Der Fluß nach Bubastis

Lange Zeit war es sehr still. Keiner von ihnen sprach, keiner rührte sich. Saschas Gesicht blieb so unbewegt wie das von Yassir, aber Aton spürte, daß beide auf ihre Weise ebenso entsetzt waren wie er. Doch die Angst, die er nun verspürte, war von einer ganz neuen Art. Es war ein Unterschied, mit einer konkreten Gefahr konfrontiert zu werden oder aber das Wissen zu akzeptieren, lebendig begraben zu sein, eingeschlossen hinter einer Tür, die ihr Geheimnis jahrtausendelang bewahrt hatte und es vermutlich jahrtausendelang tun würde, falls man sie überhaupt jemals entdecken sollte. Der Gedanke war entsetzlich. Und diese Art von Furcht gab ihm nicht die Kraft und den Willen zum Kämpfen um das Überleben, sondern lähmte ihn.

Es war schließlich Sascha, die das immer bedrückender werdende Schweigen brach. »Gibt es einen anderen Weg hier heraus?« fragte sie. Yassir sah sie an und schüttelte müde den Kopf.

»Diese Treppe«, beharrte Sascha. Sie drehte sich halb herum und machte eine Bewegung in die Tiefe. »Wohin führt sie? Was ist unter der Schatzkammer?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Yassir. »Ich war niemals dort unten.«

»Dann werden wir es herausfinden«, entschied Sascha.

Yassir versuchte, seinen Schrecken zu verbergen, aber es gelang ihm nicht ganz. »Ich weiß nicht, ob das ... richtig ist«, sagte er. »Dort unten könnten große Gefahren lauern.«

»Aber wir können doch nicht hierbleiben und warten, bis wir verhungert sind«, protestierte Aton.

»So lange müssen wir nicht warten«, beruhigte ihn Sascha. »Dein hundegesichtiger Freund wird bestimmt zurückkommen. Und nicht allein.« Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Wir müssen dort hinunter. Vielleicht gibt es einen zweiten Ausgang.«

Yassirs Gesicht sah so aus, als fielen ihm auf Anhieb fünftausend Gründe ein, diesen Vorschlag abzulehnen. Aber dann drehte er sich noch einmal zu der verschlossenen Tür herum, maß sie mit einem langen, betrübten Blick und nickte schließlich. Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Rückweg.

Diesmal nahm sich Aton die Mühe, die Stufen zu zählen, die sie hinuntergingen. Es waren mehr als dreihundert, was nichts anderes bedeutete, als daß sie sich bereits tief unter der Pyramide befanden, ehe sie die Tür der Schatzkammer passierten.

Ihm fiel auf, daß Sascha die Seite wechselte, als sie daran vorübergingen, als wäre es wichtig für sie, sich so weit von ihr zu entfernen, wie es nur ging. Er sagte nichts dazu, nahm sich aber fest vor, später noch einmal auf dieses Thema zurückzukommen; ebenso wie auf Saschas sonderbaren Schwächeanfall. Bisher hatte er sich stets mit Erfolg eingeredet, daß er nur übernervös war und sich alles nur einbildete, doch mittlerweile gab es kaum noch einen Zweifel daran, daß mit Sascha irgend etwas nicht stimmte.

Ihre Schritte wurden unwillkürlich langsamer, als sie sich weiter in die Tiefe bewegten. Der Scheinwerferstrahl glitt über graubraunen Fels, der jetzt frei von allen Verzierungen und Bildern war, und über Stufen, die vielleicht seit Jahrtausenden kein menschlicher Fuß mehr betreten hatte. Es gab keine weitere Tür oder Abzweigung.

Aton war gerade soweit, die Hoffnung, jemals das Ende dieser Treppe zu erreichen, tatsächlich aufzugeben, als der Scheinwerferstrahl plötzlich nicht mehr auf Widerstand traf, sondern sich in der Leere am Ende der Treppe verlor. Unwillkürlich blieben sie stehen. Sascha und Yassir tauschten einen Blick, ehe sie - jetzt sehr viel langsamer - weitergingen.

Die Treppe mündete nach einem weiteren Dutzend Stufen in einer Höhle, die so gewaltig war, daß der Lichtstrahl weder die Decke noch die gegenüberliegende Wand erreichte. Ein intensiver Geruch nach Feuchtigkeit und Alter schlug ihnen entgegen, Wasser glitzerte im Licht der Lampe. Zögernd bewegten sie sich tiefer in die Höhle hinein. Schon nach ein paar Schritten sah Aton, daß das Ufer nur wenige Meter breit war. Dahinter bewegten sich die Fluten eines unterirdischen Flusses, der mit enormer Geschwindigkeit dahinwogte.

»Phantastisch!« murmelte Sascha. »Was mag das sein?« Ihre Stimme hatte in der Weite der Höhle einen fast unheimlichen Klang. Das Echo schien eine Antwort zu wispern, die nicht verständlich war, trotzdem aber von uralten, düsteren Geheimnissen erzählte. Da weder Yassir noch Aton etwas sagten, beantwortete sie ihre Frage nach einigen Sekunden selbst. »Vielleicht der Weg hier heraus.«

»Kaum«, sagte Yassir.

Sascha und Aton blickten ihn fragend an, doch statt einer Antwort richtete er den Strahl seines Scheinwerfers nun direkt auf den Fluß. Unter den Wellen war Bewegung. Dunkelgrüne Schuppen glitzerten im bleichen Licht, fingerlange Zähne schimmerten knochenweiß, und kleine, aufmerksame Augen musterten sie tückisch. Aton verwarf den Gedanken, in diesem Fluß zu schwimmen, beinahe schneller, als er ihn gefaßt hatte.

Erstaunlicherweise schien Sascha der Anblick der Krokodile jedoch viel mehr zu erfreuen als zu beunruhigen. Aufgeregt näherte sie sich dem Fluß. »Ganz im Gegenteil, Yassir«, führte sie den begonnenen Gedanken fort. »Vielleicht bedeuten diese Krokodile unsere Rettung.«

Yassir blickte sie völlig verständnislos an, und auch Aton ertappte sich bei dem Gedanken, ob die Ereignisse der letzten Stunden vielleicht zu viel für Sascha gewesen waren, so daß sie nun anfing, wirres Zeug zu reden.

»Wieso?« fragte er.

Sascha wandte sich zu ihm um. »Verstehst du denn nicht?« sagte sie. »Krokodile können nicht unter Wasser atmen«, erklärte sie. »Wenn sie hier sind, bedeutet das, daß dieser Fluß irgendwo wieder an die Oberfläche tritt. Und wahrscheinlich nicht einmal sehr weit entfernt. Es muß ein Seitenarm des Nil sein. Wir müssen ihm nur folgen, und wir kommen früher oder später wieder ans Tageslicht.«

Aton fragte sich verblüfft, wieso er nicht selbst auf diesen an sich so naheliegenden Gedanken gekommen war, doch noch bevor er dies aussprechen konnte, versetzte Yassir seinem Optimismus einen kräftigen Dämpfer. »Das ist nicht gesagt«, sagte er. »Sie können ebensogut einfach hier unten leben. Außerdem können sie sehr wohl ein gehöriges Stück unter Wasser schwimmen. Wir nicht. Wir können nicht einmal im Wasser schwimmen - nicht in diesem Wasser.« Er deutete auf die Krokodile.

Es war deutlich zu sehen, daß seine Worte Sascha ärgerten. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?« fragte sie scharf.

Yassir blieb ruhig. »Auf jeden Fall sollten wir uns erst einmal in aller Ruhe umsehen, bevor wir vielleicht etwas Falsches tun«, sagte er. Ohne Saschas Reaktion abzuwarten, drehte er sich herum und begann, ein Stück flußaufwärts am Ufer entlangzugehen, und da er dabei natürlich die Lampe mitnahm und weder Sascha noch Aton große Lust verspürten, im Dunkeln zurückzubleiben, mußten sie ihm wohl oder übel folgen.

Sie waren erst ein kurzes Stück gegangen, als der Lichtstrahl etwas aus der Dunkelheit riß, was nicht natürlichen Ursprungs war. Am Flußufer lag ein wirrer Haufen aus herangespültem Holz und Abfällen, doch als sie näher kamen, erkannte Aton rasch, was es wirklich war. Scheinbar achtlos hingeworfene Statuen, die Menschen, Tiere oder auch Götter darstellten, aber auch Werkzeuge, Dinge des täglichen Gebrauchs, Krüge und alles mögliche andere. All diese Gegenstände hatten im Grunde nur eines gemeinsam - sie waren sichtlich sehr alt.

»Das muß von denen stammen, die die Pyramide erbaut haben«, sagte Sascha, während Yassir seinen Scheinwerferstrahl geduldig weiterwandern ließ. Plötzlich stieß er einen halblauten, überraschten Ruf aus und hob deutend den Arm. Und auch Aton hätte vor Erleichterung fast aufgeschrien. Kaum zwanzig Meter entfernt lag etwas am Flußufer, was ihm in diesem Moment wie ein Geschenk der Götter vorkam (und wenn man es recht bedachte, dann war es das wohl auch): ein schlankes Boot aus schwarzem Holz, in dem sich sogar Ruder befanden. Rasch eilten sie darauf zu, und Aton kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als er sah, daß es sogar einen Mast mit einem sauber darum gewickelten Segel hatte.

»Das ist die Rettung«, sagte Sascha erleichtert. »Damit kommen wie hier heraus. Helft mir, es ins Wasser zu schieben.«

Aton griff unverzüglich zu, aber Yassir betätigte sich abermals als Spielverderber. Er rührte sich nicht, sondern schüttelte nur zweifelnd den Kopf. »Das halte ich für keine gute Idee«, sagte er.

»Ziehen Sie es vor, zu schwimmen?« gab Sascha scharf zurück, aber Yassir ließ sich auch diesmal nicht provozieren, sondern antwortete in ruhigem Ton: »Dieses Boot liegt seit mindestens drei- oder viertausend Jahren hier. Ich glaube nicht, daß es noch schwimmt.« Um seine Behauptung zu untermauern, trat er mit dem Fuß vor den Bootsrumpf. Das Geräusch klang nicht, als wäre er auf Holz, sondern auf einen Fels getreten.

»Wie ich es mir gedacht habe«, sagte Yassir düster. »Es ist versteinert.«

Sascha schüttelte entschieden den Kopf. »Wir müssen es wenigstens versuchen«, sagte sie. »Wir können nicht hierbleiben. Helft mir!«

Yassirs Gesichtsausdruck wurde noch zweifelnder, aber er widersprach jetzt nicht mehr, sondern legte vorsichtig seine Lampe auf den Boden und griff dann, ebenso wie Aton, mit zu. Mit vereinten Kräften hoben sie das Boot, das zwar kaum fünf Meter lang war, trotzdem aber so schwer wie ein Felsbrocken, ins Wasser. Im ersten Moment schien es, als sollte Yassir recht behalten - das Boot schwamm nicht, sondern glitt einfach immer tiefer in den Fluß, aber dann geschah doch, worauf Aton kaum noch zu hoffen gewagt hatte: Das Holz war wohl doch nicht ganz versteinert, denn schließlich löste sich der Rumpf vom Felsen, und das Boot schwamm, wenn auch nicht sehr gut. Es ragte kaum zwei Fingerbreit aus dem Wasser.

»Es schwimmt«, sagte Sascha überflüssigerweise.

»Das ist doch Wahnsinn«, antwortete Yassir. »Eine einzige unvorsichtige Bewegung, und es geht unter.«

»Dann bewegen wir uns eben nicht«, antwortete Sascha. Sie machte eine Kopfbewegung in die Dunkelheit zurück. »Wollen Sie laufen? Oder warten, bis Ihre Freunde kommen?«

Yassir schwieg. In seinem Gesicht arbeitete es. Aber er mochte einsehen, daß Sascha wohl fest entschlossen war, dieses Boot zu benutzen, denn er verlegte sich auf eine andere Taktik. »Wir haben keine Ahnung, wohin dieser Fluß führt«, sagte er. »Es kann ein kleines Stück sein, ebensogut aber viele Kilometer. Außerdem ist die Strömung sehr stark.«

»Und?« fragte Aton.

»Das könnte bedeuten, daß vor uns ein Wasserfall oder eine Stromschnelle liegt«, antwortete Yassir. »Und dann gehen wir mit diesem Ding garantiert unter. Ganz davon abgesehen, daß wir nicht wissen, was uns dort vorne erwartet - selbst wenn wir nicht ertrinken oder von Krokodilen gefressen werden.«

Sascha seufzte tief. Und vermutlich wären die beiden nun ernsthaft in Streit geraten, doch in diesem Moment drangen Geräusche aus der Dunkelheit zu ihnen, die nicht vom Fluß oder den Krokodilen darin verursacht wurden. Sascha hob rasch die Hand, und auch Yassir legte lauschend den Kopf auf die Seite. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Sie kommen«, sagte er.

»Dann bleibt uns keine Wahl«, sagte Sascha. »Rasch!«

Diesmal sträubte sich Yassir nicht mehr. Mit vereinten Kräften schoben sie das Boot vollends ins Wasser, und er war sogar der erste, der an Bord ging. Das kleine Gefährt sank tiefer in die Wellen, als Sascha und Aton Yassir folgten. Der Bootsrand befand sich gerade noch einen Zentimeter über der Wasseroberfläche, und bei jeder noch so vorsichtigen Bewegung schwappte eiskalte Nässe zu ihnen herein. Auch Aton kamen jetzt ernsthafte Zweifel, ob dieses Boot sie tatsächlich noch tragen konnte. Wenn das seit Tausenden von Jahren ausgetrocknete Holz sich auch nur um eine Winzigkeit mit Wasser vollsaugte, würden sie untergehen, und wahrscheinlich hatten sie dann nur noch die Wahl, zu ertrinken oder von den Krokodilen gefressen zu werden.

Aber vielleicht ist das immer noch besser als das, was mit uns geschieht, wenn wir unseren Verfolgern in die Hände fallen, dachte Aton.

Es war ein sonderbares Gefühl, ein Ruder in die Hand zu nehmen, das sich nicht nur anfühlte, als wäre es aus Stein, sondern auch so schwer war. Aber es fiel ihnen erstaunlich leicht, das Boot damit von der Stelle zu bringen. Zwar schwappte weiteres Wasser zu ihnen herein, und das ganze Boot knirschte und ächzte bedrohlich, als sie sich vom Ufer entfernten und es vollends in die Strömung geriet, aber nach einer Weile fanden sie einen gleichmäßigen Takt. Das enorme Gewicht, vor dem sich Yassir so gefürchtet hatte, erwies sich nun als Vorteil, denn das Boot lag tatsächlich wie ein Stein im Wasser, so daß die Wellen es kaum zu bewegen vermochten. Zwar schwappte noch immer dann und wann ein wenig Wasser über den Rand, aber noch war es nicht so viel, daß sie sich in irgendeiner Hinsicht Sorgen machen mußten.

Unglücklicherweise waren das Wasser und ihr vorsintflutliches Boot nicht ihre einzigen Probleme. Vielleicht nicht einmal ihre größten ...

Sie näherten sich wieder der Stelle, an der sie die Höhle betreten hatten, als Aton erneut ein Geräusch hörte: die hechelnden, schnüffelnden Atemzüge ihres Verfolgers. Und seine Schritte. Und es waren eindeutig die Schritte von mehr als einer Person!

»Das Licht!« rief er erschrocken. »Yassir! Die Lampe aus!«

Aber es war zu spät. Yassir hörte nicht nur nicht auf seine Warnung, er reagierte auch völlig falsch. Statt das Licht zu löschen und wie Aton darauf zu hoffen, daß die Dunkelheit sie verbarg, hob er im Gegenteil seine Lampe und richtete den kräftigen Strahl auf das Ufer, von wo die Geräusche erklangen.

Etwas Dümmeres hätte er in diesem Moment vermutlich kaum tun können.

Der grelle Lichtstrahl riß die Umrisse von mindestens sieben oder acht hochgewachsenen, schlanken Gestalten mit Hundeköpfen aus der Dunkelheit, die gerade in diesem Moment hintereinander aus dem Eingang quollen. Zwei oder drei der Gestalten heulten geblendet auf und rissen die Pfoten vor die Augen, aber die anderen stürmten unverzüglich los und näherten sich mit Riesensätzen dem Ufer. Die meisten blieben zwar stehen, als sie das Wasser erreichten, doch zwei besonders Vorwitzige warfen sich in die Fluten und begannen mit kraftvollen Bewegungen auf sie zuzukraulen.

Sascha ließ einen wenig damenhaften Fluch hören und stand so hastig auf, daß das Boot nun doch zu schwanken begann und sich ein neuer Schwall eiskaltes Wasser über Atons Füße ergoß. Breitbeinig nahm sie im Heck des Bootes Aufstellung, ergriff das Paddel mit beiden Händen und erwartete die Angreifer. Aber diese erreichten das Boot nicht. Kurz bevor sie heran waren, machte erst der eine, dann auch der zweite kehrt und begann mit hastigen Bewegungen wieder zum Ufer zurückzukraulen.

»Was ist denn jetzt -?« begann Yassir verblüfft, schwenkte den Scheinwerferstrahl herum und brach mitten im Satz ab, als er die dunkelgrün geschuppten Körper sah, die pfeilschnell durch das Wasser schossen.

Die beiden Hundekrieger schwammen, was das Zeug hielt, und erreichten das Ufer mit knapper Not. Die übrigen wichen vorsichtshalber ein gutes Stück vom Wasser zurück.

Trotzdem war die Gefahr keineswegs vorüber. Die Hundekrieger rotteten sich zu einer dichten Meute zusammen und begannen das Boot am Ufer zu verfolgen. Yassir hielt den Lichtstrahl noch eine Weile auf die Gruppe gerichtet, dann schwenkte er die Lampe wieder nach vorne.

»Bravo!« sagte Sascha säuerlich, während sie vorsichtig wieder zu ihrem Platz zurückbalancierte und sich setzte. »Das war eine echte Meisterleistung, Yassir. Warum haben Sie nicht gleich gewunken und laut hallo gerufen?«

»Sie hätten uns sowieso entdeckt«, verteidigte sich Yassir. »Sie sind Geschöpfe der Nacht. Die Dunkelheit ist ihr Verbündeter.«

Womit er vermutlich sogar recht hat, dachte Aton. Und Sascha mußte das im Grunde auch wissen. Aber sie schien wohl äußerst gereizt zu sein, denn sie fuhr in herausforderndem Ton fort: »Das nächste Mal denken Sie vielleicht, ehe Sie handeln.«

Yassir machte ein schuldbewußtes Gesicht, aber er war klug genug, nicht zu antworten, sondern drehte sich nach einer Weile wieder nach hinten und richtete die Lampe auf das Ufer.

Was der weiße Lichtstrahl ihnen zeigte, war alles andere als beruhigend. Die Hundekreaturen waren keineswegs zurückgefallen, sondern hatten im Gegenteil ein Stück aufgeholt. Und sie machten nicht den Eindruck, als bereite es ihnen große Mühe, mit dem Boot Schritt zu halten.

Yassir runzelte besorgt die Stirn. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Wir sollten schneller rudern.«

Sascha durchbohrte ihn regelrecht mit Blicken, aber die scharfe Antwort, mit der Aton rechnete, blieb aus. Statt dessen sah sie einige Sekunden lang stirnrunzelnd auf das Wasser im Boot hinab, das ihnen trotz aller Vorsicht nun schon bis an die Knöchel reichte.

»Lieber nicht«, sagte sie. »Es wird schon gehen. Solange wir uns nicht zu dicht ans Ufer wagen, sind wir wahrscheinlich in Sicherheit.«

Yassir leuchtete wieder zu den Hunden zurück. Sie rannten noch immer im gleichen Abstand hinter dem Boot her - manche so weit nach vorne gebeugt, daß ihre Pfoten fast den Boden berührten, andere hoppelten und hüpften mit grotesken Sprüngen einher. Aber eines war ihnen allen gemein: sie bewegten sich schnell.

Aton mußte seinen Blick gewaltsam von der bizarren Prozession losreißen, und als er in Saschas und Yassirs Gesichter blickte, erkannte er darauf die gleiche Mischung aus Faszination und Grauen, die auch er verspürte. Die unheimlichen Hundegesichter waren echt, keine Masken.

Außerdem war er einem solchen Geschöpf schon einmal begegnet, vor einer Woche, in jenem nächtlichen Wald auf halber Strecke zwischen Crailsfelden und seinem Zuhause.

Sie fuhren eine ganze Weile schweigend dahin. Das Rudern mit den schweren, fast versteinerten Paddeln war sehr anstrengend, und sie begannen, sich reihum abzuwechseln, so daß immer zwei von ihnen ruderten, während der dritte mit den Händen das Wasser aus dem Boot schöpfte; eine wahre Sisyphusarbeit, die aber immerhin bewirkte, daß das Schiff nicht gänzlich vollief und irgendwann unterging.

»Die Lampe«, sagte Aton plötzlich. »Wie lange halten die Batterien eigentlich?«

Yassir machte ein betrübtes Gesicht. »Nicht sehr lange, fürchte ich«, sagte er.

»Und was heißt das genau?« erkundigte sich Sascha.

»Um ehrlich zu sein«, gestand der Ägypter in zerknirschtem Ton und ohne Sascha anzusehen, »wundere ich mich schon die ganze Zeit, daß sie noch brennt. Ich habe nicht mit einem so langen Ausflug gerechnet.«

Sascha sagte nichts dazu. Aber ihr Blick machte deutlich, was sie von Yassirs Qualitäten als Fremdenführer hielt.

Die Strömung nahm ganz allmählich ab, und im gleichen Maße wurde der Fluß breiter, und die Höhlendecke begann sich zu senken. Und noch etwas geschah, was Aton wirklich Sorgen zu bereiten begann: Im Wasser waren immer weniger Krokodile. Zwar gewahrte er dann und wann noch einen geschuppten, schlanken Leib in den Fluten, aber ihre Zahl nahm ab. Bald würden vielleicht gar keine mehr da sein - und dann gab es nichts mehr, was die Hundekrieger daran hinderte, einfach hinter ihnen herzuschwimmen und sie aus dem Boot zu zerren.

Auch das Ufer war jetzt nicht mehr leer. Sie kamen an großen Haufen behauener Steine vorbei, einmal auch an einem zweiten, gottlob jedoch vollkommen zerstörten Boot, und immer öfter gewahrte Aton in den Wänden beiderseits des Flusses hohe, in den Fels hineingemeißelte Nischen, in denen Götterstatuen und Tierbildnisse standen. Einmal passierten sie auch eine Öffnung, hinter der ausgetretene Treppenstufen sichtbar waren, aber sie waren bereits vorbei, ehe Aton die anderen darauf aufmerksam machen konnte, und außerdem hätten ihnen ihre Verfolger kaum Zeit gelassen, hinzukommen.

Sie mußten immer kräftiger rudern, um ihr Tempo zu halten, denn die Strömung nahm weiter ab, was natürlich enorm an ihren Kräften zehne. Aton hatte das Gefühl, daß das Paddel mit jedem Mal schwerer wurde, wenn er es aus dem Wasser hob und wieder eintauchte, und auch Yassirs Bewegungen waren lange nicht mehr so schwungvoll wie am Anfang. Nur Sascha zeigte keine sichtbaren Spuren von Erschöpfung, was Aton mit Überraschung und Neid registrierte.

Dann endlich, als Aton schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, überhaupt noch einmal das Ende dieses Flusses zu erreichen, erweiterte sich die Höhle, so daß vor ihnen plötzlich ein kreisrunder, unterirdischer See von sicherlich einem halben Kilometer Durchmesser lag. An seinem gegenüberliegenden Ufer konnten sie eine gewaltige, direkt aus dem Fels gemeißelte Tempelfassade erkennen.

»Phantastisch!« flüsterte Sascha. »Das ... das ist unglaublich!«

Sie alle drei empfanden das gleiche fassungslose Staunen. Sie hatten aufgehört zu rudern, aber der Schwung ihrer eigenen Bewegung trieb das Boot noch ein gutes Stück weit auf den See hinaus. Und obwohl die Höhle keinen zweiten Ausgang zu haben schien, war die Strömung auch hier noch deutlich zu spüren. Der Abfluß mußte unter der Wasseroberfläche liegen.

Aton hatte in diesem Land schon größere Bauwerke gesehen und prachtvollere - die Tempel von Abu Simbel zum Beispiel, deren Fassaden ebenfalls direkt aus dem Fels herausgemeißelt worden waren, mußten doppelt so groß sein wie dieser hier -, und trotzdem verspürte er ein Erstaunen und eine Ehrfurcht wie kaum jemals zuvor. Vielleicht war es die Tatsache, daß Sascha, Yassir und er möglicherweise seit Tausenden von Jahren die ersten Menschen waren, die diese Anlage sahen. Er wußte, daß die Entdeckung dieses unterirdischen Tempels die gesamte archäologische Fachwelt in Aufruhr versetzen würde, aber er sparte es sich, diesen Gedanken auszusprechen, weil er auch wußte, daß dieser Fluß niemals entdeckt werden würde, denn er wurde von denselben uralten Mächten beschützt, die auch das Geheimnis der Tür in der Cheopspyramide hüteten.

Langsam näherten sie sich dem jenseitigen Ufer - das es im Grunde gar nicht gab, denn die Tempelfassade stieg unmittelbar aus dem Wasser empor. Mehr als mannsdicke, reichverzierte Säulen schienen die Decke der Höhle zu tragen, und eine Anzahl breiter Stufen führte zu einem tiefer in den Felsen hineinführenden Tor hinauf, das von zwei gut fünf Meter hohen Katzenstatuen flankiert wurde. Das Motiv der Katze - in allen nur denkbaren Variationen und Verfremdungen - wiederholte sich überall, so daß es nicht schwer zu erraten war, zu Ehren welcher Gottheit dieser Tempel errichtet worden war.

»Bastet«, sagte Sascha ehrfurchtsvoll. »Aber das würde bedeuten, daß wir ... großer Gott, weißt du, wie weit Bubastis von Gizeh entfernt ist?!«

»Dieser Fluß fließt sehr schnell«, sagte Yassir an Atons Stelle. »Außerdem gelten hier unten vielleicht andere Gesetze als dort, wo ihr herkommt.«

Sie kamen näher. Die Strömung trug sie so zuverlässig auf die Treppe zu, daß Aton bald begriff, daß der Tempel und das Tor keineswegs zufällig an genau dieser Stelle errichtet worden waren.

Er war der erste, der aufstand und auf die Treppe hinaufsprang, dicht gefolgt von Yassir, der sich unverzüglich herumdrehte und die Lampe dorthin richtete, wo die Einmündung des Flusses lag. Das gegenüberliegende Seeufer war zu weit entfernt, als daß der Lichtstrahl es erreicht hätte, aber Aton mußte die Verfolger nicht sehen, um zu wissen, daß sie noch da waren.

Diese Geschöpfe hatten ihn über den Abgrund von mehr als dreitausend Jahren verfolgt; sie würden sich kaum von einem See aufhalten lassen. Aber vielleicht hatten Sascha, Yassir und er genau die Zeit gewonnen, die sie brauchten, um diesen unterirdischen Tempel zu verlassen.

»Wenn es einen zweiten Ausgang gibt«, sagte Sascha.

Aton sah sie überrascht an. Erst nach einer Sekunde wurde ihm klar, daß er den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte; und vielleicht nicht nur diesen.

»Möglicherweise ist diese ganze Anlage unterirdisch angelegt, und es gibt nur den Zugang durch die Pyramide.« Sascha stand auf und breitete hastig die Arme aus, als das ganze Boot unter ihr bedrohlich zu schwanken begann. Mit einem schnellen Sprung rettete sie sich auf die Treppe hinauf, und im selben Augenblick kippte das Boot endgültig zur Seite - und sank wie ein Stein. Aton konnte hören, wie es unter der Wasseroberfläche auf die Treppe aufschlug und in Stücke zerbrach.

»Das war knapp«, sagte Yassir, und Aton konnte sich des Gedankens nicht ganz erwehren, daß es für seinen Geschmack schon beinahe ein wenig zu knapp gewesen war. Das Boot hatte ganz genau so lange gehalten, wie sie es brauchten; nicht eine einzige Sekunde länger.

»Es hat doch gereicht, oder?« Sascha schnitt jede mögliche Antwort Yassirs mit einer entschlossenen Handbewegung zum oberen Ende der Treppe ab. »Leuchten Sie dorthin - bitte!«

Das letzte Wort hatte sie erst nach einer spürbaren Pause hinzugefügt, und in so scharfem Ton, daß dieser seinen Sinn nahezu ins Gegenteil verkehrte. Überhaupt, dachte Aton, wird der Ton zwischen Yassir und Sascha immer schärfer. Begann es nun auch hier? Erlag nun auch Sascha dem Einfluß der unheilbringenden Mächte, die ihm folgten?

Der Tempeleingang kam Aton aus der Nähe betrachtet viel gewaltiger vor als von weitem, aber das Innere des Tempels selbst war eine Enttäuschung - hinter dem Tor lag nämlich nichts als ein schmaler, sehr hoher Gang ohne Türen oder Abzweigungen, der nach fünfzig oder sechzig Schritten in eine nach oben führende Treppe mündete.

Unverzüglich begannen sie, sie hinaufzusteigen. Yassir übernahm mit seiner Lampe die Führung, wodurch Aton, der den Abschluß bildete, fast im Dunkeln ging - was ihm wiederum mehr Unbehagen bereitete, als er sich eingestehen wollte. Er versuchte sich vergeblich einzureden, daß die Hundekrieger noch gar nicht da sein konnten. Seine Logik sagte ihm, daß das nicht möglich war. Aber logisch betrachtet dürfte es diese Hundekrieger gar nicht geben. Aton ertappte sich immer öfter dabei, nervös über die Schulter zurückzublicken und regelrecht darauf zu warten, von einer hundegesichtigen Scheußlichkeit angesprungen zu werden.

Die Treppe zog sich ein Stück weit gerade dahin und machte dann einen scharfen Knick nach links, und kaum war Aton ihm gefolgt, da sah er weit über sich einen winzigen, dunkelblauen Fleck, auf dem weiße Lichtpunkte schimmerten: einen Ausschnitt des Nachthimmels, der am Ende der Treppe sichtbar wurde. Beinahe unnötig zu erwähnen, daß in diesem Moment die Lampe erlosch. Die Batterien waren leer, nachdem sie gut zehnmal so lange gehalten hatten, wie es eigentlich möglich war ...

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