aus, aber er hätte schon blind sein müssen, um nicht zu erkennen, welches Prachtexemplar seiner Gattung der Dobermann mit dem Namen des ägyptischen Totengottes war.

Das Tier war von nachtschwarzer Farbe - dem tiefsten Schwarz, das Aton jemals gesehen hatte. Seine Augen schimmerten goldfarben, und Aton war ziemlich sicher, daß sie im Dunkeln leuchten mußten wie die einer Katze. Er war groß, ein wahrer Riese, selbst für einen Dobermann, und unter dem glatten Fell zeichneten sich geschmeidige Muskelstränge ab.

Der Dobermann blickte Aton ebenfalls durchdringend und sehr aufmerksam an, und Aton war sicher, daß er ihn auf seine Art ebenso mißtrauisch begutachtete wie umgekehrt Aton ihn. Aton hätte eine Menge darum gegeben, zu erfahren, wie diese Musterung ausfiel.

Anubis' Gebiß sah aus, als würde er ab und zu nur so zum Spaß einmal einen Autoreifen zerfetzen oder einen kleinen Baum durchnagen. Diesen Hund hätte er wirklich ungefähr hundertmal lieber zum Freund gehabt als zum Feind ...

Oben im Haus fiel eine Tür, dann näherten sich rasche, leichte Schritte der Treppe. Einen Augenblick später hörte Aton die Stimme seiner Mutter: »Klaus? Was ist los da unten? Wer kommt denn so spätnachts -«

Sie brach mitten im Wort ab und riß erstaunt die Augen auf, als sie Aton erkannte. »Aton?« rief sie. »Was um alles in der Welt ...?« Sie sprach nicht zu Ende, sondern kam die Treppe heruntergelaufen, um Aton so heftig in die Arme zu schließen, daß ihm die Luft wegblieb. Dann ließ sie ihn ebenso abrupt wieder los, schob ihn auf Armeslänge von sich und sah ihn an, als hätte sie ihn jahrelang nicht gesehen statt weniger Monate.

»Daß du hier bist!« sagte sie kopfschüttelnd. »Das ist vielleicht eine Überraschung. Wie bist du denn hergekommen? Und noch dazu um diese Zeit?« Plötzlich erschrak sie. »Ist etwas passiert?«

»Nein«, sagte Atons Vater, noch bevor Aton selbst Gelegenheit zur Antwort fand. Er wies auf Petach. »Herr Petach war gerade in der Gegend, und da hielt er es für eine gute Idee, Aton kurzerhand mitzubringen.«

Er gab sich keine Mühe, seinen Arger darüber zu verbergen, und Petach preßte die Lippen aufeinander. Aber er sagte nichts, kein Wort der Entschuldigung, keinen Versuch der Erklärung; und auch nichts von alledem, was Aton nach seinen geheimnisvollen Andeutungen auf der Fahrt hierher erwartet hatte. »Und darüber werden wir uns jetzt unterhalten«, fuhr Atons Vater fort. »Kommen Sie, gehen wir in die Bibliothek.« Er ging auf die offenstehende Tür des Kaminzimmers zu, und Petach folgte ihm. Aton wollte sich anschließen, aber seine Mutter hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück.

»Komm, laß die beiden in Ruhe miteinander reden«, sagte sie. »Ich koche dir inzwischen einen Tee. Du siehst aus, als könntest du ihn gebrauchen.«

Aton stand der Sinn nicht nach Tee - und seiner Mutter um zwei Uhr nachts garantiert nicht danach, ihn zu kochen. Aber er verstand auch, warum sie wollte, daß er mit ihr kam, und akzeptierte diesen Wunsch.

Sie gingen in die Küche. Seine Mutter trat an den Herd und begann den Wasserkessel zu füllen und die Teekanne vorzubereiten, und Aton setzte sich an den kleinen Tisch unter dem Fenster, an dem er immer saß, wenn er zu Hause war.

Ein Geräusch ließ ihn aufblicken. Anubis war ihnen gefolgt, trat aber nicht ganz in den Raum hinein, sondern blieb unter der Tür stehen und musterte Aton aus seinen gelben Augen.

»Gefällt er dir?«

Aton fuhr so heftig zusammen, daß sein Stuhl etwas nach hinten rutschte, und sah verwirrt zu seiner Mutter hoch. Sie hatte ihre Arbeit beendet und kam langsam auf ihn zu.

»Wie?« fragte er.

»Der Hund«, antwortete sie mit einer Geste auf diesen. »Anubis. Er ist wunderschön, nicht?«

»Ja. Ganz ... wundervoll«, sagte Aton. Er war verwirrt. Wieso irritierte ihn dieser Hund nur so? Er liebte Tiere - Hunde, Katzen, Vögel ... eigentlich alles, was deutlich weniger als sechs Beine hatte - aber dieser gewaltige Dobermann machte ihm angst.

Natürlich, der schlanke, schakalartige Kopf mit den spitzen Ohren und dem gewaltigen Gebiß ähnelte zu sehr dem Phantom, das er im Wald zu sehen geglaubt hatte. Er hatte den Schrecken dieser Begegnung und den über die Art, in der Anubis ihn begrüßt hatte, noch nicht überwunden. Daß ihn der Anblick des Tieres nervös machte, war nur natürlich. Und doch ... das war nicht alles. Etwas im Blick dieses Hundes war unheimlich. Er sah ihn nicht an, wie ein Tier einen Menschen ansehen sollte.

Die Stimme seiner Mutter riß ihn wieder aus seinen Gedanken. »Also, jetzt erzähl mal«, sagte sie. »Wieso seid ihr gekommen?« Sie bemerkte erst jetzt die Heftpflaster auf seinen Händen und an seinem Hals. »Was ist passiert?«

»Wir hatten eine Reifenpanne«, antwortete Aton. »Ich habe Herrn Petach geholfen, den Reifen zu wechseln, und mich ziemlich ungeschickt dabei angestellt, das ist alles.« Für einen Moment war er in Versuchung, ihr von seinem Erlebnis im Wald zu erzählen. Aber er tat es nicht. Nicht weil er Angst hatte, sie würde ihm nicht glauben, sondern aus dem Gegenteil heraus. Im Grunde war er Petach nämlich sehr dankbar dafür, daß er ihm seine Erzählung nicht geglaubt hatte. Er wollte ja selbst nicht glauben, daß er das wirklich erlebt hatte. So schüttelte er nur den Kopf und sagte bekräftigend: »Nur ein paar Kratzer.«

Der Blick seiner Mutter machte klar, was sie von dieser Antwort hielt. Aber sie ließ es für den Moment dabei bewenden, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Also«, sagte sie. »Raus mit der Sprache. Das ist doch nicht alles. Was war wirklich los?«

Aton zögerte noch eine Sekunde, aber dann beichtete er seiner Mutter den Zwischenfall im Museum, wobei er allerdings das eine oder andere Detail wohlweislich wegließ. Die Geschichte, die er ihr erzählte, war identisch mit der, die er auch Zombeck und den anderen erzählt hatte. Wahrscheinlich ist es ohnehin die Wahrheit, dachte er. Mumien, die sich plötzlich bewegen? Jetzt, mit dem Abstand von mehr als einem Tag und in der Sicherheit seines Zuhauses, kam ihm diese Geschichte beinahe lächerlich vor.

»Du warst also dabei?« fragte seine Mutter, als er geendet hatte.

Aton fuhr wieder zusammen. »Ihr ... ihr wißt schon davon?« Aber Zombeck hatte ihm doch versprochen, seinen Eltern nichts zu sagen!

»Es kam im Fernsehen, in den Abendnachrichten«, sagte seine Mutter. »Allerdings hatte ich keine Ahnung, daß du an der Geschichte beteiligt warst. Dein Vater natürlich auch nicht. Gottlob«, fügte sie leise hinzu.

»Im Fernsehen?« stotterte Aton. »Aber wieso denn? Es ist doch niemand verletzt worden. Ich meine -«

»Anscheinend weißt du es noch nicht«, unterbrach ihn seine Mutter. »Die Geschichte geht noch weiter. Die beiden Mumien sind verschwunden.«

»Verschwunden?« murmelte Aton. Eine eisige Hand schien plötzlich zwischen seinen Schulterblättern zu liegen. »Wie ... wie meinst du das, verschwunden?«

»Eben verschwunden«, sagte sie. »Sie haben sie zurück an die Universität gebracht, wo sie versuchen wollten, sie wieder halbwegs instandzusetzten. Anscheinend haben dieser Werner und seine Freunde ziemlich viel Schaden angerichtet. Aber heute morgen waren sie fort. Wie es aussieht, ist jemand heute nacht in den Keller der Universität eingestiegen und hat die beiden Mumien gestohlen. Der Fernsehkommentator hatte sich zwar darüber belustigt geäußert, aber dein Vater war ganz aus dem Häuschen. Du weißt, wie er an solchen Dingen hängt.« Sie schüttelte den Kopf. »Man hätte meinen können, er wäre bestohlen worden, nicht das Museum.«

»Ist er deshalb so schlecht gelaunt?« fragte Aton.

Er schien einen wunden Punkt bei seiner Mutter getroffen zu haben, denn ihr Gesicht verdüsterte sich. »Weißt du«, begann sie langsam. »Es gibt Probleme auf der Baustelle.«

Aton begriff. Seine Mutter sprach von dem Staudamm, an dessen Konstruktion und Bau sein Vater seit gut fünf Jahren maßgeblich mitwirkte. Probleme hatte es dabei vom ersten Tag an gegeben, und Aton hatte genug von der Arbeit seines Vaters aufgeschnappt, um zu wissen, daß es sie auch bis zum letzten Tag geben würde. Bei einem Projekt dieser Größe konnte einfach nicht alles klappen, das war beinahe ein Naturgesetz. Aus diesem Grund war ihm auch sofort klar, daß es sich jetzt um etwas ganz Spezielles handeln mußte.

»Große Probleme?« fragte er.

Seine Mutter nickte. Sie sah ihn nicht an. »Wir werden nach Ägypten fliegen müssen«, sagte sie. »Und so, wie es im Moment aussieht, wird es eine ganze Weile dauern, bis wir zurückkommen. Wochen, wenn nicht Monate.«

»Das heißt, daß wir Weihnachten wieder einmal in der Wüste feiern«, seufzte Aton. Der Gedanke erfüllte ihn nicht unbedingt mit Begeisterung. Er hatte sich darauf gefreut, ein besinnliches Weihnachtsfest mit seinen Eltern zu verbringen, so richtig altmodisch, mit Tannenbaum, Schnee und allem, was dazugehörte. Andererseits - drei Wochen Ägypten waren auch nicht zu verabscheuen. Wenigstens hatte er etwas zu erzählen, wenn er ins Internat zurückkehrte.

Dann begegnete er dem Blick seiner Mutter - und begriff schlagartig, daß sie ihm die wirklich schlechte Neuigkeit noch gar nicht verraten hatte. Plötzlich spürte er einen bitteren Kloß im Hals.

»Ich ... kann nicht mit«, sagte er leise. »Nicht wahr?«

»Ja«, antwortete seine Mutter. »Du mußt das verstehen. Es gibt wirklich große Schwierigkeiten, Aton. Ich weiß auch noch nichts Genaues. Es scheint auch um Politik zu gehen. Du kannst auf gar keinen Fall mitkommen. Dein Vater wollte nicht einmal, daß ich ihn begleite.«

»Aber es ist Weihnachten!« protestierte Aton. Der Kloß in seiner Kehle wurde größer und schien jetzt Stacheln zu haben. Seine Augen brannten. Er hielt die Tränen mit aller Macht zurück, aber natürlich sah seine Mutter sie trotzdem.

»Bitte, Aton, versuch das zu verstehen«, sagte sie.

Sie griff nach seiner Hand, und für einen Moment mußte Aton gegen den Impuls ankämpfen, sie zurückzuziehen. Er tat es letztlich nicht, aber auch das entging ihr nicht, und sie nahm ihre Hand traurig von selbst zurück.

»Es wird nicht nur anstrengend, es kann durchaus gefährlich werden. Wir können dich unmöglich mitnehmen. Wenn dir etwas zustoßen würde ...«

»Warum geht ihr dann?« fragte Aton. »Wenn es gefährlich wird -«

»Ich sagte, es kann gefährlich werden«, unterbrach ihn seine Mutter sanft. »Und dein Vater muß gehen, das weißt du doch. Er hat nun einmal eine verantwortliche Stellung. Er verdient sehr viel Geld an diesem Projekt, und für seine Firma stehen unzählige Millionen auf dem Spiel. Außerdem - du weißt, wie er ist. Dieser Staudamm ist sein Leben.«

Sie sprach nicht weiter, obwohl es sicherlich noch tausend Dinge gegeben hätte, die sie hätte sagen können. Doch wozu? Es war Weihnachten, und er war zu Hause und würde morgen oder spätestens übermorgen wieder abreisen und die Feiertage im Internat oder bei irgendeinem Verwandten verbringen, so einfach war das.

»Hat Zombeck das gewußt?« fragte er.

»Nein«, antwortete seine Mutter. »Ich wollte ihn anrufen, aber dein Vater war dagegen. Wäre Petach nicht gekommen, dann wären wir morgen nach Stuttgart geflogen, um es dir selbst zu sagen. Es tut mir unendlich leid, aber ... du kannst nicht mitkommen. Wir haben schon mit Großmutter gesprochen. Du kannst die Ferien bei ihr verbringen, wenn du willst. Oder bei Tante Sophie.«

»Oder im Internat«, sagte Aton bitter.

»Bitte, Aton«, seufzte sein Mutter. »Ich verstehe dich ja, aber ...« Sie sah ihn traurig an und stand dann wortlos auf, um wieder zum Herd zu gehen.

Während sie die Tassen aus dem Schrank nahm, drehte sich Aton zum Fenster und starrte in den dunklen Garten hinaus. Er spürte, daß er die Tränen nun wirklich nicht mehr zurückhalten konnte.

Für einen Moment haßte er diesen verdammten Staudamm und dieses ganze verdammte Ägypten, das ihm seine Eltern gestohlen hatte und ihm jetzt auch noch diese Ferien nahm. Aber er wußte auch, wie dumm dieser Gedanke war und wie falsch. Der Staudamm konnte nichts dafür, daß irgendeine Regierung beschlossen hatte, ihn zu bauen, und das Land konnte nichts dafür, daß sein Vater für den Bau dieses Jahrhundertwerkes verantwortlich war - sowenig, wie sein Vater im Grunde etwas dafür konnte, daß ihn dieses Land und seine Geschichte zeit seines Lebens über die Maßen fasziniert hatte. Niemand konnte aus seiner Haut.

Trotzdem tat es weh. Er hatte sich ein halbes Jahr lang darauf gefreut, nach Hause zu kommen. Und jetzt das! Es war ... einfach nicht gerecht!

Etwas Weiches, Kühles berührte seine Hand. Aton blickte hinunter - und zuckte zusammen, als er sah, daß es der Hund war. Anubis war trotz seiner Größe vollkommen lautlos näher gekommen und hatte ihn mit der Nase angestubst. Hätte Aton es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, einen verständnisvollen Ausdruck in den Augen des Hundes zu erblicken. Es war, als spürte das Tier, was in ihm vorging, und wäre zu ihm gekommen, um ihn zu trösten.

»Ein lieber Kerl, nicht?« sagte seine Mutter. Sie hatte den Tee fertig und stellte eine Tasse vor ihn auf den Tisch.

»Hm«, machte Aton.

»Ich weiß, er sieht furchteinflößend aus«, fuhr sie fort und kraulte den Hund hinter den Ohren, »aber er ist der bravste Hund, der mir je begegnet ist. Außer wenn man ihm befiehlt, jemanden anzugreifen - dann möchte ich nicht in dessen Haut stecken.«

»Das tut derjenige dann wahrscheinlich auch nicht mehr lange«, sagte Aton.

Seine Mutter lächelte flüchtig, obwohl sie Scherze dieser Art normalerweise gar nicht mochte, und drehte sich dann wieder zum Herd. »Ich bringe deinem Vater und Herrn Petach auch eine Tasse«, sagte sie. »Sie werden sie brauchen. Außerdem will ich mich davon überzeugen, daß Vater nicht zu weit geht. Schließlich hat es Herr Petach nur gut gemeint.«

Sie stellte zwei Tassen und die Kanne auf ein Tablett, streichelte noch einmal über Anubis' Kopf und ging schnell aus der Küche. Aton sah ihr aus brennenden Augen nach. Plötzlich hatte er Lust, laut loszuheulen, und vielleicht hätte er es tun sollen, denn danach hätte er sich bestimmt besser gefühlt. Aber er tat es nicht - er war fünfzehn und somit in einem Alter, in dem er noch glaubte, es wäre ein Zeichen unbedingter Männlichkeit, jeden Schmerz klaglos zu ertragen.

Er sah auf Anubis, und wieder verspürte er einen raschen, eisigen Schauder. Der Hund stand einfach nur da, reglos, mit wachsam aufgestellten Ohren und auf die Seite gelegtem Kopf und sah ihn an, und er war schlicht und einfach ein Hund, ganz bestimmt nicht mehr. Und doch ... tief, tief in seinen goldgelben Augen glomm ein Feuer, das dort nicht hingehörte.

Und da war noch etwas.

Seine Mutter hatte den Hund gestreichelt, ehe sie hinausging, mit einer ganz beiläufigen, selbstverständlichen Bewegung, mit der man eben einen Hund streichelte, den man mochte, ohne sich viel dabei zu denken.

Nur: Seine Mutter konnte Hunde nicht ausstehen.

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