53

Zwei Tage später – einen Tag und eine Nacht, ehe Elders Freunde eintreffen sollten – brachte sie eine Libelle zum Drachenhort zurück. Kara erlebte eine gewaltige Überraschung, als sie sich zur Seite beugte. Tief unter ihr liefen zwei oder drei Dutzend Gestalten zusammen, um sie zu begrüßen, und in einem Winkel neben dem Tor, in dem vor Thorns Angriff ein hölzerner Pferdeverschlag gewesen war, stand eine Libelle. Sie war nicht etwa nur dort gelandet, um jemanden abzuholen oder zu bringen, sondern war dort für längere Zeit abgestellt worden. Die Rotorblätter waren zum Heck hin zusammengefaltet, und die Kanzel stand offen. Als sie tiefer sanken, sah Kara, daß man die Waffe unter dem Bug entfernt hatte. Die Maschine landete und hob wieder ab, kaum daß Kara ausgestiegen und geduckt einige Schritte davongelaufen war. Sie wurde von einigen Kriegern in Empfang genommen und wieder mit Fragen bestürmt, von denen sie keine einzige beantwortete, aber es war längst nicht mehr so schlimm wie beim ersten Mal, als sie auf diese Weise hierher zurückgekommen war. Die meisten Männer schienen eher herausgekommen zu sein, um die Libelle zu beobachten, nicht um sie zu begrüßen. Sie hielt nach Hrhon Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken, was sie ein wenig beunruhigte.

Als sie auf das Haus zuging, sah sie eine Gestalt, deren Anblick sie verblüfft mitten im Schritt innehalten ließ. Es war Elder. Er stand mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Treppe und sah ihr wenig freundlich entgegen. »Hallo, Kara«, begrüßte er sie mit einer Stimme, die so kalt war wie der Blick seiner Augen. »Schön, daß du uns auch einmal wieder die Ehre gibst.« Er machte eine Kopfbewegung nach oben. »Ist das ein Zufall, daß du jetzt das zweite Mal so ankommst, oder wird es langsam zu einer schlechten Angewohnheit!«

Kara war lediglich ein wenig verwirrt über seinen Ton. Seltsam – sie hatte gedacht, daß es schlimmer sein würde, aber sie spürte... nichts.

Sie deutete auf die Libelle neben dem Tor. »Ich scheine nicht die einzige zu sein, die Spaß an diesen Dingern gefunden hat.«

»Sie gehört mir«, antwortete Elder. »Ein Geschenk deines Freundes Thorn. Großzügig, nicht wahr? Ich lade dich zu einem Rundflug ein, wenn du willst.«

»Thorn? Er war hier?«

»Vorgestern«, bestätigte Elder. »Gleich, nachdem er mit dir gesprochen hat. Was hast du ihm noch verraten – außer mich, meine ich?«

Kara überging die Spitze. »Nichts«, sagte sie ruhig. »Jedenfalls nichts, was er nicht schon vorher wußte. Keine Angst, dein kleines Geheimnis ist sicher. Wo sind Aires und Cord?«

»Sie warten im Haus auf dich. Ich bin nur das Empfangskomitee. Dein Kommen wurde uns angekündigt, weißt du?«

»Gut«, sagte Kara. »Dann laß uns zu ihnen gehen.« Sie spürte, daß seine Ruhe nur vorgetäuscht war, als sie an ihm vorüberging, deshalb beschleunigte sie ihre Schritte ein wenig, damit er nicht nach ihr greifen oder sie auf eine andere Weise zurückhalten konnte.

Da sich die Dinge so schnell und fast überstürzt entwickelt hatten, erwartete sie auch im Innern große Veränderungen anzutreffen, aber alles war genauso, wie sie es zurückgelassen hatte. Selbst die Trümmer, über die sie hinwegsteigen mußten, lagen noch unverändert an Ort und Stelle. Elder winkte allerdings wortlos ab, als sie die Treppe zu Aires’ Turmkammer in Angriff nehmen wollte, und deutete in den Gang, auf dem ihr eigenes Gemach lag.

Ihr Zimmer aber war nicht mehr ihr Zimmer. Ihr Bett, der Tisch und die Stühle standen noch an Ort und Stelle, aber alle anderen Möbel waren herausgeschafft worden. Kara fehlten die Worte, den Anblick zu beschreiben. Die Wände waren mit Karten, Zeichnungen und Diagrammen übersät. Neben der Tür hing die Karte, die sie im Schlund gefunden hatten. Sie war eingeschaltet; der vergrößerte Ausschnitt zeigte einen Teil des Dschungels, etwa fünfzig Meilen in nördlicher Richtung vom Drachenhort entfernt. Auf dem Bett, dem Tisch, den Fensterbänken, den freien Stühlen und selbst auf dem Fußboden- stapelten sich Papiere, Bücher, Folianten und Karten. Das Zimmer sah aus wie eine Mischung aus Bibliothek, Generalstabsraum und Rumpelkammer.

Als sie eintrat, erhob sich Aires von ihrem Platz, eilte ihr entgegen und schloß sie mit unerwarteter Herzlichkeit in die Arme. Auch Hrhon kam auf sie zu, verzichtete aber zu Karas Erleichterung auf irgendwelche handgreiflichen Bekundungen seiner Wiedersehensfreude. Außer Aires und dem Waga waren noch Cord, Storm und Donay anwesend, und außerdem jemand, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hatte: Maran. Alle sahen ehrlich erfreut aus, aber auch besorgt.

Nachdem Aires das übliche Begrüßungszeremoniell abgehalten hatte, räumte Cord einen Stuhl für sie, und Kara erzählte, was geschehen war, seit sie sich von Donay und Ian getrennt hatte. Sie blieb streng bei der Wahrheit. Nur zwei Dinge verschwieg sie: Thorns Bitte, ihr den Weg zur Bunkerstation unter der Stadt zu zeigen, und ihren Entschluß, es zu tun.

»Du hast Tyrell mit ihm gehen lassen?« fragte Elder in einem Ton wütenden Entsetzens. Als Kara nickte, fügte er wütend hinzu: »Dann weiß er jetzt alles, was er wissen wollte!«

»Er hat mir sein Wort gegeben, Tyrells Gedanken nicht zu lesen«, sagte Kara, »und ich glaube ihm. Und selbst wenn er gelogen hat – er kann nichts von Tyrell erfahren, was ihm nicht schon Tess verraten hat. Von dir wußte er schon vorher.«

Elders Blick machte ihr klar, daß er ihr nicht glaubte. »Ich weiß nicht, woher, aber er wußte, daß du noch am Leben bist.«

Sie sah ihn eine Sekunde lang nachdenklich an. »Ich habe eine viel größere Angst, Elder. Bist du ganz sicher, daß sie dieses Rettungsboot, das dein Schiff abgesetzt hat, nicht doch abgefangen haben?«

»Völlig«, antwortete Elder hastig. »Ein DSRV, das einmal auf dem Weg ist, kann von nichts und niemandem aufgehalten werden. Die Dinger sind einfach zu schnell. Und zu klein.«

»Klein? Ich denke, es sind Rettungsboote?«

»Sie transportieren... keine vollständigen Körper«, antwortete Elder ausweichend.

»Ich verstehe.«

»Warum fragst du?« wollte Elder wissen.

»Er fühlte sich so sicher«, antwortete sie. »Als wüßte er alles und hätte alles fest in der Hand. Es wäre doch unangenehm, wenn wir morgen auf deine Freunde warten und sie kämen nicht.«

»Sie werden kommen«, versicherte Elder. »Das Schiff wird spätestens gegen Mitternacht aus dem Pararaum kommen.«

»Dann ist es ja gut«, sagte Kara. Mitternacht. Thorn hatte versprochen, Tyrell noch vor Sonnenuntergang nach Schelfheim bringen zu lassen.

»Wo bist du so lange gewesen?« fragte Elder. »Wenn du nicht seine Gefangene warst?«

»Ich habe mit Thorn verhandelt«, antwortete Kara.

»Verhandelt?«

»Ich bin die Herrscherin vom Drachenhort«, sagte Kara mit einer ausholenden Geste. »Schon vergessen?«

Elder zog eine Grimasse und schwieg.

»Es gab eine Menge zu besprechen«, fuhr Kara fort. »Und wir sind längst nicht fertig geworden. Ich denke, ich habe ihm einige Zugeständnisse abgerungen, die ihm gar nicht recht waren.«

»Aber... wozu denn, um alles in der Welt?« wunderte sich Elder.

»Vielleicht, damit er sich nicht fragt, wieso ich ihm zu leicht und in zu vielen Punkten entgegenkomme«, sagte Kara. »Und vielleicht auch, um einige von diesen Bedingungen später deinen Leuten vorzulegen.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Thorn war hier? Was wollte er?«

»Eine kleine Personality-Show abziehen«, knurrte Elder. »Im Grunde dasselbe, was er auch von dir wollte«, sagte Storm. Er machte seinem Namen heute keine Ehre. Er wirkte als einziger sehr ruhig, fast gelöst. »Er ist gekommen, um uns Frieden anzubieten. Unter der einzigen Bedingung, daß wir aufhören, uns in seine Angelegenheiten zu mischen. Und uns aus dem Schlund fernhalten.«

»Damit wir nicht sehen, was sie dort treiben«, grollte Donay. »Ich habe es gesehen«, sagte Kara, aber Donay widersprach ihr mit einer unerwarteten Heftigkeit.

»Nein, das hast du nicht«, schnappte er. »Du hast gesehen, was sie mit einem kleinen Teil des Schlundes gemacht haben. Aber du hast nicht gesehen, was sie wirklich tun!« Seine Augen flammten vor Zorn.

»Und was tun sie deiner Meinung nach?«

»Sie töten euch«, sagte Elder an Donays Stelle.

»Wie?«

»Sie bringen uns um, Kara«, sagte Aires leise. »Frag Donay, wenn du Elder nicht glaubst. Er wird es dir bestätigen.«

Kara war verwirrt und erschrocken. Hatte sie sich doch getäuscht?

»Es stimmt«, sagte Donay. »Sie bringen uns mit ihrem verdammten Meer um.«

»Hast du Angst, daß wir ertrinken?« fragte Kara. Ihr Spott hatte keinen Biß.

»Nein.« Donay blieb ernst. »Aber ersticken. Und nicht nur wir, Kara. Sie töten den Wald, verstehst du?«

»Nein«, antwortete Kara knapp.

»Bei mir hat es auch eine Weile gedauert, bis ich es kapiert habe«, gestand Donay. »Offen gestanden hat mich Elder darauf aufmerksam gemacht, obwohl es so klar war, daß ich im Grunde eine Tracht Prügel verdiene, weil ich es nicht sofort gesehen habe.«

»Mach es nicht so spannend«, sagte Kara.

»Hast du dich noch nie gefragt, woher die Luft kommt, die wir atmen? Unsere Welt ist eine einzige große Wüste. Trotzdem haben wir frischen Sauerstoff, soviel wir nur wollen. Es ist der Schlund, der ihn produziert, Kara! Der riesige Wald, der vier Fünftel unserer Welt bedeckt. Jeder Baum, jedes einzelne Blatt ist eine kleine Sauerstoffabrik! Und sie sind gerade dabei, ihn zu vernichten.«

Kara atmete sichtbar auf. »Ich weiß«, sagte sie. »Thorn hat es mir erklärt. Das Meer wird diese Aufgabe übernehmen.«

»Sicher«, sagte Elder böse. »Fragt sich nur, wann. Dieses Wasser, das sie aus der Tiefe herauspumpen, und das andere, das sie auf chemischem Wege gewinnen oder aus dem Weltraum holen, ist steril. Sie werden es aktivieren, und es liegt genug Zeug herum, das verfaulen wird – aber es könnte gut sein, daß die Luft auf eurem hübschen Planeten trotzdem für ein oder zwei Jahrzehnte ziemlich dünn wird.«

»Soweit wird es nicht kommen«, sagte Kara. Sie stand auf und sah ihn durchdringend an. »Nicht wahr?«

»Nein«, antwortete er. »Das verspreche ich.«

»Wohin willst du?« fragte Aires, als sie sich zur Tür wandte. »Wir haben noch viel zu be...«

»Ich bin müde«, unterbrach sie Kara. »Mir schwirrt der Kopf. Ich möchte einfach... ein paar Augenblicke allein sein und nachdenken.«

»Das verstehe ich«, sagte die Magierin. »Aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Reicht dir eine Stunde?«

»Zwei«, sagte Kara laut. Aber ihre Finger signalisierten in der Zeichensprache: Eine. Hier. Ohne ihn. Sie hatte sich absichtlich so herumgedreht, daß Elder ihre Hände nicht sehen konnte, und wenn die anderen ihre lautlose Botschaft überhaupt registrierten, so beherrschten sie sich meisterhaft. In Aires’ Augen las sie, daß sie die Botschaft verstanden hatte.

Gefolgt von Hrhon verließ sie ihr Zimmer und überquerte den Hof, um in die Drachenhöhle hinunterzugehen. Sie hatte Markor seit drei Tagen nicht mehr gesehen und hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie ihn bald für lange, lange Zeit nicht mehr sehen würde. In ihrer Welt, die in den letzten Tagen und Wochen immer schneller in Stücke zu brechen begonnen hatte, waren diese Höhlen mit ihren riesigen, geflügelten Bewohnern alles, was noch Bestand zu haben schien. Sie waren noch heute so wie sie schon vor einer Million Jahre gewesen waren, und sie würden auch in einer weiteren Million Jahre noch so sein, unverändert, unveränderbar, gleichgültig, was sich Menschen oben auf der Oberfläche des Planeten auch gegenseitig antaten. Seltsam – niemals zuvor war ihr so deutlich aufgefallen, daß die Drachen außer dem Gefühl von Stärke und Schutz auch eine ungeheure Ruhe ausstrahlten; jene Art von majestätischer Gelassenheit, wie sie nur sehr große und sehr alte Tiere zu vermitteln vermochten. Sie erreichte Markor, und als er wie so oft ihre Nähe spürte und träge den Kopf wandte, da glaubte sie für einen Moment eine Klugheit und Güte in seinen Augen zu erblicken, wie sie sie noch nie zuvor darin gesehen hatte. Aber der Moment verging zu schnell.

Es wäre möglich, dachte sie. Was er damals im Schlund gezeigt hatte, als er die anderen Drachen bei ihrer verwegenen Rettungsaktion vom Gipfel des Drachenfelsens anführte, das war schon eine erstaunliche Intelligenzleistung. Auf der anderen Seite beherrschte jedes Zirkuspferd mehr Kunststücke. Und Markor war zwar nicht dressiert, aber er war alt, und er war zweifellos sehr klug. Trotzdem... es wäre möglich.

»Was wäre möglich?« fragte Elders Stimme hinter ihr. Kara hatte nicht bemerkt, daß er ihr gefolgt war. Sie sah sich nach dem Waga um und bemerkte, daß er gute fünfzig Schritte hinter ihr stehengeblieben war. Natürlich. Er hatte Angst vor Markor. Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf Karas Gesicht. Es gab ein Geheimnis zwischen ihnen, das nur sie und Hrhon kannten. Angella und Tally hatten es gewußt, aber die waren beide tot. Das Geheimnis war, daß der Waga im Grunde seines Herzens ein Feigling war.

»Was könnte möglich sein?« fragte Elder noch einmal, als sie nicht sofort antwortete.

Kara winkte ab. »Nichts. Ein dummer Gedanke.« Sie lächelte. »Ich habe für einen Moment gedacht, was für ein köstlicher Witz des Schicksals es doch wäre, wenn wir am Ende herausfinden würden, daß gar nicht wir, sondern die Drachen die wahren Herrscher dieser Welt sind. Wir denken, wir würden sie benutzen, aber wer sagt uns denn, daß es nicht genau umgekehrt ist?«

»Du hast recht«, sagte Elder. »Es war ein dummer Gedanke.«

»Sicher«, stimmte ihm Kara zu. »Aber was wissen wir schon wirklich über unsere Vergangenheit? Wir reden unentwegt von der Alten Welt, und wir tun so, als wären ihre Bewohner Götter gewesen. Und in Wahrheit wissen wir nicht einmal, wie sie ausgesehen haben.«

Für einen ganz kleinen Moment glaubte sie, etwas wie Mißtrauen in seinen Augen aufblitzen zu sehen. »Auf jeden Fall waren sie keine hundertfünfzig Meter groß und hatten Flügel«, sagte er. Er rang sich zu einem Lächeln durch. »weißt du was? Wenn das alles hier vorbei ist, dann werden wir gemeinsam eure Vergangenheit erforschen.«

Kara antwortete nicht, sondern sah ihn nur ernst an, dann wandte sie sich um und blickte zu Hrhon hinüber.

»Was hast du?« fragte Elder. »Ich spüre doch, daß etwas mit dir nicht stimmt.«

»Deine Begrüßung war ein wenig frostig«, sagte Kara. »Findest du nicht?«

»Ja«, gestand Elder. »Du hast recht. Es tut mir leid, und ich entschuldige mich dafür. Aber was hast du erwartet? Du verschwindest, ohne mir auch nur zu sagen, wohin und weshalb, und am Tag danach taucht dieser Thorn hier auf und scheint so ziemlich alles über mich zu wissen, was es nur zu wissen gibt.«

»Und da hast du natürlich angenommen, ich hätte dich verraten.«

»Ich habe angenommen, er hätte alles von dir erfahren«, antwortete Elder. »Thorn ist nicht auf Verrat angewiesen, um herauszubekommen, was er will.«

»Aber er hat es nicht«, sagte Kara. »Ich kann dich beruhigen. Ich war nicht einmal in der Nähe eines Gerätes, das mehr als zwei Knöpfe hat. Sie haben meine Verletzungen versorgt und mir zu essen gegeben, das war alles. Er ist ein großzügiger Mann, der seine Versprechen hält.«

Elder runzelte die Stirn und begann langsam wieder auf den Ausgang zuzugehen. Kara folgte ihm.

»Das klingt nicht nach dem Thorn, von dem ich gehört habe«, sagte er.

»Er sagte, er wäre durchaus in der Position, sich Großmut leisten zu können.«

Elder lachte. »Das klingt schon eher nach ihm. Weißt du, warum er mir den Helikopter hiergelassen hat? Damit ich zu ihm kommen kann, wenn ich es mir doch noch anders überlege. Aber ich kann ihn gut gebrauchen. Ich werde damit zu dem Ort fliegen, an dem unser Schiff landet.«

»Das wirst du nicht«, antwortete Kara. »Ich bringe dich hin. Oder glaubst du, ich lasse mir die Gelegenheit entgehen, ein richtiges Sternenschiff zu sehen?«

»Wie du willst.«

»Donay hat einen passenden Landeplatz gefunden?«

»Eine Stelle im Dschungel, nicht weit von hier«, bestätigte Elder. »Die Zerstörungen werden sich dort in Grenzen halten.«

»Zerstörungen?« Kara blieb stehen.

»Das Landungsboot ist groß«, sagte Elder. »Nicht annähernd so groß wie Thorns Drohne, aber viel zu groß, um hier landen zu können. Selbst wenn es mit ausgeschalteten Schutzschilden landet, dürften ein paar Äste geknickt werden.«

Sie gingen weiter, wobei Kara sorgsam darauf achtete, daß sie immer einen gewissen Abstand zu Hrhon hielten. Was Elder ebenso auffiel wie die sonderbaren Blicke, die Kara dem Waga immer wieder zuwarf. »Was ist mit ihm?« fragte er schließlich. »Mit Hrhon? Nichts.« Kara schüttelte den Kopf. Leiser sprach sie weiter. »Ich frage mich, wie lange es ihn noch geben wird. Und andere wie ihn.«

»Was... meinst du damit?« fragte Elder alarmiert?

»Ich meine damit«, antwortete Kara betont, »daß mir wieder eingefallen ist, wie alles angefangen hat, Elder. Wie wir uns kennengelernt haben, damals in Schelfheim. Sei ganz ehrlich: die Idee, die Stadt nur noch für Menschen zu reservieren und nach und nach alle anderen Wesen hinauszudrängen, von wem stammt sie? Wirklich von Gendik? Oder von Karoll und dir?«

»Karoll wußte so wenig, wer ich wirklich bin, wie ich wußte, wer er wirklich ist«, antwortete Elder.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.« Sie mußte sich überwinden, um weiterzureden. »Ich habe lange mit Thorn gesprochen, Elder. Nicht nur über uns. Auch über euch. Über eure Art, dort draußen auf all diesen Welten zu leben und sie zu beherrschen. Es ist eure Art, nicht wahr? Ihr duldet keine anderen Völker neben euch.«

»Wir achten streng darauf, daß unsere Gattung rein bleibt«, bestätigte Elder. »Aber das mußt du verstehen. Es gibt Hunderte von denkenden Spezies in der Galaxis. Die Natur hat Vorsorge getroffen, daß sich die Völker nicht ohne weiteres vermischen, aber manchmal geht es eben doch, vor allem, wenn man ein wenig nachhilft. Du glaubst ja gar nicht, zu was für Torheiten die Menschen in der Lage sind, wenn man sie gewähren läßt. Wir müssen es tun, um zu überleben. Täten wir es nicht, dann gäbe es unsere Spezies in fünfzig- oder hunderttausend Jahren nicht mehr. Euch wird nichts geschehen«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Menschliches Leben ist uns heilig, glaube mir. Wenn du der Unsterblichkeit so nahe bist wie wir, dann gibt es kein kostbareres Gut mehr als das Leben.«

»Und deshalb rottet ihr jedes Volk aus, das nicht rein ist, wie?«

»Unsinn! « widersprach Elder.

»Wir rotten niemanden aus. Wir helfen ihnen nur nicht, sich stärker zu vermehren.«

»Oder ihr helft ihnen, sich etwas weniger stark zu vermehren, nicht wahr? O nein, ihr bringt niemanden um! Ihr sorgt nur dafür, daß sie von selbst verschwinden. So wie die Menschen in dieser Stadt im Westen, in der plötzlich keine Kinder mehr geboren werden. Mord ist das sicher nicht! Wie nennt ihr es? Euthanasie?«

»Bitte, Kara!« Elder klang gequält. »Ich weiß, es klingt brutal und grausam, aber die Natur ist nun einmal grausam. Wir müssen so handeln, um als Volk zu überleben.«

»Sicher«, murmelte Kara. »Und was ist mit uns? Werdet ihr uns auch helfen, ganz langsam und schmerzlos einzuschlafen?«

»Bei euch ist das etwas anderes«, widersprach Elder. »Ihr seid uns so ähnlich, daß allerhöchstens ein Biologe den Unterschied feststellen könnte.«

»Was für ein Zufall«, sagte Kara.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Elder. »Es gibt eine Theorie, nach der alles Leben im Universum auf den gleichen Ursprung zurückgeht. Es gibt sehr viele Welten mit humanoiden Ureinwohnern. Ohne den Atomkrieg, in dem sich eure Vorfahren gegenseitig vernichtet haben, gäbe es wahrscheinlich auch auf diesem Planeten nur Menschen.«

Er log nicht sehr überzeugend.

Eine halbe Stunde später kehrte sie zu Aires und den anderen zurück. Sie hatte sich unter dem Vorwand, müde zu sein von Elder verabschiedet und Hrhon eingeschärft, ihr ihn für eine Stunde vom Hals zu halten.

Mit Ausnahme Marans saßen alle noch auf ihren Plätzen.

Ihre Zeit war zu kostbar. »Was wollte Maran hier?« begann Kara übergangslos.

Aires und Donay tauschten einen raschen Blick, der Kara nicht entging. »Nichts«, antwortete Aires. »Er hat mich gebeten, ihm wieder einen Drachen zu geben.« Donay sah weg. Die beiden verheimlichten ihr etwas.

»Wirst du es tun?«

»Ich denke, ja«, antwortete Aires. »Er hat einen Fehler gemacht, aber er ist ein guter Mann. Und nach Thorns Angriff haben wir weitaus mehr Tiere als Reiter.«

Kara stimmte ihr in Gedanken zu und erklärte das Thema für beendet. Sie wandte sich an Donay. »Konntest du mit den Tieren, die du aus dem Wrack geholt hast, etwas anfangen?«

Donay sah sie verwirrt an. »Ja. Aber... ich brauche noch Zeit. Einen Monat, zwei...«

»Die hast du nicht«, sagte Kara. »Kannst du etwas improvisieren, mit dem wir die Libellen angreifen können? Bis heute abend?«

»Heute abend?«

»Spätestens morgen früh«, bestätigte Kara. Sie wandte sich an Cord. »Und von dir brauche ich deine zehn besten Männer. Freiwillige. Sage ihnen, daß ihre Chancen, den Einsatz zu überleben, gleich Null sind.«

Aires, die die ganze Zeit über noch nichts gesagt hatte, hob ihre Hand. Kara drehte den Kopf in ihre Richtung. »Ja?«

»Nicht, daß ich deine Autorität oder die Weisheit deiner Entscheidungen anzweifeln möchte«, sagte sie mit sanftem Spott. »Aber würdest du uns vielleicht verraten, was du überhaupt vorhast?«

»Gern«, antwortete Kara. »Das, was wir schon vom ersten Moment an hätten tun sollen. Wir werden anfangen, uns zu wehren. Und zwar so, daß es ihnen wirklich weh tut.«

»Nichts dagegen«, sagte Storm. »Aber woher kommt dieser plötzliche Stimmungswechse1?«

Kara sah ihn wortlos an, dann griff sie unter die Jacke und förderte ein zusammengelegtes Blatt Papier zutage. Sie faltete es auseinander, schüttelte aber den Kopf, als Aires danach greifen wollte, und legte es mit der beschriebenen Seite nach unten auf den Tisch.

»Ich sagte euch, ich habe mit Thorn gesprochen«, sagte sie. »Er hat mir eine Menge interessanter Dinge erzählt. Aber ich habe nicht nur mit ihm geredet. Wir haben ein Abkommen getroffen. Einen Vertrag.«

»Ein Vertrag?« sagte Aires überrascht. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das Blatt. »Ist das der Vertrag?«

Kara schüttelte den Kopf. Ohne Aires’ bohrende Blicke zu beachten, wandte sie sich an Donay. »Ich nehme an, dein Erinnerer hat die Inschrift auf dieser Tür noch nicht entschlüsselt?«

»Nein«, sagte Donay. »Es ist wie verhext. Es gibt in keinem unserer Bücher etwas, das dieser Schrift ähnlich sieht.«

»Das hätte mich auch gewundert«, sagte Kara. »Es ist eine Schrift, die auf dieser Welt nicht verwendet wurde. Und sie ist auch nicht für uns bestimmt.« Sie schob Donay das Blatt über den Tisch hinweg zu. »Hier ist die Übersetzung. Lies sie laut vor.«

Donay griff zögernd nach dem Blatt, drehte es herum und warf einen überraschten Blick auf die kleinen, gleichmäßigen Buchstaben in Karas Handschrift. Dann begann er mit leiser, vor Erregung und vor Entsetzen zitternder Stimme zu lesen.

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