Da sie von einer von Thorns Libellenmaschinen zum Drachenhort zurückgeflogen wurde, erreichte sie ihn kaum eine Stunde nach Donay und Cord und somit noch rechtzeitig, um die beiden daran zu hindern, ihren Befehl auszuführen und die Krieger nach Schelfheim zu bringen. Ihre Ankunft löste beinahe eine Panik aus, aber erst später wurde ihr klar, wie knapp sie und ihr Begleiter mit dem Leben davongekommen waren. Natürlich war ihre Annäherung nicht unbemerkt geblieben. Ein halbes Dutzend Drachen kam ihnen entgegen und eskortierte die Libelle die letzten fünf oder sechs Meilen, und im allerersten Moment sah das, was sie taten, nicht nur nach einem Angriff aus – es war ein Angriff. Das halbe Dutzend Tiere verteilte sich über und vor der Libelle. Der Mann neben ihr wurde sichtlich nervös. Er hatte die roten und grünen Signallichter seiner Maschine eingeschaltet, und Kara hatte ihm den Morsecode für das Wort ›Frieden‹ erklärt, den die Scheinwerfer den Drachen ununterbrochen entgegenblinkten. Kara hoffte, daß die Krieger das Wort verstanden. Wenn nicht... Nun, sie hatte mehr als einmal gesehen, daß das Feuer von fünf oder sechs Drachen den unsichtbaren Schild der Libellen zu überwinden imstande war. Plötzlich brachen die Drachen ihren Angriff ab und nahmen eine andere Formation ein. Kara atmete ebenso erleichtert auf wie der Pilot, aber auch sie konnte sich einer gewissen Nervosität noch immer nicht erwehren, als der Schwarm gigantischer Drachenvögel auf die winzige Maschine herunterstieß und sich rings um sie herum in der Luft verteilte. Sie hob die Hand und winkte den Reitern zu, aber sie wußte selbst, wie schwierig es war, hinter der spiegelnden Halbkugel mehr als Schemen zu erkennen. Die Drachen begleiteten sie drohend bis zum Hort. Der Anblick versetzte Kara einen tiefen, schmerzhaften Stich. Sie hatte die Festung auch gestern gesehen, als sie und die anderen nach Schelfheim aufbrachen, aber obwohl da noch Rauch in der Luft gewesen war, obwohl manche Feuer noch schwelten und sich aus den zusammengebrochenen Häusern und Türmen noch immer Staub kräuselte, wirkte der Anblick jetzt beinahe noch schlimmer. Die letzten Brände waren gelöscht, der Rauch hatte sich verzogen, und hier und da gewahrte sie aus der Höhe winzig erscheinende Gestalten, die bereits damit begonnen hatten, die Trümmer beiseite zu räumen. Doch Kara wußte, daß es sinnlos war. Ihr wurde unbarmherzig klar, daß sie diese Festung nie wieder würde aufbauen können. Thorns Angriff hatte sie in ihren Grundfesten erschüttert; die Festung war nicht mehr als ein Kartenhaus aus Stein, das der nächste heftige Windzug umwerfen würde.
Flankiert von den Drachen, die tief und drohend über dem Hof zu kreisen begannen, setzte die Libelle unweit des Haupthauses zur Landung an. Ein Dutzend Männer lief auf sie zu, die Köpfe gesenkt und die Gesichter aus dem peitschenden Wind der Rotorblätter gedreht, der sie mit Staub bewarf und ihre Kleider bauschte, aber mit gezückten Schwertern. Besorgt sah Kara auf. Die Drachen kreisten so tief und langsam über der Festung, und auch auf den Wehrgängen erschienen immer mehr und mehr Krieger. Sie löste ihren Sicherheitsgurt und stand auf, als sich die Kanzel zu öffnen begann, wandte sich aber noch einmal an den Piloten, ehe sie die Maschine verließ. »Starte noch nicht«, sagte sie.
Der Mann sah sie fragend an, und Kara fügte mit einer Geste auf die Drachen am Himmel hinzu: »Laß mich erst mit ihnen reden. Ehe sie etwas tun, das dir nicht gefallen würde.«
Mit einer raschen Bewegung schwang sie sich aus der Maschine, entfernte sich geduckt einige Schritte weit und richtete sich dann wieder auf. Der heulende Wind der Rotoren blies ihr das Haar ins Gesicht und riß ihr die Worte von den Lippen. Aber die Krieger registrierten ihre beruhigenden Gesten und blieben stehen.
Kara wies auf die Drachen. »Sie sollen sich zurückziehen!« schrie sie. »Der Pilot hat Freies Geleit!«
Sie bezweifelte, daß auch nur einer der Männer ihre Worte verstand. Das Heulen der Maschine hinter ihr wurde lauter, als der Pilot die Kanzel wieder schloß und seine Motoren schneller laufen ließ, um wieder abzuheben. Kara warf einen raschen Blick über die Schulter zu ihm zurück, dann entfernte sie sich noch einmal einige Schritte von der Libelle und signalisierte den Reitern über dem Hof ihren Befehl in der Zeichensprache. Sie mußten ihn verstehen, aber für Momente war sie nicht sicher, ob sie ihn auch befolgten. Die Drachen kreisten weiter über der Festung, und Kara konnte die Gereiztheit der Tiere beobachten. Vielleicht war dies der Moment, in dem ihre ohnehin nicht besonders gefestigte Autorität endgültig versagte, dachte sie. Aber plötzlich schoß der erste Drache mit einem gewaltigen Flügelschlag in die Höhe. Eines nach dem anderen glitten die Tiere davon und begannen, über dem Schlund zu kreisen.
Kara atmete erst auf, als sich die Libelle heulend und bebend wieder in die Luft erhob und den schimmernden Kopf nach Norden drehte. Kara sah ihr nach, bis sie zu einem silbernen Funkeln am Himmel geworden war.
Das erste, was sie gewahrte, als sie sich herumdrehte, war Hrohns breites Schildkrötengesicht, und so schwer es auch für gewöhnlich war, irgendeine Regung auf den Zügen des Waga zu erkennen, konnte sie jedoch eine unendlich tiefe Erleichterung ausmachen. Sie lächelte Hrhon flüchtig zu, strich sich mit der Linken das Haar aus dem Gesicht und machte mit der anderen Hand eine abwehrende Geste, als ein Dutzend Fragen gleichzeitig auf sie niederprasselten.
»Später!« sagte sie laut. »Ihr werdet alles erfahren – aber jetzt muß ich zuerst mit Aires sprechen.« Sie gab Hrhon ein Zeichen, ihr den Weg freizumachen.
Als sie die Treppe zum Haupthaus hinaufging, kam ihr Cord entgegen. Kara hatte erwartet, auch Donay in seiner Begleitung anzutreffen, aber statt dessen erkannte sie Elder. »Das... das war eine PACK-Maschine!« sagte er in einer Mischung aus Zorn und Fassungslosigkeit. »Wieso läßt du sie gehen? Wir hätten unersetzliche Informationen von dem Pi...«
»Weil ich ihm Freies Geleit zugesagt habe«, unterbrach ihn Kara grob. »Und hier bei uns ist es üblich, sein Wort zu halten.«
Sie ging an ihm und Cord vorbei und steuerte die Treppe im Hintergrund der ausgebrannten Halle an.
»Wieso bist du überhaupt hier? Ich hatte angenommen, daß du dich in einem tiefen Loch versteckst und wartest, bis sie wieder fort sind.«
Elder versuchte, sie mit Blicken aufzuspießen, aber Kara schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und bedeutete ihm, vorauszugehen. Elder zögerte, humpelte dann aber hastig los, als Hrhon Anstalten machte, Karas Befehl handgreiflich Nachdruck zu verleihen.
»Wo ist Donay?« fragte sie, während sie alle vier die Treppe hinaufgingen.
Cord wollte antworten, aber Elder kam ihm zuvor. »In seinem Labor. Er war ganz aus dem Häuschen und konnte gar nicht schnell genug damit anfangen, den Müll zu untersuchen, den ihr gefunden habt.« Er bedachte Kara mit einem langen, vorwurfsvollen Blick. »Du hast mich belogen, Kara. Dieser Hund hat sich nicht losgerissen. Es war auch kein Bluthund.«
Sie sah Cord an. »Du hast es ihm gesagt?«
»Das war nicht nötig«, grollte Elder. »Ich bin nicht so dämlich wie er.« Er machte eine Kopfbewegung auf Cord. »Ich kann durchaus zwei und zwei zusammenzählen. Dieser Hund hat meine Spur aufgenommen. Aber mußte er mich dazu ins Bein beißen?«
»Sie brauchen Blut, um ältere Spuren zu finden«, sagte Kara ruhig. »Hätte ich gewußt, was wir finden, Elder, dann hätte ich dafür gesorgt, daß er ein Stück höher zubeißt.«
»Du hättest mich fragen können«, sagte Elder.
»Ja. Und ich wette, du hättest auch geantwortet«, sagte sie. »Ich bin nur nicht sicher, was.« Sie blieb stehen, wandte sich ganz zu ihm um und sah ihn durchdringend an. »Hast du Liss und die beiden anderen getötet? Sag die Wahrheit, Elder. Es spielt sowieso keine Rolle mehr.«
»Warum fragst du dann?«
»Weil ich es wissen will«, antwortete Kara. »Ich will einfach wissen, ob ich mit dem Mörder meiner Freunde geschlafen habe oder nicht.«
»Nein«, sagte Elder ernst. »Ich habe sie nicht getötet. Aber ich habe gesehen, wie sie es getan haben. Ich konnte es nicht verhindern.«
»Warum?« fragte Kara leise.
Elder zuckte mit den Schultern. »Du weißt, wie wenig ihnen ein Menschenleben gilt. Vielleicht hatten sie Angst, daß sie dort unten irgend etwas finden, was ihr gegen sie verwenden könntet. Immerhin besaßen eure Vorfahren Nuklearwaffen.«
»Selbst wenn es sie dort unten gäbe, würden wir sie niemals einsetzen«, sagte Kara ernst.
»Ich weiß«, antwortete Elder im gleichen, fast feierlichen Tonfall. »Aber sie wissen das nicht. Für PACK ist der Einsatz von Atomwaffen nur eine Frage der Taktik.«
»Und du?« fragte Kara. »Was hast du dort unten gesucht?«
»Dasselbe wie ihr. Allerdings war ich nicht halb so erfolgreich. Wie um alles in der Welt habt ihr diese Tür aufbekommen?«
»Woher weißt du, daß es eine Tür war?« fragte Kara. Sie hielt Elder genau im Auge, aber wenn ihn ihre Frage überraschen sollte, so ließ er sich von dieser Überraschung nichts anmerken. »Donay hat es mir erzählt«, sagte er.
Kara seufzte. »Ich finde, er redet zuviel.«
Sie gingen weiter, und Kara legte für den Rest des Weges absichtlich ein so scharfes Tempo vor, daß Elder, der durch sein verletztes Bein immer noch behindert war, all seine Energie aufbieten mußte, um mit ihnen Schritt zu halten.
Aires stand am Fenster ihrer Turmkammer und sah auf den Hof hinab, als sie eintraten. Sie wirkte sehr alt und auf eine Weise müde, die nichts mit körperlicher Erschöpfung zu tun hatte. Sie konnte nicht überhört haben, daß Kara und die anderen das Zimmer betreten hatten, aber es verging noch fast eine Minute, ehe sie sich endlich vom Fenster abwandte und sie ansah. Der Blick, mit dem sie Kara maß, war vorwurfsvoll. Aires wußte, was geschehen war, und sie hieß es nicht gut. Sie wäre nicht mit Thorns Männern gegangen, sondern hätte sie und ihre Maschinen vernichtet, ganz gleich, was danach geschah. Und sie hatte recht damit, dachte Kara. Man konnte nicht mit dem Teufel verhandeln, auch wenn er eine blaue Uniform trug und in einem Raumschiff von den Sternen kam.
Schließlich deutete Aires mit einer müden Geste auf den Tisch und ließ sich als erste auf einen der Stühle sinken. »Du warst also bei ihnen«, begann sie. »Du hast mit ihnen verhandelt.«
Kara zögerte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Nicht verhandelt, Aires. Ich habe mir angehört, was Thorn zu sagen – «
»Thorn?« unterbrach sie Elder.
Kara sah ihn an. »Ihr Anführer. Du kennst ihn?«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Elder ausweichend.
»Er von dir anscheinend auch.«
Elder überging ihre Worte geflissentlich. »Er ist ein gefährlicher Mann«, sagte er. »Was immer er dir vorgeschlagen hat, du solltest dir fünfmal überlegen, ob du es akzeptierst.«
Kara lachte bitter. »Ich brauchte mir nichts zu überlegen, weil er mir keinerlei Vorschläge gemacht hat«, sagte sie. »Er hat mit Gendik verhandelt – genauer gesagt, er hat Gendik seine Bedingungen diktiert.« Sie erzählte mit knappen Worten, was sie an Bord der Drohne gesehen und gehört hatte. Obwohl sie sich Mühe gab, möglichst sachlich zu bleiben, konnte sie nicht verhindern, daß ihre Stimme am Schluß vor Zorn bebte, und auch der Ausdruck auf Cords und Elders Gesichtern wurde immer düsterer. Nur Aires hörte scheinbar völlig unberührt zu, und sie schwieg noch eine ganze Weile, nachdem Kara ihren Bericht beendet hatte. »Also hat er uns an sie verkauft«, murmelte die Magierin schließlich.
»Ich fürchte«, sagte Kara. »Aber er hatte keine andere Wahl. Die Existenz seiner Stadt stand auf dem Spiel.«
Voller plötzlichem Zorn sah Aires sie an. »Und du glaubst, er würde sie retten, indem er sie diesem Fremden schenkt? Wer ist dieser Gendik, daß er glaubt, über das Schicksal unserer ganzen Welt entscheiden zu können?«
»Schelfheim ist nicht die einzige Stadt auf der Welt«, mischte sich Cord ein; er wurde aber sofort von Aires unterbrochen. »Aber die größte!« sagte sie scharf. »Und die mächtigste. Die anderen Länder und Grafschaften werden sich dem anschließen, was Schelfheim tut. Das war schon immer so, und das wird auch diesmal so sein!«
»Die anderen Städte vielleicht«, sagte Cord. »Aber wir nicht! Gendik hat keine Befehlsgewalt über den Hort!«
Aires lachte hart. »Wovon sprichst du, Cord?« Sie machte eine abgehackte Geste zum Fenster. »Von dieser verbrannten Ruine dort draußen? Von den kaum zweihundert Kriegern, die noch in der Lage sind, auf ihren eigenen Füßen zu stehen – und die erlebt haben, wie hilflos sie gegen diese Männer sind? Wir sind geschlagen, Cord, sieh das endlich ein! Sie haben uns den Todesstoß versetzt, noch ehe der Kampf überhaupt begonnen hat!«
Kara war ein wenig verwirrt. Diese Worte paßten so wenig zu der Aires, die sie kannte, daß sie sich unwillkürlich fragte, was während der wenigen Stunden ihrer Abwesenheit vorgefallen sein mochte.
»Es wäre ohnehin sinnlos, gegen sie kämpfen zu wollen«, sagte Elder nach einer Weile. »Du hast ihr Schiff gesehen, Kara. Nach deiner Beschreibung vermute ich, daß es sich um einen Helikopterträger der Zerstörer-Klasse handelt. Wenn ja, dann hat er allein an die vierhundert Maschinen an Bord. Zwei von ihnen gegen jeden eurer Drachen.«
»Auf jeden Fall ist es kein kleines Boot, wie du behauptet hast«, sagte Kara scharf. »Das Ding war so groß wie die Stadt, in der ich geboren wurde.«
»Trotzdem ist es ein Beiboot«, antwortet Elder. Er winkte ab, als Kara etwas sagen wollte. »Aber das spielt keine Rolle. In einem hatte Thorn jedenfalls recht, und ich bin froh, daß du das endlich einsiehst. Es wäre Selbstmord, gegen sie kämpfen zu wollen. Wir werden das in die Hand nehmen. In spätestens neun Tagen sind die Schiffe meiner Company hier, und dann schaffen wir euch diesen Thorn vom Hals.«
»Und du glaubst, es macht einen Unterschied, ob wir von seinen oder deinen Leuten beherrscht werden?« fragte Aires bitter. Elder sah einen Moment lang betroffen aus. »Ich dachte, ihr hättet verstanden, was ich euch gesagt habe«, sagte er. »Uns liegt nichts daran, euch eure Welt wegzunehmen. Dieser Planet stellt einen enormen Wert dar, aber PACK in die Knie zu zwingen, bedeutet für uns ungleich mehr.«
»Im Moment, ja«, sagte Kara. »Vielleicht auch noch in hundert Jahren oder auch in fünfhundert.« Sie hatte nicht vergessen, was Elder selbst über das Verständnis von Zeit gesagt hatte, das seinem Volk zu eigen war. »Aber was wird in tausend Jahren sein? Oder in zweitausend? Irgendwann wird eure Dankbarkeit abnehmen, Elder. Oder jemand in deiner Company wird eine spitze Feder nehmen und ausrechnen, was eure Hilfsaktion gekostet hat und uns die Rechnung präsentieren.«
»Allmählich frage ich mich, ob sie nicht vielleicht recht haben«, murmelte Aires.
Kara sah sie verwirrt an. »Wer?«
»Elder«, murmelte Aires tonlos. »Gendik, Thorn... alle. Wer sind wir, Kara?«
»Ich... verstehe nicht, was du meinst«, sagte Kara. »Wir sind Krieger. Die Hüter dieser Welt.«
»Wir sind nichts«, antwortete Aires bitter. »Wir sind zweihundert Narren, die glauben, sich gegen das Schicksal stellen zu können. Die Hüter der Welt? Lächerlich! Das, was wir die Welt nennen, ist nichts als ein winziger Streifen halbwegs fruchtbarer Erde, die rein zufällig nicht verbrannt wurde. Fünfundneunzig Prozent dieses Planeten bestehen aus radioaktiven Wüsten, in denen nie wieder etwas leben wird.« Sie deutete auf Elder. »Sie könnten aus dieser Hölle wieder bewohnbares Land machen.«
Elder nickte stumm. Er sah sehr überrascht aus.
»Ich frage mich, ob wir das Recht haben, ›nein‹ zu sagen«, murmelte Aires.
»Wie bitte?« ächzte Kara fassungslos.
»Haben wir es?« fragte Aires. »Haben wir das Recht, dieser ganzen Welt eine bessere Zukunft zu verweigern, nur weil wir weiter so leben wollen, wie wir es immer getan haben? Diese Welt könnte wieder werden, was sie einmal war: ein Paradies.«
»Das nicht mehr uns gehören würde«, sagte Kara erregt.
»Ziehst du eine Hölle, die dir gehört, einem Paradies vor, in dem man dich nur leben läßt?«
»Wenn ich nicht weiß, wie lange man mich darin leben läßt, ja!« antwortete Kara. Sie machte eine zornige Handbewegung. »Was ist los mit dir, Aires? Seit wann gehörst du zu denen, die aufgeben? Mein Gott, vor einer Woche wußtest du noch nicht einmal, was dieses Wort bedeutet«
»Vor einer Woche wußte ich so manches noch nicht«, flüsterte Aires. Sie seufzte schwer. »Ich bin müde. Bitte, laßt mich jetzt allein. Wir werden später weiterreden.«
Kara blickte sie fassungslos über den Tisch hinweg an. Ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis, aber sie vermochte nicht zu erahnen, was plötzlich in Aires gefahren war. Was war während ihrer Abwesenheit hier geschehen?
Gendik und Elder standen auf und gingen, und nach einigen Augenblicken erhob sich auch Kara. Aber sie begleitete die beiden nur bis zur Tür, dann blieb sie wieder stehen und drehte sich zu Aires zurück. Die alte Magierin saß niedergeschlagen da; ihre Finger zogen noch immer die Holzmaserung der Tischplatte nach, ohne daß sie die Bewegung selbst zu registrieren schien.
»Geht schon mal vor«, sagte sie leise. »Ich komme nach, sobald ich kann. Ich muß herausfinden, was mit ihr los ist.«
Sie wartete, bis Cord die Tür hinter sich zugezogen hatte, dann ging sie zum Tisch zurück. »Also?« fragte sie. »Was ist los! Wir sind allein. Du kannst ganz offen reden. Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?«
Eine oder zwei Sekunden lang saß Aires noch reglos da, aber dann hob sie den Kopf, und als Kara in ihr Gesicht blickte, war darin keine Spur mehr von Resignation oder Niedergeschlagenheit, aber dafür ein solcher Zorn, daß Kara erschrak.
»War ich so schlecht?« fragte sie. »Ich hielt mich für eine ganz passable Schauspielerin.«
Jetzt verstand Kara überhaupt nichts mehr. »W... wie?« stotterte sie, »Du... du meinst, du hast uns das alles nur... nur vorgespielt?«
»Nicht dir«, antwortete Aires. Sie stand auf. Auch ihren Bewegungen war keine Müdigkeit oder Erschöpfung anzumerken. Mit raschen Schritten ging sie zur Tür, öffnete sie und warf einen Blick auf den Gang hinaus, ehe sie sie wieder ins Schloß drückte. »Elder.«
»Elder? Aber – «
Aires klatschte in die Hände, und die zweite Tür am anderen Ende des Zimmers öffnete sich, und Donay trat heraus.
»Donay!« sagte Kara überrascht. »Was tust du denn hier? Wieso hast du dich versteckt, und...« Sie brach verwirrt ab, tauschte einen Blick mit Aires.
»Elder?« murmelte Kara verwirrt. »Was ist mit ihm? Was hat er getan?«
»Getan?« Donay zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich habe die Koffer geöffnet, die wir gefunden haben. Der Inhalt war eine ziemliche Enttäuschung. Der eine enthielt nur eine Handvoll Staub und Rost, und in dem anderen war nur Plunder. Die schmutzigen Sachen, von denen du gesprochen hast. Nichts, was von irgendeinem Wert gewesen wäre – bis auf eines.« Er griff unter seine Jacke und zog einen kaum fingernagelgroßen Gegenstand hervor, den er Kara reichte.
Neugierig drehte sie ihn in den Fingern. Es schien sich um eine Art Brosche oder Anstecknadel zu handeln, die die Form eines fünfzackigen, weißen Sternes hatte, in dessen Zentrum sich zwei ineinandergeschlungene »C«s von blutroter Farbe befanden. Kara betrachtete sie nachdenklich, fuhr mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche und drückte die kleine Feder des Nadelmechanismus hinunter. Sie bewegte sich fast ohne Widerstand. Es war schwer vorstellbar, daß diese Brosche seit Jahrtausenden in einem Koffer gelegen haben sollte. »War das in dem Koffer?« fragte sie zweifelnd.
»Nein«, antwortete Donay. »Aber das hier war an eine verrottete Jacke geheftet, die zu Staub zerfiel, als ich sie herausnehmen wollte.« Er reichte Kara eine zweite Brosche, die der ersten vermutlich einmal bis aufs Haar geglichen hatte. Jetzt war die Emaillierung zum größten Teil abgeplatzt, der Rest gesprungen und zu einem schmuddeligen Grau verblaßt. Ihre Feder bewegte sich nicht mehr, sondern zerbrach, als Kara versehentlich zu fest darauf drückte. »Das da«, fuhr Donay mit einer Geste auf die erste, neuere Brosche in ihrer linken Hand fort, »war an der Jacke deines Freundes Elder, als du ihn hergebracht hast.«