Das Geheimnis der Pyramide

Aton konnte sich nicht erinnern, daß ihm jemals zwei Stunden so lang geworden wären wie die nun folgenden. Er sah immer öfter auf die Uhr. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er begriffen hatte, daß Yassir sie zu einem geheimen Raum in der Cheopspyramide führen wollte. Archäologen, Wissenschaftler und Hobbyforscher hatten die drei Pyramiden auf alle nur erdenklichen Weisen untersucht und erforscht, vermessen und ausgelotet. Es gab buchstäblich keinen Quadratzentimeter in ihrem Inneren, der nicht zigfach kartographiert, fotografiert, untersucht und aufs genaueste studiert worden wäre. Und Yassir erzählte von einem Raum, den nur er kannte?

»Glaubst du, daß er die Wahrheit sagt?« fragte Sascha plötzlich. »Ein geheimer Ort in der Cheopspyramide!« Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt fast zu phantastisch, um wahr zu sein.« Sie lachte. »Am Ende zeigt er uns noch das Pharaonengrab, das nie gefunden wurde.«

Aton lächelte ebenfalls, aber er konnte ein leises Schaudern nicht ganz unterdrücken. Sascha sprach genau das aus, was er eben gedacht hatte. Er wollte antworten, aber in diesem Moment entdeckte er etwas, was seine Blicke auf sich zog. Unter der Tür des Cafes war eine Gestalt erschienen, ganz in einen schwarzen Mantel gehüllt und mit so weit nach vor gezogener Kapuze, daß ihr Gesicht nicht zu sehen war. Sie blieb direkt unter der Tür stehen, und obwohl Aton nichts erkennen konnte, wußte er doch mit Sicherheit, daß die Gestalt ihn und Sascha unverwandt anstarrte.

»Was hast du?« fragte Sascha. Atons plötzliche Nervosität war ihr nicht entgangen.

»Nichts«, antwortete Aton eine Spur zu hastig. Sascha sah ihn mißtrauisch an, dann blickte sie zu der Gestalt an der Tür hinüber - und dann tat sie etwas, was Aton erschrocken zusammenfahren ließ. Sie stand auf und ging mit schnellen Schritten auf die Gestalt zu. Diese fuhr zusammen, wirbelte herum und rannte mit wehendem Mantel davon.

Aton dachte an sein unheimliches Erlebnis vom vergangenen Abend, und plötzlich tat es ihm leid, Sascha nichts davon erzählt zu haben. Doch aus irgendeinem Grund brachte er es auch jetzt noch nicht fertig, ihr davon zu berichten. Er sah auf die Uhr und stand dann auf. »Es wird Zeit. Laß uns zurückgehen.«

Die zwei Stunden waren noch nicht ganz um. Sascha warf noch einen Blick hinaus auf die Straße, in die Richtung, in die die Gestalt in dem schwarzen Mantel verschwunden war, dann winkte sie den Wirt herbei, bezahlte die Rechnung und verließ hinter Aton das Café.

Es war ein wenig wärmer geworden. Die Sonne stand fast im Zenit, und das klare Licht und die Helligkeit machten es Aton schwer, zu glauben, daß sich zu Hause die Menschen darauf vorbereiteten, das Weihnachtsfest zu feiern.

Die Straßen hatten sich ziemlich geleert. Als sie gekommen waren, hatte es hier von Touristen aller Nationalitäten nur so gewimmelt. Mittlerweile waren die Reisegruppen, die zusammen mit ihnen in Gizeh eingetroffen waren, wieder in ihren Bussen zurückgefahren, und offensichtlich war die nächste Invasion von Menschen mit Fotoapparaten und Videokameras noch nicht eingetroffen. Jedenfalls lag die unmittelbare Umgebung wie ausgestorben da. Aton sah nur drei oder vier Einheimische. Keine schwatzenden Amerikaner, keine fotografierenden Japaner, keine Deutschen, die nach irgend etwas Ausschau hielten, was sie kaufen konnten - er und Sascha schienen die einzigen zu sein, die nicht hierhergehörten, als hätte ein Zauber die Straßen und Häuser um tausend Jahre in die Vergangenheit versetzt.

»Unsinn«, murmelte er.

Sascha sah ihn fragend an. »Wie bitte?«

»Nichts«, sagte Aton rasch.

Sascha blieb stehen. »Ich finde es nicht gut, daß du Geheimnisse vor mir hast«, sagte sie. »Wenn wir zusammen diese Sache durchstehen wollen, dann sollten wir einander vertrauen.«

»Es ist ...« begann Aton. »Der Mann vorhin ... Gestern abend im Hotel, als du nicht da warst ... jemand war an der Tür.«

Sascha erschrak. »Hast du das Zimmer verlassen?«

»Nein«, beeilte sich Aton zu versichern, »jedenfalls nicht richtig. Ich war nur ganz kurz vor der Tür und auch nur einen Schritt weit. Aber jemand war da. Der Mann vorhin erinnerte mich irgendwie an ihn.«

»Das hättest du mir sagen sollen.« Saschas Stimme klang ernst. »Wenn sie uns bis hierher gefolgt sind, dann könnte Yassir in Gefahr sein.«

Und was ist mit uns? dachte Aton. Saschas unerschütterlicher Glaube daran, daß ihm nichts passieren konnte, solange er nur in ihrer Nähe blieb, irritierte ihn immer mehr. Zumal er berechtigt zu sein schien. Sicher, es war ein paarmal knapp gewesen - aber sie waren ihren Verfolgern jedesmal entkommen, auch wenn die Situation noch so ausweglos schien.

»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, sagte er. »Vielleicht fange ich an, Gespenster zu sehen.«

»Hoffentlich nicht«, antwortete Sascha. »Und wenn, dann sag mir bitte Bescheid.« Es sollte ein Scherz sein, aber die beabsichtigte Wirkung verkehrte sich ins Gegenteil. Aton fröstelte plötzlich. Während sie weiter auf die Pyramiden zugingen, sah er sich immer wieder um. Doch von Männern in schwarzen Mänteln oder gar anderen Verfolgern war nichts zu sehen. Dafür verstärkte sich das Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie fanden Yassir bei seinem Zelt. Er redete lautstark und gestikulierend mit drei anderen Ägyptern, und der Tonfall und der Ausdruck auf den Gesichtern der Männer sagten Aton, daß es sich keineswegs um eine freundschaftliche Unterhaltung handelte. Als Yassir sie bemerkte, hielt er inne und sah sie unfreundlich an. Dann beendete er die Diskussion mit einem einzigen befehlenden Wort, worauf sich die drei anderen Männer murrend zurückzogen.

Yassir wandte sich an Aton und Sascha. »Ihr kommt früh«, sagte er in tadelndem Ton.

»Wir waren -« begann Aton, wurde aber sofort von Yassir unterbrochen, der eine unwillige Geste machte.

»Gehen wir«, sagte er. »Der Weg ist weit, und wir haben nur zwei Stunden, bis der nächste Bus kommt.«

Aton und Sascha tauschten einen verblüfften Blick. Hatte Yassir sich nicht eben erst beschwert, daß sie zu früh seien? Aber der Ägypter schien ebenso nervös zu sein wie sie. Sie folgten Yassir, aber diesmal achtete Aton ganz genau, wohin dieser seine Schritte lenkte. Nein, es war kein Zufall. Der Ägypter mied den Schatten der Sphinx und machte sogar einen kleinen Umweg, um im hellen Sonnenlicht zu bleiben. Auch Sascha entging dieses Verhalten nicht. Sie runzelte die Stirn.

Yassir ging direkt auf die Cheopspyramide zu, das größte der drei gewaltigen Bauwerke. Ihr Eingang, den sie über einige ausgetretene Stufen erreichten, war mit einem eisernen Gitter verschlossen. Aton war bereits im Inneren der Pyramide gewesen und wußte, daß es nur aus langen, niedrigen Gängen und leeren Kammern bestand. Wie viele Besucher, war auch er damals enttäuscht gewesen, daß keine Schätze zu sehen waren. Bis heute gab es immer wieder die Vermutung, daß die eigentliche Grabkammer des Pharaos noch in einem nicht entdeckten Bereich der Pyramide liege, doch hatte keine der dahingehenden Bohrungen einen Beweis dafür erbracht.

Yassir zog einen Schlüssel aus den Falten seines Kaftans hervor und öffnete das Gitter. Er wartete, bis Aton und Sascha nachgekommen waren, und sperrte das Gitter wieder zu. Dann brachte er einen Handscheinwerfer unter seinem Gewand zum Vorschein, das außer Yassirs dürrer Gestalt offensichtlich noch ein ganzes Warenlager zu enthalten schien. Während er ihn einschaltete und den gebündelten, sehr starken Lichtstrahl in den schräg abfallenden Gang vor ihnen richtete, drehte sich Aton noch einmal um und sah durch das Gitter hinaus.

Am Fuß der Pyramide stand eine Gestalt in einem schwarzen Mantel und blickte zu ihnen herauf.

Sie folgten Yassir den engen Gang hinunter. Es gab elektrisches Licht an der Decke, das aber nicht eingeschaltet war.

Trotzdem reichte auch der Schein von Yassirs Lampe aus, ihnen zu zeigen, was die Menschen, die hiergewesen waren, hinterlassen hatten. Eine zusammengeknautschte Zigarettenpackung, ein ausgebranntes Blitzlicht, ein Blatt Papier ... einmal kamen sie an einer Stelle vorbei, an der jemand etwas mit Filzstift an die Wand gemalt hatte. Der Anblick stimmte Aton traurig. Er hatte nie verstanden, warum manche Menschen so wenig Respekt vor Dingen wie diesen hatten. Gleich um welchen Glauben es sich handelte, dieses Bauwerk stellte ein phantastisches Monument menschlichen Schaffens dar. Es gehörte sich einfach nicht, so etwas zu tun - und im übrigen standen auch schwere Strafen auf einen derartigen Frevel.

Nun erreichten sie eine Abzweigung, die in einem stumpfen Winkel nach oben führte. Aber Yassir schritt weiter in die Tiefe hinab, bis sie bei einer kleinen Kammer anlangten, die vollkommen leer war. Die Wände waren geschwärzt vom Ruß der Fackeln, die hier einst gebrannt hatten. Nur hier und da konnte man noch Spuren von Reliefs erkennen. Sascha sah sich staunend um, während Yassir an die gegenüberliegende Wand trat und sie mit den Fingerspitzen abzutasten begann.

»Wofür war diese Kammer gedacht?« fragte Sascha.

»Die Ägypter haben oft falsche Grabkammern und blinde Gänge angelegt, um Grabräuber zu täuschen«, antwortete Aton. »Fast alle Pharaonengräber wurden aufgebrochen und geplündert - und das ist ja kein Wunder. Die Gräber waren überaus kostbar ausgestattet, mit Gold und Edelsteinen.«

Er hätte sich bestimmt noch weiter in Beschreibungen verloren, wenn nicht ein lautes Knacken zu vernehmen gewesen wäre. Aton und Sascha wandten sich zu Yassir um - und Aton erstarrte, als er sah, wie sich ein Stück des Reliefs, über das Yassirs Finger glitten, zu bewegen begann. Nur einen Augenblick später zitterte die ganze Wand. Staub begann von der Decke zu rieseln, und das Zittern und Beben setzte sich nun auch am Boden fort. Aton hörte einen unheimlichen, hohl knirschenden Laut, der von überallher zugleich zu kommen schien und etwas ungeheuer Machtvolles an sich hatte. Er glaubte regelrecht zu spüren, wie sich tief unter seinen Füßen eine uralte Mechanik in Bewegung setzte und tonnenschwere Steinquader von ihren Plätzen löste. Langsam, begleitet von einem Geräusch, als wäre ein steinerner Riese aus jahrtausendelangem Schlaf erwacht und versuchte sich von seinem Fundament zu lösen, glitt die gesamte Wand, vor der Yassir stand, zur Seite, bis ein gut mannsbreiter Spalt entstanden war, hinter dem Stufen zu erkennen waren, die steil in eine lichtlose Tiefe führten.

Yassir wandte sich zu ihnen und winkte, und tatsächlich ging Sascha sofort zu ihm hinüber. Aton jedoch rührte sich nicht. Er war vollkommen fassungslos. Er hatte eine verborgene Inschrift erwartet, einen anderen Sinn in den in die Wände gemeißelten Bildern, den nur Yassir kannte, den Hinweis auf einen bisher unentdeckten Gang ... aber das?! Das war absolut unmöglich! Den Wissenschaftlern wäre ein verborgener Durchgang niemals entgangen!

»Aber das ... das kann nicht sein«, stammelte er. »Diese Kammer ist immer wieder untersucht worden, und -«

Yassir unterbrach ihn ungeduldig. »Es gibt Dinge, die sich eure Wissenschaft nicht einmal träumen läßt, Aton. Ich dachte, du hättest das schon begriffen. Komm jetzt.« Noch immer staunend, setzte sich Aton in Bewegung und lief ein paar Stufen hinunter, ehe er wieder stehenblieb und darauf wartete, daß Yassir zu ihnen kam. »Schließen Sie die Tür nicht?« fragte Sascha.

»Von dieser Seite aus?«

Sascha sah ihn fragend an. »Können Sie es nicht?«

»Doch«, erwiderte Yassir trocken. »Schließen kann ich sie. Nur nicht wieder öffnen. Wenn Sie möchten ...« Er hob die freie Hand nach einer Stelle an der Wand neben sich, und Sascha schüttelte eilig den Kopf. Yassir grinste, senkte den Strahl seines Scheinwerfers in die liefe und ging voran.

Atons Herz begann immer schneller zu klopfen, während er dem Ägypter folgte. Uralte, stickige Luft drang zu ihnen herauf. Sie hörten Geräusche: ein Rascheln und Schleifen, das Rieseln von Sand und manchmal ein düsteres Knarren und Rumoren.

Sie konnten nicht erkennen, wie weit die Stufen in die Tiefe führten. Yassirs Scheinwerferstrahl reichte sehr weit, doch auch er berührte das Ende der Treppe nicht, und sie gingen auch nicht weit genug hinunter, um es sehen zu können. Yassir blieb plötzlich stehen und schwenkte die Lampe herum, so daß ihr Strahl eine hohe, von zwei steinernen Horusköpfen flankierte Öffnung aus der ewigen Dunkelheit riß. Sie betraten einen schmalen Gang, der schon nach wenigen Schritten vor einer reichverzierten steinernen Tür endete. Lautlos und ohne daß der Ägypter sonderlich viel Kraft aufwenden mußte, öffnete sie sich. Dann fiel der Strahl des Scheinwerfers in den dahinterliegenden Raum, und Aton vergaß die Tür und ihre geheimnisvolle Mechanik auf der Stelle. Die Kammer ähnelte nichts, was Aton jemals zuvor gesehen hatte. Sie war nur etwa halb so groß wie die leere Grabkammer oben, und wohin der Strahl der Lampe auch fiel, brach er sich schimmernd auf Gold, Silber und Edelsteinen.

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