Zwei Stunden später hatte sich auch Elder soweit erholt, daß sie ihr Versteck verlassen konnten. Wie eine erste, flüchtige Untersuchung Karas zeigte, war auch er nicht ernsthaft verletzt. Trotzdem hatte es ihn viel schlimmer erwischt als sie. Sein ganzer Körper war zerschrammt und zerschlagen, und Kara war nicht sicher, ob er nicht auch ein paar gebrochene Rippen davongetragen hatte. »Was ist überhaupt passiert?« murmelte Elder benommen, während er unter Karas massierenden Händen allmählich in die Wirklichkeit zurückfand.
»Das Übliche«, antwortete Kara mit einem schiefen Grinsen, das ganz und gar nicht das widerspiegelte, was sie wirklich empfand. »Du hast dich diskret zurückgezogen und mich die ganze Arbeit machen lassen.«
»Die Krabbe?«
Kara schüttelte den Kopf. »Das war das kleinste Problem.«
Dann erzählte sie ihm mit knappen Worten, was geschehen war. Elder hörte ihr stirnrunzelnd zu. Erst als sie zu Ende gekommen war, sagte er: »Du hättest sie nicht beide töten dürfen.«
»Oh, entschuldige bitte«, grollte Kara. »Aber ich bin in der Eile leider nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken. Es wird nicht wieder vorkommen. Das nächste Mal lasse ich mich umbringen.«
»Ich meine es ernst«, sagte Elder unbeeindruckt. »Die beiden hätten uns wertvolle Informationen liefern können.«
»Sie sahen nicht so aus, als wären sie zum Reden gekommen«, antwortete Kara gereizt. Verdammt, war das etwa Elders Art, sich bei ihr dafür zu bedanken, daß sie ihm das Leben gerettet hatte?
»Ich hätte sie schon – au!« Elder fuhr zusammen und schob ihre Hand zur Seite, die wohl etwas zu heftig seinen Hals massiert hatte. »Was hast du vor? Willst du mich umbringen?« Er richtete sich auf, verzog schmerzhaft das Gesicht und sammelte einen Moment Kraft, ehe er auf Händen und Knien zum Tunnelende kroch. Vorsichtig ließ er sich auf den Bauch sinken und schob Kopf und Schultern ins Freie. Er blieb eine ganze Weile so liegen, dann sagte er: »Wenigstens brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen, wie wir nach unten kommen.«
Kara kroch auf Händen und Knien neben ihn und blickte in die Tiefe.
Einen halben Meter unter ihnen schwebte eine kreisrunde Scheibe aus halbdurchsichtigem Glas oder Kristall. Ein sanftes, bläuliches Glühen ging von ihr aus, und erst jetzt fiel Kara auf, daß das helle Summen, das die Ankunft der beiden Männer begleitet hatte, noch immer zu hören war. »Was, zum Teufeln ist das?« murmelte sie.
Elder zuckte mit den Schultern – und dann tat er etwas, was Kara vor Schrecken die Luft anhalten ließ. Behutsam richtete er sich wieder in eine kniende Position auf, drehte sich herum und angelte mit dem Fuß nach der Scheibe, die schwerelos im Nichts hing.
»Elder! « keuchte Kara erschrocken. »Du kannst doch nicht – «
Sehr vorsichtig, aber ohne innezuhalten, setzte er erst den einen, dann den anderen Fuß auf die Scheibe. Einen Moment blieb er in einer grotesk vorgebeugten Haltung, beide Hände auf dem Tunnelrand, stehen und richtete sich dann auf. Wie ein Hochseilartist auf dem Draht breitete er die Arme aus, um die Balance zu halten, was allerdings gar nicht nötig war. Die Scheibe schwankte wie ein kleines Schiff auf der Wasseroberfläche, aber sie kippte weder unter Elders Gewicht zur Seite, noch stürzte sie wie ein Stein in die Tiefe.
»Was... was ist das?« flüsterte Kara.
»Keine Ahnung«, entgegnete Elder. »Aber es funktioniert, wie du siehst.« Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Worauf wartest du?«
Kara betrachtete die schwebende Glasscheibe mißtrauisch. »Bist du sicher, daß sie unser beider Gewicht trägt?« fragte sie zögernd. Sie machte keine Anstalten, zu ihm zu kommen.
»Nein«, antwortete Elder grinsend. »Aber sie hat die beiden anderen getragen, oder? Und was soll schon passieren? Immerhin wollen wir ja nach unten, oder nicht?«
Kara funkelte ihn an. »Habe ich dir schon gesagt, was ich von deinem Humor halte?«
Elders Grinsen wurde so breit, daß Kara schon fürchtete, er würde im nächsten Moment seine Ohren verschlucken. »He, he«, sagte er. »Was ist los mit dir? Ich dachte, du gehörst zu diesen harten Frauen, die diese riesigen schuppigen Drachen reiten und sich zehn Meilen über dem Boden erst so richtig wohlfühlen, Du hast doch wohl keine Angst?«
Kara starrte ihn einen Moment fast haßerfüllt an, aber die Herausforderung zog. Sie kletterte zu ihm hinaus; sogar ein wenig zu schnell, denn sie geriet prompt ins Stolpern, so daß Elder hastig zugriff und sie festhielt.
Kara riß sich zornig los – allerdings erst, nachdem sie wieder Halt gefunden hatte. »Weißt du überhaupt, wie man das Ding steuert?« fragte sie.
»Nein«, gestand Elder. »Aber so schwer kann es nicht sein.«
Er deutete auf eine Reihe sternförmig in die Scheibe eingebettete Schalter. Sie waren sehr groß, offensichtlich sollten sie mit den Füßen bedient werden.
Ehe Kara ihn daran hindern konnte, probierte er den ersten Schalter aus. Die Scheibe glitt mit einem Ruck ein Stück weit in die Höhe und kam wieder zur Ruhe, als Elder den Fuß zurückzog. »Siehst du«, erklärte er fröhlich. »So schwer ist das doch gar nicht.«
Kara lächelte verkrampft und schwieg.
Elder brauchte schweißtreibende sechs oder acht Versuche, bis er die Steuerung der Flugscheibe so weit begriffen hatte, daß sie ihren Weg in die Tiefe fortsetzen konnten. Ehe sie es taten, kletterte Kara noch einmal in den Tunnel zurück und holte den Scheinwerfer, den der Fremde fallengelassen hatte. Sie bedauerte zutiefst, daß die Waffe des anderen mit ihm selbst in der Tiefe verschwunden war. Aber man konnte eben nicht alles haben.
Nur vom unheimlichen bläulichen Licht der Kristallscheibe begleitet, sanken sie tiefer in den Leib der Erde hinab. Der Schacht schien kein Ende zu nehmen. Elder hatte zwar behauptet, daß es nur noch eineinhalb Meilen bis zu seinem Grund waren, aber Kara hatte das Gefühl, daß sie stundenlang durch die fast vollkommene Schwärze glitten. Das wenige, das sie im schwachen Licht der Scheibe erkennen konnte, verriet ihr, daß sie sich längst nicht mehr durch die gemauerten Eingeweide Schelfheims bewegten. Rings um sie herum war jetzt der gewachsene Fels der Erdkruste. Unvermittelt traf sie die Erkenntnis, daß sie sich wahrscheinlich schon tief unter dem Boden des Schlundes befanden, jener zweiten, um ein vierfaches größeren Welt, über die sich die von Menschen bewohnten Kontinente wie unvorstellbar große Tafelberge erhoben. Plötzlich begann sie zu frieren. Der Gedanke an die Felsmassen, die sich über ihr türmten, ließ sie erschauern.
Dann fiel ihr auf, daß auch Elder fröstelnd die Schultern zusammenzog. »Es ist kalt«, sagte er. »Und es wird immer kälter. Das ist seltsam.«
»Wieso?«
»Weil es wärmer werden müßte, je tiefer wir in die Erde eindringen«, antwortete Elder.
Und es wurde nicht nur kälter. Während sie in gleichmäßigem Tempo weiter in die Tiefe glitten, nahm auch der anfangs nur leichte Modergeruch der Luft zu.
Dann entdeckten sie das Licht unter ihnen.
Es war nur ein blasser, hellgrauer Schimmer, den sie auf der Erde wahrscheinlich nicht einmal in der Nacht wahrgenommen hätten, aber ihre an stundenlange Dunkelheit gewöhnten Augen machten ihn aus, bevor sie sich seinem Ursprung auch nur vage genähert hatten.
Karas Herz begann hart und schnell zu schlagen, während die Scheibe mit nervenaufreibender Langsamkeit weiter in die Tiefe sank. Sie konnte erkennen, daß der Schacht sich immens verbreitert hatte: Aus dem knapp fünfzehn Meter durchmessenden Stollen war ein gewaltiges Rund von hundert oder mehr Metern geworden, dessen Wände nur noch zum Teil aus Fels bestanden. Überall entdeckten sie Reste des Triebes, der dieses Loch in der Erde noch vor Tagesfrist ausgefüllt hatte. Sie mußte plötzlich wieder an Donays Worte denken: Als hätte ihn jemand gepackt und in die Tiefe gezogen.
Und dann kamen sie aus dem Schacht heraus und schwebten buchstäblich im Nichts.
Fassungslos sahen sich Kara und Elder um.
Über ihnen war nicht mehr der Schacht, sondern die Decke einer ungeheuerlichen Höhle, in deren Mitte ein rundes Loch gähnte. Ihr Blick verlor sich in unmöglich zu schätzender Entfernung und grauem Dunst, und unter ihnen...
»Ein Meer!« flüsterte Kara fast ehrfürchtig »Das ist... ein Meer, Elder!«
Sie hatte niemals ein Meer gesehen, so wenig wie irgendein Bewohner dieser Welt, der in den letzten zweihundert Jahrtausenden geboren worden war, aber das, was da unter ihnen glitzerte, ein Puzzle aus Milliarden und Milliarden winziger Wellen, mußte ein Meer sein.
In gleichmäßigem Tempo glitten sie tiefer, aber plötzlich konnte Kara die Fahrt gar nicht mehr langsam genug vonstatten gehen, so faszinierend war der Anblick. Ein unterirdisches Meer, so groß, daß es vermutlich mehr Wasser enthielt als Flüsse und Seen der Welt zusammen! Welch unvorstellbarer Schatz, in einer Welt, die fast ausschließlich aus Wüste bestand.
Die Wasseroberfläche lag ungefähr vierhundert Meter unter der Höhlendecke, und als sie sich ihr näherten, sah Kara, daß sie sich nahe am Ufer des unterirdischen Ozeans befanden. Das Meer bildete hier eine halbkreisförmige, vielleicht eine Meile durchmessende Bucht, die zur offenen Seite hin von Felsen begrenzt wurde. Unmittelbar unter ihnen war fester Boden, und als sie noch tiefer kamen, erkannte Kara eine Anzahl großer, unregelmäßig geformter Körper, die im Wasser trieben.
Schließlich begriff sie, daß es sich um titanische Zweige des verschwundenen Triebes handelte.
Aufmerksam sah sie sich weiter um. Jetzt, da sie den ersten Sturm von Gefühlen überwunden hatte, entdeckte sie rasch mehr und mehr der gigantischen Wurzelstränge, die die lebende Brücke über Schelfheim fünf Meilen weit in die Erde bis in dieses riesige Wasserreservoir hinabgesandt hatte. Aber etwas war mehr als seltsam: Die meisten Wurzeln reichten nicht bis auf die Wasseroberfläche herab, sondern endeten hundert oder fünfzig Meter darüber in einem Gewirr schlaff herabhängender, weißer Stränge; wie nasses totes Haar, das die Farbe von verwesendem Fleisch angenommen hatte.
Endlich berührte die Kristallscheibe den Boden – besser gesagt, hielt sie zitternd einen knappen Dreiviertelmeter darüber an, so daß sie das letzte Stück mit einem Sprung überwinden mußten.
Ihre Stiefel verursachten ein unheimliches, lang nachhallendes Geräusch in der riesigen Höhle, und erneut konnte sich Kara eines Schauderns nicht erwehren. Es war eine unheimliche, unwirkliche Welt, in der sie sich befanden: Die Felsen waren schwarz und so glatt wie Glas, aber hier und da von dicken, verkrusteten Panzern aus abgestorbenen Muscheln und anderen Meerestieren bedeckt. Die Höhlendecke befand sich jetzt so weit über ihnen, daß sie wie ein versteinerter Himmel wirkte. Vom Wasser stieg ein eigenartiger, salziger Geruch auf, und das Holz, das darauf trieb, entpuppte sich als riesige Trümmerstücke, die manchmal größer als ein Haus waren. Zwischen den Trümmern trieb der zerschmetterte Körper eines der Männer auf den Wellen, gegen die sie oben im Tunnel gekämpft hatten. Den Ursprung des grauen Lichtes konnte Kara nicht entdecken.
Elder deutete nach rechts, vom Ufer fort, und da entdeckte Kara das Lager der beiden Männer. Sehr vorsichtig näherten sie sich. Zwischen zwei hohen Felsbuckeln erhob sich ein sonderbar geformtes Zelt, dessen Wände zu Karas Verblüffung völlig durchsichtig waren. Es hatte nicht die gewöhnliche, an ein Dach erinnernde Form, sondern glich einer abgeflachten Halbkugel; halbrund war auch der Eingang. Gebückt folgte sie Elder. Das erste, was ihr auffiel, war die Wärme. Die unangenehme Feuchtigkeit der Höhle blieb hinter ihnen zurück, und ein behaglicher Hauch wehte ihnen in die Gesichter. Kara gewahrte allerlei völlig unverständliche Gerätschaften und Apparaturen, die sie jedoch nur mit einem fast angewiderten Blick streifte, während Elder sich sofort mit Begeisterung daraufstürzte. Wenigstens auf dem Boden entdeckte sie Dinge, die sie kannte: eine unordentlich zusammengeknüllte Decke, eine lederne Tasche mit einem hübsch geformten Messingverschluß, ein paar Schuhe von geradezu absurder Größe, zwei Schlafsäcke... Zwei. Das bedeutete, daß die beiden, die sie getötet hatte, tatsächlich allein gewesen waren und sie zumindest nicht unmittelbar mit einer bösen Überraschung rechnen mußten. Während Elder sich mit der Begeisterung eines Kindes, das eine ganze Kiste voll neuer Spielzeuge entdeckt hatte, auf die technische Einrichtung stürzte, unterzog Kara die Habe der beiden Männer einer eingehenderen Untersuchung. Sie fand ein Buch mit unverständlichen Schriftzeichen und ebenso unverständlichen, aber interessanten Bildern, das sie flüchtig durchblätterte und dann zurücklegte. Die Schlafsäcke bestanden aus einem höchst bemerkenswerten Material, das sich glatt wie Seide anfühlte, aber beinahe unzerreißbar war, und die Tasche enthielt jenen nützlichen Kleinkram, den man mitnimmt, wenn man sich auf eine längere, aber nicht ganz lange Reise begibt: ein wenig Essen, ein Bild, das eine Frau und zwei Kinder vor einem sehr sonderbaren Hintergrund zeigte (die Häuser waren zu groß und der Himmel hatte die falsche Farbe), ein halbleeres Päckchen mit weißen Stäbchen, das mit aromatisch riechenden Krümeln gefüllt war, weitere Bücher, ein verknittertes Hemd ohne Ärmel, ein Paar Socken, die genauso unmöglich groß waren wie die Schuhe und zum Himmel stanken...
Fein säuberlich legte Kara alles wieder in die Tasche zurück, nahm aber das Bild noch einmal zur Hand und betrachtete es erneut. Die Häuser im Hintergrund kamen Kara sehr seltsam vor (hätte sie nicht gewußt, daß es unmöglich war, dann hätte sie schwören können, daß sie aus Stahl waren), und der Himmel war blau, nicht türkis. Die drei Personen auf dem Bild allerdings wirkten recht normal – eine junge, weder besonders hübsche noch besonders unattraktive Frau und zwei ausgesprochen häßliche Kinder. Wahrscheinlich die Familie des Mannes, dem die Tasche gehörte.
Ein heftiges Gefühl von Verwirrung überfiel Kara. Sie dachte an die ausdruckslosen, glasbedeckten Gesichter der beiden, und zum allerersten Mal kam ihr zu Bewußtsein, daß sie neben Feinden und Angreifern auch Menschen waren; Männer, die lachten, liebten, Familien und Freunde hatten... war es das, was Angella gemeint hatte, als sie sagte, Kara hätte im Grunde noch nie wirklich gekämpft? Sie hatte nicht einfach nur zwei Gegner ausgeschaltet wie bei den Übungskämpfen im Hort, sondern zwei Leben ausgelöscht.
Ehe diese Vorstellung ihr Denken völlig vergiften konnte, schob sie das Bild hastig wieder in die Tasche zurück und wandte sich Elder zu. Er hockte mit leuchtenden Augen über einem flachen Kästchen von der Größe einer Schreibtafel, das er in der Mitte auseinandergeklappt hatte. Die obere Hälfte bestand aus einer mattblauen Glasscheibe, während sich auf der unteren eine Unzahl kleiner rechteckiger Tasten befand, die mit den gleichen unverständlichen Buchstaben beschriftet waren, die sie auch in dem Buch gesehen hatte. Zusammengeklappt mußte das Kästchen bequem in die Tasche passen.
»Was ist das?« fragte Kara.
Elder zuckte mit den Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand er. »Aber es ist faszinierend.«
Kara seufzte. »Du und deine Technik. Meinst du nicht, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun?«
Elder sah sie einen Moment ernst an, dann klappte er das Kästchen zu und richtete sich auf. Ein flüchtiger Ausdruck von Schmerz huschte über sein Gesicht. Er konnte sich immer noch nicht richtig bewegen. »Vielleicht übertreibe ich es manchmal«, sagte er. »Aber nicht so schlimm wie ihr. Ihr verachtet alles, was mit Technik zu tun hat. Aber man muß eine Sache nicht lieben, um etwas davon zu verstehen. Und wie willst du deine Feinde wirksam bekämpfen, wenn du nichts über sie weißt?«
Kara sah ein, daß ein Streit sie jetzt überhaupt nicht weiterbrachte, und vielleicht hatte Elder sogar recht. »Hast du irgend etwas entdeckt, was uns weiterhilft?«
»Nein.« Elder zuckte abermals die Achseln. »Wenn ich eine Woche Zeit hätte, oder wenigstens ein paar Stunden... ich werde nicht schlau aus dem Gerät.« Er deutete auf ein klobiges Etwas, das auf einem dreibeinigen Tisch stand und zahlreiche farbige Lichter und Skalen aufwies. »Es scheint eine Art Funkgerät zu sein.«
»Das heißt, die beiden waren nicht allein?« Kara erschrak. Dann begriff sie plötzlich, wie naiv diese Frage gewesen war. »Natürlich nicht«, antwortete Elder. »Ich möchte nur wissen, was sie hier unten suchen.«
»Vielleicht Wasser?« Der Gedanke kam ihr im selben Moment, in dem sie ihn aussprach.
»Ja, sicher«, sagte Elder spöttisch. »Sie werden irgendwo einen ganz großen Eimer versteckt haben, mit dem sie es abschöpfen, wie?« Er lachte, schüttelte den Kopf und verließ das Zelt. Kara folgte ihm.
Nach der Wärme im Inneren kam ihr die Luft draußen doppelt so kalt und feucht vor. Ihr Blick glitt über das Ufer. Das Wasser war hier sehr seicht. Treibgut war angespült worden. Dazwischen trieb ein schwarzblaues Bündel.
Elder deutete auf die Leiche. »Sieh nach, ob seine Waffe noch funktioniert. Wenn wir auf mehr von ihnen stoßen, bist du nur mit deinem Schwert nicht sonderlich gut ausgerüstet.«
Der Gedanke, eine Leiche abzutasten und zu bestehlen, gefiel Kara überhaupt nicht. Aber wenn sie auf eine ganze Armee dieser Typen stießen... Sie watete in das eiskalte Wasser und drehte mit heftigem Widerwillen den Leichnam herum. Es war der Mann mit dem gläsernen Gewehr. Aber wie sie erwartet hatte, hatte der Sturz aus eineinhalb Meilen nicht nur seinen Körper und sein Gesicht, sondern auch den zerbrechlichen Lauf der Waffe zertrümmert. Enttäuscht ließ sie ihn los, griff dann noch einmal zu und suchte nach der Laserpistole an seinem Gürtel, fand sie aber nicht. Die Schicksalsgötter schienen nicht ganz auf ihrer Seite zu stehen.
»Kara!« Elders Stimme klang alarmiert. Sie drehte sich um und watete zum Ufer zurück, froh, aus dem eisigen Wasser herauszukommen. Die Kälte machte bereits ihre Beine taub. »Was ist?«
Elder war am Ufer auf- und abgegangen und untersuchte die Felsen, als hätte er noch nie einen Stein gesehen. Jetzt beugte er sich vor und hob etwas auf, das Kara auf den ersten Blick für ein Büschel Haare hielt.
»Tang«, sagte er. »Und weiter oben habe ich Muschelschalen gefunden. Und tote Fische. Und sieh mal dort oben, an der Wand – erkennst du die Linien im Fels?«
Kara tat ihm den Gefallen und legte den Kopf in den Nacken. Sie sah nichts, aber sie nickte trotzdem.
»Das sind Wassermarkierungen«, sagte Elder aufgeregt. »Verstehst du, was das bedeutet?«
»Ja«, sagte Kara und schüttelte den Kopf.
Elder nahm ihre Antwort nicht einmal zur Kenntnis. »Du hattest recht, Kara. Diese Höhle muß früher völlig unter Wasser gestanden haben. Und es kann noch nicht lange her sein. Ein paar Monate, allerhöchstens ein Jahr! Der Wasserspiegel sinkt, verstehst du?« Plötzlich wurde seine Stimme zu einem zitternden Krächzen. »Verstehst du jetzt, warum der Hochweg stirbt?«
»Ich glaube... schon«, murmelte Kara. Ihr Blick suchte die titanischen Wurzelstränge, die wie Säulen, die den Himmel trugen, von der Decke hingen. Vielleicht war es kein Irrtum gewesen, als sie geglaubt hatte, sie sähen wie totes Haar aus. »Du meinst, sie sind – «
»Verdurstet, ja«, führte Elder den Satz zu Ende. »Sieh doch selbst! Die Wurzeln müssen bis tief ins Wasser hineingereicht haben. Und als der Wasserspiegel gesunken ist, da... da sind sie abgestorben.«
Kara blickte die traurig herabhängenden Riesenwurzeln mit neuem Schrecken an. Wenn Elder recht hatte, dann war das Schrecklichste nicht einmal das, was er ausgesprochen hatte, sondern vielmehr das, was er nicht gesagt hatte. Nur die allerwenigsten Riesenwurzeln reichten überhaupt noch bis aufs Wasser herab. Und wenn der Wasserspiegel weiter sank, dann würde dieses riesige Pflanzenwesen, das die meisten Bewohner Schelfheims für nichts anderes als eine Brücke hielten, binnen weniger Wochen oder vielleicht auch nur Tage verdursten und absterben.
»Glaubst du, daß... daß sie etwas damit zu tun haben?« flüsterte sie.
Elder schwieg eine ganze Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Aber auf jeden Fall wissen sie etwas darüber. Und allein dafür, daß sie dieses Wissen geheimgehalten haben, werden sie bezahlen, das verspreche ich dir.«
»Dazu müssen wir sie aber zuerst einmal finden«, gab Kara zu bedenken.
Elder wies mit einem zornigen Schnauben auf das Zelt und die kristallene Flugscheibe. »Früher oder später werden sie schon hier auftauchen, um nachzusehen, was aus ihren beiden Freunden geworden ist.«
»Ja. Dreißig Mann hoch und bis an die Zähne bewaffnet«, knurrte Kara. »Nein – wir müssen vorher etwas unternehmen.« Sie sah sich suchend um, blickte einen Moment zu dem durch die große Entfernung winzig erscheinenden Loch in der Höhlendecke hinauf und sah dann wieder zum Zelt zurück. »Vielleicht können wir mit diesem Ding da etwas anfangen.«
Kara wies auf die Kristallscheibe.
»Fünf Meilen weit senkrecht nach oben?« Elder schüttelte fast erschrocken den Kopf. »Das traue ich dem Ding nicht zu. Und selbst wenn, es würde Stunden dauern, und Tage, bis wir zurück sind. Dann sind die Burschen längst auf und davon. Willst du das Risiko eingehen?«
Und Angellas Mörder entkommen lassen? Nein! »Dann suchen wir sie! Dieses Ding da fliegt auch über dem Wasser?«
»Suchen? Wo denn?« Elder lachte humorlos und machte eine weit ausholende Geste. »Wir wissen ja nicht einmal, wie groß diese verdammte Höhle ist. Es können Hunderte von Meilen sein! Wie lange willst du denn suchen?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ich... bin nicht sicher«, gestand Elder. »Aber das Funkgerät scheint ganz ähnlich zu funktionieren wie unsere Geräte. Es ist sehr leistungsstark, glaube ich. Wenn ich damit klarkomme und die Antenne auf den Schacht ausrichte...«
»Dann versuch es!« sagt Kara ungeduldig. »Worauf wartest du?«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Elder. »Ich sagte, es ähnelt unseren Geräten. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob ich es schaffe.«
»Warum probierst du es nicht einfach aus?«
»Damit unsere schießwütigen Freunde beim ersten Pieps hier sind?« Elder machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe genau einen Versuch. Und ich übernehme keine Garantie, wen ich damit hierherbringe.«
»Haben wir denn eine Wahl?« fragte Kara.
Elder nickte und verschwand wortlos wieder in dem durchsichtigen Kugelzelt. Kara dachte einen Moment darüber nach, ihm zu folgen, schon um der Kälte und Feuchtigkeit zu entgehen, aber dann zog sie es doch vor, draußen zu bleiben. Es gab eine Menge, worüber sie nachdenken mußte.
Über Elder zum Beispiel. Sie beobachtete ihn eine Weile, wie er über dem fremdartigen Funkgerät saß und versuchte, es in Gang zu bringen. Plötzlich wurde Kara klar, was sie von ihm verlangte. Im Grunde verstand er so wenig von der Technik der Alten Welt wie sie oder irgendein anderer. Niemand verstand wirklich etwas davon. Sie waren wenig mehr als Lumpensammler, die in den Trümmern einer vor zweihundert Jahrtausenden untergegangenen Welt herumstocherten und dann und wann etwas fanden. Elders Funkgerät, seine Waffen, der Scheinwerfer, das Gerät, das er als Trigger bezeichnet hatte – nützliche Dinge, von denen es, wie manche meinten, viel zu wenige gab und die nur den Privilegierten oder dem Militär vorbehalten waren.
Aber wozu auch? Sie hatten während der vergangenen zweihunderttausend Jahre bewiesen, daß es andere Arten zu leben gab. Sie hatten ihre Hornköpfe, die die schweren Arbeiten erledigten; Männer und Frauen mit magischen Heilkräften und Dinge wie die riesige, lebende Brücke Schelfheims. Und Menschen wie Elder und Angella, um diese Welt zu bewachen. Sie hatten sich eine Welt erschaffen, die völlig auf den Kräften der Natur basierte und keinerlei Technik mehr brauchte. Das, was aus der Alten Zeit noch übrig war, würde auch noch verschwinden, in tausend oder auch vielleicht erst in weiteren zweihunderttausend Jahren – das spielte keine Rolle. Ihre Kultur, so primitiv sie einem Bewohner der Alten Welt auch vielleicht vorgekommen wäre, hatte länger überdauert als jede andere zuvor. Und sie würde auch weiterexistieren, wenn das letzte von Elders geliebten technischen Spielzeugen schon längst zu Staub zerfallen war.
Falls nicht jemand kam und etwas dagegen unternahm.
Ihr Blick suchte den toten Mann im Wasser, und wieder verspürte sie ein kurzes, eisiges Frösteln, das nichts mit der Kälte in der Höhle zu tun hatte. Der Gedanke erschien ihr in den ersten Momenten schlichtweg absurd – wie sollten diese Männer, ganz gleich, mit welchem technischen Erbe der Alten Welt sie ausgestattet waren, eine ganze Welt in Gefahr bringen? Und was war bisher schon passiert? Selbst, wenn das Brücken-Tier starb, ja, selbst wenn ganz Schelfheim unterging – das würde die Welt nicht in ihren Grundfesten erschüttern.
Und doch.
Die Gefahr, nach der Angella Zeit ihres Lebens gesucht und deren Handlanger Kara gesehen hatte, war Wirklichkeit.
Ein weiterer, dunkler Körper im Wasser fiel ihr auf. Im ersten Moment hielt sie ihn für den Leichnam des zweiten Kriegers und ging näher, dann –
Der Schock war nicht so groß wie oben in der Höhle, wo die Salve der Betäubungsgeschosse sie getroffen hatte, aber er lähmte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Gedanken und ließ die Zeit gefrieren. Sekunden, vielleicht auch einige Minuten stand sie reglos, gelähmt, mit ganz langsam, schwer und schmerzhaft schlagendem Herzen am Ufer des unterirdischen Sees und starrte den zerfetzten rotbraunen Umhang an, der auf dem Wasser trieb, der sich vom Ufer entfernte, näher kam, sich vom Ufer entfernte, näher kam, ein unablässiges Hin und Her, als zögere das Meer noch, sein grausiges Geschenk vollends herauszugeben.
Irgendwann erwachte sie aus ihrer Erstarrung und begann ins eisige Wasser hineinzuwaten. Es war an dieser Stelle viel tiefer und reichte ihr bis zur Brust; die Luft vor ihrem Gesicht wurde zu grauem Dampf, und von den Knien kroch ein Woge der Gefühllosigkeit durch ihren Leib. Doch sie spürte nichts von alledem. Ihre Hände, obgleich sie vor Kälte mittlerweile weh taten, zitterten nicht einmal, als sie die Arme ausstreckte und den reglosen Körper vollends zu sich heranzog.
Es war Angella. Sie hatte ihre Maske verloren, und auf ihren Zügen lag ein Ausdruck, der Kara verriet, daß ihr Tod schmerzlos gewesen war. Wahrscheinlich hatte sie schon lange, bevor ihr Sturz zu Ende gewesen war, das Bewußtsein verloren. Vielleicht hatte sie auch der Sturz getötet, nicht der Aufprall. Kara hatte genügend Zeit auf dem Rücken eines Drachen verbracht, um sich in solchen Dingen auszukennen, wenigstens theoretisch. Sie wußte, daß ein stürzender Körper schon nach zweihundertfünfzig Metern seine größtmögliche Geschwindigkeit erreichte und daß das Schicksal oft gnädig genug war, den Stürzenden bald das Bewußtsein verlieren zu lassen. Was für eine grausame Ironie! Konnte es einen würdigeren Tod für einen Drachenreiter geben als den letzten, schwerelosen Fall aus dem Himme1?
Ihre Finger strichen über Angellas erstarrtes Gesicht. Ihr Verstand sagte ihr, daß es die Kälte des Wassers war, die sie fühlte, aber es war zugleich auch eine andere Kälte, der Beginn einer eisigen, tödlichen Entschlossenheit, die sich in diesem Moment in Kara auszubreiten begann. Keine Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Nässe auf ihren Wangen stammte nur von dem salzigen Wasser, durch das sie watete. Sie fühlte keinen Schmerz, keinen Zorn, keine Verbitterung, nur eine kalte, sachliche Entschlossenheit, die Männer zu finden, die für Angellas Tod verantwortlich waren, und sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Langsam zog sie die Tote zum Ufer hinauf, bettete ihren Oberkörper in ihrem Schoß und blieb lange Zeit so sitzen, mit ausdruckslosem Gesicht, reglos bis auf die rechte Hand, die immer wieder Angellas Stirn streichelte wie die eines fiebernden Kindes.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als Elder mit weit ausgreifenden Schritten aus dem Zelt stürmte und rief:
»Ich habe es geschafft! Sie kommen, Kara. In zwei oder drei Stunden sind – «
Er brach mitten im Satz ab, als er sah, daß Kara nicht allein war. Schrecken, Zorn und Entsetzen spiegelten sich in rascher Folge auf seinem Gesicht, aber er sagte nichts mehr, sondern blickte Kara nur noch einen Moment lang voll echtem Mitgefühl an, ehe er sich neben ihr in die Hocke sinken ließ. Zögernd streckte er die Hand aus, um Angella zu berühren. Kara schlug seinen Arm zur Seite.
»Rühr sie nicht an!«
Elder lächelte. Es war ein sehr trauriges Lächeln, und erneut sah Kara in seinen Augen, daß dieses Mitleid nicht gespielt war. Aber es war ein Mitgefühl, das ihr galt. Er empfand Trauer, weil ihr weh getan worden war, nicht um Angellas willen, und das machte sie zornig.
»Rühr sie nicht an!« sagte sie noch einmal. »Niemand darf sie anrühren, verstehst du? Niemand!«