In einem Punkt stimmte Elders Behauptung wahrscheinlich, was die Sinnlosigkeit ihres Fluges anging. Kara glaubte selbst nicht, daß sie früh genug kamen, um die Angreifer zu stellen. Der Weg vom Drachenhort nach Schelfheim zu Pferde betrug fünf Tage; vier, wenn man sich beeilte, und drei, wenn man das Risiko einging, die Tiere zu Schanden zu reiten. Mit den Drachen jedoch konnten sie es in ein paar Stunden schaffen, und sie hatten Glück: Ein starker Rückenwind wehte und erleichterte den Drachen das Fliegen.
Sie waren nicht dreißig, als sie den Hort verlassen hatten, sondern nahezu siebzig. Fast ein Drittel der Krieger hatte Storms Befehl ignoriert und sich ihnen angeschlossen, als sie hörten, was geschah. Und Kara hatte weder Zeit noch Lust, sich auf langwierige Diskussionen einzulassen. Und außerdem hatte sie das sichere Gefühl, daß sie jeden einzelnen der vierzig Reiter, die sich ihnen gegen ihren Willen angeschlossen hatten, gut gebrauchen konnten, wenn die Libellen noch nicht verschwunden waren.
Da keine Zeit mehr geblieben war, alle Reiter mit Rufern auszurüsten, hatte Kara sie vorher informiert und hoffte im übrigen darauf, daß ihre Taktik richtig war. Ihre Befehle waren so knapp wie klar gewesen: Keine Experimente. Greift sie zu fünft oder sechst an und verbrennt sie mit dem Feuer eurer Drachen! Wir brauchen keinen einzigen toten Helden!
Die Sonne ging auf, als sie sich der Küste näherten. Auf den letzten Meilen gab Kara das vereinbarte Zeichen, und die Formation aus siebzig riesigen schwarzen Drachenvögeln verlor an Höhe und glitt das letzte Stück so dicht über dem Boden dahin, daß ihre peitschenden Schwingen die Baumwipfel streiften. Sie ahnte, daß ihre Gegner über mehr Sinne als nur ihre Augen und Ohren verfügten, aber zusammen mit dem grellen Licht der Sonne mochte ihnen dieser Tiefflug vielleicht einen winzigen Vorteil verschaffen.
Die Feinde waren noch da.
Über Schelfheim lag eine Glocke aus roter Glut, die ihnen schon meilenweit entgegenleuchtete, und noch ehe sie nahe genug heran waren, um die Stadt und die zahllosen Feuer zu erblicken, sah Kara das Funkeln in der Luft. Es waren nicht Hunderte, aber doch fast hundert, schätzte sie. Langgestreckte, filigrane Gebilde mit schwimmenden Kugelköpfen, über denen die Luft silbern zerschnitten wurde, die Bäuche blutrot vom Widerschein der Brände, die unter ihnen tobten. Sie hatten den Beschuß zum größten Teil eingestellt. Nur dann und wann blitzte noch ein haardünner grüner Lichtfaden auf, dem meistens ein rot loderndes Echo aus der Tiefe antwortete. Die meisten Libellen kreisten eine halbe Meile über der Stadt, einige jedoch standen auch still in der Luft.
Die Drachenkrieger wurden entdeckt, ehe Markor als erster über die Kontinentalklippe glitt und sich plötzlich wieder eine halbe Meile in der Luft befand. Das ruhelose Kreisen der Libellenmaschinen geriet für einen Moment durcheinander. Dann drehten sie eine nach der anderen ab und jagten nach Norden, in den Schlund hinaus.
Kara fluchte lauthals, als ihr klar wurde, daß auch die Piloten der Maschinen sehr eindeutige Befehle zu haben schienen. Offensichtlich hatten die Männer aus ihrem ersten Zusammenstoß mit den Drachen gelernt. Sie dachten nicht daran, sich zum Kampf zu stellen.
Ein wenig verwirrte sie dieses Verhalten: das Kräfteverhältnis stand bestenfalls eins zu eins – und das bedeutete nichts anderes, als daß sie ein Dutzend von ihnen erwischte, ehe die anderen sie in aller Ruhe vom Rücken ihrer Drachen hinuntergeschossen hätten.
Ihre Formation teilte sich. Der größere Teil des Schwarmes folgte den flüchtenden Libellen. Nicht um sich doch noch dem Kampf zu stellen, sondern lediglich, um sie zehn oder fünfzehn Meilen weit in den Dschungel hinauszujagen; weit genug, damit sie nicht plötzlich kehrtmachen und einen überraschenden Angriff fliegen konnten. Die anderen etwa zwölf Drachen folgten Kara zum Stadtzentrum.
Ein Gefühl ungläubigen Entsetzens machte sich in ihr breit, als sie nach unten sah.
Die Stadt brannte lichterloh. Kaum ein Straßenzug, aus dem nicht Flammen oder schwarzer Rauch in den Himmel stieg; kaum ein Viertel, in dem nicht mindestens ein kompletter Häuserblock in Flammen stand; kaum eine Straße, die nicht mit Toten, Verwundeten und mit glühenden Kratern übersät war. Die Angreifer mußten sich über die gesamte Fläche der Stadt verteilt und jeden Widerstand erbarmungslos zusammengeschossen haben.
Ein schimmernder Umriß erhob sich aus dem Stadtzentrum, gefolgt von einem zweiten und dritten, die sich nach Norden wandten, kaum daß sie über die Dächer hinaus waren. Kara versuchte, Markor zu größerer Schnelligkeit anzutreiben, aber der Drache gab ohnehin schon alles, was er konnte. Die Maschinen stiegen rasend schnell in die Höhe und verschwanden, ehe sie ihnen nahe genug kamen, um einen gezielten Feuerstoß anbringen zu können.
Sie verzichtete darauf, sie zu verfolgen, sondern ließ Markor noch tiefer sinken. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie, daß ihre Vermutung richtig gewesen war: eine weitere Libelle erhob sich aus dem brennenden Häusermeer im Herzen der Stadt, und auch am Boden sah sie ein gläsernes Schimmern und Blitzen. Kara wagte es nicht, Markors Feuer einzusetzen, denn sie waren den Häusern zu nahe. Einer der Reiter neben ihr kannte die Bedenken nicht. Kara schloß geblendet die Augen, als ein grell lodernder Feuerstrahl neben ihr die Luft zerschnitt und die Libelle traf.
Es war so, wie sie befürchtet hatte: Der Helikopter taumelte, aber die Flammen prallten wirkungslos von einer unsichtbaren Wand ab, die ihn umgab, und glitten in die Tiefe. An zwei oder drei Stellen loderten neue Brände auf.
Kara gestikulierte heftig, das Feuer einzustellen, und brachte Markor in einer engen Spirale nach unten. Sie entdeckte fünf, sechs weitere Libellen am Rande eines gewaltigen Kraters, der im Boden der Stadt gähnte. Der Anblick kam ihr bekannt vor, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Eine weitere Libelle startete, während Markor sich in die Tiefe schraubte, dann schlug der Drache wie ein lebendes Geschoß zwischen den übrigen Maschinen auf. Seine peitschenden Schwingen zermalmten zwei der Libellen. Kara triumphierte innerlich. Der unsichtbare Schild der Maschinen funktionierte offenbar nur, wenn sie sich in der Luft befanden. Am Boden waren sie verwundbar.
Das Mädchen glitt von Markors Rücken, zog das Schwert und rannte auf eine Libelle zu, deren Rotoren sich in diesem Moment pfeifend zu drehen begannen. Eine Sekunde später stieß ein ungeheuerlicher Schatten vom Himmel. Meterlange Krallen schnappten zu, zerfetzten die Rotoren und den gläsernen Kopf der Maschine mitsamt der beiden Männer, die sich darin befanden.
Kara warf sich zur Seite, als ein grüner Blitz nach ihr stach. Sie rollte über die Schulter ab, lief im Zickzack auf die beiden übriggebliebenen Maschinen zu und sah, wie die gläsernen Pilotenkanzeln nach oben klappten, um den Männern darunter die Flucht zu ermöglichen. Eine der Maschinen wurde von einem herabstoßenden Drachen in Stücke gerissen, ehe die Männer in den blauen Uniformen herauskamen. Die beiden anderen schafften es.
Aber sie lebten trotzdem nicht mehr sehr lange.
Ein riesiger Schatten stieß vom Himmel herab. Kara begann fast verzweifelt zu gestikulieren, aber es war zu spät. Die Kiefer des Drachen schlossen sich mit einem furchtbaren Laut und bissen einen Flüchtenden in zwei Hälften, und fast im gleichen Moment traf die Schwinge des Drachen den letzten Überlebenden und schleuderte seinen zerschmetterten Körper fünfzig Meter weit. Mit einem triumphierenden Brüllen schraubte sich der Drache wieder in die Luft. Aus dem Haus hinter Kara zuckte ein dünner, giftgrüner Blitz, traf den Mann auf seinem Rücken und verwandelte ihn in eine lebende Fackel, die schreiend zu Boden stürzte.
Kara fuhr herum und begann in wilden Sprüngen auf das brennende Gebäude zuzuhetzen. Ihr Blick suchte verzweifelt nach dem Schützen, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Dafür hatte er sie um so besser im Visier. Ein grüner Blitz zuckte in ihre Richtung und verwandelte den Boden neben ihr in rotglühende Lava. Kara bewegte sich nach links, rechts, machte unberechenbare Sätze und Sprünge und näherte sich dem Haus weiter. Sie wußte jetzt, woher die Schüsse kamen: aus einem Fenster im oberen Stockwerk der Ruine. Und der Mann schoß sich allmählich ein; obwohl sie wie verrückt hinund hersprang, kamen die grünen Blitze immer näher. Wahrscheinlich hätte sie auch einer der nächsten Schüsse getroffen, wäre nicht in diesem Moment wieder ein Drache vom Himmel herabgestoßen. Seine Krallen trafen das Haus und zermalmten einen Teil des Mauerwerks zu Staub. Das grüne Feuer brach ab. »Nein!«, schrie Kara so laut sie konnte. »Ich brauche ihn lebend!«
Sie wußte nicht einmal, ob der Reiter ihre Worte überhaupt hörte. Aber in der gleichen Sekunde erreichte sie das Haus und stürmte durch die Tür, und wenn schon nicht, um ihrem Befehl zu gehorchen, so doch wenigstens, um sie nicht in Gefahr zu bringen, brach der Drache seinen Angriff ab.
Das Haus war voll schwarzen Qualms, der sie zum Husten brachte. Vereinzelt loderten Flammen auf, und als sie sich behutsam auf die Treppe zutastete, die ins obere Stockwerk hinaufführte, stolperte sie über die Leiche eines sechsarmigen Hornkopfes. Sie fiel auf Hände und Knie, stemmte sich fluchend und mühsam nach Atem ringend wieder auf und blieb am Fuß der Treppe stehen. Aus tränenden Augen sah sie nach oben. Auch dort loderte rotes Licht. Sie hörte das Prasseln der Flammen und das Poltern von Steinen.
Kara ergriff ihr Schwert fester und bewegte sich vorsichtig und mit rasendem Herzen die Treppe hinauf. Sie hatte keine Ahnung, ob der Mann noch lebte, aber wenn, dann war er... Er lebte noch. Und obwohl er so schwer verletzt war, daß Kara sich fragte, wie er überhaupt noch auf den Beinen stehen konnte, war er noch immer ein überaus gefährlicher Gegner. Sein Gewehr war zerbrochen, aber der zersplitterte gläserne Lauf bildete eine fast ebenso tödliche Waffe wie Karas Schwert. Er bewegte sich so schnell, daß Kara ihm nur mit Mühe ausweichen konnte, als er sie unversehens ansprang.
Sie glitt auf der Treppe aus, fing sich ungeschickt an der Wand ab und rutschte vier, fünf Stufen weit in die Tiefe. Das zerbrochene Gewehr riß eine fingerdicke Spur in die Mauer über ihr. Knurrend fuhr der Mann herum und setzte ihr nach. Kara versuchte erst gar nicht, auf die Füße zu kommen, sondern stieß ungeschickt mit dem Schwert nach ihm. Die Klinge riß eine blutige Wunde in seinen Oberschenkel. Er prallte zurück, aber der neuerliche Schmerz schien ihn nur noch wütender zu machen. Sein Gesicht war das eines Wahnsinnigen.
»Gib endlich auf!« sagte Kara schweratmend, während sie gleichzeitig versuchte, in eine günstigere Position zu gelangen. Der Mann rührte sich nicht, aber Kara bezweifelte, daß er so freundlich sein würde, ihr das Aufstehen zu gestatten. »Du hast keine Chance mehr! Deine Kameraden haben dich im Stich gelassen! Selbst wenn du mich besiegst, kommst du hier nicht mehr lebend heraus!«
Sie erfuhr nie, ob er ihre Worte überhaupt gehört hatte, denn er sprang sie im gleichen Moment an, in dem sie versuchte, auf den Treppenstufen aufzustehen. Kara sah ihn mit weit ausgestreckten Armen auf sich zufliegen und hob schützend die Hände vor das Gesicht. Ein dumpfer Schlag schmetterte ihr das Schwert aus der Hand, sie stürzte, krümmte sich zusammen und spürte, wie der Mann über sie hinweggeschleudert wurde. Sie konnte hören, wie sein Genick brach, als er unter ihr auf der Treppe aufschlug.
Mit einem erschöpften Laut sank Kara vollends in sich zusammen und blieb einige Augenblicke lang liegen. Schwäche übermannte sie wie eine lähmende Woge, und für Sekunden mußte sie mit aller Macht darum kämpfen, wach zu bleiben. Sie würde sterben, wenn sie das Bewußtsein verlor. Das Haus brannte, und wenn nicht das Feuer, so würde der Rauch sie umbringen. Mühsam stemmte sie sich wieder in die Höhe.
Sie war nicht mehr allein, als sie sich herumdrehte. Eine Gestalt in schwarzem Leder und Silber kniete neben dem Toten. Als sie den Kopf hoch und Kara anblickte, erkannte sie, daß es Zen war.
»Kara!« sagte er erschrocken. »Bist du in Ordnung?«
Sie nickte müde, fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht und bückte sich nach ihrer Waffe. »Ist er tot?« fragte sie, während sie das Schwert wieder in ihren Gürtel schob. »So tot, wie man nur tot sein kann«, antwortete Zen. »Das war ganze Arbeit.«
»Verdammter Mist«, sagte Kara. »Ich wollte ihn lebend!«
Ein Gefühl heftiger Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus, als sie an Zen vorbeiging und den Toten ansah. Er hatte sich nicht nur das Genick gebrochen. Sein Kopf war so unglücklich auf der steinernen Treppe aufgeschlagen, daß er regelrecht auseinandergeplatzt war. Sie sah rasch weg.
»Er hätte uns sowieso nichts verraten«, sagte Zen. »Ich glaube nicht, daß sie...« Er sog scharf die Luft ein. »Kara! Sieh dir das an!«
Doch Kara blickte starr in die entgegengesetzte Richtung. »Ich weiß, wie ein Gehirn aussieht«, sagte sie, während sie mit einem Brechreiz kämpfte. »Ich habe schon mal eines gesehen.«
»So eines bestimmt noch nicht«, antwortete Zen leise.
Kara wandte sich alarmiert zu ihm um. Ihr Magen rebellierte, und ihr Mund füllte sich schneller mit bitterem Speichel, als sie ihn herunterschlucken konnte. Doch was sie sah, ließ sie schlagartig ihre Übelkeit vergessen.
Sie hatte tatsächlich noch nie zuvor so ein Gehirn gesehen. Wenn es überhaupt ein Gehirn war. Sie entdeckte sehr viel Blut, zerrissene Gewebe und glitzernde Flüssigkeit, aber sie sah auch Metall und ein winziges, blaßblau leuchtendes Etwas und blutverschmiertes... Glas?
»Großer Gott – was ist das?« flüsterte sie.
Zen streckte zögernd die Hand aus, wagte aber nicht, das Ding zu berühren.
Es ist tatsächlich Glas, dachte Kara fassungslos. Sie bemerkte winzige Drähte und Spulen, die kleiner als ein Stecknadelkopf waren, aber darüber spannte sich eine durchsichtige Kapsel, deren Oberflächenstruktur der eines menschlichen Gehirns entsprach.
Zen starrte sie an. Sein Gesicht war grau vor Entsetzen. Er sagte nichts.
»Wir... müssen das... Aires zeigen«, flüsterte Kara stockend. Es fiel ihr schwer zu reden. Nahm der Schrecken denn gar kein Ende mehr?
»Aber ich... kann es nicht. Glaubst du, daß du...«
Zens Haut färbte sich von Grau zu Grün. Er schluckte ein paarmal krampfhaft, aber er nickte und zog den Dolch aus dem Gürtel. Und Kara fuhr herum und stürzte aus dem Haus, um sich zu übergeben.
Der Sonnenaufgang begann hier unten eine Stunde später, weil die Kontinentalklippe, die Schelfheim überragte, den Horizont verdeckte. So erlebte Kara die Dämmerung an diesem Morgen zweimal, und im ersten Licht des neuen Tages erkannte sie auch, wo sie war und wieso ihr dieser Ort so vertraut vorkam: Der gewaltige Krater, an dessen Rand die Libellen niedergegangen waren, war derselbe, in den Kara und Elder damals hinabgestiegen und das erste Mal auf die Männer in den blauen Uniformen gestoßen waren. Sie fragte sich, was sie hier gemacht hatten, wo ihnen doch der um vieles sicherere Weg über das unterirdische Meer zur Verfügung stand. Selbst wenn Schelfheims Machthaber dort unten eine Truppe stationiert hatten – hier oben hatten sie es mit der gesamten Stadtgarde zu tun gehabt. Aber vielleicht, dachte Kara, hatten sie ganz genau das gewollt.
Während sie im Haus gewesen war, hatten sich fünf oder sechs Drachen auf den Häusern ringsum niedergelassen. Ihre Reiter waren abgestiegen und durchsuchten die umliegenden Häuser nach versprengten Blauuniformierten. Der Rest ihrer kleinen Streitmacht kreiste weiter über ihnen. Kara machte sich jedoch keine Hoffnungen. Irgendwie war sie sicher, daß dieser Mann der letzte gewesen war, der sich hier aufgehalten hatte. Wenn man von dem Knistern der Flammen und einem gelegentlichen Grollen der Drachen absah, war es fast unheimlich still. Kara hatte erwartet, daß die Bewohner der umliegenden Häuser sich nun, da die Angreifer vertrieben waren, wieder aus ihren Verstecken hervorwagen würden, aber niemand zeigte sich. Entweder sie waren alle tot, dachte Kara erschrocken, oder die Drachen erschreckten sie ebenso wie die Libellen. Die Stille wurde noch bedrückender, als die Sonne ganz aufging und die Schatten vollends vertrieb. Dann und wann hörte sie das Poltern eines Steins; der Wind, der sich beständig drehte, trug manchmal ein Stöhnen oder unverständliche Stimmen herbei, aber niemand kam, um in den Ruinen nach Überlebenden oder Verletzten zu suchen oder die Brände zu löschen. Kara hatte plötzlich das Gefühl, daß sie zu spät gekommen waren und eine tote Stadt aus dem Griff der Blauuniformierten befreit hatten. Sie hätte zumindest ein paar Neugierige erwartet, die irgendwann aus den Ruinen rings um den Krater hervorkrochen.
Von einer plötzlichen, bösen Vorahnung erfüllt, wandte sich Kara um und ging zu einem halb zusammengestürzten, aber nicht in Brand stehenden Gebäude hinüber. Sie mußte durch ein Fenster hineinklettern, denn das abgebrochene Rotorblatt einer Libellenmaschine versperrte die Tür. Es war wie ein Speer ins Holz gefahren und nagelte sie so fest ans Mauerwerk, daß alles Rütteln und Zerren nichts nutzte.
Der Raum, in den sie gelangte, war fast unversehrt.
Seine Bewohner nicht.
Kara fand auf Anhieb drei Tote. Die Menschen waren nicht erschossen worden oder verbrannt, sondern Opfer einer Waffe geworden, die sie offensichtlich alle im gleichen Augenblick niedergestreckt hatte. Sie drehte einen der reglosen Körper herum und stellte fest, daß er sich vollkommen falsch bewegte; wie ein Sack voller nasser Erde. Als hätte er keine Knochen mehr oder als wären sie allesamt in winzige Stückchen zerbrochen. Dann stellte Kara fest, daß nichts, was aus Glas, Steingut oder Porzellan bestanden hatte, heil geblieben war. Unter ihren Sohlen knirschte ein Teppich aus feingemahlenen Splittern. Sie untersuchte ein zweites und drittes Haus und machte überall die gleiche Entdeckung. Hier und da hatte es gebrannt, und einige der Toten, die sie sah, zeigten Spuren des furchtbaren grünen Lichts oder waren von herabstürzenden Trümmerstücken erschlagen worden, aber allmählich fügte sich das Bild zusammen: Die Angreifer mochten sich überall in der Stadt einen Spaß daraus gemacht haben, ein Scheibenschießen auf Häuser oder auch Menschen zu veranstalten, doch zuvor hatten sie mit einem einzigen gezielten Schlag dafür gesorgt, daß sie in aller Ruhe tun konnten, weshalb auch immer sie hergekommen waren.
Als Kara das letzte Haus auf dieser Seite des Kraters verließ, bemerkte sie eine Bewegung: Einer der Drachen wandte knurrend den Schädel und äugte mißtrauisch auf eine Prozession winzig kleiner Gestalten herab, die neben ihm die Straße entlangkam. Kara erkannte die glitzernden Panzer von Hornköpfen, dahinter das schreiende Gelb der Garde. Die beiden riesigen Kampfinsekten an der Spitze der Gruppe kamen ihr vage bekannt vor, und im gleichen Moment begriff sie, wer die Männer in ihrer Begleitung waren. Sie seufzte lautlos, drehte sich aber herum und ging ihnen in raschem Tempo entgegen.
Trotzdem war sie nicht die erste, die die Gruppe erreichte. Zwei Drachenkämpfer kamen ihr zuvor. Der eine beruhigte mit Gesten und Worten den Drachen, der noch immer nervös knurrte – die Abneigung zwischen Hornköpfen und Drachen war so alt wie diese beiden Völker selbst –, der andere versuchte offensichtlich, mit den Männern in den gelben Mänteln zu reden, hatte aber wenig Erfolg dabei: Die beiden Hornköpfe ließen ihn nicht in Ruhe gewähren.
»Was ist hier los?« fragte Kara scharf, als sie die Gruppe erreicht hatte.
Der Krieger fuhr ärgerlich herum und schluckte eine wütende Entgegnung hinunter, als er Kara erkannte. »Ich versuche diesem Verrückten zu erklären, daß er die beiden Viecher hier wegbringen soll, ehe die Drachen vollkommen durchdrehen«, sagte er. »Aber er hört nicht auf mich.«
Kara unterdrückte ein schadenfrohes Lächeln, als sie erkannte, daß der ›Verrückte‹ niemand anders als Gendik war, das regierende Oberhaupt von Schelfheim. Auch er hatte die Worte des Kriegers gehört. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Es wäre besser, wenn Ihr auf ihn hört, Gendik«, sagte sie mit einer Geste auf die beiden Hornköpfe. »Sie machen unsere Tiere nervös. Schickt sie fort. Ich weiß, daß es sich um Eure persönliche Garde handelt, aber solange Ihr bei uns seid, garantieren meine Leute und ich für Eure Sicherheit.«
Zumindest die boshafte Spitze, die sich in diesen Worten verbarg, hatte Gendik verstanden, denn der Blick, mit dem er Kara von seinem Sattel aus maß, zeigte mehr als nur eine leichte Verärgerung. »Kennen wir uns, Kind?« fragte er.
Kara wollte auffahren, aber dann begriff sie, daß Gendik sich wirklich nicht an sie erinnerte. »Wir haben uns einmal gesehen«, antwortete sie. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich bitte Euch – schickt sie fort.«
Gendik zögerte noch einen Moment, aber dann machte er eine knappe, befehlende Geste, und die beiden riesigen Kampfinsekten wandten sich um und stolzierten mit eckigen Bewegungen davon. Kara atmete auf. Auch sie hatte die Nähe der Hornköpfe mit einem fast körperlichen Unbehagen erfüllt. Sie wußte natürlich, daß ihre Furcht völlig unbegründet war. Die Hornköpfe waren spezielle Züchtungen, und der Begriff Loyalität gehörte zu einem unauslöschlichen Teil ihrer Erbinformationen. Aber das änderte rein gar nichts daran, daß sie ihr angst machten.
Gendik schwang sich mit einem hörbaren Ächzen aus dem Sattel, und Kara sah erst jetzt, daß er verletzt war. Sein linker Arm hing in einer Schlinge, auf der sich ein dunkler Blutfleck gebildet hatte. Sein gelber Mantel war mit häßlichen Brandspuren übersät. Mit kleinen, mühsamen Schritten trat er ihr entgegen und musterte sie mit einem langen Blick von Kopf bis Fuß. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte er. »Du warst mit eurer Anführerin bei uns, nicht wahr? Wie hieß sie doch gleich?«
»Angella«, sagte Kara gepreßt.
»Angella, richtig. Ist sie mitgekommen?«
»Sie ist tot«, antwortete Kara.
»Tot? Das tut mir leid. Aber jetzt bring mich bitte zu eurem Kommandanten. Ich habe mit ihm zu reden.«
»Er steht vor Euch, Gendik«, antwortete Kara. Sie hatte Mühe, noch höflich zu bleiben.
»Du?« Gendik suchte einen Moment verwirrt nach Worten, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ich verstehe. Er ist bei den anderen, die diese Hunde verfolgen, nicht wahr? Dann werde ich mich wohl bis zu seiner Rückkehr gedulden müssen.«
»Ich fürchte, Ihr habt mich mißverstanden, Gendik«, sagte Kara. »Angella war die Herrin der Drachenkämpfer. Ich bin ihre Nachfolgerin.«
Diesmal war Gendik mehr als überrascht. Der neuerliche Blick, mit dem er Kara maß, war beinahe schon beleidigend. Aber er überwand seine Verwirrung sehr schnell. »Nun, wie dem auch sei«, sagte er. »Das vereinfacht die Sache sogar. Ich bin gekommen, um dir und den anderen tapferen Kriegern für eure Hilfe zu danken. Ihr seid im letzten Moment aufgetaucht.«
Lag da ein Vorwurf in seiner Stimme? Kara sah ihn scharf an, sie unterstellte zu seinen Gunsten, daß sie sich täuschte. »Wir sind gekommen, so schnell wir konnten«, sagte sie. »Aber ich fürchte, trotzdem nicht schnell genug. Was haben sie gewollt? Was habt Ihr getan, um diesen Angriff zu provozieren?«
»Nichts«, antwortete Gendik. »Wir wissen ja nicht einmal, wer sie sind.«
Kara sah ihn auf eine ganz bestimmte Art und Weise an, und Gendik fuhr in einem Tonfall fort, für den Kara ihm am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte. »Gut. Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Kindchen...«
»Kara«, unterbrach sie ihn. »Mein Name ist Kara.«
»Kara, meinetwegen. Du wirst mir jetzt erzählen, daß ihr uns gewarnt habt und es allein meine Schuld ist, weil ich nicht auf dich und die alte Frau gehört habe. Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht. Das spielt im Moment keine Rolle. Wir können später Schuld zuweisen und Verantwortung verteilen. Vielleicht finden wir auch ein paar Köpfe, die wir abschlagen können.« Er lächelte überheblich. »Möglicherweise ist sogar mein eigener dabei, wer weiß.«
»Möglicherweise«, sagte Kara. Sie kochte innerlich vor Zorn. »Was hier wessen Schuld ist und warum, ist im Moment unwichtig«, fuhr Gendik kühl fort. »Bedeutsam ist, was wir tun müssen, um den Schaden so gering wie möglich zu halten und zu verhindern, daß es noch einmal geschieht. Glaubst du, daß deine Krieger sie schlagen können?«
Gendik schien nicht einmal bemerkt zu haben, daß es so etwas wie einen Kampf gar nicht gegeben hatte. Kara schüttelte den Kopf. »Das ist nicht die Frage, Gendik. Seht Euch hier um, und Ihr wißt, was meine Drachen mit diesen... Dingern anstellen können. Die Frage ist, warum sie Eure Stadt überhaupt angegriffen haben.« Sie deutete mit einer weit ausholenden Geste auf die zerstörten Häuser rings um den Krater, dann auf das gewaltige Loch im Herzen Schelfheims selbst: »Sie haben hier irgend etwas gesucht. Könnt Ihr Euch vorstellen, was?«
»Nein«, antwortete Gendik. »Rusman hat einige seiner Männer in dieses Loch hinabgeschickt, nachdem du und der Waga zurückgekommen seid. Aber sie haben nichts gefunden.«
»Vielleicht sollten wir Rusman selbst...«
»Er ist tot«, unterbrach sie Gendik. »Sie haben fast meine gesamte Garde ausgelöscht.« Zum allerersten Mal glaubte Kara, so etwas wie ein echtes Gefühl in Gendiks Gesicht zu erkennen: einen Schrecken, der die ganze Zeit über in ihm gewesen war und den er jetzt nicht mehr zu unterdrücken versuchte.
»Das tut mir leid«, sagte sie. »Ich wußte nicht, daß Eure Verluste so groß waren.«
»Groß?« Gendik schürzte die Lippen. »Ich fürchte, es ist kaum ein kampffähiger Mann übriggeblieben. Dieser Narr Rusman hat sie alle umgebracht. Wäre er nicht selbst in der Schlacht gefallen, würde ich ihn hinrichten lassen.«
»Er ist tot, und...«
»Das macht aus einem Dummkopf noch keinen Helden, Kara«, unterbrach Gendik sie. »Es ist kein Zeichen von Tapferkeit, seine Truppen gegen einen Feind anrennen zu lassen, der vollkommen unverwundbar ist.«
Es dauerte einen Moment, bis Kara begriff, was Gendik überhaupt meinte. Ungläubig starrte sie ihn an. »Ihr wollt damit sagen, daß Eure Leute nicht eine einzige dieser Maschinen zerstört haben?« fragte sie ungläubig.
»Nicht eine«, bestätigte Gendik. »Sie haben unsere Krieger abgeschossen wie Spatzen, obwohl wir ihnen hundert zu eins überlegen waren. Wenn ihr nicht gekommen wäret, dann gäbe es diese Stadt jetzt vielleicht nicht mehr.« Er schüttelte ein paarmal den Kopf, und Kara konnte regelrecht sehen, wie der Zorn in seinen Augen erlosch und wieder diesem dumpfen Schrecken Platz machte. »Wer sind diese Männer, Kara? Was weißt du über sie?«
»Nichts«, log Kara. »Jedenfalls nicht viel.« Sie starrte einen Moment ins Leere und fragte sich vergeblich, warum sie das gesagt hatte. War es wirklich so, daß sie einfach keinem Menschen mehr traute? Oder hatte sie nur Angst davor, die Wahrheit auszusprechen und Gendik zu erklären, daß das, was er für einen Sieg hielt, nichts als ein taktisches Manöver ihrer Gegner war? »Ich schlage vor, daß wir uns zu einem späteren Zeitpunkt darüber unterhalten«, fuhr sie in unverändertem Tonfall fort. »Die Stadt brennt. Es muß sehr viele Verwundete geben. Wenn ich und meine Leute Euch irgendwie helfen können...«
Sie wußte selbst, wie kümmerlich dieses Angebot war. Sie waren kaum siebzig Männer und Frauen in einer Stadt, die an hundert Stellen brannte und in der es möglicherweise hunderttausend Verwundete gab. Gendiks Lächeln machte ihr klar, daß seine Überlegungen wohl in dieselbe Richtung gingen. »Das wird kaum nötig sein«, sagte er. »Ihr habt uns schon zur Genüge geholfen. Wißt ihr schon, wo ihr eure Tiere unterbringen werdet?«
Seine Frage überraschte Kara. Der Gedanke, hierzubleiben, war ihr bisher nicht einmal gekommen. Mit einem Schulterzucken deutete sie in die Runde. »Dieser Platz ist so gut wie jeder andere. Hier lebt ohnehin niemand mehr, und...«
»Ich fürchte, das wir nicht gehen«, unterbrach sie Gendik sanft, aber nachdrücklich.
»Wieso?«
»Deine Krieger unterzubringen ist kein Problem. Aber die Drachen können nicht hierbleiben. Du hast es selbst gesagt: Sie hassen die Hornköpfe. Doch Schelfheim ist voll von Hornköpfen. Außerdem würde ihre Anwesenheit die Leute hier verängstigen.«
»Und ich dachte, sie würde sie beruhigen«, sagte Kara spöttisch.
»Für den Moment vielleicht«, räumte Gendik ein. »Aber sie haben Angst vor ihnen. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist etwas, das die Angst der Leute noch schürt.« Er überlegte einen Moment. »Es gibt eine Festung oben am Rand der Klippe«, sagte er dann. »Dort ist Platz genug für eure Tiere. Ich schlage vor, du bringst sie und deine Krieger dorthin und kehrst dann zurück. Ich werde inzwischen versuchen, meine Berater zusammenzurufen. Und das, was von unserer glorreichen Armee noch übrig ist. Wäre es dir recht, wenn ich dir gegen die Mittagsstunde einen Wagen schicke, der dich abholt?«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Gendik«, erwiderte Kara, so freundlich sie konnte. »Ich kann nicht bleiben. Sobald alle meine Krieger zurück sind, werden wir zum Hort zurückkehren. Natürlich lasse ich Euch eine ausreichende Zahl von Drachen und Männern hier, die für den Schutz Schelfheims garantieren.«
»Du willst fort?« fragte Gendik irritiert. »Aber wir...«
»Müssen uns beraten, sicher«, unterbrach ihn Kara. »Aber gibt es einen besseren Ort dafür als den Drachenhort? Wir erwarten Euch und Eure Berater in drei Tagen dort.« Sie gestattete sich den Luxus, sich einen Moment an seiner Verblüffung und dem allmählich aufkeimenden Zorn in seinem Blick zu weiden, als er begriff, daß dieser als Einladung getarnte Befehl einen dreitägigen, mörderischen Ritt für ihn bedeutete, dann wandte sie sich mit einer ruckhaften Bewegung zum Gehen, hielt aber noch einmal inne.
»Ich denke, es ist wirklich besser, wenn die Drachen genau hier bleiben, Gendik. Die Angreifer haben hier irgend etwas gesucht, und es würde mich nicht wundern, wenn sie zurückkommen. Bitte sorgt dafür, daß für die Drachen ausreichend Futter bereitsteht. Sie werden leicht nervös, wenn sie hungrig sind. Und noch etwas: Kennt Ihr einen jungen Ingenieur namens Donay?«
»Nein«, antwortete Gendik. »Aber ich kann ihn suchen lassen. Falls er noch lebt.«
»Tut das«, sagte Kara. »Ich möchte, daß er mich begleitet.«
Sie ging weiter und ließ Gendik einfach stehen.
Es dauerte noch zwei Stunden, bis die letzten Drachen aus dem Schlund zurück waren. Sie hatten Karas Befehl befolgt und die Libellen beinahe zweihundert Meilen weit verfolgt, sie aber nicht angegriffen. Wenig später brachten zwei von Gendiks Soldaten einen total verstörten, aber unverletzten Donay zu ihr. Bevor Kara zum Drachenhort aufbrach, suchte sie zehn der besten und erfahrensten Krieger samt ihrer Tiere aus, die in der Stadt zurückblieben. Sie sah keinen von ihnen lebend wieder.