50

Wenn es so etwas wie eine Hölle gab, dachte Kara, dann mußte sie so aussehen wie dieser Ort. Es kam selten vor, daß ihr ein Ort Angst machte, aber hier fürchtete sie sich – und nicht nur sie; allen anderen erging es ähnlich, obwohl niemand von ihnen auch nur ein einziges Wort gesagt hatte, seit sie von den Rücken der Drachen gestiegen waren und in einer kleinen, zugigen Höhle am Fuße der Klippe Schutz gesucht hatten. Die Höhle gehörte wahrscheinlich zu dem unterirdischen Labyrinth, das fast unter ganz Schelfheim lag. Kara rieb schaudernd mit den Handflächen über die Arme, aber sie konnte die Kälte, die in ihren Körper gekrochen war, nicht vertreiben. Auch das fast bis unter die Höhlendecke lodernde Feuer, das sie entzündet hatten, brachte keine Wärme. Weil es keine Kälte war, was sie spürte, sondern Angst; Angst vor dem, was sich hinter dem Vorhang aus Schwärze verbarg, den die Nacht über dem Höhlenausgang ausgebreitet hatte. Sie waren vor einer halben Stunde gekommen, und sie hatten kaum mehr als schwarze Umrisse gesehen, während die Drachen nervös über dem Boden kreisten und nach einem Landeplatz suchten. Was man nicht sah, war immer schlimmer als das, was man sah, denn es ließ der Phantasie Raum, sich Schrecken auszumalen, die alles, was die Natur hervorbrachte, übertrafen.

Kara schätzte, daß die Schicht aus Tier- und Pflanzenkadavern, die den Schlund vor dem Höhleneingang bedeckte, an die fünfzig Meter stark sein mußte. Sie waren alle tot, von den Schallwaffen Thorns vernichtet. Voller Schaudern dachte Kara an das widerwärtige Geräusch, das ihre Schritte auf dem Boden aus Tierleichen verursacht hatten. Es war nicht die Gefahr, die von all diesen Wesen ausgegangen wäre, wären sie noch am Leben gewesen, die Kara zu schaffen machte. Es war ihr Tod. Das Gefühl, daß sich ihr jemand näherte, riß sie aus ihren düsteren Überlegungen in eine Wirklichkeit zurück, die kaum weniger düster und bedrohlich war. Sie hatten das Feuer entzündet und damit Licht und Wärme hierhergebracht, aber beides gehörte nicht hierher. Dieser Gang hatte niemals Tageslicht gesehen.

Donay kam zu ihr. Er sah so blaß und elend aus, wie Kara sich fühlte. Es war nicht das erste Mal, daß er auf einem Drachen flog, aber er schien zu jenen Menschen zu gehören, die sich nie wirklich daran gewöhnten. Kara hatte ihn fast von Markors Rücken herunterheben müssen, so übel war ihm gewesen. Er begegnete ihrem Blick und versuchte zu lächeln, während er sich mit untergeschlagenen Beinen neben ihr niederließ. Zu Karas Überraschung gelang es ihm sogar. Aber es wirkte nicht sehr überzeugend.

»Wie lange noch?« fragte er. Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen sprach, seit sie die Höhle betreten hatten, und für eine halbe Sekunde mußte sich Kara gegen die absurde Furcht wehren, daß dieser Frevel auf der Stelle geahndet werden würde, indem irgendein unvorstellbares Wesen aus der Tiefe des Stollens auftauchte und über sie herfiel; oder die Decke über ihren Köpfen zusammenstürzte. Was für ein Unsinn...

»Bis es hell wird?« Sie warf einen Blick nach draußen, und obwohl sie aus diesem Winkel heraus den Himmel überhaupt nicht erkennen konnte, antwortete sie nach kurzem Überlegen:

»Zehn Minuten. Vielleicht eine Viertelstunde. Warum fragst Du?«

»Ich fühle mich hier drinnen nicht sehr wohl, weißt du?«

»Glaubst du, daß du dich draußen wohler fühlen wirst?« fragte Kara.

»Nein«, antwortete Donay. »Aber sicherer.«

Kara sah ihn verständnislos an. »Ist dir nichts aufgefallen?« fragte Donay.

Sie schüttelte den Kopf, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, einen Blick in die Runde zu werfen.

»Dann sieh dir mal die Wände an und die Decke«, fuhr Donay fort. Er hob die Hand und deutete in eine bestimmte Richtung, in die Karas Blick der Geste folgte. »Siehst du die Risse? Da und da und dort oben, den großen direkt über dem Eingang! Sie sind neu.« Ein paar Sekunden lang weidete er sich an Karas sichtbarem Erschrecken. Dann lachte er. »Kennst du das Gefühl, in einer Höhle zu sein und sich zu fragen, warum, zum Teufel, sie nach all den Millionen Jahren nicht ausgerechnet jetzt zusammenbrechen sollte?«

Kara nickte wortlos. Wer kannte dieses Gefühl nicht?

»Nun, hier kann dir das durchaus passieren«, sagte Donay trocken.

»Wie bitte?«

»Die Struktur dieses Felsens ist grundlegend erschüttert«, bestätigte Donay. »Ich bin kein Geologe, und ich weiß nicht, wie weit die Schäden in die Tiefe reichen, aber ich schätze, in ein paar Jahren kann sich Schelfheim von ein paar Straßenzügen verabschieden, die zu dicht an der Klippe liegen.«

»Aber sie haben doch nur – «

» – stundenlang auf diese Wand geschossen«, unterbrach sie Donay. »Erinnerst du dich, was Elder über die Schallwaffen erzählt hat? Sie zerstören sogar Stahl. Und diese Wand hier besteht nun einmal leider nicht aus Stahl.«

Kara seufzte. Sie mußte an das zurückdenken, was sie selbst vor nicht einmal langer Zeit über das Zeitalter der schlechten Nachrichten gedacht hatte. Manchmal machte es einen nicht sehr glücklich, recht zu haben. Ob es nun das Jahrhundert der Hiobsbotschaften war oder nicht, das Schicksal hatte zumindest in den nächsten fünfzehn Minuten ein Einsehen mit ihnen und ließ ihnen nicht ganz Schelfheim auf die Köpfe fallen. Eine Stunde später als in der drei Meilen höher gelegenen Stadt ging die Sonne hier unten auf, und der erste blutrote Schein des Morgens ließ das Bild, das sich vor Kara und den anderen ausbreitete, noch unheimlicher erscheinen.

Der Dschungel war verschwunden. Thorns Maschinen hatten die Baumriesen so gründlich zerstört, wie sie auch alles Leben auf ihren Ästen und der Klippe ausgelöscht hatten. Nur hier und da ragte ein zerborstener Stumpf aus dem Meer von Insektenkadavern.

Kara machte einen vorsichtigen Schritt aus der Höhle heraus und blieb wieder stehen. Ihr Mut sank, als sie ihren Blick über die endlose Ebene aus braunen, schwarzen, grauen und dunkelroten Hornschalen schweifen ließ. Wie um alles in der Welt sollten sie hier das Wrack einer Maschine finden! Vom Rücken ihrer Drachen herab wäre es vielleicht möglich gewesen, aber sie hatten die Tiere weggeschickt, und sie würden auch erst nach Anbruch der Dunkelheit wiederkommen. Daß jemand in der drei Meilen höher liegenden Stadt das halbe Dutzend schwarz gekleideter Gestalten entdeckte, war so gut wie ausgeschlossen. Bei den Drachen verhielt es sich umgekehrt: es war so gut wie undenkbar, daß sie übersehen wurden, wenn sie sich bei Tageslicht zeigten.

Hinter ihr trat Donay aus der Höhle, sah sich rasch um und wandte sich dann an Ian, der ihm dichtauf folgte. »Also – wo sind sie abgestürzt?«

Ian reagierte beinahe wütend. »Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« schnappte er. »Wir waren irgendwo dort oben und hatten genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.« Dann fügte er ruhiger hinzu: »Laßt uns mehr im Westen suchen. Ich glaube, dort hatten sie die größten Verluste.«

Sie entfernten sich ein gutes Stück von der Klippe, ehe sie sich nach links wandten, denn aus der zerborstenen Felswand lösten sich noch immer kleine und große Trümmerstücke.

Karas Blick glitt die Steilwand empor, während sie dicht hinter Ian über den unsicheren Untergrund balancierte. Gewaltige Risse durchzogen die Wand wie ein Muster ineinanderlaufender, erstarrter Blitze. Donay hat recht, dachte Kara schaudernd. Sie wird bald zusammenstürzen.

Sie suchten eine Stunde, dann eine zweite, und als die dritte anbrach, fanden sie das erste Wrack. Es war halb in der Masse aus Hornschalen und Bruchstücken versunken. Als sie damit begannen, es zu untersuchen, lösten sich Stahl und Kunststoff unter ihren Händen in Staub auf. Das Wrack wies so viele Beschädigungen auf, daß es unmöglich war, zu sagen, welche davon zu seinem Absturz geführt hatte. Denn nach ihrem Absturz war die Libelle in den Vernichtungskegel der Schallwaffen geraten.

»Ich schätze, das war’s«, sagte Ian übellaunig, als sie nach einer halben Stunde enttäuscht aufgaben. Zornig versetzte er dem Heck der Libelle einen Tritt. »Wahrscheinlich sehen die anderen genauso aus.« Er sah Kara nachdenklich an. »Vielleicht haben sie sich aus Versehen ja gegenseitig abgeschossen. Wundern würde es mich nicht, bei dem Durcheinander, das in dieser Nacht geherrscht hat.«

»Dann wäre sie beim Aufprall in tausend Stücke zerbrochen«, widersprach Donay. Er schüttelte heftig den Kopf. »Wir müssen weitersuchen.«

»Wozu?« fragte Ian. »Wir verschwenden nur unsere Zeit.«

»Und? Vor heute abend können wir sowieso nicht weg. Die Drachen kommen erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück.«

Ehe sich die Nervosität, die von ihnen allen Besitz ergriffen hatte in einem Streit entladen konnte, sorgte Kara mit einer Handbewegung für Ruhe. Sie suchten weiter, und nach erstaunlich kurzer Zeit fanden sie ein zweites Wrack, das sich allerdings in keinem besseren Zustand befand als das erste.

»Ich hatte recht«, knurrte Ian. »Sie haben sich irgendwie gegenseitig abgeschossen. Es gibt hier nichts, was diesen Schutzschild überwinden kann.«

»Und die Maschine, die Kara draußen im Schlund gefunden hat?« fragte Donay. »Meinst du, die hätte sich ganz versehentlich selbst abgeschossen?«

»Unfälle kommen vor«, antwortete Ian. »Vielleicht hat der Motor ausgesetzt, oder der Pilot war krank, und...«

Kara starrte Donay an. Sie hörte gar nicht mehr hin, was Ian sagte. Die Maschine im Schlund... Da war etwas, was sie die ganze Zeit über gewußt, aber aus ihrem bewußten Denken verdrängt oder ihm einfach keine Bedeutung zugemessen hatte. Sie versuchte, das Bild der zertrümmerten Maschine wieder vor ihrem inneren Auge entstehen zu lassen... und dann wußte sie es.

»Der Pilot«, murmelte sie.

Donay und Ian sahen sie beide auf die gleiche Weise fragend an.

»Der Pilot ist nicht mehr da«, sagte Kara. Sie deutete auf das Wrack der Libelle, dann zurück in die Richtung, in der sie das andere Wrack gefunden hatten.

»Ich weiß«, antwortete Donay. »Die Kanzeln waren aufgebrochen. Sie haben sie geholt.«

»Aber die Kanzel des Wracks, das wir im Wald draußen gefunden haben, war nicht aufgebrochen«, sagte Kara. »Im Gegenteil – ein Ast hatte sich hindurchgebohrt, so daß man sie gar nicht mehr öffnen konnte.«

»Wie unangenehm«, sagte Donay in fast gelangweiltem Ton. »Na und?«

»Aber der Pilot war trotzdem verschwunden«, antwortete Kara.

»Auf dem Sitz klebte jede Menge eingetrocknetes Blut, und wir fanden ein paar Fetzen seiner Kleidung – aber keinen menschlichen Körper.«

Der gelangweilte Ausdruck auf Donays Gesicht machte gespanntem Interesse Platz. »Bist du sicher? Keine Knochen, nichts?«

»Nichts«, bestätigte Kara. »Ist dir klar, was das heißt?«

»Daß es das, woran ich arbeite, wahrscheinlich längst gibt«, murmelte Donay. »Etwas, was ihre Körper angreift, ohne sich von diesem unsichtbaren Schild aufhalten zu lassen.« Plötzlich war er sehr erregt. »Kommt weiter! Wenn es ein solches Geschöpf wirklich gibt und wir es finden, dann... dann haben wir eine Waffe gegen sie!«

Niemand antwortete, aber Kara spürte, wie ansteckend Donays plötzlicher Optimismus wirkte. Das war auch der Grund, aus dem sie sich hütete, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge lag: Was um alles in der Welt sie mit dieser Waffe wollten. Es nutzte ihnen nichts, zehn oder auch hundert dieser stählernen Libellen vom Himmel zu holen; nicht, solange die Drohne existierte, die ganz allein in der Lage war, diesen Planeten einzuäschern.

Sie setzten ihre Suche fort. Gegen Mittag legten sie eine Rast ein, ohne ein Feuer anzuzünden. Sie waren vor dem heulenden Wind durch die ausgehöhlte Schale eines riesigen Käfergeschöpfes geschützt, hinter die sie sich verkrochen. Sie hatten Vorräte mitgebracht: Brot und gesalzenes Fleisch und ein wenig Wasser, aber niemand hatte Hunger; nicht in dieser Umgebung. Sie sprachen sehr wenig. Der allumfassende Tod ringsum legte sich wie ein betäubender Schleier auf ihre Seelen. Vielleicht, dachte Kara, wird es gar nicht mehr lange dauern, bis die ganze Welt so aussieht wie ein einziges, gewaltiges Leichenhaus, über das sie herfallen wie die Aasgeier, um sich die besten Stücke herauszupicken. Sie versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, aber ganz gelang es ihr nicht – und wie auch? Wenn man auf einem Berg aus Kadavern saß, der so groß war wie ein kleines Herzogtum, dann war es schwer, an irgend etwas anderes zu denken als an den Tod.

Nach einer Stunde setzten sie ihre Suche fort, obwohl sich Kara schmerzhaft darüber im klaren war, wie klein ihre Chance war, noch eine dritte Libelle zu finden.

Sie fanden sie auch nicht.

Thorns Männer führten sie hin.

Sie waren eine weitere Stunde unterwegs, als Ian plötzlich stehenblieb, sie erschrocken am Arm ergriff und mit der anderen Hand nach oben deutete. Karas Blick folgte der Geste. Sie erkannte zwei winzige, dunkle Punkte, die sich von der Klippe gelöst hatten und mit schnellen, irgendwie ruckhaften Bewegungen tiefer sanken, wie große, ein wenig zu plump geratene Bienen. »Flieger!« sagte Donay überrascht. »Das sind Flieger! Was, zum Teufel, suchen die hier?«

»Uns«, antwortete Kara. »Versteckt euch! Schnell!« Sie sah sich suchend um, entdeckte einen mannsgroßen zerbrochenen Chitinschild und kroch hastig darunter. Während auch Ian, Donay und die drei anderen sich ein Versteck suchten, rutschte Kara unter ihrem Schild in eine Position, die es ihr erlaubte, wenigstens einen Ausschnitt des Himmels über sich zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.

Die beiden Flieger verloren rasch an Höhe und kamen dabei näher, in taumelnden, ungeschickten Spiralen, die aber trotzdem so zielsicher waren, daß es unmöglich ein Zufall sein konnte. Als die riesigen Käfergestalten näher kamen, sah sie, daß auf dem Rücken jedes Tieres zwei Reiter saßen. Drei von ihnen trugen die gelben Umhänge der Stadtgarde, der vierte das verhaßte Blauschwarz der PACK-Soldaten. Kara verspürte in ihrem Versteck eine Welle heißer Wut in sich aufsteigen. Gendik schien sich mit seinen neuen Freunden tatsächlich bereits prächtig zu verstehen. Dann sah sie etwas, was ihren Zorn schlagartig in Überraschung und dann Fassungslosigkeit verwandelte. Die beiden Flieger landeten, einer davon nicht einmal fünf Meter von ihrem Versteck entfernt, und die Reiter kletterten umständlich von den Rückenschilden der riesigen, sechsbeinigen Käfer herunter. Einen von ihnen kannte Kara.

Es war Karoll.

»Was, zum Teufel – « murmelte Kara, brach ab und biß sich erschrocken auf die Unterlippe, als ihr klar wurde, daß die Männer dort draußen sie hören konnten.

Karoll entfernte sich ein paar Schritte weit von seinem gepanzerten Reittier, wobei er sich weiter Karas Versteck näherte. Seine Bewegungen waren ungelenk und steif. Offenbar war er diese Art des Reisens so wenig gewohnt wie Donay den Flug auf einem Drachen. Kara lauschte gebannt, während sich Karoll an den Mann in der PACK-Uniform wandte.

»Wo sind deine Eindringlinge? Ich sehe hier weit und breit niemanden.«

»Der Trigger hat ganz deutlich sechs Objekte angezeigt«, antwortete der Mann. Er warf einen Blick auf etwas, das er in der geöffneten Rechten verborgen hielt, so daß Kara es nicht erkennen konnte. Aber das Wort, das er benutzt hatte, hatte sie schon einmal von Elder gehört, als sie zusammen das erste Mal in die große Höhle unterhalb der Stadt hinabgestiegen waren. »Das bezweifle ich nicht«, antwortete Karoll. »Er wird irgend etwas angezeigt haben. Auf jeden Fall keine Menschen. Hier ist niemand. Und auch nichts, was für irgend jemanden von Interesse sein könnte. Aber bitte...« Er wandte sich an die beiden Gardesoldaten, die ihn und den PACK-Mann begleiteten. »Seht euch ein wenig um, damit er beruhigt ist.«

Der Mann in der blauen Uniform blieb ernst. »Die Felswand wurde schwer beschädigt. Es ist möglich, daß sie von hier aus einen Weg zur Bunkerstation finden.«

Karoll lachte. »Du überschätzt dieses Mutantengesindel«, sagte er abfällig.

Mutantengesindel? Kara wurde hellhörig.

»Selbst wenn sie den Bunker finden, nutzt ihnen das herzlich wenig. Sie kämen niemals hinein. Ganz davon abgesehen, daß er wahrscheinlich nur noch ein paar vermoderte Knochen enthält. Das Ding ist zweihundertvierzehntausend Jahre alt!«

»Der Notsender arbeitet immer noch«, antwortete der Soldat. »Himmel, dann sprengt ihn endlich in die Luft!« schnappte Karoll. »Das darf doch alles nicht wahr sein! Wir können einen ganzen Planeten in Stücke zerlegen und wieder neu zusammensetzen, aber so einen lächerlichen Bunker finden wir nicht?!«

Kara hatte genug gehört. Mit einem zornigen Ruck stieß sie die Käferschale von sich und sprang auf die Füße. »Vielleicht können wir euch dabei helfen?« fragte sie.

Karoll fuhr herum und erstarrte vor Entsetzen. Der Mann in der blauen Uniform reagierte schneller, aber nicht schnell genug. Kara war mit einem Satz bei ihm und ließ ihm keine Chance. Noch bevor er seine Waffe aus dem Halfter gezogen hatte, schmetterte ihm Kara den Ellbogen gegen die Kehle und tötete ihn auf der Stelle.

Karoll wurde bleich. »Kara! Du – « Sein Blick tastete über den reglosen Körper des PACK-Soldaten. »Du hast ihn umgebracht! « murmelte er.

»Das ist nur vorübergehend«, antwortete Kara kalt. »Aber ich denke, damit erzähle ich dir nichts Neues.«

Karoll starrte sie an und schwieg. Nachdem Kara ihr Versteck aufgegeben hatte, waren auch die anderen aufgestanden. Ian und Donay kamen näher, während sich die drei Krieger mit gezückten Schwertern um die Gardesoldaten kümmerten. Kara warf einen besorgten Blick in ihre Richtung, aber die beiden Gardisten schienen zu wissen, wie ihre Chancen standen, mit drei Drachenreitern fertig zu werden. Sie versuchten nicht, ihre Waffen zu ziehen, sondern gaben auf.

»Es sieht so aus, als hätte das Mutantengesindel diesmal die besseren Karten, nicht wahr?« fuhr Kara mit zornbebender Stimme fort.

»Ich... ich verstehe gar nicht, was du meinst«, antwortete Karell stockend.

Kara ohrfeigte ihn. Sie schlug sehr fest zu, so daß Karolls Unterlippe aufplatzte und ein dünner Blutfaden aus seinem Mundwinkel über das Kinn herablief. »Reiz mich nicht, Karoll«, sagte sie gepreßt. »Oder ich nehme mein Messer und sehe nach, was sich in deinem Kopf befindet.«

Ein Ausdruck fassungsloser Verblüffung, aber auch ungläubigen Schreckens erschien auf Karolls Gesicht.

»Wir kennen euer kleines Geheimnis«, sagte Kara böse. »Wir wissen sogar noch eine ganze Menge mehr, Karoll. Schade, daß wir uns nicht besser vertragen – sonst könnte ich dir nämlich den Weg zu diesem Bunker zeigen, den ihr so verzweifelt sucht. Wir haben ihn nämlich gefunden. Und wir haben sogar die Tür aufbekommen – obwohl wir nur dummes Mutantengesindel sind.«

»Kara! « sagte Donay warnend.

»Keine Sorge«, antwortete Kara. »Ich verrate ihm nicht zu viel. Er wird keine Gelegenheit mehr haben, zu Thorn zu rennen und mit seinem neuen Wissen zu prahlen.«

Sie zog ihr Messer, und Karoll wurde noch bleicher.

»Und?« fragte Kara, während sie scheinbar versonnen die rasiermesserscharf geschliffene Klinge betrachtete. »Muß ich nachsehen, was du hast, wo bei uns Mutanten ein Gehirn sitzt? Es täte mir allerdings leid, wenn ich mich irre und du hinterher ein bißchen länger tot bist. Vielleicht sogar für immer.« Sie trat näher an Karoll heran und ließ die Messerklinge dicht vor seinem Gesicht pendeln. Karoll bog den Kopf zurück und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Hör auf!« sagte er gepreßt. »Es ist nicht nötig, daß du die Wilde spielst. Du hast recht – ich gehöre zu ihnen.«

»Und diese beiden?« Kara machte eine Kopfbewegung auf die beiden Gardesoldaten, die mit erhobenen Armen dastanden und dem Gespräch mit offenkundiger, wachsender Verwirrung zuhörten.

»Sie wissen nichts«, sagte Karoll. »Es sind ganz normale Soldaten, die nur Befehle ausführen. Laßt sie gehen.«

»Wie edel!« spöttelte Kara. »Aber das geht leider nicht, selbst wenn du die Wahrheit sagen solltest. Ich verspreche dir jedoch, daß ihnen nichts geschehen wird.« Sie gab den Kriegern, die die Männer bewachten, einen Wink. »Fesselt sie. Wir nehmen sie mit.«

Mittlerweile hatte sich Donay nach dem toten PACK-Soldaten gebückt und ihm den Trigger aus der Hand genommen.

Behutsam drehte er das fremdartig aussehende Gerät in den Händen und studierte die Knöpfe und den winzigen Bildschirm. »Was tust du da?« fragte Kara unwillig.

»Wir haben solche Dinger auch in der Stadt«, antwortete Donay. »Sie sehen zwar anders aus, aber das Prinzip ist das gleiche. Man kann Bewegungen damit orten, aber auch noch mehr...« Er drückte eine Taste auf dem Trigger, runzelte enttäuscht die Stirn und versuchte eine andere.

»Volltreffer!« sagte er. »Das dritte Wrack liegt...« Er drehte sich langsam auf der Stelle, wobei er den winzigen Bildschirm nicht eine Sekunde aus dem Auge ließ. »Da!« sagte er schließlich und deutete direkt nach Norden. »Ungefähr anderthalb Meilen entfernt.«

»Dann gehen wir«, sagte Kara.

Obwohl der Weg nicht ganz anderthalb Meilen betrug, brauchten sie zwei Stunden, ehe sie das Wrack fanden, denn sie kamen auf dem Leichenberg nur mühselig voran. Sie hatten die beiden Flieger zurücklassen wollen, doch langsam und beharrlich folgten sie den beiden Gardesoldaten wie große, hornköpfige Hunde.

Das Wrack unterschied sich von den beiden anderen, die sie zuvor gefunden hatten. Es lag auf der Seite und war nahezu in zwei Teile zerbrochen, aber die Kunststoffkanzel war nicht zerschlagen, sondern stand weit offen – und etwas bewegte sich darin.

»Warte!« Donay legte ihr die Hand auf den Unterarm und hob mit der anderen den erbeuteten Trigger. Kara warf einen Blick auf den winzigen Bildschirm, konnte aber nichts erkennen.

»Das sieht nicht besonders gut aus«, sagte Donay. »Wir sollten vorsichtig sein.«

Kara bedeutete Ian, zusammen mit Karoll zurückzubleiben, und zog ihr Schwert, während sie an Donays Seite weiterging. Doch das Innere der Pilotenkanzel war keine Gefahr, der sie mit dem Schwert begegnen konnte. Der allergrößte Teil des klebrigen weißen Gespinstes war tot und zu einer übelriechenden Masse zerfallen, die sich auf dem Boden der Pilotenkanzel zu ölig schimmernden, stinkenden Pfützen sammelte. Aber hier und da bewegte sich doch noch etwas in der abgestorbenen Masse; kleine, haarige Bälle, an denen dünne und ebenso haarige Beine zuckten.

Kara spürte, wie sich jedes einzelne Haar auf ihrem Kopf sträubte, als sie begriff, was sie da vor sich hatte. Sie blieb stehen.

»Ich... weiß, was das ist«, sagte sie. Donay sah sie überrascht an. »Jedenfalls habe ich es schon einmal gesehen.« Sie erzählte Donay von den fliegenden Riesennetzen, die sie über dem sterbenden Schlund gesehen hatte.

Dony hörte ihr wortlos und sehr aufmerksam zu, dann richtete er seine Konzentration für eine Weile auf die zerschmetterte Libelle. »Du könntest recht haben«, murmelte er. »Es scheint sich um eine Art... Seide zu handeln. Überall tote Spinnen, siehst du?« Er versetzte einem der faustgroßen Tiere einen Tritt, das nicht ganz so tot war, wie er behauptet hatte, und sich gerade dazu anschickte, in sein Hosenbein zu kriechen, dann überlegte er es sich anders, bückte sich und hob es auf. Die Spinne begann mit den Beinen zu strampeln und stieß einen dünnen Strahl weißer Seide aus, der sich wie eine Peitschenschnur um Donays Handgelenk wickelte. Kara wurde übel.

»Au!« sagte Donay, der allerdings eher amüsiert klang. »Nun sieh dir diesen kleinen Racker an! Er wehrt sich ganz schön!«

Kara hatte das Gefühl, daß sich eine unsichtbare eisige Hand um ihren Hinterkopf schloß und langsam zuzudrücken begann. Donay hielt das Spinnentier fest in der rechten Hand, während er mit der anderen emsig in seinem Beutel herumzukramen begann und etwas herauszunehmen versuchte. Es gelang ihm nicht.

Er seufzte enttäuscht, drehte sich zu Kara herum und streckte ihr die Hand mit der zappelnden Spinne entgegen. »Kannst du sie einen Moment halten! Ich will nur – «

»Nein!« schrie Kara und wich ein paar Schritte zurück.

Donay sah sie verwirrt an. »Was hast du?« fragte er. »Sie ist nicht giftig.«

»Bist du... sicher?« fragte Kara etwas verlegen.

»Völlig«, antwortete Donay, der offenbar gar nicht begriff, was Kara wirklich hatte. »Es muß das Netz gewesen sein, das die Libellen heruntergeholt hat. Siehst du?« Er deutete mit der zappelnden Spinne auf das Wrack. »Es hat sich um die Rotoren gewickelt, die Turbinen verstopft und jede andere Öffnung verkleistert.« Er hatte endlich gefunden, wonach er gesucht hatte; ein bauchiges Glas mit einem Schraubverschluß aus Metall. »Ich frage mich nur, wie es durch den Schild gekommen ist«, murmelte er, während er die Spinne hineinfallen ließ und sich nach einer zweiten umsah.

»Ich brauche noch ein paar Tiere«, sagte er. »Hilfst du mir?«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Kara.

Donay sah sie verständnislos an, schraubte den Deckel auf sein Glas und begann auf Händen und Knien durch das Wrack zu kriechen, wobei er alberne zirpende Laute ausstieß, als locke er eine Katze oder einen jungen Hund. Kara beschloß, bei nächster Gelegenheit ihre Meinung, daß Donay vielleicht ein wenig seltsam, ansonsten aber ganz harmlos sei, einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Wortlos drehte sie sich herum und ging zu Ian und Karoll zurück.

»Was tut er da?« fragte Karoll stirnrunzelnd.

»Nichts«, antwortete Kara kalt. »Wir Mutantengesindel rasten manchmal aus, weißt du? Aber keine Angst – Donay ist harmlos. Er ißt nur gern Spinnen. Soll ich ihn bitten, dir auch eine zu braten!« Sie drehte sich zu Ian um und deutete auf die beiden Flieger. »Kannst du so ein Tier fliegen?«

»Ja«, antwortete Ian. »Aber sie sind langsam, und sie ermüden schnell. Den Weg bis zum Drachenhort schaffen sie nie.«

»Das müssen sie auch nicht«, sagte Kara. »Silvy wartet mit den Drachen hundert Meilen westlich von hier. Schaff Karoll dorthin. Sie sollen ihn zum Drachenhort bringen. Er darf unter keinen Umständen zurück nach Schelfheim kommen. Wenn er zu fliehen versucht, töte ihn. Und du« – sie winkte einen der drei Drachenreiter herbei – »nimmst den zweiten Flieger und sorgst dafür, daß Donay sicher im Hort ankommt.«

»Und du?« fragte Ian.

»Mach dir um mich keine Sorgen.« Kara machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir bleiben hier, bis die Sonne untergeht. Danach werden uns die Drachen abholen, wie wir es geplant haben.«

Ian antwortete nicht mehr, aber sein Blick machte klar, daß er nicht sehr davon überzeugt war, daß ihr Plan tatsächlich noch aufgehen würde.

Und wenn Kara ehrlich zu sich selbst war, dann glaubte sie das auch nicht.

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