7

Am nächsten Morgen waren Karas Kopfschmerzen immer noch nicht gewichen. Kara kam sich schäbig vor. Der Umstand, daß die Katastrophe vom gestrigen Tag Angellas Zorn auf sie hatte unwichtig werden lassen, gab ihr irgendwie das Gefühl, mitschuldig am Tod der drei Männer zu sein. Das war zwar Unsinn, aber seit wann fragten Gefühle nach Logik?

Die Leichen der drei Männer waren noch nicht geborgen worden, aber es gab keine Aussicht mehr, sie lebend zu bergen. Sie waren in eineinhalb Meilen Tiefe verschüttet.

Angella war den vergangenen Tag fortgewesen, und als sie und Jan spät am Abend zurückkehrten, waren sie so erschöpft, daß Kara nicht mehr mit ihr hatte reden können. Am nächsten Morgen ließ sie Kara jedoch schon eine Stunde vor Sonnenaufgang wecken und in die Wohnküche bringen.

Es war noch dunkel. Eine einzelne Kerze brannte und verbreitete weitaus mehr Schatten als Licht im Raum; und in der Luft hing der Geruch von würzigem Tee und frischem Brot. Angella sah so müde und erschöpft aus, als hätte sie in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen.

»Setz dich«, sagte sie und machte eine matte Handbewegung. Kara gehorchte. Schweigend saß sie da und wartete, daß Angella etwas sagte, aber ihre Lehrmeisterin starrte sie nur an; mit einem Blick, der in weite Ferne gerichtet war, nur nicht auf Karas Gesicht. Schließlich brach Kara das Schweigen.

»Hat man... sie gefunden?« fragte sie leise.

Es dauerte eine Weile, bis Angella überhaupt auf die Worte reagierte. Sie blinzelte und schien Mühe zu haben, den Sinn von Karas Frage zu verstehen. »Nein«, entgegnete sie schließlich. »Wir haben... die Suche abgebrochen. Es war zu gefährlich.« Sie brach wieder ab, als die Tür aufging und einer von Jans Hornköpfen hereinkam, um ein weiteres Geschirr für Kara aufzutragen. Kara verspürte ein rasches, eisiges Frösteln, als sich das vierarmige, schlanke Geschöpf neben ihr vorbeugte, um den Tisch zu decken. Seine Bewegungen waren ruckhaft und so abgehackt wie die einer Maschine. Alles, was Kara hörte, war ein wisperndes Rascheln, ganz wie leiser Wind in trockenem Laub. Sie schwiegen, bis der Diener das Zimmer wieder verlassen hatte, und obgleich der Anblick der Speisen schlagartig Karas Hunger weckte, zögerte sie einen Moment, danach zu greifen; einfach nur, weil es ein Hornkopf gewesen war, der sie aufgetragen hatte. »Iß«, sagte Angella. Kara fuhr leicht zusammen. Sie erschrak darüber, daß Angella wieder einmal ihre Gedanken erraten hatte. Rasch griff sie zu und begann zu essen.

»Wir suchen später weiter«, knüpfte Angella nach einer Weile das unterbrochene Gespräch an. »Du wirst uns begleiten.«

Kara sah sie fragend an.

»Nimm es als eine Belohnung dafür, daß du mir gestern das Leben gerettet hast. Hätte man mich nicht gerufen, um die Wogen zu glätten, dann läge ich jetzt dort unten im Schacht.«

Sie trank einen Schluck Tee. »Außerdem habe ich diesem Trottel Elder mein Wort gegeben, dich nicht mehr aus dem Auge zu lassen, solange wir in der Stadt sind.«

»Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte Kara leise.

Angella lächelte plötzlich, allerdings nur sehr flüchtig. »Ich glaube dir«, sagte sie. »Aber ich habe Elder mein Wort gegeben. Und er hat recht, weißt du? Es war meine Schuld.« Sie schnitt Kara das Wort ab, ehe das Mädchen auch nur ein Wort sagen konnte. »Ich war zornig auf dich. Ich wollte dich bestrafen, und deshalb nahm ich dich gestern nicht mit. Wenn es also jemanden gibt, dem man etwas vorwerfen kann, dann bin ich es. Abgesehen davon«, fügte sie nach einer ganz kurzen Pause hinzu, »daß es bodenloser Leichtsinn von dir war, dich mit vier bewaffneten Männern gleichzeitig anzulegen.«

»Es waren nur vier«, sagte Kara. Es sollte ein Scherz sein, um die Stimmung aufzulockern, aber Kara spürte, schon während sie die Worte aussprach, daß ihre Worte nicht sonderlich klug gewesen waren. Der einzige Grund, aus dem Angella nicht sofort wieder auffuhr, war ihre Müdigkeit.

So sagte sie einfach nur: »Red keinen Unsinn. Sie waren zu viert, und du allein, oder? Du hättest getötet oder schwer verletzt werden können.«

Kara hatte während ihrer Ausbildung gelernt, mit mehreren Gegnern gleichzeitig fertig zu werden. Doch Angella schien schon wieder zu ahnen, welche Entgegnung Kara auf der Zunge lag. »Du glaubst, du wüßtest, was ein Kampf bedeutet? Du weißt es nicht. Du hast gelernt, dich zu wehren. Du hast Hunderte von Zweikämpfen bestanden, aber keiner davon war wirklich ernst gemeint, Kindchen.«

Was diese Sache anging, war Kara entschieden anderer Meinung. Sie hatte mehr als genug Blessuren in den Zweikämpfen davongetragen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob es nicht weniger die Sorge um sie gewesen war, die Angella so zornig machte, sondern viel mehr um den immensen Wert, den sie darstellte. Ein Werkzeug, das sorgsam geschmiedet und zehn Jahre lang immer wieder geschliffen und poliert worden war. Fast gleichzeitig begriff sie, wie ungerecht dieser Gedanke war. »Bitte, fang nicht schon wieder an«, sagte Jan leise. Die Worte galten Angella, obwohl er sie dabei nicht ansah. Seine Stimme klang sehr müde. »Wir haben im Moment wirklich genug andere Sorgen.« Und Sorge war es tatsächlich, was sein Blick ausdrückte. Jan schien seit dem gestrigen Abend um zehn Jahre gealtert zu sein. Kara fragte sich, was ihn bedrückte. Es war sicher nicht nur der Tod der drei Drachenkämpfer; obwohl ihn mit dem Hort eine alte Freundschaft verband, waren die drei Männer doch Fremde für ihn gewesen.

»Du hast recht«, sagte Angella. »Laß uns gehen. Es sind noch beinahe zwei Stunden Weg.«

Sie stand auf, und auch Jan und Kara erhoben sich. Kara war ein wenig verwirrt. Zwei Stunden? Am vergangenen Morgen hatten Hrhon und sie nicht einmal eine Stunde gebraucht, um das Pfeiler-Haus zu erreichen. Aber sie verkniff sich eine Frage und folgte Angella und Jan wortlos in den Hof hinaus. Die frische Luft tat ihr gut und dämpfte den hämmernden Schmerz in ihrem Kopf.

Sie waren die letzten, die das Haus verließen. Sämtliche Drachenkämpfer – selbst die, die bei dem Kampf am vergangenen Tag verwundet worden waren – erwarteten sie neben den bereits gesattelten Pferden. Sie brachen ohne eine weitere Verzögerung auf. Sie ritten sehr schnell und erreichten den Hochweg in weniger als einer halben Stunde. Ohne aufgehalten zu werden, betraten sie den für Menschen vorbehaltenen Teil der Stadt; die hölzerne Palisade schwang einfach vor ihnen auf. Offenbar hatte man sie bereits erwartet.

Ein Dutzend Hornköpfe eilte ihnen vor dem fensterlosen Haus entgegen, um ihre Pferde in Empfang zu nehmen; und unmittelbar vor dem Eingang entdeckte Kara eine Gruppe Männer in gelben Umhängen.

Elder befand sich bei ihnen.

Sein Gesicht verdüsterte sich bei Karas Anblick, aber er beherrschte sich. Er schenkte Angella nur einen eisigen Blick, dann winkte er Jan zu sich heran und begann leise mit ihm zu reden.

»Sag lieber nichts«, bemerkte Angella leise, während sie an den beiden vorbei zur Tür gingen. Kara beherzigte ihren Rat, hielt aber für einen Moment inne und warf einen Blick über die Straße zurück. Doch nichts Ungewöhnliches tat sich. Die Sonne war noch nicht völlig aufgegangen, und im grauen Zwielicht der Dämmerung konnte sie keine Spuren der Schlacht mehr entdecken, die hier gestern getobt hatte.

Sie betraten das Haus, und was Kara in seinem Inneren sah, ließ sie für den Moment ihre hämmernden Kopfschmerzen vergessen.

Das Haus war kein Haus, sondern tatsächlich nur eine zehn Meter hohe Mauer, die rings um den Stützpfeiler des Hochweges errichtet worden war. Zwischen der Säule und der Wand lagen gut fünf Meter, die fast zur Gänze von einem Gewirr aus Leitern, Balken, Streben und Gerüstbrettern beansprucht wurden. Dutzende von Männern bewegten sich im kalten grünen Schein einer Unzahl überall befestigter Leuchtstäbe auf diesem Gerüst hin und her und waren mit den verschiedensten Aufgaben beschäftigt. Kaum eine davon ergab in Karas Augen irgendeinen Sinn.

Staunend sah sie sich um, während Angellas Blick eindeutig suchend über das Durcheinander glitt. Schließlich hob sie beide Hände und winkte eine der Gestalten auf dem Gerüst zu sich heran. Der Mann erwiderte Angellas Winken und begann mit geschickten Bewegungen eine Leiter herunterzuklettern.

»Donay!« begrüßte Angella den jungen Mann, als er herankam. Er war schlank und nicht ganz so groß wie Elder, machte aber einen wesentlich kräftigeren Eindruck, obgleich sein Gesicht von dunklen Schatten gekennzeichnet war und seine Hände ein wenig zitterten. »Du bist schon wieder hier – oder immer noch?«

»Immer noch«, gestand Donay nach kurzem Zögern. »Ich konnte nicht schlafen, und da dachte ich, ich könnte...«

»... wieder einmal die Nacht durcharbeiten«, unterbrach ihn Angella tadelnd. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«

Donay lächelte müde. »Oh, ich glaube, es muß ein Jahr her sein. Vielleicht auch zwei.«

»Du tust uns und deiner Stadt keinen Gefallen, wenn du dich umbringst«, sagte Angella streng, und bevor Donay etwas erwidern konnte, erklärte sie das Thema mit einer Handbewegung für beendet und deutete auf Kara. »Das ist Kara. Ich habe dir von ihr erzählt. Kara – das ist Donay, unser Ingenieur.«

Ingenieur? Wozu um alles in der Welt brauchte Angella einen Ingenieur?

»Eigentlich bin ich Bio-Konstrukteur«, berichtigte Donay, als hätte er Karas Gedanken erraten. »Aber das ist ein zu langes Wort. Und die Abkürzung Biko klingt albern, finde ich.« Er lachte, wartete einen Moment lang vergeblich darauf, daß Kara sich über sein lahmes Wortspiel amüsiert zeigte, und wurde dann wieder ernst. »Du bist also Kara. Ich habe schon viel von dir gehört.«

Kara suchte aufmerksam in seinem Gesicht nach etwas, das diese Worte zu einer Anzüglichkeit machte, aber sie fand nichts. Vielleicht wollte er einfach nur höflich sein. Trotzdem blieb ihre Stimme spröde. »So?«

»Du bist Angellas Lieblingsschülerin. Sie redet unentwegt von dir.«

»Habt ihr etwas Neues herausgefunden?« mischte sich Angella ein.

Donay nickte. »Ja«, sagte er. »Aber ich fürchte, es wird dir nicht besonders gefallen. Komm mit. Ich zeige es dir.« Er fuhr herum und begann fast hastig, die Leiter wieder hinaufzusteigen, und Angella und Kara folgten ihm.

Sie betraten das oberste Gerüstbrett, das so dicht unter dem hölzernen Dach des Gebäudes lag, daß Kara es mit ausgestreckten Armen hätte berühren können. Das Mädchen bewegte sich sehr vorsichtig. Das Brett federte unangenehm unter ihren Schritten, und es gab kein Geländer, an dem man sich hätte festhalten können. Außerdem war ein halbes Dutzend Männer auf die unterschiedlichste Weise mit dem Pfeiler beschäftigt. Manche kratzten daran herum, andere betrachteten seine Oberfläche durch Vergrößerungslinsen, die sie mit ledernen Riemen vor den Augen befestigt hatten. Ein sonderbarer, nicht unangenehmer Geruch stieg Kara in die Nase. Sie kannte ihn, konnte ihn aber im Moment nicht einordnen.

Donay blieb vor einer Stelle des Pfeilers stehen, der sonderbare graue Flecke aufwies. Der Ingenieur wartete, bis er sicher war sowohl Angellas als auch Karas ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben, dann zog er ein Messer mit einer kurzen, aber sehr dicken Klinge aus dem Gürtel und stieß es in den Pfeiler. Es drang fast mühelos bis zum Heft ein, was Kara einigermaßen verwunderte: Sie dachte an das unvorstellbare Gewicht, das auf diesem Stützpfeiler ruhte.

Donay drehte das Messer ein paarmal herum, bis er eine Öffnung geschaffen hatte, in die er seine Hand hineinschieben konnte. Grauer Staub rieselte hervor. Er steckte das Messer wieder ein und griff mit der Hand in das Loch. Kara bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich ein ungläubiger Schrecken auf Angellas Gesicht ausbreitete, während sich Donays rechter Arm tiefer und tiefer in die Säule grub. Als sein Arm bis zur Schulter im Pfeiler verschwunden war, zog er ihn mit einem Ruck wieder zurück. Sein Arm war mit grauem Staub bedeckt, aber seine Finger waren feucht, und in der Hand hielt er eine schmierige, faulig aussehende Masse, in der sich etwas zu bewegen schien. Kara verzog angeekelt das Gesicht, während Angella erschreckt auf Donays Hand hinabstarrte.

»Ich wußte nicht, daß es so schlimm ist«, flüsterte sie. »Es ist sogar noch schlimmer.« Donay wischte sich die Hände an der Hose sauber und machte eine Kopfbewegung auf den Pfeiler. »Der ganze Fleck war gestern noch nicht da.«

»Aber dann...«

»Er verfault von innen heraus«, sagte Donay leise. »So schnell, als würde er aufgefressen.«

Angella schwieg entsetzt, während Kara endlich zu begreifen begann. »Ist das... ein Baum?« fragte sie fassungslos. »Du... du willst sagen, die ganze Brücke... der ganze Hochweg ist ein einziger Baum?!«

Einen Moment blickte Donay sie nur verwirrt an, erst dann schien ihm klar zu werden, daß Kara bisher gar nicht gewußt hatte, was sie da sah. Er sagte: »So etwas Ähnliches. Ich erkläre es dir später, aber im Moment können wir gern bei diesem Wort bleiben.«

»Wie lange noch?« flüsterte Angella. »Wieviel Zeit bleibt uns noch, bevor er... zusammenbricht?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Donay. »Auf jeden Fall sehr viel weniger, als ich bisher geglaubt habe. Vielleicht ein Jahr, vielleicht auch zwei. Aber es können genausogut auch nur noch ein paar Tage sein.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, wie es unten aussieht.«

»Schlimmer«, murmelte Angella.

Donays Gesicht verdüsterte sich. »Diese Narren«, sagte er heftig. »Diese himmelschreienden Idioten! Ich habe sie gewarnt, ihn nicht so schnell wachsen zu lassen. Aber sie konnten ja nicht hören. Mehr, schneller und größer, das war alles, woran sie denken konnten! Aber jetzt kriegen sie die Quittung! Wäre es nicht so furchtbar, dann würde ich mich richtig auf ihre dummen Gesichter freuen, wenn ihnen der halbe Himmel auf den Kopf fällt!«

»Es ist noch nicht bewiesen, daß es daran liegt«, sagte Angella mit schleppender Stimme. Man hörte deutlich, wie schwer es ihr fiel, ihr Entsetzen niederzuringen. »Es kann alle möglichen Ursachen haben. Eine Krankheit, eine Vergiftung, das Alter...«

»Ja«, knurrte Donay. »Oder unten im Schlund sitzt eine große Maus und nagt an den Wurzeln.«

»Hast du mit dem Erinnerer gesprochen?« fragte Angella, die zu Karas Verblüffung Donays höchst unfreundliche Antwort nicht einmal zur Kenntnis genommen zu haben schien.

»Ich habe ihn die halbe Nacht mit allen Informationen gefüttert, die ich hatte«, erwiderte Donay. »Und die anderen auch. Ich weiß noch nicht, zu welchem Ergebnis er gekommen ist.«

Er trat an den Rand des Gerüstes, beugte sich gefährlich weit vor und schrie mit vollem Stimmaufwand: »Jemand soll Irata bringen! Wir kommen herunter!«

Der Abstieg gestaltete sich wesentlich schwieriger als der Weg hinauf. Die Leiter zitterte unter ihrem Gewicht, und jetzt, da Kara wußte, daß die Unerschütterlichkeit des riesigen Stammes eben Schein war, glaubte sie noch ein anderes, mächtigeres Vibrieren zu spüren, das selbst die Luft rings um sie herum zum Erzittern brachte.

Die Tür flog auf, und Jan stürmte herein, kaum, daß Kara den Fuß der Treppe erreicht hatte. Sein Gesicht flammte vor Zorn. »Dieser Idiot!« brüllte er. »Dieser verdammte, sture Hornochse!«

»Elder?« fragten Angella und Donay wie aus einem Mund.

Jan nickte, während er heftig auf die Tür hinter sich gestikulierte. »Er will uns nicht erlauben, Gräber einzusetzen.«

»Aber wir brauchen Tage, um die verschütteten Gänge mit der Hand zu räumen!« sagte Donay erschrocken.

»Erklär das Elder!« fauchte Jan. »Er weiß es genausogut wie du, aber er meint, es wäre sowieso sinnlos, weil eure Männer keine Chance mehr hätten, noch am Leben zu sein! Und er behauptet, das Verbot, andere in dieses Viertel hineinzulassen, erstreckte sich ja auch auf Gräber. Er muß erst seinen vorgesetzten Offizier fragen. Und den kann er erst am Mittag erreichen?«

»Und was ist das da?« fragte Kara mit einer Geste auf einen Hornkopf, der beladen mit einem Korb voller Werkzeuge an ihnen vorüberwankte.

Jan zuckte wütend mit den Schultern. »Das habe ich ihn auch gefragt. Er behauptet, sie hätten eine Sondergenehmigung, und wir könnten ja versuchen, eine für unsere Gräber zu bekommen! Ich hätte nicht übel Lust, ihm seine verdammten Genehmigungen und Vorschriften in den Hals zu stopfen!«

»Laß es gut sein«, sagte Angella. Sie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wahrscheinlich hat er recht. Sie sind wahrscheinlich längst tot.«

»Ja. Und wenn nicht, dann sterben sie eben, während wir Formulare ausfüllen«, knurrte Jan.

»Es ist meine Schuld«, sagte Kara leise. »Das ist seine Rache für das, was gestern geschehen ist.« Weder Angella noch Jan taten ihr den Gefallen, ihr zu widersprechen, und so fügte sie nach einem Augenblick hinzu: »Ich gehe und versuche, mit ihm zu reden.«

»Den Weg kannst du dir sparen«, sagte eine Stimme hinter ihr, und als sie sich herumdrehte, blickte sie in Elders Gesicht. »Du beleidigst mich, Kara. Glaubst du wirklich, ich würde das Leben eines Menschen riskieren, nur um mich bei dir zu rächen?«

Er sah sie einen Moment fast traurig an, dann wandte er sich an Jan, und ein fast spöttisches Glitzern erschien in seinen Augen. »Das gilt im übrigen auch für Euch, Jan. Ich halte mich an meine Befehle, weil ich es muß. Mißachte ich sie, nur um Euch einen Gefallen zu tun, so würde man mich sehr schnell abkommandieren, und Ihr hättet es vielleicht mit einem Mann zu tun, der sehr viel weniger Verständnis für Eure Probleme aufbringt.«

Jan starrte ihn zornig an und schwieg, aber Donay ergriff erregt das Wort: »Ihr wißt nicht, worum es hier geht?« sagte er. »Selbst wenn Ihr recht habt und diese Männer schon tot sind, so brauchen wir die Gräber dringend. Wir müssen nach unten, so schnell wie möglich!« Er deutete zum Pfeiler hinauf. »Es ist viel schlimmer, als wir bisher angenommen haben.«

Elder blickte einen Moment in die Höhe und schien nachzudenken. Er seufzte. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, sagte er. »Das verspreche ich. Aber ich habe meine Befehle. Ich lege sie ohnehin schon so großzügig aus, wie ich nur kann.« Er deutete auf eine Gestalt, die, begleitet von einem Hornkopf, hinter Jan aufgetaucht war. »Schon seine Anwesenheit hier verstößt im Grunde gegen die Vorschriften.«

Kara registrierte die Gestalt erst jetzt. Das mußte Irata sein. Der leere Blick und der idiotische Gesichtsausdruck identifizierte ihn eindeutig als Erinnerer. Kara hatte bisher nur eine einzige dieser lebenden Denkmaschinen gesehen, aber natürlich eine Menge über sie gehört: schwachsinnige Idioten, die so blöd waren, daß man sie füttern und ihnen die Hände binden mußte, damit sie sich nicht selbst die Augen auskratzten, aber sie waren mit einem Gehirn ausgestattet, das nicht die winzigste Kleinigkeit vergaß und binnen Momenten Beziehungen zwischen den erhaltenen Informationen herstellen konnte, für die ein normaler Mensch Monate, wenn nicht Jahre gebraucht hätte.

»... Euch ja keine Schwierigkeiten machen«, drang Elders Stimme in Karas Gedanken. Es war nicht das, was er sagte, sondern die Art, wie er es tat, die sie aufhorchen ließ. Sie riß ihren Blick von Irata los und konzentrierte sich wieder auf Elder, der abwechselnd Angella und Jan ansah und dann mit einer fast resignierenden Geste auf den Erinnerer wies. »Ich verrate Euch kein Geheimnis, wenn ich Euch sage, daß es eine Menge Leute in der Stadt gibt, die dagegen waren, Euch überhaupt zu rufen. Nach dem, was gestern geschehen ist, würde vielleicht schon sein Anblick reichen, ihnen Anlaß zu geben, um Euch vollends aus der Stadt zu weisen, Angella. Und Euch gleich mit, Jan.«

Angella und Jan antworteten nicht, aber Kara las auf ihren Gesichtern, daß es ihnen ebenso erging wie ihr selbst: fast zu ihrer eigenen Überraschung glaubten sie Elder plötzlich, daß er es ehrlich meinte.

Nach einer Weile sagte Donay: »Es geht nicht darum, ob uns Eure Regeln gefallen, Elder. Die Sicherheit der ganzen Stadt steht auf dem Spiel. Besonders die der Leute, die so wenig begeistert von Angellas Anwesenheit sind.«

»Wie meinst du das?« fragte Elder. Es gelang ihm nicht ganz, seinen Schrecken zu verbergen.

»Sie haben einen hübschen Teil der Stadt für sich reserviert«, antwortete Donay. »Die besten Gegenden in der Nähe des Hochweges. Und der Hochweg könnte zusammenbrechen.«

Elder starrte ihn einen Wimpernschlag lang fassungslos an, dann versuchte er, sich in ein Lachen zu retten. Es klang ein bißchen zu schrill, um zu überzeugen. »Das ist eine glatte Übertreibung«, sagte er.

»Keineswegs«, versicherte ihm Jan. Er wies auf das Gerüst. »Geht hinauf und seht es Euch selbst an.«

Elder taxierte ihn einen endlosen Augenblick lang, dann fuhr er plötzlich herum, packte Irata bei den Schultern, schüttelte ihn wild und schrie ihn an: »Ist das wahr? Rede, du Idiot! Ist das so?«

Donay berührte ihn fast sanft an der Schulter. »Laß ihn los, Elder. So geht das nicht!«

Tatsächlich ließ der Soldat den Erinnerer los. Donay schob Irata wieder auf Armeslänge von sich, und Kara fiel auf, daß er sogar dessen Blick starr fixierte, als auch er mit einer ganz bestimmten, fast ausdruckslosen Stimme sprach. »Frage, Irata:

Besteht aufgrund der gesammelten Informationen Gefahr für den Hochweg?«

Irata begann zu sabbern. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Kara sah, welche Anstrengung das Sprechen ihm bereitete.

Seine Stimme war kaum verständlich: »Die Informationen reichen nicht aus, um eine Aussage über den gesamten Hochweg zu treffen.«

Elders Gesicht verdüsterte sich, und Donay machte eine hastige Bewegung, wandte sich wieder an den Erinnerer und setzte erneut an: »Frage, Irata: Vorausgesetzt, die Schäden wären überall vergleichbar schlimm wie an diesem Trieb. Bestünde dann Gefahr für die Straße?«

»Antwort«, gurgelte Irata. »Die Stabilität des betroffenen Triebes ist grundlegend erschüttert. Eine Projektion der angegebenen Daten auf das gesamte System ergibt dessen irreparable Destabilisierung.«

»Aha«, sagte Elder. »Und was bedeutet das – verständlich ausgedrückt?«

Jan lächelte flüchtig, und Angella sagte sehr ernst: »Wenn es wirklich überall so schlimm ist wie hier, dann wird Eure famose Brücke zusammenbrechen.«

»Und zwar bald«, fügte Donay hinzu.

Elder wurde blaß. »Ihr übertreibt«, sagte er nervös. »Ich meine... es gibt ein halbes Dutzend anderer, die die Triebe untersuchen. Keiner hat auch nur etwas Ähnliches herausgefunden.«

»Ihr meint, keiner hat Euch etwas gesagt«, korrigierte ihn Angella ruhig.

»Warum sollten sie auch?« fügte Jan hinzu.

»Wie meint Ihr das?« fragte Elder scharf.

Jan machte eine verzeihungsheischende Handbewegung.

»Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, Elder – aber Ihr seid nur ein einfacher Soldat. Und seit wann teilt man einfachen Soldaten irgend etwas von Wichtigkeit mit?«

»Es kann gut sein, daß es nicht überall so schlimm ist«, sagte Angella hastig, wobei sie Jan einen mahnenden Blick zuwarf. »Um so wichtiger ist es, daß wir wieder nach unten kommen, um uns die Schäden unter der Erde anzusehen. Wir müssen die verschütteten Gänge möglichst schnell räumen. Deshalb brauchen wir die Gräber, nicht nur, um nach Angellas Männern zu suchen.«

Elder bewegte sich unbehaglich auf der Stelle. Sein Blick glitt über den gewaltigen Stamm, tastete dann über die Bohlen, die den Boden des Raumes bildeten, und kehrte nach einem letzten Schwenk über Iratas Gesicht zu Angella zurück. »Ich kann nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, nur weil dieser Schwachsinnige behauptet, es bestünde vielleicht Gefahr. Was, wenn er nicht die Wahrheit sagt?«

»Habt Ihr jemals gehört, daß sich ein Erinnerer getäuscht hätte, Elder? Oder gar gelogen?«

Damit war die Sache entschieden. Elder mochte sich für besonders gelassen und hart halten, aber er war im Grunde ebenso leicht zu durchschauen wie alle anderen Menschen. Kara las die Antwort in seinen Augen, ehe er sie aussprach. »Ich werde... die Angelegenheit meinen Vorgesetzten vortragen. Ich verspreche Euch nichts, aber ich tue, was ich kann.«

Er maß den Stamm mit einem letzten, durchdringenden Blick und fügte leise hinzu: »Und wenn Ihr die Wahrheit gesagt habt, dann werde ich vielleicht noch ein wenig mehr tun.«

Er verabschiedete sich mit einem knappen Nicken und ging. Stille trat ein und legte sich wie eine große Luftblase über sie. Dann räusperte sich Kara und wandte sich an Donay: »Ist das wahr, was der Erinnerer behauptet?«

»Sie können nicht lügen«, antwortete Donay.

»Die Antworten, die man erhält, sind manchmal von den Fragen abhängig, nicht wahr? Ich meine – sind wir deswegen hier? Weil der Hochweg in Gefahr ist?« So erschreckend dieser Gedanke an sich war, es erschien Kara mehr als nur unwahrscheinlich, daß dies der Grund ihrer Anwesenheit war. Die gigantische, lebende Brückenkonstruktion war vielleicht eines der größten Wunder dieser Welt, im Grunde aber nichts, was Angella und ihre Drachenkriegerinnen etwas anging. Außerdem – wer rief schon einen Soldaten, wenn er einen Gärtner brauchte?

»Es war ein Vorwand«, gestand Angella. »Wenn auch vielleicht einer, der sich im nachhinein betrachtet als die Wahrheit herausstellen könnte. Aber es ist nicht der einzige Grund.«

»Und was ist der wirkliche Grund?« fragte Kara.

Angella sah sie einen Moment durchdringend an und tauschte dann einen raschen Blick mit Jan. Jan nickte. »Gut«, sagte Angella. »Ich werde dir alles erklären. Ich hätte es ohnehin schon längst tun sollen. Begleite uns nach unten. Der Weg ist lang genug, daß wir Zeit zum Reden haben.«

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