Ein Anruf mit Folgen

Sascha kam pünktlich, und sie brachte auch die versprochene Pizza mit. Wie Aton erwartet hatte, war sie nicht besonders schmackhaft, stillte aber zumindest seinen ärgsten Hunger, und der Umstand, nicht mehr allein zu sein, ließ das gemeinsame Fast-food-Abendessen zu einem wahren Festmahl werden. Hinterher saßen sie noch eine ganze Weile in vertrautem Schweigen da, und es war auch nicht nötig, daß einer von ihnen sprach - obwohl sie sich gerade erst ein paar Tage kannten, fühlte sich Aton in Saschas Gegenwart geborgen und sicher. Die junge Frau hatte irgend etwas an sich, was sie zu einer Freundin machte, auch ohne viele Worte oder Jahre, die sie sich kannten.

Aton erzählte von seinem Traum, und Sascha hörte aufmerksam und mit sehr ernstem Gesicht zu. Wenn sie seine Worte in irgendeiner Weise anzweifelte, so ließ sie sich dies jedenfalls nicht anmerken. Schließlich nickte sie, stand wortlos auf und verschwand wieder in der Küche, um einige Augenblicke später mit zwei Gläsern Cola zurückzukommen.

»Du glaubst also, daß da noch mehr ist?« begann sie, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.

»Vielleicht«, antwortete Aton. »Ich hatte das Gefühl, daß ...« Er suchte nach Worten und zuckte dann mit den Schultern. »Daß hinter dieser Tür etwas Wichtiges war.«

»Vielleicht war es auch nur ein Traum«, sagte Sascha. »Du erinnerst dich an gar nichts von damals?«

»Ich war fünf Jahre alt«, erwiderte Aton kopfschüttelnd. »Ich weiß nur, daß ich furchtbare Angst hatte. Ich war mit meinen Eltern im Tal der Könige. Wir waren in einer Höhle, hinter der man wohl ein weiteres Pharaonengrab vermutete. Plötzlich gab es einen Erdrutsch. Ich wurde von den anderen getrennt. Der Eingang war verschüttet, aber statt zu warten, bis man mich herausholte, muß ich wohl stundenlang herumgeirrt sein. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Irgendwann am nächsten Tag wachte ich dann im Krankenhaus in Kairo wieder auf.«

»Dann hast du sozusagen ein neues Königsgrab entdeckt?« fragte Sascha überrascht.

»Nur ein paar leere Gänge«, antwortete Aton bedauernd. »Man vermutete, daß es ein Grab werden sollte, aber es ist nie fertiggestellt worden. Keine große Entdeckung. Nur ein leerer Raum und ein paar Stollen ...« Seine Stimme wurde leiser, während er sprach, und er konnte regelrecht spüren, wie die Worte die Angst zurückbrachten. Ob der Traum nun wirklich nur ein Traum war, wie Sascha vermutete, oder ob er die verschüttete Erinnerung an etwas, was er tatsächlich erlebt hatte, aufsteigen ließ - allein darüber zu reden brachte den Schrecken zurück. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht recht.

»Und was hast du herausgefunden?« fragte er schließlich.

»Eine Menge«, antwortete Sascha. »Was willst du zuerst hören?«

»Die guten oder die schlechten Nachrichten?« fragte Aton lächelnd.

Sascha blieb ernst. »Die schlechten oder die ganz schlechten Nachrichten«, verbesserte sie ihn. »Mit guten kann ich im Moment leider nicht dienen.«

»Fang mit den schlechten an«, seufzte Aton.

»Dein Freund Petach«, sagte Sascha. »Ich habe den Computer nach ihm befragt. Er behauptet, es gibt ihn nicht.«

»Wie?« fragte Aton verblüfft.

»Es liegt weder ein Einreisevisum für einen Mann dieses Namens vor noch eine Aufenthaltsgenehmigung oder gar eine Arbeitserlaubnis. Ein Wagen auf seinen Namen ist auch nicht angemeldet, und die Adresse, die er dir genannt hat, ist falsch. Dort steht nicht einmal ein Haus. Du sagst, er ist Professor an der Universität von Kairo?«

»Jedenfalls hat er das erzählt«, sagte Aton.

»Dann hat er gelogen«, antwortete Sascha ruhig. »Ich habe ein Telefax nach Kairo geschickt. Dort hat man niemals von einem Mann namens Petach gehört - allerdings haben sie in ihrer Antwort nachgefragt, ob wir sie auf den Arm nehmen wollen.«

»Wieso?« fragte Aton.

»Sie kennen niemanden, der Petach heißt, aber den Namen haben sie durchaus schon gehört. Petach - eigentlich Ptah, aber man spricht es eben Petach aus - ist der Name des obersten altägyptischen Gottes, noch über Amun und Re.« Sie lachte. »An mangelndem Selbstbewußtsein scheint dein Freund jedenfalls nicht zu leiden.« Sie trank einen Schluck Cola. »Willst du jetzt auch noch die ganz schlechten Neuigkeiten hören?«

»Habe ich eine Wahl?« fragte Aton.

Sascha schien dies als Ja zu interpretieren, denn sie fuhr fort: »Dieser Arzt, mit dem Petach angeblich gemeinsame Sache gemacht hat. Dieser Dr. Sufi.«

»Kennt euer Computer ihn auch nicht?« fragte Aton.

»Doch«, antwortete Sascha. »Er ist sogar ein ziemlich berühmter Mann, der Leiter einer renommierten Privatklinik außerhalb der Stadt, und wie es heißt, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, wenn auch ansonsten ein ziemlicher Sonderling.« Sie sah Aton eindringlich an. »Aber eigentlich müßte es heißen, er war das alles.«

»Warum?« fragte Aton.

»Er ist tot«, antwortete Sascha leise. »Dr. Ibrahim Sufi ist vor zwölf Jahren gestorben.«

Aton starrte sie an. Sascha ließ ihm eine ganze Weile Zeit, zu antworten oder sonst irgendwie zu reagieren. Als er nichts davon tat, seufzte sie tief und sagte: »Die Frage ist, was wir jetzt weiter tun. Ich müßte eigentlich meine Vorgesetzten verständigen und eine Großfahndung nach diesem Petach einleiten.«

»Und wieso?« fragte Aton. »Ist Zauberei vielleicht verboten?«

»Nein«, antwortete Sascha ernst, »aber Entführung, Mordversuch und Freiheitsberaubung sind es schon. Das Problem ist nur: Man wird mir nicht glauben.« Sie seufzte wieder tief. »Ich glaube es ja selbst noch immer nicht so richtig.«

Aton fühlte sich plötzlich wieder sehr niedergeschlagen und traurig. Dem Gefühl der Sicherheit und Zuversicht, mit dem ihn Saschas Gegenwart erfüllt hatte, folgte eine um so größere Enttäuschung. Vielleicht war er hier tatsächlich in Sicherheit, aber das änderte nichts daran, daß er die Geschehnisse genausowenig wie früher verstand und nach wie vor keine Ahnung hatte, was Petach von ihm wollte. »Vielleicht solltest du wirklich deine Kollegen anrufen«, sagte er. Er lachte unsicher. »Vermutlich stecken sie mich sofort in eine Zwangsjacke, aber wahrscheinlich bin ich dort sicherer als hier.«

»Das werde ich müssen«, sagte Sascha ernst. Sie hob beruhigend die Hand, als Aton zusammenfuhr, und fügte hinzu: »Aber nicht sofort. Es gibt noch eine Sache, die wir tun können.«

»Und was?«

Sascha griff in die Tasche und zog einen zerknitterten Zettel heraus. »Ich habe die Firma deines Vaters angerufen«, sagte sie. »Sie haben mir eine Telefonnummer gegeben, unter der ich ihn erreichen kann. Wenn du willst, rufen wir ihn gleich an.«

Sie erhob sich und machte eine auffordernde Geste, mitzukommen. Aton folgte ihr in den Flur, wo das Telefon auf einer kleinen Kommode neben der Eingangstür stand.

Schweigend sah er zu, wie Sascha eine vierteilige Telefonnummer eintippte und anschließend eine weitere Taste auf dem Apparat drückte, die einen kleinen Lautsprecher in Gang setzte. Überlagen von knisternden Störgeräuschen konnten sie das Klacken der Relais hören, als der Ruf sich elektronisch seinen Weg über Tausende von Kilometern bis ins ferne Ägypten bahnte. Es dauerte sehr lange, bis das Knistern und Knacken vom gleichmäßigen Geräusch des Freizeichens abgelöst wurde.

»Wunder der Technik«, sagte Sascha kopfschüttelnd. »Irgendwo in der Wüste klingelt jetzt das Telefon.« Und das tat es sehr lange. Aton zählte das Tuten des Freizeichens mit. Es klingelte insgesamt fünfzehnmal, dann wurde die Verbindung automatisch unterbrochen, und Sascha drückte die Gabel hinunter und betätigte die Wiederholungstaste. Die ganze Prozedur begann von neuem.

»Vielleicht hört er es gar nicht«, sagte Aton. »Ich glaube, sie haben nur diesen einen Anschluß auf der Baustelle. Irgendwo in einem Büro. Wenn im Moment niemand dort ist -«

Aber es war jemand dort. Unvermittelt brach das Freizeichen ab, und Aton hörte die Stimme seines Vaters, sehr leise und von einem knisternden Rauschen und Pfeifen begleitet, aber unverkennbar. »Ja?« fragte er. »Was ist denn? Ich hatte doch gebeten -«

»Vater?« fragte Aton.

Das Telefon mußte wohl über eine moderne Freisprecheinrichtung verfügen, denn sein Vater verstand ihn, obwohl Sascha den Hörer noch immer in der Hand hielt. Ein Moment verblüfften Schweigens folgte, dann antwortete sein Vater: »Aton? Bist du das?«

Etwas am Klang seiner Stimme erschreckte Aton. Er klang natürlich überrascht, zugleich aber auch deutlich verärgert.

»Ja«, antwortete Aton. »Bitte entschuldige, wenn ich dich anrufe, aber es ist etwas passiert. Ich muß dringend mit Mutter und dir reden.«

»Schön, daß es dir gutgeht«, antwortete sein Vater. »Aber wieso rufst du deshalb extra an? Aton, ich habe dir gesagt, daß wir hier große Schwierigkeiten haben.«

Aton tauschte einen verblüfften Blick mit Sascha. Die junge Frau sah ebenso erstaunt drein wie er, zuckte aber nur mit den Schultern, und Aton versuchte es noch einmal.

»Es geht mir eben nicht gut, Vater. Etwas Schlimmes ist passiert. Und ich fürchte, ihr seid auch in Gefahr.«

»Ich verstehe ja, daß du dich einsam fühlst«, antwortete sein Vater, nur noch mühsam beherrscht. »Aber hier ist wirklich der Teufel los. Wenn es etwas Wichtiges gibt, dann sag es mir bitte, und dann häng wieder ein. Die Leitung muß frei bleiben. Ich erwarte einen dringenden Anruf aus Kairo.«

»Wieso verstehst du mich denn nicht?« fragte Aton, einer Panik nahe. »Vater, Petach hat versucht, mich umzubringen! Irgend etwas Schreckliches geht hier vor!«

»Also gut«, antwortete Atons Vater. »Ich verspreche dir, dich morgen oder übermorgen anzurufen, sobald sich die Lage hier etwas beruhigt. Deine Mutter fährt zurück nach Kairo ins Hotel. Es kann sogar sein, daß sie nach Hause zurückkommt.«

»Aber hör mir doch zu!« rief Aton. »Ihr seid in Gefahr! Petach hat -«

»Ich hänge jetzt ein«, sagte sein Vater. »Bitte sei nicht böse, aber es ist wirklich wichtig, daß die Leitung frei bleibt. Ich werde dich anrufen, sobald es hier ein bißchen ruhiger geworden ist.« Und damit wurde die Verbindung unterbrochen.

Aton starrte zuerst das Telefon und dann Sascha fassungslos an. »Aber das ist doch unmöglich«, murmelte er. »Er ... er scheint mich überhaupt nicht verstanden zu haben!«

»Vielleicht war die Verbindung so schlecht«, sagte Sascha.

Die Worte klangen nicht besonders überzeugend, und ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie selbst auch nicht an diese Erklärung glaubte. Umgekehrt hatten sie beide Atons Vater sehr gut verstanden, und selbst, wenn die Leitung in die andere Richtung viel schlechter gewesen sein sollte - die Antworten, die sie gehört hatten, waren nicht die auf das gewesen, was Aton gesagt hatte.

»Petach«, flüsterte er. »Das war Petach.«

»Unsinn«, sagte Sascha. »Er kann nicht wissen, daß du hier bist.«

»Aber er weiß, wo meine Eltern sind«, antwortete Aton. Plötzlich hatte er das Gefühl, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben. »Wir hätten das nicht tun dürfen«, sagte er.

»Was?« fragte Sascha.

»Anrufen«, antwortete Aton. Er wurde immer nervöser. Etwas geschah. Er konnte es fühlen. »Sie wissen jetzt, wo wir sind«, sagte er.

»Bitte red nicht so einen Unsinn«, antwortete Sascha. Sie gab sich Mühe, ruhig und sachlich zu sprechen, aber in ihrer Stimme war auch ein leiser nervöser Unterton. »Du hast kaum zwei Minuten mit ihm geredet, und -«

Das Telefon klingelte. Sascha runzelte die Stirn und streckte dann die Hand nach dem Hörer aus. Aton sagte erschrocken: »Nicht abheben!«

Sascha zog die Hand wieder zurück, aber dann machte sie eine übertrieben beruhigende Geste, nahm den Hörer ab und meldete sich.

Aton konnte nicht verstehen, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, aber er konnte sehen, wie plötzlich alle Farbe aus Saschas Gesicht wich. Einige Sekunden lang hörte sie schweigend zu, dann drehte sie sich mit einer sonderbar hölzern wirkenden Bewegung zu Aton herum und reichte ihm den Hörer.

Wortlos griff er danach und hielt ihn ans Ohr. Es war Petach.

»Hör mir zu, Aton«, begann Petach in einem schnellen, gehetzten Tonfall, den Aton noch nie bei ihm erlebt hatte. »Stell keine Fragen, sondern hör einfach nur zu und tu, was ich dir sage. Ich weiß, daß es dir schwerfallen muß, mir zu vertrauen, aber du mußt es noch einmal tun. Sie wissen, wo du bist, und werden dich holen. Ich erwarte dich am Flughafen, in einer Stunde.«

»Warum sollte ich Ihnen trauen?« fragte Aton.

In Petachs Stimme war plötzlich Panik. »Dazu ist jetzt keine Zeit, Aton!« Er schrie beinahe. »Ich werde dir alles erklären, das verspreche ich dir. Bring meinetwegen deine Freundin mit, aber verlaßt die Wohnung, wenn ihr am Leben bleiben wollt!«

Und damit hängte er ein. Aton legte den Hörer auf die Gabel zurück und sah wieder zu Sascha hoch. »Am Flughafen? Was um alles in der Welt soll ich dort?«

»Ich schlage vor, wir fragen Petach selbst danach«, antwortete Sascha. Sie sah noch immer verwirrt und erschrocken drein, aber ihre Stimme klang sehr entschlossen. »Wir werden genau das tun, was Petach vorgeschlagen hat. Wir werden gemeinsam dorthin fahren. Mit einer kleinen Änderung.« Sie erklärte nicht, was sie damit meinte, sondern wies mit der Hand zum Gästezimmer. »Im Schrank hängt eine Jacke. Geh und hol sie. Ich will inzwischen schnell telefonieren.«

»Petach hat gesagt, wir sollten sofort gehen«, sagte Aton.

»Es dauert nicht lange«, erwiderte Sascha. »Außerdem weigere ich mich noch immer, an Gespenster und lebende Mumien zu glauben. Und im allerschlimmsten Fall haben wir noch das da.« Sie machte eine Kopfbewegung zu ihrer Uniformjacke hin, die an einem Haken neben der Tür hing. Unter der grünen Jacke lugte der Gürtel hervor, an dem ihre Pistolentasche befestigt war. Der Anblick beruhigte Aton allerdings kein bißchen. Sie hatten es nicht mit einem Gegner zu tun, den man sich mit einer Pistole vom Leib halten konnte; vermutlich mit gar keiner von Menschenhand erschaffenen Waffe. Aber er sagte nichts, sondern lief ins Gästezimmer zurück, um die Jacke zu holen.

Er mußte nicht lange danach suchen. Der Schrank war bis auf den Kleiderbügel mit der schweren Steppjacke - die so genau paßte, als wäre sie eigens für ihn angefertigt worden - vollkommen leer. Aton schlüpfte hinein, verließ das Zimmer wieder und kam gerade noch zurecht, um mit anzuhören, wie Sascha sich von jemandem verabschiedete und dann den Hörer einhängte. Das Gespräch mußte wirklich sehr kurz gewesen sein. Er hatte nicht viel mehr als eine Minute gebraucht, um die Jacke zu holen.

»Wen hast du angerufen?« fragte er.

Sascha überging die Frage. Sie zog ihre Jacke an, schnallte den Pistolengürtel um und schob ihren Pferdeschwanz unter ihre Dienstmütze. Dann öffnete sie die Tür und schob Aton in den Hausflur. Aber als er nach dem Lichtschalter greifen wollte, legte sie rasch die Hand auf seinen Unterarm und hielt ihn zurück. »Warte!« flüsterte sie.

Aton erstarrte mitten in der Bewegung. Er konnte Sascha nur als Schatten vor sich erkennen, wie sie angespannt lauschte, und Aton tat es ihr gleich.

Rings um sie waren die natürlichen Geräusche des Hauses: das kaum wahrnehmbare Summen der Heizung tief unten im Keller, gedämpfte Stimmen, Musik und die Geräusche der Fernsehgeräte, die in den anderen Wohnungen liefen, und ganz fern der Verkehrslärm der Stadt, der von draußen hereindrang. Aber das war nicht alles. Unter all diesen Lauten war noch etwas, ein Geräusch, das gar nicht richtig hörbar, aber so fremd und bedrohlich war, daß er es sofort registrierte. Etwas war hier.

»Was ist das?« flüsterte er.

Sascha deutete ihm, still zu sein, löste die Hand von seinem Arm und trat an ihm vorbei. Er konnte sehen, wie sich ihre Rechte auf die Pistolentasche senkte und sie öffnete, die Waffe aber noch nicht zog. Ihre ganze Haltung drückte höchste Konzentration aus.

Das Geräusch wurde deutlicher. Es hatte immer noch nicht die Schwelle überschritten, jenseits derer er es wirklich identifizieren konnte, aber es war ein Laut, den er trotz aller Fremdartigkeit schon einmal gehört hatte - und diese Erinnerung war mit einem so deutlichen Gefühl von Gefahr verbunden, daß sein Herz von einer Sekunde auf die andere zu rasen begann.

Unter ihnen im Hausflur war das Scharren krallenbewehrter Pfoten über Stein, das Gleiten eines mächtigen Körpers, der sich mühsam die Treppe hinaufzuschieben begann ... und dann wußte Aton plötzlich, woher er dieses Geräusch kannte.

Es war das Ungeheuer aus seinem Traum. Die Schimäre hatte ihn gefunden. Sie hatte zehn Jahre nach ihm gesucht, und nun war sie hier, um zu Ende zu bringen, was ihr damals nicht gelungen war.

Ohne auf Saschas warnende Geste zu achten, trat Aton an ihr vorbei und lehnte sich über das Treppengeländer, um nach unten zu sehen. Was immer dort unten war, konnte nicht so schlimm sein wie das, was ihm seine Phantasie vorgaukelte.

Er blickte direkt in ein Paar gewaltige rotglühende Augen, die zu einem schattenhaften Körper von so bizarrer Form gehörten, daß sein Verstand sich einfach weigerte, ihn richtig wahrzunehmen. Und jetzt schoß seine mühsam zurückgehaltene Furcht mit solcher Plötzlichkeit in ihm hoch, daß er einen gellenden Schrei ausstieß und so heftig zurücksprang, daß er Sascha um ein Haar von den Füßen gerissen hätte.

Hilflos taumelte er gegen das Treppengeländer, rappelte sich wieder hoch und - hinter ihm stand die Mumie. Der Krieger war keine zwei Meter mehr von ihm entfernt, und diesmal kam Atons Reaktion zu spät. Eine Hand von unmenschlicher Stärke packte ihn, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, daß ihm die Luft wegblieb und er keuchend zu Boden sank. Die schiere Todesangst gab ihm die Kraft, sofort wieder hochzuspringen, aber der andere war einfach stärker. Aton spürte einen grausamen Schlag, der ihn ein zweites Mal in die Knie brechen und halb bewußtlos werden ließ, dann wurde er erneut gepackt und auf den Rücken geworfen. Der Unheimliche beugte sich über ihn. In seiner Hand blitzte plötzlich ein Dolch. Die tödliche Klinge näherte sich seinem Gesicht, seiner Kehle.

Ein Schuß fiel. In der Enge des Hausflures hallte das Geräusch als dutzendfach gebrochenes Echo wider, und Aton konnte sehen, wie die Kugel die Mumie direkt über dem Herzen traf. Eine winzige Staubwolke stieg aus den dreitausend Jahre alten Stoffstreifen hoch, eine zweite, deutlich größere, löste sich von ihrem Rücken, als das Geschoß den Körper ohne sichtbaren Widerstand durchdrang und hinter ihm in die Wand fuhr. Der niederfahrende Dolch verfehlte Atons Kehle und schlug neben ihm Funken aus dem Boden, und Aton reagierte ganz instinktiv auf die einzig richtige Art: Mit einer verzweifelten Bewegung richtete er sich auf und stieß dem Unheimlichen die flachen Hände vor die Brust.

Die Mumie taumelte, geriet aus dem Gleichgewicht und prallte gegen das Geländer. Der Dolch entglitt ihren Fingern und fiel klirrend zu Boden, einen Augenblick später ließ sie auch den schweren Metallschild fallen und kämpfte um ihre Balance. Jetzt hatte Sascha das freie Schußfeld, auf das sie gewartet hatte: drei-, vier-, fünfmal hintereinander drückte sie ab. Aus der Brust der Mumie explodierten graue Staubwolken, und wenn die Kugeln sie auch nicht verletzen konnten, so entschieden sie doch den Kampf, den der Unheimliche mit der Schwerkraft ausfocht. Er kippte rücklings über das Geländer und verschwand lautlos in der Tiefe. Zwei Sekunden später klang ein dumpfer Aufprall von unten zu ihnen herauf.

Das Geräusch war noch nicht ganz verklungen, da erscholl ebenfalls von unten ein ungeheuerliches, zorniges Brüllen. Es war nicht die Stimme eines Menschen, auch nicht die eines Tieres. Es war ein Brüllen wie der Schrei eines zornigen Gottes, der das ganze Haus zu erschüttern schien und irgend etwas in Aton zum Erstarren brachte. Er konnte hören, wie aus dem Tappen der Pfoten auf der Treppe ein rasendes Galoppieren wurde. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern. Etwas Riesiges, Schwarzes mit rotglühenden Augen stampfte die Treppe herauf, so schnell wie der Wind und so unaufhaltsam wie eine Lawine. Aton stand da, vollkommen unfähig, irgend etwas zu tun oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, doch Sascha ergriff ihn am Arm und zerrte ihn mit sich in die Wohnung zurück. Mit einem Krachen flog die Tür hinter ihnen ins Schloß, und Sascha warf sich zusätzlich mit der Schulter dagegen und legte mit fliegenden Fingern die Kette vor.

»Lauf!« schrie sie Aton zu. »Das Fenster im Gästezimmer!«

Aton gehorchte. Während Sascha in verzweifelter Hast versuchte, die kleine Kommode vor die Tür zu rücken, rannte er zum Gästezimmer, stieß die Tür auf und war mit einem einzigen Satz am Fenster. Er wußte, daß unter ihm ein zwei Stockwerke tiefer Abgrund lag - doch als er das Fenster aufriß, entdeckte er etwas, was ihm bisher entgangen war: Neben dem Fenster führte eine schmale eiserne Leiter in die Tiefe.

Ein dröhnender Schlag erschütterte die Wohnung. Aton drehte sich herum und sah, wie Sascha hilflos von der Tür zurücktaumelte und gegen die Wand fiel. In der Tür war ein Riß entstanden, die Kommode war umgestürzt, und jetzt traf ein zweiter Schlag die Wohnungstür. Eine mächtige, krallenbewehrte Tatze erschien inmitten des zersplitternden Holzes, und eine Sekunde später wurde die Tür vollends aus den Angeln gerissen. Ein schwarzes, löwenmähniges Ungeheuer erschien in der gewaltsam geschaffenen Öffnung. Saschas Entsetzensschrei ging in einem urzeitlichen Brüllen und Knurren unter, mit dem sich die Bestie vollends hereinschob.

Sie hatte den Körper eines Löwen, aber unter der gewaltigen schwarzen Mähne nicht das Gesicht einer Raubkatze, sondern ein entfernt menschliches Antlitz und dazu ein Paar schwarz gefiederter Flügel, die so groß waren, daß es sie im Inneren der Wohnung nicht einmal zur Hälfte entfalten konnte.

»Aton!« schrie Sascha. »Bring dich in Sicherheit! Ich halte es auf!«

Der Kopf des Ungeheuers ruckte herum, als es Saschas Stimme hörte. Der Blick seiner riesigen rotglühenden Augen richtete sich voller Bosheit auf die junge Frau, die mit hastigen Bewegungen versuchte, ihre Waffe nachzuladen, obwohl die Pistole bei diesem Monstrum vermutlich noch viel weniger nutzen würde als bei der Mumie.

»Aton! Lauf!« schrie Sascha noch einmal. Sie hob ihre Waffe - und die Sphinx machte eine nachlässige Bewegung mit der linken Tatze, die Sascha quer durch den Vorraum fliegen ließ.

Mit einem einzigen Schritt folgte die Bestie ihrem Opfer und hob die Klaue zu einem vernichtenden Hieb. Sascha riß beide Arme vor das Gesicht - und Aton war mit einem einzigen Satz bei ihr und sprang das Ungeheuer mit weit ausgebreiteten Armen an.

Es war, als wäre er gegen einen Fels geprallt. Was wie weiches Fell aussah, das spannte sich über stahlharte Muskeln. Aton taumelte zurück und fiel, sein Angriff hatte das Ungeheuer nicht einmal erschüttert.

Aber die Klaue, die zum tödlichen Hieb erhoben über Sascha schwebte, sank hernieder, langsam drehte die Bestie den Kopf, fixierte nun Aton aus ihren schrecklichen, blutfarbenen Augen und begann sich ihm zu nähern. Ihre Krallen rissen tiefe Furchen in den Boden, und die halb entfalteten Schwingen fetzten Tapeten und Putz von den Wänden. Der peitschende Schwanz zertrümmerte die wenigen Möbelstücke, die das Eindringen der Bestie übriggelassen hatte.

Aton wich Schritt für Schritt zurück. Verzweifelt sah er sich nach einem Fluchtweg um, aber es gab keinen - die Sphinx hatte ihn in eine Ecke gedrängt, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Noch einen Schritt, und sie hatte ihn.

Ein zweiter schwarzer Schatten wirbelte durch die Türöffnung herein. Er war viel kleiner als die Sphinx, aber ebenso schnell und ebenso wild, und das Ungeheuer schien die Gefahr zu spüren, die plötzlich hinter ihm auftauchte, denn es ließ unvermittelt von Aton ab und fuhr herum. Aber diesmal war ihm seine eigene Größe hinderlich - in der Enge des Zimmers vermochte es sich einfach nicht schnell genug zu bewegen, und der neu aufgetauchte Angreifer prallte gegen seine Flanke, noch ehe es die Drehung gänzlich vollendet hatte.

Obwohl der Angreifer viel kleiner war als die Sphinx, riß sein Anprall das Monstrum von den Beinen. Die beiden Tiere stürzten krachend zu Boden, so daß das ganze Haus erzitterte, und Aton sah sich plötzlich von der nächsten Gefahr bedroht: Statt von den Zähnen und Klauen der Sphinx in Stücke gerissen zu werden, drohte der zentnerschwere Körper ihn jetzt niederzuwalzen. Aton brachte sich mit einem verzweifelten Sprung in Sicherheit, und nur den Bruchteil einer Sekunde später kollerten die Sphinx und der große schwarze Hund, der sich in ihrer Flanke verbissen hatte, dort entlang, wo er gerade noch gestanden hatte. Die beiden kämpfenden Ungeheuer prallten gegen die dünne Gipswand zwischen Diele und Wohnzimmer, die unter dem Gewicht der Kämpfenden zusammenbrach. Schlagende Flügel, Krallen und Fänge zertrümmerten Saschas ohnehin spärliche Einrichtung vollkommen.

Aton sah dem verbissenen Ringen der beiden nur einen Moment lang zu. Anubis war viel kleiner als die Sphinx, schien ihr aber trotzdem zumindest ebenbürtig, so daß keiner der beiden ungleichen Gegner einen entscheidenden Vorteil erringen konnte. Aton wartete auch nicht ab, wie der Kampf enden mochte - er war mit ein paar raschen Schritten bei Sascha und kniete neben ihr nieder.

Die junge Frau öffnete die Augen, als er sie berührte. Ihr Blick war verschleiert, aber Aton konnte zumindest keine äußerlichen Verletzungen erblicken. »Bist du in Ordnung?« fragte er.

Sascha sah ihn nur verständnislos an. Sie mußte wohl für einen Moment das Bewußtsein verloren haben, denn sie schien gar nicht zu begreifen, wovon er sprach. »Eje ...« murmelte sie. »Wo ist ...« Sie brach ab, richtete sich mit einem Ruck vollends auf, und dann konnte Aton regelrecht sehen, wie etwas in ihren Blick zurückkehrte, was vorher nicht darin gewesen war. Sie sah die beiden kämpfenden Ungeheuer nur kurz an, dann fuhr sie herum und zog Aton mit sich in Richtung auf die Tür.

Draußen im Hausflur war das Licht angegangen. Einige Wohnungstüren standen offen, und verschreckte, fragende Gesichter blickten ihnen entgegen, aber Sascha hetzte weiter und zerrte Aton so schnell hinter sich her, daß er alle Mühe hatte, nicht von den Füßen gerissen zu werden. Sie kamen zur Treppe, sprangen sie, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, hinunter, und als sie den letzten Absatz erreichten, stand die Mumie wieder vor ihnen. Schild und Dolch lagen noch oben vor Saschas Wohnungstür, doch der Ungeheuerliche trug seine Lanze bei sich. Mit weit ausgebreiteten Armen vertrat er ihnen den Weg und segelte plötzlich in hohem Bogen durch die Luft, als Sascha einen seiner Arme packte und ihn mit einem perfekten Judogriff zu Fall brachte.

Natürlich vermochte auch dieser Angriff die Mumie nicht zu verletzen. Nichts konnte ihr wirklichen Schaden zufügen. Aber sie wurde meterweit davongeschleudert, und noch bevor sie sich wieder aufrichten konnte, hatten Sascha und Aton die Haustür erreicht und stürmten ins Freie. Hinter ihnen erscholl ein zorniger Schrei. Die Lanze des Mumienkriegers zertrümmerte die Glastür, prallte nur eine Handbreit neben Sascha auf den Boden und rutschte klappernd davon.

Aton wollte sich nach links wenden, aber Sascha zerrte ihn in die andere Richtung und deutete mit der freien Hand auf einen Wagen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt war. Grob stieß sie ihn hinein, rannte um die Motorhaube und war hinter dem Steuer, noch bevor Aton die Tür richtig hinter sich zugezogen hatte. Der Zündschlüssel steckte, und der Motor schien anzuspringen, noch bevor Sascha ihn wirklich berührt hatte. Mit durchdrehenden Reifen rasten sie los.

Aton drehte sich im Sitz herum und sah zum Haus zurück. Obwohl Sascha aus dem Wagen herausholte, was sie konnte, sah Aton noch, wie die Haustür plötzlich in tausend Stücke zertrümmert wurde, die in weitem Umkreis auf die Straße herabregneten. Etwas Riesiges, Schwarzes mit roten Augen, Krallen und Flügeln brach aus dem Gebäude heraus. Dann hatten sie die erste Kreuzung erreicht und bogen mit quietschenden Reifen um die Kurve, und das Haus und das Ungeheuer waren Atons Blicken entzogen.

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