Es war nicht der erste Fehler, den sie beging, und es würde auch ganz gewiß nicht der letzte sein – aber den Mann zu töten war ihr bis dahin schwerster Fehler gewesen. Es gab buchstäblich Tausende von Fragen, die sie ihm hätten stellen können, und es hätte vielleicht eine Menge geändert, hätte er auch nur jede zehnte beantwortet. So aber war es gleichgültig, denn Kara kehrte nach ihrem Abenteuer in und unter Schelfheim mit letzter Kraft in den Drachenhort zurück und sank in ein tiefes, gefährliches Fieber. Ihr Körper war erschöpft, weil Kara ihn über alle Maßen beansprucht hatte. Sie hatte zuviel gesehen, zuviel ertragen, was man eigentlich nicht sehen und ertragen konnte. Den Umstand, daß sie überhaupt am Leben blieb, verdankte sie der Tatsache, daß der Hort seine besten Magier und all seine Macht aufbot, um Heiler aus allen Teilen des Landes kommen zu lassen, die sich um sie kümmerten. Kara wußte nichts von diesem panischen Kampf um ihr Leben – vermutlich hätte sie es empört abgelehnt, anders als irgendein anderer Bewohner des Hortes behandelt zu werden. Zum Glück fragte sie niemand, und so verließ sie nach zwei Wochen zum ersten Mal wieder ihr Zimmer und ging in die riesigen Höhlen unter dem Hort, wo die Drachen lebten.
Obgleich sich die Drachen so schnell und so geschickt wie Fische im Wasser in der Luft zu bewegen vermochten, hatten sie das Erbe ihrer höhlenbewohnenden Vorfahren niemals ganz vergessen. Wenn sie nicht auf ihren riesigen Schwingen die Wolken teilten, dann fand man sie zumeist in finsteren Schluchten, deren Grund das Licht der Sonne nie erreichte, oder aber in solch feuchtkalten Höhlen, in denen niemals wirklich Tag herrschte.
Alles, was Kara über Drachen wußte, hatte ihr Angella beigebracht. Überhaupt stammte all ihr Wissen von Angella. So gedachte Kara auch ihrer toten Lehrerin, als sie die scheinbar endlose, in den gewachsenen Fels geschlagene Treppe hinunterging, die zum Grund der Höhle führte. Die Drachen, so hatte Angella erklärt, waren Hybriden, Wesen, die es eigentlich gar nicht geben durfte, denn sie waren im Bauplan der Natur nicht vorgesehen. Niemand wußte genau, wer sie geschaffen hatte, und es gab sogar berechtigte Zweifel, ob die Geburt dieser neuen Spezies in dieser Form wirklich beabsichtigt gewesen war. Zweifelsfrei aber waren die Drachen künstlich geschaffen worden. Die Drachen waren nicht einfach eine der zahllosen Mutationen, welche die mörderische Strahlung des Jahrtausende zurückliegenden Atomkrieges hervorgebracht hatte. Sie waren eine Kreuzung zwischen zwei oder drei verschiedenen Spezies, die nicht einmal derselben Familie angehört hatten; wenn man ganz genau hinsah, dann erkannte man noch heute zwei von ihnen, vor allem bei ganz jungen Drachen, die gerade geboren worden waren: Fledermaus und eine vor etlichen Jahrhunderten ausgestorbene Echsenart, die in alten Aufzeichnungen als Gila-Monster bezeichnet wurde. Die dritte oder vielleicht sogar vierte Komponente war weniger leicht zu bestimmen und stammte vielleicht gar nicht von dieser Welt. Auch diese Möglichkeit war in Betracht gezogen worden: daß die Drachen von einem anderen Planeten kamen. Es war kein Geheimnis, daß es Besucher von anderen Sternen gegeben hatte, früher, als es die Alte Welt noch gab. Doch wer auch immer diese Drachen geschaffen hatte, mußte über unvorstellbares Wissen und eine noch unvorstellbarere Macht verfügt haben. Selbst Männer wie Donay, die Geschöpfe wie die lebende Brücke Schelfheims, wie die Erinnerer und Hornköpfe für fast jeden Zweck zu züchten imstande waren, vermochten nichts annähernd Vergleichbares zu schaffen.
Kara hatte den Grund der Höhle erreicht und näherte sich Markors Lieblingsplatz, einem gezackten Felsen von der Größe eines Schiffes. Sie lauschte auf jedes noch so winzige Geräusch und achtete auf jede noch so kleine Bewegung, während sie sich in respektvollem Abstand zwischen den schlafenden Tieren hindurchbewegte. Diese Vorsicht war lebenswichtig. Kein Drache hätte ihr bewußt etwas zuleide getan, aber die Tiere waren so ungeheuer groß, daß sie einen Menschen mit einer beiläufigen Bewegung zerschmettern konnten, ohne es auch nur zu merken.
Markor döste – wie gewöhnlich, wenn er sie nicht zu den Wolken hinauftrug oder auf Brautschau war. Aber er öffnete träge ein Auge und sah sie an, als er ihre Nähe spürte. Der strenge Geruch verriet ihr, daß er vor kurzem eines der Weibchen begattet hatte. Sie brauchten neue Drachen, wenn es zum Krieg kam. Fast im gleichen Moment begriff sie, wie dumm dieser Gedanke war. Ein Drachenweibchen trug drei Jahre, und es dauerte weitere fünf, bis das Junge soweit war, daß sie es zureiten konnten. Nein – wenn es zu einem Krieg mit den Männern mit den gläsernen Gesichtern kam, dann mußten die Kräfte ausreichen, die sie besaßen.
Sie verscheuchte den Gedanken an den Krieg und die unheimlichen Fremden und winkte Markor zu, um ihn nach der langen Abwesenheit zu begrüßen. Der Drache reagierte mit einem Grollen, das so tief war, daß Karas Zwerchfell zu vibrieren begann. Sie redete sich ein, so etwas wie Wiedersehensfreude aus seinem Knurren herauszuhören. Aber sicher war sie sich nicht. Sie wußte nicht einmal, ob er ihre lange Abwesenheit überhaupt bemerkt hatte. Drachenzeit war keine Menschenzeit, vielleicht hatte Markor länger geschlafen, als sie fort gewesen war.
Während sie den riesigen, geschuppten Echsenleib vor sich betrachtete und der Blick der dunklen Drachenaugen auf ihr ruhte, begann sie sich zu fragen, ob sie wirklich beide dasselbe sahen. Für sie war Markor ihr Beschützer, ihr Spielzeug, ihr Gefährte, ihre Waffe und irgendwie auch ihr unbezwingbar starker Bruder, den sich jedes Kind insgeheim wünscht; und er war ihr Freund.
Aber was war sie für ihn?
Sie wußte es nicht. Niemand wußte ganz genau, warum diese größten jemals existierenden Lebewesen sich von Menschen beherrschen ließen, Kreaturen, die im Vergleich zu ihnen so winzig waren, daß sie nicht einmal als Beute in Frage kamen. Die Erklärungen reichten von der Theorie, daß es ein geheimes telepathisches Band zwischen diesen Tieren und ihrer Bezugsperson gab, über die Vorstellung, es fände schon vor der Geburt eines Drachenkämpfers eine Art Seelenwanderung statt, die ihn untrennbar mit einem dieser Giganten verknüpfte, bis hin zu der kühnen Behauptung, Drachen verfügten über eine verborgene, herausragende Intelligenz und machten sich einfach einen Spaß daraus, mit den zerbrechlichen dummen Menschen zu spielen und sie in dem Glauben zu lassen, sie wären die wirklichen Herren.
Wahrscheinlich waren all diese Erklärungen genauso falsch wie die zahllosen anderen, die es gab. Niemand wußte wirklich, was in den Köpfen der Drachen vorging; und Kara glaubte auch, daß es Rätsel gab, die besser ungelöst blieben. Doch trotz aller Gewöhnung an den Menschen war den Drachen ein gewisser Grad von Unberechenbarkeit geblieben. Manche waren auf eine einzelne Person fixiert, wie Markor auf sie, anderen war es gleichgültig, wer sie ritt. Es hatte Fälle gegeben, in denen sich ein Drache bewußt und freiwillig in den Tod gestürzt hatte, nachdem sein Reiter gestorben war. Und Drachen, die ihre Reiter plötzlich und scheinbar ohne irgendeinen Grund getötet hatten.
Seltsam – noch vor drei Wochen hätten Kara diese Gedanken nicht beunruhigt. Bei ihrem letzten Besuch war der Drache nichts als ein gutmütiger Freund für sie gewesen. Doch Kara hatte sich verändert; in jenen furchtbaren Stunden tief unter der Stadt hatte eine Entwicklung mit ihr stattgefunden. Sie war sich noch nicht ganz sicher, ob ihr diese neue Kara gefiel, aber was änderte das schon? Sie würde mit ihr leben müssen, ob sie wollte oder nicht.
Sie trat vollends auf Markor zu und legte die Hand auf sein Bein. Die geschuppte Panzerhaut des Drachen war rauh und kalt und so hart wie Stahl, und sie konnte spüren, wie langsam sein Herz schlug – drei Schläge in der Minute, ganz egal, ob er schlief oder mit aller Gewalt die Flügel schwang.
Markor reagierte auf die Berührung, wie er es gewohnt war:
Er hob den Fuß und winkelte gleichzeitig das Bein an, was für ihn eine sehr unbequeme Haltung bedeuten mußte, es Kara aber ermöglichte, ohne große Anstrengung auf seinem Rücken zu klettern.
Kara widerstand der Versuchung, ihm das Zeichen zum Start zu geben, obwohl sie im Moment nichts lieber getan hätte, als sich auf seinem Rücken in den Himmel über dem Drachenhort zu schwingen. Sie verspürte ein körperliches Bedürfnis danach, endlich wieder den unendlich weiten Raum des Himmels zu fühlen, in ihm zu sein, statt ihn nur durch das Fenster ihres Zimmers zu sehen. Aber sie durfte nichts überstürzen. Sie war noch lange nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte, und sie wußte, daß sie jede übermäßige Anstrengung bitter bereuen würde. So beließ sie es dabei, für eine gute halbe Stunde auf Markors Rücken sitzen zu bleiben und nur in Gedanken zu fliegen. Erst als sie wieder vom Rücken des großen Drachen herunterstieg, sah sie die Gestalt, die im Schatten einiger Felsen stand und sie beobachtete.
»Cord!« sagte sie zögernd.
Der alte Drachenkämpfer trat zwischen den Felsen hervor. Er sah Kara auf eine sonderbare Art und Weise an.
»Wie lange stehst du schon da?« fragte sie ohne einen Vorwurf in ihrer Stimme.
»Eine ganze Weile«, antwortete Cord. Er zögerte, dann gestand er, »Seit du auf seinen Rücken gestiegen bist.«
»Aber warum hast du mich nicht gerufen?« fragte Kara verwundert.
»Ich wollte dich nicht stören. Du hast... so glücklich ausgesehen.«
Die Worte machten Kara verlegen, was sie ein wenig ärgerte. »Was willst du?« fragte sie. Die Worte klangen unfreundlicher, als sie gemeint waren, aber es war nicht nötig, sich bei Cord zu entschuldigen; sie las in seinem Blick, daß er sie verstand. »Der Bote aus Schelfheim ist angekommen«, sagte er. »Ich dachte mir, daß du dabei sein möchtest, wenn wir mit ihm reden.«
Kara erinnerte sich, daß Cord vor einigen Tagen erwähnt hatte, daß sie einen Mann aus Schelfheim erwarteten. »Was für Neuigkeiten bringt er?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Cord achselzuckend. »Ich habe ihn und die anderen gebeten zu warten, bis du eingetroffen bist.«
»Das ist nett von dir«, sagte Kara – eigentlich nur, um überhaupt zu antworten, aber Cord sagte ernst: »Soll ich unsere zukünftige Herrin von wichtigen Dingen einfach ausschließen?«
Kara, die sich bereits umgedreht hatte und sich zum Ausgang der Höhle gewandt hatte, blieb abrupt stehen. Irritiert sah sie Cord an und suchte nach irgendeiner Spur von Spott in seinem Gesicht. »Nein«, antwortete sie mit einem nervösen Lächeln. »Aber das hat doch noch ein wenig Zeit, nicht wahr?«
Cord machte eine Bewegung, als wollte er mit den Schultern zucken, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. »Du bist Angellas Nachfolgerin«, sagte er. »Du hast das doch immer gewußt, oder?«
»Natürlich.« Eine unerklärliche Unruhe ergriff von Kara Besitz. »Aber... ich meine... irgendwann einmal. In ein paar Jahren, wenn Angella – «
»Angella ist tot«, unterbrach sie Cord. »Es gibt niemanden, der ihren Platz einnehmen könnte.«
»Unsinn!« erwiderte Kara heftig. »Mir fallen auf Anhieb ein Dutzend ein, die besser dazu geeignet wären als ich. Du an allererster Stelle.«
»Ich?« Cord lachte, als hätte sie einen Scherz zum besten gegeben. »Ganz bestimmt nicht.« Er hob die Hand, als sie widersprechen wollte. »Aber du hast recht – die Entscheidung hat noch ein wenig Zeit. Auf jeden Fall müssen wir sie nicht hier und in diesem Augenblick fällen. Komm – unser Gast wartet.«
Kara hatte plötzlich das Gefühl, daß die Entscheidung in Wahrheit längst gefallen war. Aber sie sagte nichts mehr, sondern folgte ihm mit raschen Schritten zur Treppe.
Bevor sie die Höhle verließen, sah sie noch einmal zu Markor zurück. Der Drache war wieder eingeschlafen und bot einen fast grotesken Anblick: ein riesiges, geschupptes Echsenmonster, das irgendwie einer überdimensionalen Fledermaus glich. Die Erinnerung an die glücklichen Augenblicke aber, die sie auf Markors Rücken verbracht hatte, erfüllten Kara plötzlich mit Trauer. Vielleicht war diese halbe Stunde, die Cord schweigend im Schatten gestanden hatte, ein Geschenk an sie gewesen, eine allerletzte halbe Stunde, in der sie noch einfach sie selbst sein durfte. Sie drehte sich mit einem Ruck herum und begann rasch die Treppe hinaufzusteigen. Die Wirklichkeit wartete.