Das Museum

»Aton? Sagtest du tatsächlich Aton?«

Aton schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und beließ es bei einem verlegen wirkenden Lächeln und einem Achselzucken. Beides Antworten, für die allein Werner ihm noch nicht die Zähne einschlagen würde.

Es war so, daß Werner nicht unbedingt einen Grund brauchte, um jemandem mit seinen Fäusten ins Gesicht zu schlagen, manchmal reichte es, daß er gerade Lust dazu hatte.

Es machte ihm Spaß, anderen weh zu tun.

Aton war alles andere als ein Feigling und schon gar nicht schwächlich oder klein. Aber neben Werner mit seinen knapp ein Meter achtzig und seiner Sylvester-Stallone-Schulterbreite wirkte er trotzdem wie ein Zwerg, und er hatte sehr wenig Lust, die letzten vier Tage vor den Ferien in der Krankenstation des Internats zu verbringen, die im Moment nur einen einzigen Patienten beherbergte: Ricky, einen seiner Klassenkameraden. Ricky hatte vor zwei Wochen den Fehler begangen, Werner zu sagen, wofür er ihn wirklich hielt.

»Deine Eltern müssen 'ne ganz schöne Macke gehabt haben, wie?« fuhr Werner mit einem anzüglichen Grinsen fort und rammte die Fäuste in die Taschen seiner Bomberjacke. »Oder war dein Alter einfach zu geizig für das zweite ›n‹ in Anton?«

Er lachte laut und meckernd über seinen eigenen Witz, und Aton hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Insgeheim stimmte er Werner zu: Der Name, den seine Eltern ihm gegeben hatten, war schon des öfteren Anlaß zu schrägen Blicken oder Sticheleien gewesen. Aber niemand hatte es bisher so gehässig getan.

»Es hat nichts mit Anton zu tun«, sagte er, so freundlich er konnte. »Aton ist der Name des alten ägyptischen Sonnengottes. Meine Eltern haben eine besondere Vorliebe für Ägypten«, fügte er mit einem kaum hörbaren Seufzer hinzu.

Werner runzelte die Stirn. »Sonnengott, so.«

»Nicht direkt«, erklärte Aton weiter, ohne auf die innere Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte, daß er jetzt besser die Klappe hielt.

»Eigentlich hieß der Sonnengott Re, und Aton war die Bezeichnung für die Sonnenscheibe. Aber später hat dann Pharao Echna-«

Er verstummte mitten im Wort, als er das Funkeln in Werners Augen gewahrte. Werner war ein Idiot mit dem Intelligenzquotienten einer Küchenschabe - dummerweise einer von hundertsiebzig Pfund Kampfgewicht.

Aber das Gefährliche an ihm war, daß er das wußte. Und entsprechend ungehalten reagierte, wenn man es ihn zu deutlich spüren ließ.

Aber es sah so aus, als käme Aton für heute noch einmal davon. »Aton«, wiederholte Werner noch einmal, dann zuckte er mit den Achseln, drehte sich um und marschierte über den weitläufigen Innenhof des Sänger-Internats davon, gefolgt von den drei Mitgliedern seiner Bande. Einer Bande, die die unumstrittene Herrschaft über das Internat ausübte und die im nächsten Schuljahr in Atons Klasse Einzug halten würde.

Bis zu den großen Ferien dauerte es zwar noch mehr als ein halbes Jahr, aber Direktor Zombeck hatte Werner bereits mitgeteilt, daß er noch eine Ehrenrunde drehen durfte: Er würde sitzenbleiben, nicht zum ersten Mal, und die drei Idioten, die er um sich versammelt hatte und abwechselnd als Laufburschen, Prügelknaben und Schlägertrupp einsetzte, gleich mit ihm.

Aton unterdrückte ein neuerliches Seufzen. Er fragte sich, womit um alles in der Welt er dieses Schicksal verdient hatte.

Das Sänger-Internat an sich war gar nicht so übel - die teure, in der Welt draußen so gut wie unbekannte Privatschule lag auf einem kleinen Hügel über Crailsfelden, einem winzigen Ort in der Nähe der Hauptstadt, der auf den meisten Straßenkarten nicht einmal verzeichnet war. Es war ein Internat für ausschließlich hochbegabte Jugendliche, leider aber auch für solche, deren Eltern Geld und Einfluß genug hatten, daß es niemand wagte, ihnen zu sagen, wie es wirklich um ihre Lieblinge stand. Wie sich Werner und seine drei Anhänger hierher verirrt hatten, das war nicht nur Aton ein Rätsel.

»Hallo, Aton!« sagte eine Stimme hinter ihm, und als Aton sich herumdrehte, erkannte er Ronald Bender, den Hausmeister, der den drei Jungen einen forschenden Blick nachwarf.

»Gab es Ärger?« fragte er.

Aton schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wir haben uns nur bekannt gemacht. Werner und seine Freunde sind ab nächstem Jahr meine Klassenkameraden.«

Bender grinste, enthielt sich aber sonst jeden Kommentars.

»Der Bus ist schon da«, sagte er. »Du weißt doch, daß Direktor Zombeck nicht gerne wartet.«

Und ob Aton das wußte! Von allen Eigenschaften trafen geduldig und großzügig auf Direktor Zombeck wohl am allerwenigsten zu. Wenn er sagte, daß der Bus um elf Uhr abfuhr, dann meinte er damit elf Uhr, nicht etwa eine Sekunde später! Also bedankte sich Aton mit einem Kopfnicken bei Bender und steuerte das Tor auf der anderen Seite des Innenhofes an.

Auf dem Parkplatz des festungsähnlichen Klosters, in dessen Mauern sich das Sänger-Internat befand, wartete ein zweistöckiger Bus auf die Zöglinge, die heute die Ehre hatten, an einem Ausflug mit Direktor Zombeck teilzunehmen.

Aton war offensichtlich der letzte, denn die Tür schloß sich hinter ihm, kaum daß er im Wagen war, und der Fahrer startete den Motor. Der Bus war nahezu voll - immerhin hatte Zombeck gleich vier Klassen dazu verurteilt, ihn bei einem seiner heißgeliebten Museumsbesuche in die Hauptstadt zu begleiten - und zu seinem Entsetzen entdeckte Aton auch Werner und seine Freunde auf einer der hinteren Bänke.

Zombeck deutete auf einen freien Platz weiter vorne, unmittelbar in seiner Nähe. Aton setzte sich hastig.

Die Fahrt dauerte eine gute Dreiviertelstunde, und da er fast neben dem Direktor saß, verlief sie für Aton ziemlich langweilig. Er nahm es gelassen - vermutlich war es ohnehin nur der Auftakt zu einem jener Tage, die man getrost aus dem Kalender streichen konnte.

Von den mehr als hundert Schülerinnen und Schülern im Bus war Aton vielleicht der einzige, der sich nicht auf den Besuch der Sonderausstellung freute. Und das hatte einen ganz bestimmten Grund. Als er Werner vorhin erzählt hatte, daß sein Vater eine Vorliebe für das alte Ägypten und alles, was damit zusammenhing, hatte, da war das wohl die Untertreibung des Jahres gewesen. Seine Eltern waren beide geradezu vernarrt in das Land der Paraonen. Sein Vater verbrachte das halbe Jahr - mindestens - beruflich in Ägypten, und solange sich Aton erinnern konnte, hatten die Eltern auch jeden Urlaub dort verlebt. Das Haus, in dem Aton aufgewachsen war, glich einem ägyptischen Museum. Er war mit Geschichten von Amun und Re, von Isis und Osiris, von Anubis und Bastet groß geworden. Sobald er lesen konnte, hatten ihm seine Eltern Bücher mit Farbfotos von Pyramiden, Wandmalereien und Statuen in die Hand gedrückt. Um es deutlich auszudrücken - dieser ganze Ägypten-Kram kam Aton zu den Ohren heraus, und das seit Jahren! Es war wahrhaftig kein Wunder, daß er sich nicht besonders darauf freute, eine Ausstellung über das alte Ägypten zu besuchen.

Atons linke Schulter begann zu jucken. Er hob die Hand und fuhr gedankenverloren mit den Fingern darüber. Er konnte die Ursache dieses Juckens sogar durch den Stoff der Jacke hindurch fühlen. Es war eine winzige, harte Erhebung unter seiner Haut, die er hatte, solange er denken konnte, und die sich immer dann meldete, wenn er nervös oder aufgeregt war. Seine Eltern hatten ihm erzählt, daß es sich um einen Steinsplitter handelte, der in seinen Körper gedrungen war, als er bei einem Explosionsunglück verletzt wurde. Er war damals fünf Jahre alt gewesen, und da der Fremdkörper keine Gefahr darstellte, hatte man nie daran gedacht, ihn zu entfernen.

Atons Mutmaßungen, was den weiteren Verlauf des Tages anging, schienen sich zu bewahrheiten. Die Ausstellung an sich war gar nicht einmal schlecht. Die Veranstalter hatten sich Mühe gegeben. Der große, normalerweise kalt und unpersönlich wirkende Marmorsaal war durch geschickt aufgestellte Lampen und große Wandschirme in eine Anzahl kleinerer, heller Inseln unterteilt, in deren Mitte jeweils ein ganz besonderes Ausstellungsstück stand. Es gab große, meistenteils sogar farbige Bilder an den Wänden und etwas kleinere Abbildungen an den aufgestellten Raumteilern, und in den Glasvitrinen waren alle möglichen Fundstücke zu sehen, daneben hatte man kleine Schildchen angebracht, auf denen das jeweilige Ausstellungsstück beschrieben wurde. Atons kundiges Auge entdeckte natürlich sofort den einen oder anderen kleinen Irrtum, der den Veranstaltern unterlaufen war und der den Besuchern kaum auffallen würde.

So schlenderte Aton mit lässig in den Jackentaschen vergrabenen Händen zwischen den Vitrinen und gläsernen Schränken umher, warf einen Blick auf dieses und jenes, studierte die Schildchen - und blieb plötzlich vor zwei nebeneinanderstehenden, verschieden großen Vitrinen stehen. Die eine Vitrine, eigentlich ein Würfel aus sorgsam poliertem Plexiglas, stand auf einem hohen Sockel aus schwarzem, Granit vortäuschenden Kunststoff, in der etwas ausgestellt war, was auf den ersten Blick wie ein Haufen schmuddeliger, halbverrotteter Lumpen aussah. Das kleine Schildchen daneben verriet, daß es sich um eine Katzenmumie aus der achtzehnten Dynastie handelte, gefunden auf dem berühmten Katzenfriedhof von Bubastis.

Aton runzelte die Stirn und wandte sich der zweiten, viel größeren Vitrine zu.

KRIEGERMUMIE,

behauptete das Schildchen daneben,

GEFUNDEN BEI GRABUNGEN IN SAKKARA

»Was für ein Unsinn«, murmelte Aton, und im selben Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Der Typ sieht aus wie Ricky nach meiner letzten Unterhaltung mit ihm.«

Aton mußte sich nicht herumdrehen, um zu wissen, wer hinter ihm stand.

Er tat es trotzdem - und begegnete dem Blick aus Werners Augen, deren tückisches Glitzern in krassem Gegensatz zu seinem aufgesetzten Grinsen stand.

Aton versuchte vorsichtig, den Rückzug anzutreten. Er kam genau einen Schritt weit, dann machte Werner eine Handbewegung, und sofort vertrat ihm einer seiner beiden Begleiter den Weg.

»Wieso ist das Unsinn, was auf dem Schild steht?« wollte Werner wissen. Seine Augen wurden schmal, und sein Lächeln erlosch. Aton wich etwas zur Seite und hielt hilfesuchend nach Zombeck oder einem der anderen beiden Lehrer, die mitgekommen waren, Ausschau. Keine Chance. Der Rest der Gruppe befand sich fast am anderen Ende des Saales. Er hätte schon lauthals um Hilfe schreien müssen, um überhaupt gehört zu werden.

»Weil Krieger nicht mumifiziert wurden«, antwortete er zögernd.

»Mumiwas?« fragte Werner auf eine Art und mit einem Gesichtsausdruck, als denke er angestrengt darüber nach, ob sich hinter diesem Wort vielleicht eine Beleidigung versteckte oder irgendein anderer Anlaß, endlich den Streit vom Zaun zu brechen, auf den er schon lange aus war.

»Sie haben keine Mumien aus ihnen gemacht«, erklärte Aton hastig.

»Ich dachte, sie hätten alle ihre Toten so beerdigt«, murmelte Werners rechtes Anhängsel. Werner schenkte ihm einen strafenden Blick, und Aton schluckte die spöttische Antwort, die ihm auf den Lippen lag, im letzten Moment hinunter.

»Das wäre viel zu aufwendig gewesen«, erklärte er.

»Was? Die Toten in ein paar Lappen zu wickeln?«

Aton bemühte sich, möglichst geduldig zu klingen, ohne daß Werner es als überheblich auslegen konnte. »So einfach war das nicht«, sagte er. »Einen Toten zu mumifizieren ist eine ungeheuer komplizierte Sache, und die alten Ägypter waren wahre Meister darin. Den Toten wurden die inneren Organe entfernt -«

»Gibt's auch äußere?« fragte Werner.

Aton überging den Einwurf. »- bis hin zum Gehirn.«

»Echt?« Werner musterte die angebliche Kriegermumie mit neuem Interesse. »Sie haben den Schädel aufgeschnitten und das Hirn rausgeholt? Geil!«

Irgendwann in seiner frühesten Jugend mußte jemand dasselbe mit Werner gemacht haben, dachte Aton. »Nein«, sagte er laut. »Dazu haben sie einen Draht benutzt und das Gehirn durch die Nasenlöcher herausgezogen.«

»Brrrr«, machte Werners linkes Anhängsel und schüttelte sich. Werner selbst schien die Vorstellung eher zu gefallen - und Aton beging den Fehler, sein Grinsen als die Andeutung von Interesse zu deuten, und fuhr mit seiner Erklärung fort: »Die herausgenommenen Organe haben sie dann zusammen mit den Körpern beerdigt, in eigens dafür vorgesehenen Krügen, den Kanopen, weißt du?«

»Und was ist mit dem Typen da?« wollte Werner wissen. »Besonders furchteinflößend sieht er ja nicht aus. Die Burschen waren nicht sehr groß, wie?«

Damit hatte er recht - der Krieger überragte Aton nur um eine Handbreit, aber das lag nur daran, daß er innerhalb seiner Vitrine auf einem Sockel stand, ohne den er vermutlich kleiner als Aton gewesen wäre.

»Die Menschen waren damals alle nicht viel größer«, erklärte Aton. »Außerdem hat die Größe nicht viel zu besagen. Die ägyptischen Heere galten lange Zeit als unbesiegbar.«

»Ja - deswegen sitzen ihre Nachfahren ja heute auch in der Wüste und züchten Kamele«, sagte Werner abfällig.

Die Worte machten Aton zornig. Obwohl er wußte, daß es viel klüger wäre, den Mund zu halten, drehte er sich zu Werner herum und maß ihn mit einem leicht verächtlichen Blick.

»Immerhin hat das Pharaonenreich einige tausend Jahre überdauert«, sagte er. »Ich bin gespannt, ob man das später auch einmal von unserer Kultur behaupten kann.«

»Wen interessiert das schon?« fragte Werner. Er zog eine Grimasse, und Aton gab ihm in Gedanken recht - aber vielleicht war es ganz gut, wenn zumindest gewisse Vertreter besagter Kultur von diesem Planeten verschwanden, ohne allzu deutliche Spuren ihrer Existenz zu hinterlassen.

Einer von Werners Begleitern deutete jetzt auf die kleinere Vitrine und fragte erstaunt: »Was ist denn das?«

»Eine Katze«, beeilte sich Aton zu antworten. »Sie haben sie mumifiziert - so wie ich es euch vorhin erklärt habe. Und dann beerdigt.«

»Eine Katze?« fragte Werner zweifelnd. »Wieso sollten sie sich mit dem Viehzeug solche Mühe machen?«

»Katzen waren heilige Tiere im alten Ägypten«, erklärte Aton. »Sie wurden von den Menschen verehrt.«

»So wie heute die Inder ihre blöden Kühe?«

»Viel mehr«, antwortete Aton. »Sie hatten eine Katzengöttin. Manche von den Tieren lebten in eigenen Tempeln, und eine Katze umzubringen zog schwere Strafen nach sich. Viele Katzen wurden mumifiziert, nachdem sie gestorben waren. Es gab sogar einen eigenen Friedhof, auf dem nur Katzen beigesetzt wurden, und das unter großen Ehren. Es gibt ihn noch heute. Er liegt in Bubastis, wo auch der große Tempel der Bastet stand, der Katzengöttin.«

Werner schnaubte. Er warf einen mißtrauischen Blick auf den in graue Leinenstreifen eingewickelten kleinen Körper, dann richtete er sich kopfschüttelnd auf und wandte sich wieder dem Krieger zu.

»Dieses Vieh haben sie eingesalbt und beerdigt, und den armen Kerl da haben sie bloß eingewickelt und dann liegengelassen.«

Auch Aton drehte sich wieder dem Krieger zu. Vermutlich hatte Werner recht. Das Schildchen neben der Vitrine behauptete zwar, daß der Körper neben der Mastaba von Sackara gefunden worden war - einem steinernen Grab, das zwar nicht ganz so beeindruckend war wie eine Pyramide, aber noch immer gewaltig - doch Aton nahm an, daß es sich dabei wohl eher um einen Zufall handelte. Die Pyramiden waren ausnahmslos Königen, Hohenpriestern oder allenfalls noch hohen Beamten vorbehalten gewesen. Die normalen Menschen - Krieger, Beamte, Bauern und Handwerker - waren im Wüstensand begraben oder in Gemeinschaftsgräbern beigesetzt worden.

Die angebliche Kriegermumie war keine richtige Mumie - nicht in dem Sinn, in dem er das Wort gerade Werner und seinen Begleitern erklärt hatte. Was unter den halb vermoderten Stoffstreifen, die nachlässig um ihn gewickelt worden waren, von seiner Haut sichtbar war, das war zu etwas vertrocknet, das fast wie schwarzes, zähes Leder aussah. Es waren nicht Menschen gewesen, die ihn sorgsam präpariert und für die Ewigkeit geschützt hatten, sondern die glühende Wüstensonne und die Trockenheit hatten seinem Körper alle Flüssigkeit entzogen, so daß er nicht in Fäulnis übergehen und weiter verfallen konnte - was in der Vitrine stand, das war ein Toter, der jahrtausendelang im Wüstensand begraben gelegen haben mochte, ehe er gefunden und hierhergebracht worden war.

Links von der seltsamen Mumie lehnte ein oben bogenförmig zulaufender Schild, rechts eine verrostete Lanze, und zu seinen Füßen lag ein Dolch, der ganz so aussah, als ob man ihn nach all der langen Zeit noch gut verwenden könnte.

Irgendwie fühlte sich Aton unbehaglich. Er sagte sich selbst, daß es albern war, und trotzdem empfand er es als ungerecht: Dieser Mann hatte Jahrtausende in seinem Grab im Sand der Wüste gelegen, und es war einfach nicht richtig, ihn aus seiner ewigen Ruhe zu reißen und hier auszustellen, wo er begafft wurde wie ein Tier im Zoo. Und als hätte er seine Gedanken gelesen und wollte ihm beipflichten, öffnete der Krieger in diesem Moment die Augen und sah ihn an.

Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Werner heulte auf, als Aton zurückprallte und ihm so kräftig auf die Zehen trat, daß der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb, trotzdem packte er Aton schleuderte ihn gegen einen seiner Freunde. Dieser geriet aus dem Gleichgewicht, krallte sich an Aton fest und stürzte mit ihm zu Boden - und das so unglücklich, daß Aton ihm dabei unabsichtlich den Ellbogen in den Magen rammte. Der andere keuchte vor Schmerz und versetzte Aton einen Hieb auf die Nase, der bunte Sterne vor seinen Augen tanzen ließ - und Aton hob die Hand, um dem Burschen eine Ohrfeige zu verpassen.

Doch bevor er die Bewegung ausführen konnte, fühlte er sich von kräftigen Händen am Gürtel gepackt und hochgezerrt.

»So!« brüllte Werner. »Du willst also Streit, wie? Den kannst du haben.«

Aton riß instinktiv die Hände hoch, um sich vor den Ohrfeigen zu schützen, die ihm Werner gleich verpassen würde, und drehte den Kopf etwas zur Seite. Dabei fiel sein Blick auf die große Vitrine, und sein Herz schien einen regelrechten Sprung in seiner Brust zu machen.

Der Krieger hatte sich bewegt!

Die Lanze lehnte nicht mehr neben ihm, sondern befand sich plötzlich in seiner Hand, und auch der Schild war nicht mehr an seinem Platz, sondern hing am Arm der Mumie. Die ganze Gestalt wirkte angespannt, als wollte sie sich im nächsten Moment auf Werner stürzen, der kaum einen Meter vor der Glasvitrine stand.

»Paß auf!« schrie Aton entsetzt. »Hinter dir!«

Werner lachte und versetzte Aton die erwartete Ohrfeige, die ihn bunte Lichtblitze sehen ließ. Trotzdem konnte Aton die Augen nicht von dem Mumienkrieger wenden. Er hatte sich wieder bewegt. Die Lanze war jetzt fast ganz erhoben, der linke Arm mit dem Schild angewinkelt, und die Drähte, an denen der Krieger hing, waren bis zum Zerreißen gespannt.

Werner wollte erneut zuschlagen - da taumelte der Krieger in einem Regen aus zersplitterndem Glas aus der Vitrine hervor und stieß gegen ihn. Die Lanzenspitze verfehlte Werners Brust um Haaresbreite, zerriß aber seine Jacke und das Hemd darunter und hinterließ eine lange, blutige Schramme auf seiner Haut, und der Schild prallte so heftig in Werners Kniekehlen, daß dieser mit einem keuchenden Laut das Gleichgewicht verlor. Mit wild rudernden Armen suchte er irgendwo Halt, erreichte aber damit nur, daß er zur Seite fiel und dabei an den kleineren Vitrinenschrank mit der Katzenmumie stieß.

Die beiden Burschen, die Aton gepackt hielten, ließen ihr Opfer unverzüglich los und eilten Werner zu Hilfe - und damit war das Chaos endgültig perfekt.

Einer der beiden stolperte und geriet in die Bahn der Mumie, die just in diesem Moment wie in Zeitlupe nach vorne kippte und den Jungen unter sich begrub; der andere versuchte, Werner festzuhalten, wurde aber von diesem mit zu Boden gerissen - und der Glaswürfel kippte endgültig von seinem Sockel, stürzte auf die beiden hinunter und zerbrach in tausend Stücke. Die Katzenmumie rollte heraus und landete direkt auf Werners Gesicht. Aus seinen Schreien wurde ein hysterisches Kreischen, das einen Moment später in einem erstickten Laut unterging.

»Was zum Teufel ist denn hier los?« schrie eine Stimme hinter Aton. Erschrocken wandte er sich um und erblickte Zombeck, der im Laufschritt herbeigeeilt kam, dicht gefolgt von den beiden anderen Lehrern und dem Rest der Schüler. »Was tut ihr denn hier? Seid ihr - o Gott! Aufhören! Sofort aufhören!«

In jeder anderen Situation hätte Aton sicher seine helle Freude an dem entsetzten Ausdruck auf Zombecks Gesicht gehabt, aber jetzt schenkte er ihm nur einen flüchtigen Blick, ehe er sich wieder zu Werner und dessen beiden Freunden herumdrehte.

Sie boten einen grotesken Anblick. Einer der Jungen lag, alle viere von sich gestreckt, unter der Mumie, die durch eine Laune des Zufalls tatsächlich so über ihn gefallen war wie ein Krieger, der seinen Gegner unter sich begrub: Der Schild drückte Schultern und Kopf des Jungen gegen den Boden, während sich die Lanzenspitze nur Millimeter unter seiner Achsel hinweg tief in den Fußboden gegraben hatte, so daß der arme Kerl zwar unverletzt geblieben war, aber trotzdem regelrecht an den Boden genagelt wurde. Der zweite Junge hockte benommen inmitten eines gewaltigen Scherbenhaufens und betrachtete seine Hände, die mit winzigen Schnitten übersät waren, und Werner selbst bot einen grotesken Anblick: Er lag auf dem Rücken, strampelte mit den Beinen und gab gurgelnde Laute von sich, während er mit beiden Händen versuchte, eine dreitausend Jahre alte Katze von seinem Gesicht hinunterzustoßen, die sich tief in seine Haut gekrallt zu haben schien.

Zombeck allerdings fand den Anblick nicht im geringsten komisch. Ganz im Gegenteil: Er sah aus, als träfe ihn jeden Augenblick der Schlag. Mit einem einzigen Satz war er an Aton vorbei, stürzte sich auf Werner - und erstarrte mitten in der Bewegung. Offensichtlich begriff er erst jetzt wirklich, was hier geschehen war.

Seine Augen quollen förmlich aus den Höhlen, während sein Gesicht die Farbe wechselte. »Was - ist - hier - los?« stammelte er schließlich fassungslos.

Werner hatte sich mittlerweile endlich von der toten Katze befreit. Keuchend setzte er sich auf, fuhr sich angeekelt mit beiden Händen über das Gesicht und versetzte der Mumie einen Tritt, der sie gegen den Sockel schleuderte, von dem sie heruntergestürzt war. Sie zerbrach in zwei Teile.

Zombeck gab einen Laut von sich, als würden ihm sämtliche Zähne auf einmal gezogen (und zwar ohne Narkose). Dann verdunkelte jäher Zorn sein Gesicht.

»Werner!« sagte er. »Natürlich. Wer auch sonst!« Er machte einen Schritt auf ihn zu und blieb wieder stehen, als Werner aufstand. Er bot einen geradezu erschreckenden Anblick: keuchend vor Furcht und Ekel und mit einem Gesicht, das aussah, als hätte er eine Auseinandersetzung mit einer Brotschneidemaschine gehabt.

In diesem Moment kamen die anderen herbei. Frau Steller schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als sie sah, was geschehen war, während Herr Dufeu sich hastig neben dem Jungen niederkniete, der unter der Mumie begraben worden war, und versuchte, den toten Krieger von ihm herunterzubringen. Allerdings gab er sein Vorhaben sofort wieder auf, denn unter seinen zupackenden Fingern zerfielen die morschen Stoffstreifen, die den toten Körper umhüllten, zu Staub.

»Um Gottes willen!« keuchte Zombeck. »Seien Sie vorsichtig!«

Dufeu wirkte plötzlich sehr nervös - vermutlich war ihm zu Bewußtsein gekommen, welch ungeheuren Wert das darstellte, was da wie ein Haufen vermoderter Lumpen auf dem Jungen lag. Unsicher streckte er ein zweites Mal die Hände aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern griff nach den Füßen des Jungen, um ihn behutsam unter dem Mumienkrieger hervorzuziehen. Es gelang ihm erst, als ihm Frau Steller und zwei weitere Schüler dabei halfen, und selbst dann blieben ein paar zerrissene Stoffstreifen und kleine, grauschwarze Brocken auf dem Boden zurück.

Zombeck sah wortlos zu, bis die Befreiungsaktion zu Ende war. Dann richtete er sich auf und ließ seinen Blick eisig über die Gesichter der drei Übeltäter streifen. Zuletzt wandte er sich an Aton.

»Was ist hier passiert?« fragte er. »Von Werner und diesen beiden habe ich nichts anderes erwartet, aber du? Was habt ihr nur getan? Habt ihr auch nur eine Vorstellung davon, was diese Dinge wert sind?«

»Ich ... es ... es ist nicht meine Schuld«, stammelte Aton. Er war noch immer zutiefst verwirrt. Er starrte die Mumie an, die wieder zur Reglosigkeit erstarrt war, und für eine Sekunde war er fest davon überzeugt, daß sie im nächsten Augenblick aufspringen und einfach davonmarschieren würde.

Natürlich geschah das nicht. Der Krieger hatte sich nie bewegt. Nicht wirklich. Alles war nur Einbildung gewesen - ein Streich, den ihm seine Angst gespielt hatte. Werners Ohrfeige hatte ihn ja halb bewußtlos gemacht. Und trotzdem ... es war so realistisch gewesen.

»Ich warte«, sagte Zombeck. Seine Stimme zitterte. Er hatte alle Mühe, sich noch zu beherrschen.

»Ich ... es tut mir leid«, stieß Aton mühsam hervor. »Ich wollte das nicht. Aber Werner ...«

»Werner.« Dieses Wort allein schien Zombeck als Antwort auszureichen. »Natürlich - wer auch sonst? Wo immer es Ärger gibt, bist du dabei, nicht? Und wenn es keinen gibt, dann machst du eben welchen.« Er wandte sich zu Werner um und starrte ihn finster an. Werner erwiderte seinen Blick trotzig - aber Aton bemerkte auch, daß er viel von seiner gewohnten Selbstsicherheit eingebüßt hatte. Unter all dem Blut und Schmutz auf seinem Gesicht war er kreideweiß geworden.

Seine Hände zitterten.

»Hast du überhaupt eine Ahnung, was ihr getan habt?« fuhr Zombeck fort und beantwortete seine Frage gleich selbst, indem er den Kopf schüttelte. »Natürlich nicht. Diese Dinge hier sind unvorstellbar wertvoll. Mit Geld gar nicht aufzuwiegen! Und ihr ... ihr -« Er brach ab. Ihm fehlten einfach die Worte.

»Ich glaube, wir sollten einen Arzt rufen«, sagte Frau Steller. Sie deutete auf Werners blutiges Gesicht und den häßlichen Kratzer an seiner Seite. »Wenn er sich an der Mumie verletzt hat, dann kann er sich alle möglichen Infektionen zuziehen.«

Sie maß die beiden anderen Jungen mit einem prüfenden Blick, stellte fest, daß sie unverletzt waren, und wandte sich schließlich Aton zu.

»Was ist mit dir? Deine Nase blutet.«

»Das war Werner«, antwortete Aton. Ihm fiel zu spät ein, daß sich diese Worte wie ein Vorwurf anhörten, nicht wie die Beruhigung, die sie sein sollten. Erschrocken sah er zu Werner auf, aber der schien seine Antwort gar nicht mitbekommen zu haben: Er starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die tote, zweigeteilte Katze hinab, die am Fuße des Sockels lag.

Zum ersten Mal, solange Aton Werner kannte, sah er echte Angst in dessen Augen. Und plötzlich war er gar nicht mehr so sicher, daß er sich wirklich alles nur eingebildet hatte.

»Sie haben recht«, sagte Zombeck. »Nehmen Sie sich ein Taxi und fahren Sie mit den Jungen ins nächste Krankenhaus. Sie sollen sie gründlich untersuchen. Und wir ...« Er seufzte tief und drehte sich zu Dufeu herum, der noch immer dastand und mit unglücklichem Gesichtsausdruck auf die Mumie hinuntersah, »... werden den Direktor des Museums suchen. Ich fürchte, wir haben ihm eine Menge zu erklären.«

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