39

Elders Verletzung mußte wohl doch schwerer sein, als Kara angenommen hatte, denn als sie nach einer guten halben Stunde wieder in Aires’ Turmkammer hinaufging, saß die Magierin noch immer an seinem Lager und hantierte an seinem Bein herum. Vor der nur angelehnten Tür zu ihrem Schlafgemach stand ein Posten, der offensichtlich Befehl hatte, niemanden einzulassen, denn er verwehrte selbst ihr den Zutritt. In Aires’ Zimmer endete ihre Macht als Führerin des Hortes. Vermutlich hätte sie sich trotzdem Eintritt verschaffen können, aber sie verzichtete darauf und geduldete sich, bis sich Aires nach einer weiteren Viertelstunde erhob und das Zimmer verließ. Karas Sorge um Elder war größer, als sie zugeben wollte. »Wie geht es ihm?« fragte sie.

Aires zuckte mit den Schultern und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie wirkte erschöpft. »Er wird es überstehen. In zwei oder drei Tagen kann er vielleicht schon wieder laufen. Die Wunde war sehr tief – aber keine Angst: Es sind keine edlen Körperteile verletzt.«

Kara beschloß, den letzten Satz zu überhören. »Kann ich zu ihm?«

»Er schläft«, sagte Aires mit einem Kopfschütteln. »Ich habe ihm etwas gegeben, damit er die Schmerzen nicht mehr spürt.«

Stirnrunzelnd sah sie Kara an. »Was war mit dem Hund los?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Kara. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Und Cord auch nicht.«

»Ehr mheihnt, dher Huhnd hätthe ehthwhasss Frhemdhesss ghewittherth, dhasss ihn rahsendh gehmachth haht«, sagte Hrhon.

»Nun ja – er ist fremd, nicht wahr?« Aires seufzte wie nach einer furchtbar großen Anstrengung. »Das Tier ist unverletzt.«

»Ich weiß nicht, ob sich Hunde über Kopfschmerzen beklagen«, sagte Kara mit einem Seitenblick auf Hrhon. »Wenn ja, wäre ich an Hrhons Stelle nicht mehr hier, wenn der Hund zurückkommt. In vier oder fünf Stunden dürfte er in der Stadt sein. Keine Sorge – wenn Elder dort unten gewesen ist, dann findet er seine Spur.«

Aires fuhr erschrocken zusammen und warf einen Blick auf die geschlossene Tür, hinter der Elder schlief, fast als hätte sie Angst, daß er Karas Worte im Schlaf hören konnte. »Hoffen wir, daß nicht alles umsonst war.«

»Wir sollten hoffen, daß es das war«, sagte eine Stimme vom anderen Ende des Raumes her. Kara drehte den Kopf und bemerkte, daß Donay auf einem Stuhl neben der Tür saß. »Du hast zwar recht«, sagte sie, »aber manchmal geht einem das ganz schön auf die Nerven, weißt du das?« Sie wandte sich an Aires. »Du solltest lieber ihm ein Schlafmittel verpassen. Er sieht aus, als würde er jeden Moment aus den Latschen kippen.«

Aires lächelte müde, und Donay sagte: »Aber dann würdest du nicht erfahren, welche Neuigkeiten ich über deinen Freund dort drinnen habe, Kara.«

Sein Ton ließ Kara aufhorchen. »Neuigkeiten?«

Donay nickte heftig. »Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Kara – aber ich habe deinen Freund bei mindestens einer Lüge er tappt.«

»So?« fragte Kara lauernd. »Und welche wäre das?«

»Es geht um diese Pumpstation«, antwortete Donay. »Was er dir darüber erzählt hat, ist völliger Unsinn.«

»Ich war selbst da«, antwortete Kara.

»Kein Mensch bezweifelt, daß es sie gibt und daß sie Wasser in den Schlund pumpt. Aber weißt du, ich kann ganz gut rechnen. Wenn der Schlund auch nur annähernd so groß ist, wie wir annehmen, dann müßten diese Pumpen ungefähr zwanzigtausend Jahre lang arbeiten, um ihn aufzufüllen. Ganz davon abgesehen, daß die Sonne das Wasser schneller verdunsten lassen würde, als sie es hochpumpen könnten. Es ist eine ganz einfache Gleichung – die Wasseroberfläche im Verhält...«

»Ich war da«, unterbrach ihn Kara. »Ich habe das Meer gesehen, Donay. Es existiert.«

»Sicher«, sagte Donay. »Aber ganz bestimmt nicht, weil es diese Pumpen gibt.«

»Was beweist das!« fragte Kara aggressiver, als sie eigentlich wollte. »Vielleicht hat er sich getäuscht. Er weiß möglicherweise auch nicht alles.«

»Oder zieht es vor, nicht alles zu erzählen, was er weiß«, sagte Donay. »Wie wäre es damit: Es gibt nicht nur diese eine Pumpstation. Hundert solcher Anlagen könnten es in hundertfünfzig oder zweihundert Jahren schaffen.«

»Aber warum sollte er uns das verschweigen?« fragte Kara. Sie fühlte sich hilflos.

»Vielleicht, damit wir uns auf diese eine Sache konzentrieren und erst gar nicht auf die Idee kommen, nach den anderen zu suchen«, sagte Aires.

Kara wollte widersprechen – aber dann gestand sie sich ein, wie zwecklos das wäre. Ob Donays Rechnung nun richtig war oder einen Fehler enthielt – in einem hatte er recht: Die Idee, die ausgetrockneten Meeresbecken einer ganzen Welt mit nur einer Pumpe wieder aufzufüllen, war lächerlich.

»Also?« fragte sie. »Was schlagt ihr vor?«

»Ich schlage überhaupt nichts vor«, sagte Aires. »Du hast hier das Sagen.«

Kara fühlte sich viel zu müde, um in der angemessenen Schärfe zu antworten. Sie sah Aires nur so lange vorwurfsvoll an, bis die Magierin betreten den Blick senkte; es passierte zum ersten Mal, daß sie ein Blickduell verlor. »Dann warten wir ab, was Cord herausfindet«, sagte sie. »Im Moment kann Elder uns sowieso nicht davonlaufen und also auch keinen Schaden anrichten.«

»Wir könnten versuchen, ihm etwas zu geben, was ihn zwingt, die Wahrheit zu sagen«, schlug Donay vor. An Aires gewandt fügte er hinzu: »Du könntest es ihm unter die Medizin mischen, die er sowieso nehmen muß.«

»Hast du eine solche Droge?« fragte Kara.

Aires nickte. »Ja. Aber das ist nicht so einfach. Wenn man einen starken Willen hat, kann man sich durchaus dagegen wehren, so daß wir immer noch nicht sicher sein können, ob er wirklich die Wahrheit sagt. Und wenn ich die Dosis zu hoch ansetze...« Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist kein Mensch. Er sieht aus wie einer, aber ich weiß nicht, wie sein Körper auf Drogen reagiert. Es könnte ihn umbringen. Oder ihn in einen stammelnden Idioten verwandeln. Oder gar keine Wirkung haben.«

Sie zögerte noch einmal. »Und selbst wenn die Droge wirkt – er wüßte hinterher, was mit ihm geschehen ist. Und wenn er uns nicht belogen hat und wirklich auf unserer Seite steht, dann haben wir sein Vertrauen damit endgültig verspielt.«

»Habt ihr das mit dem, was ihr gerade getan habt, nicht sowieso?«

»Niemand in Schelfheim weiß, daß es die Suchhunde gibt«, antwortete Aires. »Er hat dort gelebt, nicht hier. Auch der Drachenhort hat so seine Geheimnisse.«

Donay lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Also wollte ihr abwarten und gar nichts tun.«

»Ich fürchte, allzulange werden wir keine Gelegenheit dazu haben«, sagte Kara. »Was immer die Libellen in Schelfheim gewollt haben – sie haben es nicht gefunden. Sie werden wiederkommen oder sich etwas anderes einfallen lassen.«

Donay erbleichte. »Du meinst, ein neuer Angriff?«

Kara dachte einen Moment ernsthaft über diese Möglichkeit nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Das glaube ich nicht. Ich habe immerhin zehn Drachen in der Stadt gelassen.«

»Zehn deiner Drachen gegen fünfzig oder hundert von ihnen?« sagte Donay zweifelnd.

Kara zuckte mit den Schultern. »Sie werden es nicht wagen«, sagte sie überzeugt. »Frag mich nicht, warum es so ist, Donay. Ich habe mehrmals selbst gegen sie gekämpft – sie kämpfen, als hätten sie keine Angst vor dem Tod. Aber sobald sie auch nur einen Drachen sehen, ergreifen sie die Flucht.«

»Das ist richtig«, bestätigte Aires. »In jener Nacht im Schlund gaben sie sofort auf, als es Karas Leuten gelang, den ersten zu zerstören. Die beiden, die entkommen sind, hätten Tess und die drei anderen töten können.« Sie sah Kara an und erntete ein ernstes Kopfnicken. »Aber sie haben nicht einmal versucht, sich zum Kampf zu stellen.«

»Aus irgendeinem Grund fürchten sie die Drachen mehr als den Tod«, sagte Kara.

Donay machte plötzlich ein sehr nachdenkliches Gesicht. »Interessant«, sagte er. »Nur die Drachen?«

»Es scheint so«, bestätigte Kara. »Der Mann, mit dem ich in Schelfheim kämpfte, zog es vor zu sterben, statt sich zu ergeben. Sie haben keine Angst vor dem Tod.«

»Das ist wirklich interessant«, sagte Donay. »Zumal du selbst mir erzählt hast, daß sie gewissermaßen ewig leben.«

»Wieso! «

»Ich kann mich täuschen«, antwortete Donay, »aber ich hätte gedacht, daß ein Unsterblicher noch sehr viel mehr Angst vor dem Tod hat als du oder ich. Wir haben fünfzig oder sechzig Jahre zu verlieren – sie vielleicht fünf- oder sechshundert. Oder auch tausend. Irgendwie erscheint mir das unlogisch.«

»Mir auch«, gestand Kara in einem verblüfften Ton, als frage sie sich, warum, zum Teufel, sie nicht schon längst von sich aus auf diesen Widerspruch gestoßen war.

Kara setzte zu einer Antwort an, aber in diesem Moment klopfte es an der Tür, dann betrat ein Krieger unaufgefordert den Raum. Sein Blick huschte über die Anwesenden und blieb auf Karas Gesicht hängen. »Ka... Herrin?«

»Ja?«

»Ihr solltet... vielleicht auf den Turm hinaufkommen«, sagte der Mann stockend. »Wir beobachten etwas Ungewöhnliches.«

Kara stand auf, und auch Aires und Donay erhoben sich hastig. »Was?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete der Krieger. »Es könnten Silvy und die anderen sein, die zurückkommen.«

»Jetzt schon? Aber es ist viel zu früh.«

»Sie fliegen sehr langsam«, sagte der Krieger. »Und etwas... scheint bei ihnen zu sein.«

Kara ersparte sich die Frage, was er mit diesem ›Etwas‹ gemeint hatte. Eilig trat sie an ihm vorbei und lief die Treppe zur Aussichtsplattform hinauf. Sie entdeckte die näherkommenden Drachen erst, nachdem sie einige Augenblicke lang angestrengt nach ihnen gesucht hat.

Sie waren noch sehr weit entfernt, Meilen über dem Schlund, und sie erkannte sie mehr an der charakteristischen wiegenden Bewegung als an ihrem Aussehen. Sie flogen tatsächlich sehr langsam. Von irgend etwas, das bei ihnen war, konnte Kara nichts entdecken.

Sie wollte den Mann, der sie herbeigeholt hatte, gerade fragen, was er gemeint hatte, als sie das Blitzen sah.

Es war nur ein flüchtiges Schimmern. Ein verirrter Sonnenstrahl, der sich auf Metall oder Glas brach und sofort wieder erlosch. Aber Kara fuhr zusammen, als hätte sie glühendes Eisen berührt. Hinter ihr sog Aires die Luft ein.

Das Aufblitzen wiederholte sich, nicht in regelmäßigen Abständen, aber oft genug, um ihnen zu zeigen, daß es nichts anderes sein konnte als... irgend etwas, das zwischen den Drachen flog. Etwas aus Metall oder Glas.

»Denkst du dasselbe wie ich?« fragte Aires im Flüsterton. »Ja«, murmelte Kara ebenso leise. »Aber es...« Sie brach ab und wandte sich an den Mann, der sie heraufgebracht hatte. »Jemand soll Markor satteln. Und ein Dutzend weiterer Drachen!«

Aires sagte: »Das ist keine gute Idee. Es wäre besser, wenn du nicht fliegst.«

»Wieso?« fragte Kara aufgebracht. »Das da draußen...«

»Ist vielleicht eine Falle«, fiel ihr Aires leise und ernst ins Wort. »Was tust du, wenn noch fünfzig von ihnen auftauchen, sobald ihr über dem Schlund seid?«

»Ich habe keine Angst«

»Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Aires. »Du bist keine x-beliebige Kriegerin mehr, Kara. Du bist die Herrscherin über den Drachenhort. Fang endlich an, dich so zu benehmen.«

Widerstrebend gestand sich Kara ein, daß sie recht hatte. Sie durfte sich nicht unnötig in Gefahr begeben, weil sie die einzige war, die Elders Vertrauen genoß. »Kann es vielleicht sein, daß mir meine Beraterin plötzlich doch zur Verfügung steht?« fragte sie.

Aires blieb ernst. »Das habe ich immer«, sagte sie. »Wir klären diese andere Sache, sobald das hier vorbei ist.«

»Dürfte man erfahren, worüber ihr beide überhaupt redet?« mischte sich Donay ein.

»Eine reine Frauensache«, antwortete Kara ausweichend. »Es würde dich nicht interessieren.« Sie wandte sich wieder um und blickte nach Norden. Die Drachen waren näher gekommen, allerdings nicht sehr viel. Trotzdem glaubte sie jetzt einen vierten, verschwommenen Umriß zwischen ihnen zu erkennen. Es erschien ihr selbst unglaublich – aber es war eine Libelle! »Vielleicht ein Parlamentär«, murmelte Aires.

Kara lachte. »Warum sollten sie wohl mit uns reden?«

»Um uns dasselbe zu sagen wie Elder – oder das Gegenteil. Vielleicht sind sie nicht so stark, wie er uns glauben machen wollte?«

Vielleicht, vielleicht, vielleicht... Kara antwortete nicht. Aires riet einfach herum, sie war genauso verwirrt und fassungslos wie sie alle.

Da sie seit dem Angriff auf Schelfheim immer eine Staffel von Drachen und Reitern in Alarmbereitschaft hatten, vergingen nicht einmal fünf Minuten, bis sich ein Dutzend der riesigen Drachenvögel in die Luft schwangen und nach Norden glitten. Die Schnelligkeit, mit der sie sich den vier anderen Drachen und der Libelle näherten, bewies Kara, wie langsam die anderen flogen. Als sie nahe genug waren, daß Kara die Libelle deutlich erkennen konnte, beobachtete Kara, wie die Maschine torkelte oder manchmal zur Seite kippte. Die Maschine war beschädigt, sie zog einen Schweif aus grauem Rauch hinter sich her. Ein häßlicher Brandfleck verunzierte die durchsichtige Pilotenkanzel, hinter der verschwommene Umrisse zweier Passagiere erkennbar waren.

Kara eilte in den Hof hinunter, als die Libelle und der Drachenschwarm die Klippe erreichten. Für einen Moment konnte sie das bizarre Gefährt nicht mehr sehen, aber sie hörte sein schrilles, unheimliches Heulen, und auch dieses Geräusch klang anders, als Kara es in Erinnerung hatte: schrill und eigentümlich blechern.

Dann tauchte die Libelle über den Zinnen der Burg auf. Sie war nur noch ein Wrack, bei dessen Anblick sich Kara verblüfft fragte, wieso es überhaupt noch flog: Der schlanke, gerippte Rumpf war ausgeglüht, als wäre er von einem Dutzend Laserstrahlen getroffen worden und der Kopf hatte sich in ein wahres Spinnennetz von Sprüngen und Rissen verwandelt, mit einem immer schriller werdenden Heulen näherte sich die Maschine dem Boden.

Kara sah die Katastrophe kommen, aber sie konnte nichts tun.

Bei den Libellen, die sie in Schelfheim gesehen hatte, waren ihr drei wuchtige Räder aufgefallen, die an einem Gestänge unter Rumpf und Heck angebracht waren und offensichtlich vor der Landung ausgefahren werden konnten. Der Pilot dieses Helikopters machte nicht einmal den Versuch, das Fahrwerk auszuklappen. Außerdem kam er viel zu schnell herunter. Die Maschine schlug mit fürchterlicher Wucht auf dem Boden auf und kippte halb auf die Seite. Die wirbelnden Rotorblätter hämmerten in den Fels und zerbrachen, die Splitter jagten wie tödliche Messer durch die Luft. Die pure Wucht dieser Bewegung warf die Libelle auf die andere Seite, und die gläserne Pilotenkanzel zerbarst endgültig. Das schrille Heulen des Motors erstarb, und der Rauch, der aus dem Heck der Maschine gequollen war, wurde schwarz. Flammen züngelten aus dem zerborstenen Heck der Maschine.

Kara rannte los, ehe das Wrack noch völlig zur Ruhe gekommen war. Sie war die erste, die die brennende Libelle erreichte und die beiden Gestalten sah, die reglos in den gepolsterten Sitzen lagen.

Abrupt blieb sie stehen. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. Tess! Das war... Tess!

Ihre Verblüffung währte nur einen Moment, dann sprang sie über die glühenden Trümmerstücke hinweg und stieg in die zerborstene Kanzel. Hastig beugte sie sich über Tess und berührte sie an der Schulter. Sie fühlte warmes, frisches Blut, und Tess stöhnte. Sie war bewußtlos, aber sie lebte. Kara wollte sie aus dem Sitz heben, doch Tess war mit einem komplizierten System von Gurten an den Sitz gefesselt, dessen Öffnungsmechanismus sie eine Sekunde lang vergeblich studierte, ohne ihn zu durchschauen. Als sie das Messer aus dem Gürtel zog, um die Gurte kurzerhand durchzuschneiden, erschien eine riesige gepanzerte Gestalt neben ihr. Hrhon erfaßte die Situation mit einem Blick, er schob Kara zur Seite und packte mit seinen gewaltigen Händen zu. Nicht einmal ihm gelang es, die dünnen schwarzen Gurte zu zerreißen – aber die Verankerungen, in denen sie saßen, gaben knirschend nach. Mühelos hob er Tess hoch und trug sie davon, während sich Kara hastig dem zweiten Passagier der Libelle zuwandte.

Es war ein dunkelhaariger Mann in einer blauschwarzen Uniform. Sein Gesicht – der Teil, der nicht hinter dem zersplitterten Glasvisier seines Helmes verborgen lag – war blutüberströmt. Der Mann war reglos über dem Steuerknüppel zusammengesunken. Schwarzer, übelriechender Rauch nahm Kara die Sicht und ließ sie husten, und sie fühlte die Hitze eines Feuers auf dem Gesicht, das sich schnell ausbreitete. Sie hatte nicht mehr viel Zeit.

Andere Gestalten tauchten um sie herum auf und versuchten ihr zu helfen, aber der Mann war ebenso festgeschnallt wie Tess. Kara schnitt den Gurt mit dem Messer durch, was sich allerdings als gar nicht so einfach erwies. Das Material, das wie ein feingewobener schwarzer Stoff aussah, entpuppte sich als wesentlich stärker als Leder. Kara säbelte eine ganze Weile daran herum, ehe es ihr gelang, es zu zerschneiden. Der Körper des Piloten glitt zur Seite und hätte Kara beinahe unter sich begraben, hätten nicht andere, hilfreiche Hände rasch zugegriffen und ihn aus der Steuerkanzel gezerrt.

Kara stolperte hustend aus dem brennenden Wrack fort, ohne es auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Es stand fast völlig in Flammen, und aus einem aufgeplatzten Tank an seiner Seite ergoß sich eine offenbar brennbare Flüssigkeit, denn die Flammen loderten heftig auf. Kara empfand ein flüchtiges Bedauern beim Betrachten der brennenden Maschine. Sie wußte, daß kaum mehr als ein Haufen ausgeglühter Schrott davon übrigbleiben würde.

Sie verscheuchte den Gedanken und drängte sich zu Tess durch, die man in sicherer Entfernung zu der brennenden Libelle zu Boden gelegt hatte. Gleich drei oder vier Krieger bemühten sich um sie, und im gleichen Moment, in dem Kara die Gruppe erreichte, trat auch Aires hinzu. Mit groben Bewegungen scheuchte sie die zwar gutwilligen, aber wenig talentierten Helfer davon, kniete neben Tess nieder und untersuchte sie mit fliegenden Fingern. »Was ist mit ihr?« fragte Kara besorgt. »Warum läßt du mir nicht erst einmal Zeit nachzusehen, ehe du dumme Fragen stellst?« schnappte Aires.

Kara nahm ihr ihren Ausbruch nicht übel; Aires war ebenso überrascht und erschrocken wie sie alle. Zitternd vor Ungeduld, aber schweigend sah sie zu, wie Aires die junge Drachenkämpferin untersuchte. Man mußte allerdings nicht viel von der Heilkunst verstehen, um zu erkennen, daß Tess mehr tot als lebendig war. Die Splitter der zerborstenen Kanzel hatten ihr eine Reihe von Schnittwunden zugefügt, die heftig bluteten, aber nicht sehr gefährlich waren. Aber ihr Rücken und ein Teil des linken Armes waren übel verbrannt – und es war keine frische Wunde. Als Kara die Hand ausstreckte und ihre Stirn berührte, fühlte sie, daß Tess’ Haupt regelrecht glühte. Aires gab zwei Kriegern neben sich einen Wink. »Bringt sie in mein Zimmer – nein, Angellas Kammer. Schnell! Aber seht euch vor!« Sie wartete nicht einmal ab, bis die beiden Männer ihren Befehl ausführten, sondern sprang auf die Füße und rannte Kara fast über den Haufen, als sie sich zu dem verwundeten Piloten der Libelle umwandte.

Auch er wurde von einem dichten Kreis von Neugierigen umlagert, durch den Aires sich fast gewaltsam einen Weg bahnen mußte. Für ihn jedoch kam jede Hilfe zu spät. Kara begegnete dem Blick seiner weit aufgerissenen, starren Augen und wußte, daß er tot war, noch ehe Aires neben ihm niederkniete.

Trotzdem untersuchte die Magierin ihn ebenso gründlich wie Tess. »Er ist noch warm«, murmelte sie. »Fühl seine Haut. Wahrscheinlich ist er erst durch den Absturz ums Leben gekommen.« Sie zögerte einen Moment. »Aber das hat ihn nicht umgebracht. Sieh her!« Sie deutete auf einen dunklen Fleck auf seiner Uniform, der Kara bisher bei all dem Blut auf seinen Kleidern gar nicht aufgefallen war. In seiner Mitte glitzerte etwas Silbernes. Etwas dicker als ein gewöhnlicher Pfeil. »Vermutlich hat er sich mit letzter Kraft hierher geschleppt und das Ding gelandet«, sagte Aires.

Kara schwieg. Die Vorstellung, daß ein Uniformierter seinen letzten Atemzug vergeudete, um einen von ihnen nach Hause zu bringen, kam ihr absurd vor. Außerdem – wer sagte ihnen denn, daß es wirklich so gewesen war? Vielleicht hatte Tess den Piloten gezwungen, sie hierher zu bringen.

Dagegen sprach, daß Tess unbewaffnet war; der Mann in der blauen Uniform jedoch eine Waffe trug.

»Bringt ihn weg!« befahl Aires. »Und bewacht ihn. Niemand darf ihn anrühren, ehe ich ihn nicht genauer untersucht habe.«

Sie stand auf, fuhr sich müde über das Gesicht und wandte sich wieder der brennenden Libelle zu. In den wenigen Augenblicken, die Kara und sie abgelenkt gewesen waren, hatten die Flammen die gesamte Maschine ergriffen. Einige Männer hatten eine Kette gebildet und schütteten Eimer mit Wasser ins Feuer, aber es nutzte nichts.

»Laßt es sein!« rief Kara laut. »Es hat keinen Sinn. Paßt nur auf, daß das Feuer nicht um sich greift!« Sie zögerte einen kurzen Moment, dann fügte sie hinzu: »Vier Mann bleiben hier. Der Rest steigt wieder auf. Ich will keine bösen Überraschungen erleben. Und gebt Alarm für die anderen. Es ist möglich, daß wir angegriffen werden.« Sie trat zwei Stufen die Treppe hinauf und sah sich nach Silvy und den beiden anderen Reitern um, ohne sie zu entdecken.

Kara fand Silvy sowie die beiden anderen Krieger auf dem Gang vor ihrem Quartier, wo sie unruhig auf- und ablief und Hrhon beschimpfte, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Tür stand und ihr den Zutritt verwehrte, vermutlich auf Aires’ Befehl hin. Kara hatte nicht einmal bemerkt, daß Hrohn nicht mehr in ihrer Nähe war.

»Ihr wartet hier«, sagte sie knapp, gab Hrhon einen Wink und trat an ihm vorbei ins Zimmer. Sie schloß die Tür sofort wieder hinter sich. Trotzdem sah Aires sehr ärgerlich auf.

Kara trat mit raschen Schritten um das Bett herum. Dann preßte sie erschrocken die Lippen zusammen, als sie Tess’ reglos ausgestreckten Körper auf dem Bett sah. Aires hatte sie ausgezogen und das Blut von ihrem Gesicht gewaschen. Tess lag auf der Seite, so daß Kara erkennen konnte, daß die Brandwunden auf ihrem Rücken und Arm viel größer waren, als sie geglaubt hatte, allerdings nicht sehr tief.

Ihr Blick wanderte weiter und blieb an Tess’ linkem Bein hängen. Das Bein war geschient; sehr geschickt, aber auch recht primitiv: zwei fingerdünne Stäbe aus silberfarbenem Metall waren mit fleischfarbenen Bändern am Bein befestigt.

»Wie sieht es aus?« flüsterte Kara.

»Sie hat sehr hohes Fieber. Aber ich denke, sie wird es überleben. Allerdings ist das nicht mein Verdienst.«

»Wie meinst du das?« fragte Kara.

Aires deutete auf Tess’ bleichen, fiebernden Körper. »Wer immer das getan hat, muß eine Art Zauberer gewesen sein.«

»Die Schiene...«

»Nicht das Bein«, fiel ihr Aires ins Wort. »Einen gebrochenen Knochen kann ich auch schienen. Aber sieh dir ihren Rücken an! Das Fleisch muß bis auf den Knochen verbrannt gewesen sein.«

»Bist du sicher?« Kara beugte sich zweifelnd vor. »Es sieht normal aus.«

»Ich erkenne eine Brandwunde, wenn ich sie sehe«, antwortete Aires. Kara widersprach ihr nicht. Brandwunden waren die häufigsten Verletzungen im Hort. Schon so mancher Drachenkämpfer war in die Flammen seines eigenen Tieres hineingeflogen. »Ich verwette meine linke Hand, daß das da so etwas wie künstliches Fleisch ist. Und ich gäbe meine Rechte dafür, wenn ich wüßte, wie sie es gemacht haben.«

Durch das Fenster drang ein heller, dreifacher Glockenton, und Aires sah fragend auf. »Du hast Alarm gegeben?«

»Wo eine von diesen Libellen ist, sind meistens noch mehr«, antwortete Kara. Sie sah wieder auf Tess hinab und knüpfte an ihr unterbrochenes Gespräch an. »Viel mehr als die Frage, wie sie es getan haben, interessiert mich eigentlich, warum. Ich... verstehe das nicht ganz.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie töten Tausende aus Rache. Und dann pflegen sie Tess mühsam gesund.«

Sie wartete eine Weile vergeblich auf eine Antwort.

»Wann wird sie aufwachen?«

Aires hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Sicher nicht vor morgen. Ich werde ihr etwas geben, das...«

»Nein«, sagte Kara. »Das wirst du nicht.«

»Wie?« Aires sah sie erstaunt an. Sie schien selbst zu verblüfft, um Ärger zu empfinden.

»Du wirst ihr kein Schlafmittel geben«, wiederholte Kara. »Ich muß mit ihr reden. So schnell wie möglich.«

»Ich glaube, wie ich meine Patientin behandele, das geht dich gar nichts an«, entgegnete Aires verärgert.

»Und was ich für die Sicherheit des Hortes für das Richtige halte, das geht dich nichts an, Magierin«, antwortete Kara. Sie unterdrückte mühsam den Zorn in ihrer Stimme. »Ich muß mit ihr reden. Wir müssen mit ihr reden, Aires was ist, wenn sie ihnen alles verraten hat? Wenn sie alles über unsere Festung wissen, unsere Stärken – und vor allem unsere Schwächen?«

Aires schwieg, und Kara fuhr in verändertem, fast flehendem Ton fort. »Verdammt, glaubst du, ich hätte keine Angst um sie? Sie war meine Freundin, ganz egal, was sie getan hat! Ich würde mein eigenes Leben riskieren, um ihres zu retten! Aber wir können nicht hier sitzen und darauf warten, daß sie aufwacht, während sie dort draußen im Schlund vielleicht gerade zum entscheidenden Angriff auf uns rüsten.« Sie wandte sich zur Tür; absichtlich so rasch, daß Aires keine Gelegenheit fand zu antworten. »Bitte, weck sie auf«, sagte sie. »Ich will nicht, daß du ihr Leben in Gefahr bringst, aber tu, was in deiner Macht steht, damit ich mit ihr sprechen kann.«

Sie verließ das Zimmer. Hrhon stand noch immer vor der Tür und verbarrikadierte sie allein mit seinen breiten Schultern, so daß sich Kara mühsam an ihm vorbeiquetschen mußte. Zu Silvy und den beiden anderen Kriegern hatte sich mittlerweile noch Zen gesellt.

Erregt trat er auf Kara zu. »Wie geht es ihr?« fragte er. »Kann ich zu ihr?«

»Nein«, antwortete Kara und hob die Hand, als Zen sich unverzüglich an ihr vorbeidrängen wollte. »Aires kümmert sich um sie. Sie schläft.« Einen Moment lang suchte sie nach einem verräterischen Zeichen in seinem Gesicht, ob er vielleicht ihr Gespräch mit Aires durch die Tür hindurch gehört hatte. Aber da war nichts. Gott, dachte sie, was hat Angella mir da hinterlassen, daß ich selbst meine Freunde belügen muß?

Sie schob Zen mit sanfter Gewalt von der Tür fort und wandte sich dann mit einer knappen Geste an Silvy: »Erzähle!«

»Wir waren unterwegs zu dem Ort, an dem wir am ersten Abend gelagert haben«, begann Silvy, »wir wollten gerade die erste Rast einlegen, als Kerr ein Blitzen am Horizont sah;«

»Die Libelle«, vermutete Kara. »Nur diese eine?«

»Ja«, bestätigte Silvy. »Wir bemerkten gleich, daß sie beschädigt war. Ich wollte sie trotzdem vernichten, aber Kerr meinte, es wäre eine gute Gelegenheit, eine von ihnen unbeschädigt in die Hände zu bekommen.«

Kara dachte an den ausgeglühten Schrotthaufen auf dem Hof und seufzte. »Ja«, sagte sie. »Es war eine gute Idee. Weiter.«

»Ich flog so dicht heran, wie ich konnte, während Kerr mir Deckung gab – für den Fall, daß sie uns doch noch angreifen sollte. Und dann habe ich Tess erkannt. Ich wollte es zuerst gar nicht glauben, bis sie die Hand gehoben hat, um mir zuzuwinken.«

»Was war mit dem Piloten?« fragte Kara. »War er bei Bewußtsein?«

»Ja – aber er muß schon verletzt gewesen sein. Er hatte große Mühe, die Libelle zu halten. Ein paarmal haben wir gedacht, sie würden abstürzen.«

»Seid ihr sicher, daß euch niemand gefolgt ist?« fragte Kara. »Ich habe niemanden bemerkt«, antwortete Silvy. Die beiden anderen Drachenreiter schüttelten stumm den Kopf.

Die Tür hinter Hrhon ging auf, und Aires trat aus dem Zimmer. Da Hrhon ihr nicht schnell genug aus dem Weg ging, versetzte sie ihm einen rüden Stoß, den der vierhundert Pfund schwere Waga kaum spüren konnte. Aber er tat ihr den Gefallen, ein paar Schritte zur Seite zu stolpern – wobei er wie zufällig Zen mit sich zerrte, ehe der die Magierin mit Fragen bestürmen konnte.

»Und?« fragte Kara.

»Sie schläft«, antwortete Aires. »Sie wird in einer Stunde oder zwei zu sich kommen, denke ich. Das Fieber bereitet mir noch ein wenig Sorge, aber keine Angst; ich bekomme es in den Griff.« Sie seufzte. »Kommt. Sehen wir uns diesen Fremden an, solange sie schläft. Hrhon – du bleibst bei ihr und rufst uns, sobald sie aufgewacht ist. Und sorge dafür«, sagte sie mit einem schrägen Seitenblick auf Zen, »daß niemand sie stört.«

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