35

Irgendwann war Kara doch eingeschlafen, und sie erwachte durch ein heftiges Wortgefecht, das in ihren Schlaf drang. Die eine Stimme gehörte Hrhon, die andere erkannte sie nicht auf Anhieb. Sie öffnete die Augen, und im gleichen Moment wußte sie, daß es Aires war. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und stieß dabei Elder fast von der Liege. Aires! Ausgerechnet Aires! Elder erwachte so übergangslos wie gestern abend und sah sie erschrocken an. »Was ist los?«

»Aires«, antwortete Kara knapp, während sie über ihn hinwegzusteigen versuchte und schon in der gleichen Bewegung nach ihren Kleidern griff. Sie sah hastig zum Fenster. Es war noch dunkel und die Nacht noch lange nicht vorüber. Was zum Teufel wollte Aires?

»Sagtest du nicht, niemand kommt an Hrhon vorbei?« fragte Elder, der sich ebenfalls anzuziehen begann.

»Das gilt nicht für Aires«, antwortete Kara.

Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und die Magierin stürmte herein. Sie blieb verblüfft stehen, als sie Kara und Elder auf der Bettkante erblickte. Dann erschien eine steile Falte zwischen ihren Augen. »Oh«, sagte sie. »Das ging ja ziemlich schnell.«

»Eigentlich nicht«, antwortete Kara. »Du bist zu früh gekommen. Es fing gerade erst an, interessant zu werden.« Ihr Tonfall war dumm und töricht, aber da sie diesen Ton nun einmal angeschlagen hatte, fuhr sie sogar noch grober fort: »Was willst du?«

»Ich habe dich gesucht«, antwortete Aires. »Der Posten, der eigentlich draußen vor der Tür stehen sollte, sagte mir, daß du ihn fortgeschickt hast. Sakara hat nach mir verlangt. Sie hat Nachricht aus Schelfheim. Irgend etwas geht dort vor. Etwas Schlimmes, fürchte ich.«

»Schelfheim?« Kara sprang mit einem Satz auf die Füße. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, sich vollkommen anzuziehen, sondern folgte Aires barfuß und ohne ihren Mantel, als sich die Magierin herumdrehte und aus dem Zimmer stürmte. Auch Elder schloß sich ihnen an. Sehr schnell gingen sie den Gang wieder zurück und die Treppe hinauf zu der Turmkammer, in der sich die Gemächer der Seherin befanden.

Die Tür zu Sakaras Zimmer stand weit offen. Mehr als ein Dutzend Kerzen und zwei schmiedeeiserne Pfannen voller glühender Kohlen tauchten den Raum in ein warmes Licht, sorgten zugleich aber auch dafür, daß die Luft recht stickig war. Wie viele Bewohner des Hortes mochte Sakara den kalten grünen Schein der Leuchtstäbe nicht.

Die Seherin war nicht allein. Cord und Storm waren bei ihr, außerdem ein sehr junges, dunkelhaariges Mädchen, das Kara zum ersten Mal sah. Vielleicht eine neue Schülerin, die Sakara zu Diensten war. In ihren Augen erschien eine Mischung aus Ehrfurcht und Staunen, als sie hintereinander Aires, Kara und den Waga durch die Tür stürmen sah.

»Was ist los?« fragte Aires knapp.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Cord besorgt. »Sie hat nach dir verlangt. Ich habe nur ein paarmal das Wort Schelfheim verstanden.«

Aires eilte um den Tisch herum und beugte sich besorgt über Sakara, und auch Kara blickte die Seherin aufmerksam an. Sakaras Gesicht hatte jenen matten Ausdruck angenommen, der ihr sagte, daß sie schon fast in Trance versunken war, um Kontakt mit ihrer Partnerin in Schelfheim aufzunehmen. Ihre Augen standen weit offen. Sie blinzelte nicht einmal.

Aires berührte sie sanft an der Schulter und flüsterte ihren Namen. Sakara reagierte nicht, aber Aires schien einen Moment mit geschlossenen Augen in sie hineinzulauschen. »Sie kommt nicht durch«, murmelte sie. »Irgend etwas... stimmt nicht. Angst. Ich spüre Angst. Und großen Schmerz.«

»Bei ihr?« fragte Kara.

»Nein. Auf der anderen Seite. Wir müssen ihr helfen.« Sie hob die Hand und deutete auf das Mädchen, das neben dem Tisch stand und abwechselnd sie und Sakara aus schreckgeweiteten Augen ansah. »Du. Geh hinaus. Und schließ die Tür hinter dir.«

Das Mädchen entfernte sich, und Aires streckte fordernd die Hand aus. Nach kurzem Zögern legte Kara ihre Hand in die der Magierin. Aires’ Griff war so fest, daß es weh tat, aber Kara wagte es nicht, die Hand zurückzuziehen. Sie unterdrückte tapfer jeden Schmerzlaut, während Aires die andere Hand ausstreckte, sie auf Sakaras Schulter legte und die Augen schloß.

Kara wartete darauf, daß irgend etwas geschah, aber sie wurde enttäuscht. Sie fühlte nichts außer dem pochenden Schmerz, den ihr Aires’ harter Händedruck zufügte. Und trotzdem tat die Magierin etwas. Auf eine geheimnisvolle Weise schien sie Kara Kraft zu entziehen und sie mit ihrer eigenen zu verbinden, um sie der Seherin zu spenden.

Minuten vergingen, dann begannen Sakaras Lippen plötzlich zu zittern. Ihre Augenlider flatterten, fielen zu, und ein Ausdruck unheimlicher Qualen vertrieb die Schlaffheit ihrer Züge. Unartikulierte Laute drangen über ihre Lippen.

Kara schaute Elder an. Er wirkte verwirrt, aber sie sah auch eine Angst in seinen Augen, die sie im ersten Moment nicht verstand, bis sie sich daran erinnerte, mit welch instinktiver Furcht und Abneigung umgekehrt sie der Anblick seiner Welt erfüllt hatte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Kara signalisierte ihm mit einem erschrockenen Blick, still zu sein. Elder verstand und schwieg.

Aus Sakaras gestammelten Lauten wurde ein Stöhnen. Sie begann zu wimmern, zitterte immer stärker und sank langsam nach vorn. »Feuer«, murmelte sie. »Ich sehe... Feuer. So viele Flammen.«

»Schelfheim?« fragte Aires. »Ist es Schelfheim, das brennt?«

»Flammen«, keuchte Sakara. »Die Hitze und der Rauch. Die ganze Stadt... sie brennt.« Sie hustete gequält, als spüre sie tatsächlich den beißenden Qualm, der ihre Partnerin in der Küstenstadt quälte. Kara wußte, daß Seher mehr austauschten als Bilder.

»Was siehst du, Sakara?« fragte Aires. »Was geschieht in Schelfheim? Werden sie angegriffen?«

»Flammen«, sagte Sakara noch einmal. »Überall ist Feuer, auch am Himmel. Es sind so viele. Sie brennen alles nieder... Die... die Garde versucht sie aufzuhalten, aber sie können nichts dagegen tun. Die... die Flieger fallen wie Motten vom Himmel. Grünes Feuer.«

»Das sind sie«, murmelte Elder.

Aires’ Kopf hob sich mit einem Ruck. Zornig starrte sie Elder an, sagte aber nichts, sondern wandte sich wieder an Sakara. »Wer sind sie?« fragte sie mit leiser, aber fast beschwörender Stimme. »Kannst du sie erkennen? Sind es Maschinen, die wie große Libellen aussehen?«

»Hunderte«, murmelte Sakara. Sie zitterte so heftig, daß es Aires schwerfiel, die Hand weiter auf ihrer Schulter ruhen zu lassen. »Es müssen Hunderte sein. Sie töten jeden, den sie sehen. Die Stadt brennt. Soviel Feuer. Es kommt näher. Die Hitze... ich... kann nicht...«

Aires zog ihre Hand zurück, ergriff Sakara eine halbe Sekunde später mit nunmehr beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie so heftig, daß ihr Kopf hin- und herrollte. »Sakara!« rief sie beschwörend. »Wach auf! Du mußt abbrechen, verstehst du? Sie wird sterben – und du mit ihr!«

Die Seherin versuchte stöhnend, Aires’ Hände zur Seite zu schieben, wachte aber nicht auf. Ihre Lippen formten weiter sinnlose, stammelnde Laute.

Aires ohrfeigte sie.

Sakara hob mit einem Ruck die Lider. Ihr Blick war immer noch verschleiert, aber er klärte sich rasch. Sie hörte auf zu stammeln. Dafür erschien ein Ausdruck tiefer Verwirrung auf ihren Zügen. Wie immer erinnerte sie selbst sich nicht an das, was sie gesagt hatte. »Alles in Ordnung?« fragte Aires besorgt. »Was... ist geschehen?« murmelte Sakara. Verstört hob sie die Hand an die linke Wange. Sie erinnerte sich auch nicht an die Ohrfeige, die Aires ihr verpaßt hatte. »Du hast mich geschlagen! Warum?«

»Ich hatte keine Wahl«, antwortete Aires. »Ich fürchte, deine Partnerin in Schelfheim ist tot. Oder zumindest in großer Gefahr.«

»In Gefahr?« Sakara schüttelte hilflos den Kopf. »Ja, da... war etwas. Etwas geschieht in Schelfheim.«

»Sie greifen die Stadt an«, sagte Aires grimmig. Ihre Augen blitzten vor Zorn, als sie sich zu Elder umdrehte. »Behauptest du immer noch, daß sie uns nicht bekämpfen, Elder?«

»Ich fürchte, das ist nur die Quittung für die beiden Maschinen, die ihr über dem Schlund abgeschossen habt«, antwortete Elder.

»Was?« fragte Storm ungläubig.

»So sind sie nun einmal«, sagte Elder. »Das ist genau ihre Art zu sagen: Laßt uns in Ruhe!«

»Du willst mir erzählen, daß sie eine ganze Stadt niederbrennen, weil wir zwei von ihnen getötet haben?« vergewisserte sich Kara.

»Ja«, antwortete Elder. »Ich gebe zu, eine recht harte Methode – aber sie wirkt.«

»Dann werden sie sich das nächste Mal eine größere Stadt aussuchen müssen«, sagte Kara, »denn wir werden noch viel mehr von ihnen töten.« Sie fuhr herum und wandte sich an Storm. »Gib Alarm! Laß die dreißig stärksten und schnellsten Drachen satteln! Wir fliegen nach Schelfheim!«

Storm verschwand so rasch, daß klar wurde, daß er nur auf diesen Befehl gewartet hatte, und Elder stieß einen erschrockenen Ruf aus. »Bist du verrückt geworden? Sie werden euch umbringenl«

»Vielleicht«, antwortete Kara. »Aber vielleicht auch nicht. Wir haben sie schon einmal geschlagen!«

»Selbst wenn ihr es schafft, wird die Hälfte von euch dabei draufgehen«, brüllte Elder aufgebracht.

»Wofür hältst du uns, Elder«, schnappte Kara. »Wir sind Krieger, und wir haben keine Angst, in einem Kampf zu fallen!«

»Ich beschwöre dich, Kara!« Elder versuchte, sie am Arm zurückzuhalten, aber Kara schlug seine Hand beiseite. »Selbst wenn es euch gelingt, sie zu besiegen, dann macht ihr damit alles nur noch schlimmer! Begreifst du denn nicht, daß das nur eine Warnung war? Sie hätten ebensogut eine fünfzig-Megatonnen-Bombe auf diese Stadt werfen können, und das nächste Mal werden sie es vielleicht tun?«

»Dann sollen sie es!« erwiderte Kara zornig. »Aber vorher erledige ich noch so viele von ihnen, wie ich kann.« Sie lief zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich an den Waga. »Hrhon, du bleibst hier. Gib darauf acht, daß Elder wie ein königlicher Gast behandelt wird. Und daß er noch hier ist, wenn ich zurückkomme!«

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