Yassir

Sie verließen das Hotel eine Stunde nach Sonnenaufgang. Sascha hatte ihn mit einem Frühstück geweckt, das für eine ganze Busladung ausgehungerter Touristen gereicht hätte, und sie hatte sich nicht nur passende Kleidung für ihre Weiterfahrt besorgt, sie sprudelte auch vor Energie nur so über und schien bester Laune zu sein. Aton hatte ihr nichts von seinem unheimlichen Erlebnis in der Nacht erzählt, und obwohl sie seine gedrückte Stimmung bemerkt haben mußte, war sie mit keinem Wort darauf eingegangen. Sie hatte auch einen anderen Wagen beschafft, einen robusten, allradgetriebenen Geländewagen, der aussah, als hätte er bereits dreimal die Strecke London-Tokio und zurück auf dem Buckel, aber zuverlässig lief.

Aton hatte sich die Frage erspart, wo sie den Großteil der Zeit über gewesen war. Er wußte, daß er sowieso keine zufriedenstellende Antwort erhalten hätte. Aber nachdem sie zehn Minuten gefahren waren und Sascha einmal kurz anhielt, um einen Blick auf ihre Karte zu werfen, stellte er eine andere Frage, die ihm fast ebenso wichtig war.

»Würde es dir etwas ausmachen, einen kleinen Umweg zu machen?«

Sascha hob den Blick von der Karte. »Du willst nach Gizeh?« vermutete sie.

Aton war sehr erstaunt. »Kannst du Gedanken lesen?« fragte er.

»Nein.« Sascha schüttelte lachend den Kopf und faltete die Karte zusammen, um sie ins Handschuhfach zu werfen. »Aber es ist nicht besonders schwer zu erraten, weißt du? Ich habe auch schon daran gedacht, mit diesem Yassir zu sprechen, von dem du mir erzählt hast. Ich weiß nur nicht, ob es eine gute Idee ist.«

»Ich auch nicht«, gestand Aton. »Aber vielleicht kann er uns sagen, was das alles bedeutet.«

Sascha zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?« sagte sie. »Es sind nur wenige Kilometer Umweg. Außerdem wollte ich die Pyramiden schon lange einmal sehen. Wenn wir allerdings zuviel Zeit verlieren, schaffen wir es heute nicht mehr bis zur Baustelle deines Vaters.«

»Das schaffen wir ohnehin nicht«, erwiderte Aton. Er machte eine Geste auf die Karte im Handschuhfach. »Die Strecke sieht vielleicht harmlos aus, aber sie ist es nicht. Wir kommen bestenfalls bis nach Amarna. Danach gibt es praktisch keine Straßen mehr. Es wäre völlig verrückt, in der Nacht durch die Wüste zu fahren.«

»Also gut«, sagte Sascha. »Vielleicht kann uns dieser Yassir ja weiterhelfen.« Sie fuhr wieder los, erspähte eine Lücke zwischen den Autos und wendete den Wagen mit quietschenden Reifen mitten im Verkehr. Ein wütendes Hupkonzert belohnte dieses Manöver, aber Sascha grinste nur und gab noch ein wenig mehr Gas. Auf den Straßen Kairos herrschte ein Getriebe, das mit keiner europäischen Großstadt zu vergleichen war. Und es waren nicht nur Automobile unterwegs, sondern auch Fußgänger, Radfahrer, Busse und Lastesel, die sich von dem Lärm und Chaos völlig unbeeindruckt zeigten und ihr möglichstes taten, das Durcheinander noch zu vergrößern. Aton war sehr erleichtert, als sie das Zentrum Kairos endlich hinter sich ließen und auf eine der wenigen Ausfallstraßen einbogen. Der Verkehr nahm kaum ab. Gizeh lag etwa zwölf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, und dort befand sich das, woran die meisten Menschen sofort denken, wenn sie das Wort Ägypten hören: die großen Pyramiden.

So überquerten sie zusammen mit einer ganzen Kolonne von Touristenbussen und Autos den Nil und fuhren die breite Straße entlang, an der nicht nur Wohnhäuser, sondern auch viele Hotels und Nachtlokale lagen. Sie brauchten eine gute Stunde länger, als Aton geschätzt hatte, und als sie den Wagen schließlich am Rande von Gizeh abstellten, um sich zu Fuß auf die Suche nach Yassir zu machen, war dort bereits eine große Anzahl von Touristen versammelt, die von einer weit größeren Anzahl von Fremdenführern, fliegenden Händlern, Bettlern und Kindern belagert wurde, die ihnen ihre Dienste anboten. Auch Sascha und Aton sahen sich ebenfalls sofort von fast einem Dutzend Einheimischer umringt, von denen jeder einzelne lautstark und gestenreich von sich behauptete, der beste Fremdenführer des Landes zu sein und ihnen große und gewaltige Geheimnisse zeigen zu können. Andere boten ihnen billige Souvenirs an, die sie in der Stadt für die Hälfte des Geldes hätten kaufen können, und wieder andere bettelten sie um ein Bakschisch oder Zigaretten an. Sascha sah ein bißchen unglücklich drein, aber Aton, der dies nicht zum ersten Mal erlebte, kannte auch einen todsicheren Weg, sich dieser Zudringlichkeit zu erwehren. Er behauptete einfach, kein Geld zu haben, woraufhin die allermeisten sofort das Interesse an ihnen verloren und auf der Suche nach anderen Opfern verschwanden. Nur ein einziger, etwas hartnäckigerer Bursche blieb zurück, den Aton unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen und der wenigen ägyptischen Worte, die er beherrschte, nach Yassir fragte. Der Mann tat zuerst so, als verstünde er ihn nicht, aber nachdem Sascha - auf einen entsprechenden Wink Atons hin - ihm einen Geldschein hinhielt, fand er sein Gedächtnis plötzlich wieder und deutete ihnen, mit ihm zu kommen.

Sie folgten der Touristenschar in einigem Abstand auf die Pyramiden zu. Auch für Aton, der sie schon gesehen hatte, war es ein grandioser Anblick. Die drei Pyramiden erhoben sich wie von Menschenhand geschaffene Berge vor ihnen, mehr als hundert Meter hohe Kolosse aus Millionen von Felsquadern, an denen Hunderttausende von Menschen ein Leben lang gearbeitet hatten. Es gab wohl niemanden, der die Pyramiden nicht von einem Bild oder aus dem Fernsehen kannte, aber ihr Anblick gehörte zu jenen, die man selbst erleben mußte, um sie richtig zu würdigen. Die Größe und die Aura von gewaltigem Alter, die diese steinernen Monumente umgab, ließen sich nicht in einem Bild festhalten. Man konnte sie auch nicht wirklich beschreiben, sondern nur spüren.

Sascha ging es nicht anders als ihm, wie er an ihrem Gesichtsausdruck ablas. »Es ist beeindruckend, nicht?« fragte er.

»Unvorstellbar«, bestätigte Sascha, ohne den Blick von den Pyramiden zu wenden. »Kaum zu glauben, daß Menschen das erschaffen haben sollen.«

»Und noch dazu ohne moderne Werkzeuge und Hilfsmittel«, fügte Aton hinzu. »Um die Steinblöcke in die jeweilige Bauhöhe zu befördern, errichtete man eine lange schräge Rampe aus Stein und Erde, über die die Quader hinaufgeschleift wurden.«

Sascha sah ihn ungläubig an, was Aton zu einem neuerlichen, heftigen Nicken veranlaßte. »Ja. Die Blöcke wurden von weither auf dem Nil hierhergebracht und dann auf einer Art Schlitten zur Baustelle befördert.«

»Eine unglaubliche Leistung«, sagte Sascha noch einmal.

»Um so mehr, wenn man bedenkt, warum sie es getan haben«, sagte Aton. Er schüttelte den Kopf, und seine Stimme wurde leiser. »Die Gottkönige wollten nach dem Tode eine dauernde und feste Ruhestätte haben. Deshalb mußten Sklaven und Fellachen diese schwere und oft tödliche Arbeit verrichten. So viel Schweiß, um einem Toten ein solches Monument zu errichten.«

»Es war wohl auch ihr Glaube«, sagte Sascha. »Es war stets der Glaube an etwas, der Menschen zu unglaublichen Leistungen beflügelt hat.«

Noch vor wenigen Tagen hätte diese Antwort Aton nicht zufriedengestellt, denn schließlich hatte er sie von seinem Vater schon oft genug gehört. Aber was er seither erlebt hatte, hatte sein Weltbild so gründlich durcheinandergeschüttelt, daß er im Moment gar nicht mehr wußte, was er glauben sollte und was nicht. Wenn das, was Petach ihm erzählt hatte, die Wahrheit war, dann war es schließlich auch nichts anderes als der Glaube der Menschen gewesen, der Osiris, Anubis und die anderen Götter überhaupt zum Leben erweckt hatte.

Sie nahmen das Gespräch nicht wieder auf, während sie weitergingen. Es war nicht der Moment zu reden. Die Größe des Anblicks schlug sie beide in ihren Bann, und was sie fühlten, das ging so tief, daß Aton für einige Minuten sogar den eigentlichen Grund vergaß, aus dem sie hier waren.

Aber er wurde wieder daran erinnert, und das auf eine sehr drastische Art.

Sie waren noch nicht in die Nähe der Pyramiden gelangt, wohl aber in die eines ebenso bekannten Gebildes, das vor ihnen aus dem Wüstensand ragte. Aton spürte einen eisigen Schauer, als er die gigantische steinerne Sphinx sah, die am Fuße der Pyramiden lag. Trotz der Zerstörungen, die die Zeit und die Menschen verursacht hatten, wirkte sie noch immer majestätisch, für Aton aber, der einem Wesen wie ihr schon einmal Auge in Auge gegenübergestanden hatte, auch furchteinflößend.

Ihr Führer blieb plötzlich stehen und deutete auf eine Anzahl kleiner Zelte im Wüstensand. Ein Dutzend Kamele war davor festgebunden, und vier oder fünf Fellachen in knöchellangen weißen und türkis Gewändern feilschten lautstark mit einer Anzahl Touristen um den Preis für einen Kamelritt. Einer der Einheimischen hatte bereits einen Kunden gefunden: Eine dicke Frau in einem engen Rock war auf den Rücken eines der Tiere geklettert, aber sie hatte alle Mühe, sich im Sattel zu halten, als sich das Kamel schwankend erhob. Die übrigen Touristen, aber auch die Einheimischen sahen mit mehr oder weniger unverhohlener Schadenfreude zu, wie sie heftig auf dem Rücken des Wüstenschiffes hin und her schwankte.

»Yassir«, sagte ihr Führer plötzlich und deutete auf einen etwas abseits stehenden, hochgewachsenen Mann, dessen Gesicht sich hinter einem schwarzen Vollbart verbarg, so daß man sein wahres Aussehen nur erahnen und sein Alter nicht einmal schätzen konnte. Sascha bedankte sich, reichte ihm einen zweiten Geldschein und wartete, bis der Mann verschwand. Erst dann gingen sie weiter.

Yassir hatte sie natürlich mit dem kundigen Blick eines Mannes, der von ahnungslosen Opfern wie ihnen lebte, längst entdeckt und eilte ihnen entgegen, ehe einer seiner Kollegen ihm die vermeintlichen Kunden vor der Nase wegschnappen konnte. Ein breites Lächeln teilte seinen struppigen Vollbart.

»English? Français? Deutsch?« fragte er, jeweils in der Landessprache und mit dem passenden Akzent. Yassir schien ein wahres Sprachtalent zu sein.

»Sie sind Yassir?« fragte Aton rasch. Sascha warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Sie hatten sich auf dem Weg hierher verständigt, daß sie die Unterhaltung führen und Aton zuerst einmal nur zuhören sollte.

»Ich Yassir«, bestätigte der Ägypter. »Sie suchen Führer? Yassir bester Führer von ganz Ägypten.«

»Wir sind -« begann Aton, aber Yassir ließ sich überhaupt nicht beeindrucken, sondern fuhr in gebrochenem Deutsch und sehr schnell fort:

»Yassir zeigen euch Pyramiden. Yassir kennen alle Geheimnisse. Und Yassir billig.«

»Wir wollen keine Führung«, sagte Aton. »Wir sind -«

»Yassir wissen gut Geheimnis«, prahlte Yassir weiter. »Und Yassir kein Betrüger, keine Angst haben. Wollen sehen Königsgräber? Yassir zeigen für kleines Bakschisch. Nicht teuer. Und Yassir kennen große Geheimnis. Keiner anderer Führer wissen. Zeigen euch -«

»Petach schickt uns«, unterbrach ihn Aton.

Sofort hörte Yassir auf, seine Dienste und Geheimnisse anzupreisen, und sein verschmitztes Lächeln verschwand von seinem Gesicht und machte einer ernsten Miene Platz. Für einen flüchtigen Moment kam Aton Yassirs Gesicht bekannt vor, aber dieser Eindruck verschwand so schnell, wie er gekommen war.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« fragte er mit veränderter Stimme und in akzentfreiem Deutsch.

»Sie haben mich ja nicht zu Wort kommen lassen«, antwortete Aton. »Wir müssen mit Ihnen reden, aber nicht hier.« Er machte eine Geste in die Runde. »Was wir zu besprechen haben, muß nicht jeder hören.«

Yassir maß ihn mit einem langen, prüfenden Blick von Kopf bis Fuß. »Du bist dieser Junge?« vermutete er. »Aton?«

»Anscheinend gibt es niemanden in ganz Ägypten, der mich nicht kennt«, murmelte Aton, aber Yassir blieb ernst.

»Petach hat von dir gesprochen«, sagte er. Dann deutete er auf Sascha. »Wer ist das?«

»Eine Freundin«, erwiderte Aton. »Sie können ihr vertrauen. Sie weiß alles.«

Yassir sah Sascha noch einmal an, dann wies er auf eines der Zelte und drehte sich rasch herum. »Kommt mit!«

Sie folgten dem Ägypter, aber Sascha deutete Aton mit einer verstohlenen Geste, ein wenig zurückzubleiben. »Ich traue ihm nicht«, flüsterte sie. »Gib acht auf das, was du sagst. Am besten verrätst du ihm so wenig wie möglich und läßt ihn reden.«

Aton nickte zwar, konnte aber ein Grinsen nicht ganz unterdrücken. Auch wenn Sascha sich alle Mühe gab, die unbedarfte Touristin zu spielen, so konnte sie doch ihr Polizistinnenherz nicht ganz verhehlen. Davon abgesehen hatte sie völlig recht. Auch er hatte sich bereits vorgenommen, vorsichtig zu sein. Daß Yassir ein Freund Petachs war, bedeutete ja nicht automatisch, daß er auch Atons Freund war. Er wußte ja nicht einmal, ob Petach wirklich auf seiner Seite stand.

Dicht hinter dem Ägypter betraten sie das Zelt, das so niedrig war, daß sie darin nicht aufrecht stehen konnten. Die Einrichtung war spärlich. Ein paar Decken, eine kleine Holzkiste und einige Kissen, die sich um ein auf dem Boden stehendes, kupfernes Tablett mit einer Wasserpfeife und einem Teekessel gruppierten. Yassir deutete auf die Sitzgelegenheiten und nahm selbst als erster Platz. Als er nach dem Teekessel griff, wollte Sascha den Kopf schütteln, aber Aton hielt sie mit einem Blick im letzten Moment davon ab. Die Gastfreundschaft eines Orientalen zurückzuweisen wäre eine schwere Beleidigung für diesen.

Yassir griff in die Kiste und nahm einen faustgroßen Brocken Kandiszucker heraus. Während er ihn mit der rechten Hand über eines der Gläschen auf dem Tablett hielt, hob er mit der linken den Kessel und ließ den Tee über das Zuckerstück in das Gläschen laufen. Er wiederholte den Vorgang zweimal, trocknete das Zuckerstück sorgfältig ab und verstaute es wieder in der Kiste.

Aton spürte, wie Sascha neben ihm vor Ungeduld immer nervöser wurde, und warf ihr einen weiteren, warnenden Blick zu. Diese Art der Teezeremonie war ihm zwar fremd, aber er wußte von seinem Vater, daß solche Dinge meist eine tiefe und sehr ernste Bedeutung hatten.

»Petach hat dich also zu mir geschickt«, begann Yassir, nachdem er einen winzigen Schluck von seinem Tee getrunken und gewartet hatte, bis sie es ihm gleich taten. »Warum? Wo ist er? Wie geht es ihm?«

»Er ist tot«, sagte Sascha rasch. Das war alles andere als diplomatisch oder gar feinfühlig, aber Aton vermutete, daß das Absicht war, um Yassir aus der Fassung zu bringen und so vielleicht seine wahren Beweggründe zu erkennen. Aber wenn, dann ging dieser Versuch ziemlich schief.

Yassir lachte nur. »Kaum«, antwortete er. Er sah Sascha dabei nicht einmal an, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf Aton. »Was ist passiert?« fragte er.

Aton nippte an seinem Tee, bevor er antwortete. Er war sehr heiß, sehr stark und so süß, daß es schon fast ekelhaft war. Aber Aton leerte tapfer sein Glas mehr als zur Hälfte, dann stellte er es behutsam ab und erzählte Yassir, was sich am vergangenen Abend zugetragen hatte. Nicht alles - den Schluß der Geschichte und die Rolle, die Sascha dabei gespielt hatte, ließ er völlig weg, was seiner Erzählung ein wenig Glaubwürdigkeit nahm, denn nun klang es so, als wäre er den Verfolgern gänzlich aus eigener Kraft entkommen. Aber Yassir sagte nichts, sondern lauschte schweigend seinen Worten. Nur sein Gesichtsausdruck wurde immer düsterer. »Ihre Macht muß wirklich gewaltig angewachsen sein«, sagte er schließlich. »Oder sie sind ziemlich verzweifelt.« Seine Stimme klang verändert, als er fortfuhr. »Aber deine Geschichte erklärt vieles!«

»Und was?« fragte Aton.

»Manches, was bisher keinen Sinn zu haben schien, ergibt nun einen«, antwortete Yassir mit leiser, besorgter Stimme, die Aton mit Unbehagen erfüllte.

»Was meinen Sie damit?« fragte Sascha.

Statt zu antworten, trank Yassir in aller Ruhe einen weiteren Schluck seines Tees, dann stand er auf und deutete ihnen mit einer Geste, ihm zu folgen. Sascha tauschte einen fragenden Blick mit Aton, den dieser nur mit einem Achselzucken beantworten konnte. Sie erhoben sich beide und traten hinter dem Ägypter aus dem niedrigen Zelt.

Obwohl sie nur kurze Zeit drinnen verbracht hatten, blinzelte Aton im ersten Moment in das ungewohnt grelle Sonnenlicht. Es war nicht sehr warm; die Jacke, die er auf Saschas Drängen hin übergestreift hatte, tat nun gute Dienste. Aber es wurde ihm sehr schnell klar, daß das Frösteln, das er verspürte, mehr aus seinem Inneren kam als von den niedrigen Temperaturen. Trotz der strahlenden Sonne und des blauen Himmels war ihm unheimlich zumute. Und er war nicht allein mit diesem Gefühl. Sascha ging dicht neben ihm, während sie dem Ägypter folgten. Er konnte die Unruhe der jungen Frau deutlich spüren. Ihre Finger bewegten sich nervös, ohne daß sie selbst es zu merken schien, und einmal wandte sie den Kopf und sah sich rasch nach allen Seiten um, als erwarte - nein, befürchte - sie, irgend etwas zu sehen, was nicht da sein sollte. Aton verdrängte den Gedanken. Wenn er jetzt schon anfing, am hellen Tag und in der Gegenwart Hunderter Menschen Angst zu haben, konnte er ebensogut aufgeben, denn dann hatten seine Gegner schon gewonnen.

Vielleicht, überlegte er, lag es einfach an der Sphinx. Das steinerne Fabeltier beherrschte dieses Stück Land in weitem Umkreis. Und nach dem, was Aton - und auch Sascha - mit seinem lebenden Vorbild widerfahren war, hatten sie guten Grund, angesichts der gewaltigen Statue nervös zu sein.

Yassir blieb stehen und sah sich aus zusammengekniffenen Augen um. Eine ganze Weile verharrten auch sie schweigend neben ihm, aber dann war Saschas Geduld erschöpft. »Was wollen Sie uns zeigen?« fragte sie.

Yassir hob unwillig die Hand. Seine ganze Aufmerksamkeit schien den Touristen zu gelten. Der Großteil von ihnen hatte sich bereits in Richtung der drei steinernen Kolosse entfernt, aber eine kleine Gruppe von ihnen befand sich noch in unmittelbarer Nähe. Aton hielt nach der dicken Frau auf dem Kamel Ausschau, und er entdeckte sie tatsächlich. Sie hatte es immer noch nicht aufgegeben, mit dem störrischen Reittier zu kämpfen. Aber das Tier schien des Spieles überdrüssig geworden zu sein. Vielleicht hatte es auch einen Wink seines Besitzers aufgefangen, der Sache ein Ende zu machen. Jedenfalls machte es noch einen letzten, tolpatschig wirkenden Schritt und ließ sich dann in den Wüstensand sinken, damit seine Reiterin absteigen konnte. Es tat dies auf die seiner Gattung eigene Art und Weise, indem es nämlich zuerst die langen Vorderbeine einknickte, und die plötzliche Bewegung führte zu der Katastrophe. Die Touristin verlor endgültig den Halt im Sattel und purzelte kopfüber in den Sand hinunter.

Der Sturz war nicht schlimm. Die Frau fiel kaum einen Meter tief, und der weiche Sand bewahrte sie vor einer Verletzung. Trotzdem sprang die Frau mit einem wütenden Schrei wieder hoch, während ihr Mißgeschick von den Zuschauern mit schadenfrohem Gelächter quittiert wurde - und versetzte dem Kamel einen so derben Tritt, daß das Tier mit einem erschrockenen Knurren aufsprang und davonlief. Sein Besitzer begann lautstark zu lamentieren und vertrat der Frau mit ausgebreiteten Armen den Weg, als sie Anstalten machte, hinter dem Kamel herzulaufen. Sie brach ihre Verfolgung ab, hatte aber nun ein neues Opfer gefunden, auf das sie eine Flut von wüsten Beschimpfungen und Flüchen herabregnen ließ, gefolgt von einigen Hieben, unter denen sich der Mann erschrocken duckte. Als sie nicht aufhörte, auf ihn einzuschlagen, ergriff er mit beiden Händen ihre Handgelenke und hielt sie fest. Nun mischten sich auch einige der anderen Touristen ein. Zwei, drei Männer sprangen der Frau zu Hilfe, doch auch der Ägypter bekam Unterstützung. Ein zorniges Gerangel ging los, und obwohl es schließlich nicht wirklich zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kam, spürte Aton doch, wie nahe die beiden Gruppen der aufgebrachten Leute daran waren.

»So etwas passiert nun ständig«, sagte Yassir. Er drehte sich wieder zu Sascha und Aton herum und sah sie besorgt an. »Ich konnte es mir bisher nicht erklären, aber nach dem, was du mir erzählt hast ...« Er seufzte. »Ich war ein Narr, ich hätte es wissen müssen. Die Zeichen sind so deutlich.« Er wandte sich wieder um und sah zu den Pyramiden hinüber, deren Schatten Aton plötzlich dunkler und massiger vorkamen als noch vor einer Minute. »Dieser Ort ist den Toten geweiht. Osiris' Macht war hier schon immer stark.«

Sascha schauderte. »Man muß die Menschen warnen«, sagte sie.

»Sie würden euch nicht glauben«, erwiderte Yassir. »Und wenn - es wäre zu spät. Spürt ihr es nicht? All dieser Zorn und all diese Furcht ... Es ist der Geist der alten Götter, der ihre Seelen vergiftet. Und jeder böse Gedanke, jedes Quentchen Furcht, jeder Funke von Zorn nährt sie und stärkt ihre Macht.«

»Aber wenn wir gegen sie kämpfen -«

»Würdest du sie damit nur stärken«, unterbrach ihn Yassir. »Begreifst du nicht. Du kannst sie nicht bekämpfen, ohne Zorn zu empfinden, ohne Furcht, ohne Verzweiflung. Und all diese Gefühle stärken sie. Was immer du tust, es mehrt ihre Gewalt.«

Aton begriff nicht sofort, was diese Worte wirklich bedeuteten. »Das klingt, als wären sie unbesiegbar«, murmelte er dann. »Als hätte es überhaupt keinen Sinn, etwas gegen sie zu unternehmen.«

»Sie haben nicht umsonst länger über dieses Land geherrscht, als jemals zuvor und jemals danach Götter über Menschen herrschten.«

»Aber am Ende wurden sie doch besiegt«, sagte Sascha.

Yassir schüttelte den Kopf. »Sie wurden vergessen, nicht geschlagen«, sagte er. »Es war die Zeit, die sie besiegte, nicht die Menschen. Der einzige Feind, gegen den selbst die Götter machtlos sind. Du kannst keinen Kampf kämpfen, wenn jede Wunde, die du deinem Feind zufügst, seine Kräfte stärkt.« Er lächelte traurig. »Der Kreis schließt sich, Aton. Der Wanderer wird erlöst werden, und die Toten werden erwachen. Und keine Macht der Welt kann das jetzt noch verhindern.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Aton heftig. »Man kann immer etwas tun. Petach hat mich bestimmt nicht grundlos zu Ihnen geschickt. Sie müssen irgend etwas wissen, was uns weiterhilft.«

»Das ist richtig«, antwortete Yassir. »Aber ich bezweifle, daß es euch wirklich hilft. Ich weiß einen Ort. Es ist lange her, daß Petach zu mir kam und ihn mir anvertraute, und ich habe nie verstanden, warum. Und ich verstehe es jetzt weniger denn je. Denn dieser Ort ist wohl der letzte, an dem Aton jetzt sein will.«

»Ein Ort?« Aton wurde hellhörig. »Was für ein Ort?«

»Der Ort, an dem es geschah«, antwortete Yassir.

»Der Ort, an dem Echnaton ermordet wurde?« fragte Aton ungläubig.

Yassir nickte. »Und an dem die Toten liegen. Die sich in zwei Tagen aus ihren Gräbern erheben werden, um die Herrschaft der alten Götter neu zu festigen.«

»Wo liegt dieser Ort?« fragte Sascha.

»Es gibt eine Karte«, antwortete Yassir und sah zu den Pyramiden hinüber. »Ich kann sie euch zeigen. Aber nicht jetzt. In zwei Stunden, besser noch in drei. Wir müssen warten, bis all diese Menschen fort sind.«

»Die Karte ist dort drinnen?« fragte Sascha ungläubig.

Yassir nickte abermals. »Ein Relief, eingemeißelt in die Wand eines geheimen Raumes«, bestätigte er.

»Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, sagte Aton, doch Yassir schüttelte den Kopf.

»Nicht jetzt«, antwortete er. »Es sind zu viele Menschen dort.«

Er wies zu den Häusern hinüber. »Geht ins Café ›E1 Raschid‹ und sagt dem Wirt, daß ich euch schicke. Wir treffen uns in zwei Stunden am Fuß der großen Pyramide.«

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