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Schelfheim zu beschreiben war eine mehr als schwierige Aufgabe. Wie soll man eine Stadt beschreiben, die ihr Aussehen alle zehn Jahre so gründlich veränderte, daß selbst ihre Bewohner nach längerer Abwesenheit Schwierigkeiten hatten, sich wieder zurechtzufinden? Abgesehen davon, daß ein großer Teil der Stadt in fast regelmäßigen Abständen niederbrannte, versank der Rest allmählich im Boden, so daß es mit einer Ausnahme nicht ein Gebäude in Schelfheim gab, dessen Höhe nennenswert mehr als zehn Meter betrug. In regelmäßigen Abständen räumten die Bewohner der Stadt die unteren Stockwerke ihrer Häuser und fügten oben ein neues an, was zu dem reichlich absurden Effekt führte, daß mehr als neun Zehntel der Stadt mittlerweile unter der Erde lagen.

Die Stadt war groß, unvorstellbar groß. Kara hatte Bilder von Schelfheim gesehen und viel von der größten und erstaunlichsten Stadt der Welt gehört. Aber weder Bilder noch Worte hatten sie auch nur im entferntesten auf das vorbereiten können, was Schelfheim wirklich war: ein Moloch.

Das Meer aus Stein breitete sich unter ihr aus, soweit ihr Blick reichte. Angella hatte ihr erzählt, daß an die zwei Millionen Menschen... nun ja: Geschöpfe in dieser Stadt lebten, und sie hatte diese Zahl hingenommen, ohne sie wirklich zu verstehen.

Jetzt begann sie zumindest zu ahnen, was sie bedeutete. »Beeindruckend, nicht?« fragte Angella.

Sie hatten einen Steinwurf vor der Brücke haltgemacht, um sich und ihren Pferden eine letzte Rast vor dem Ritt hinunter in die Stadt zu gönnen und um den beeindruckenden Anblick der Stadt zu genießen. Beeindruckend? Nun ja – die Stadt machte Eindruck auf Kara. Sie war nur nicht sicher, ob es die Art Eindruck war, die Angella beabsichtigt hatte.

Sie zuckte mit den Schultern und führte ihr Pferd näher zu Angella. Die Verständigung gestaltete sich in diesem unwegsamen Gelände recht schwierig. An den steil aufragenden Klippen brach sich ein heulender Sturmwind, dessen Getöse niemals nachließ. Darüber hinaus aber suchte Kara auch Angellas Nähe, weil sie sich angesichts dieser ungeheuerlichen Stadt dort unten klein und verloren und unsagbar hilflos vorkam. Ihre Hände zitterten, und sie ergriff die Zügel fester als nötig, um es zu verbergen.

Angella wartete einige Augenblicke lang vergeblich auf eine Antwort, dann warf sie Kara einen raschen, amüsierten Blick zu, zuckte mit den Schultern und ritt weiter. Hinter ihr und Kara setzte sich auch der Rest des Trupps wieder in Bewegung. Hrhon nicht mitgerechnet, der breitbeinig auf einem für einen Waga viel zu kleinen Pferd hockte, zählten sie zweiundzwanzig, und elf von ihnen waren ausgebildete Drachenkämpfer in voller Rüstung. Zu Karas Bedauern hatte Angella ihnen befohlen, ihre Waffen zu verbergen und sich in weite Umhänge zu hüllen, die nicht nur für die Jahreszeit viel zu warm waren, sondern sie auch wie eine bunt zusammengewürfelte Wandertruppe aussehen ließen. Kara hatte sich diesem Befehl nur widerwillig gefügt. Sie war stolz auf das, was sie war, und sie sah nicht ein, daß sie ihre Identität verbergen sollte. Sie ritten ein Stück auf die Brücke hinaus, ehe sie auf die erste Barriere stießen: eine mannshohe Wand aus eisenverstärkten Bohlen, die auf wuchtigen Rollen gelagert war, so daß man sie zur Seite schieben mußte, wenn man passieren wollte. Eine kleine Tür öffnete sich in der Barriere, und ein fettleibiger, in schmuddelige Lumpen gekleideter Mann trat zu ihnen heraus. Sein Gesicht war schmutzig, und er wirkte unausgeschlafen. In der rechten Hand trug er einen Packen kleiner gelber Blätter und einen Kohlestift. Gelangweilt betrachtete er die Gruppe und schien dann Angella als Führerin auszumachen, denn er schlurfte mit hängenden Schultern auf sie zu.

»Wie viele?« fragte er.

»Wie viele – was?« gab Angella zurück.

»Wie viele ihr seid.« Der Schmuddelige seufzte tief und gequält, hob den Kopf – und blinzelte überrascht, als er in Angellas Gesicht sah. Angella hatte, kurz bevor sie die Brücke erreichten, die goldene Halbmaske wieder aufgesetzt, so daß er von ihrem Gesicht nur die unversehrte linke Hälfte ihres Mundes erkennen konnte. »He!« sagte er. »Was ist das?«

Angella zuckte kaum merklich zusammen. Sie wurde zunehmend empfindlicher, was Anspielungen auf ihr zerstörtes Gesicht anging, je älter sie wurde. Kara hatte selbst gesehen, wie sie wegen einer harmlosen Bemerkung einem Mann den Arm gebrochen hatte.

»Wie du siehst, trage ich eine Maske – genau wie du«, entgegnete sie unfreundlich. »Nur kann ich meine mit einem Handgriff abnehmen, während du deine herunterwaschen müßtest.«

Die Augen in dem schmutzigen Gesicht des Mannes blitzten auf, aber bevor er antworten und sich damit vielleicht um Kopf und Kragen reden konnte, richtete sich Kara wie zufällig ein wenig im Sattel auf, so daß ihr Mantel ein Stück zur Seite glitt. Der Zorn in den Augen des Mannes verwandelte sich in Schrecken, als er den Schwertgriff in ihrem Gürtel bemerkte. Hastig senkte er den Blick.

»Also gut«, knurrte er. »Wie viele?«

»Dreiundzwanzig«, antwortete Angella.

Der Schmuddelige begann mit flinken Bewegungen der linken Hand eine Anzahl der gelben Zettel abzuzählen, während sein Blick über die berittenen Gestalten vor sich wanderte. Plötzlich stockte er.

»Heda!« sagte er. »Den kann ich nicht mitzählen!« Er deutete auf Hrhon.

»So?« antwortete Angella. »Was ist daran so schwierig?«

Der Mann bemerkte Angellas spöttischen Ton nicht einmal. »Das ist ein Waga!«

Angella drehte sich im Sattel herum und musterte Hrhon einen Moment lang. Dann sagte sie mit übertrieben gespielter Überraschung: »Tatsächlich! Man erlebt doch immer wieder Überraschungen, nicht wahr? Vielen Dank, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Aber trotzdem wirst du ihn mitzählen.«

Allmählich schien dem Kerl zu dämmern, daß Angella ihn verspottete, denn in seinen Augen blitzte es abermals zornig auf. »Er ist zu schwer«, sagte er wütend. »Der Kerl wiegt mindestens soviel wie drei Männer. Ich muß ihn dreifach berechnen.«

Angella seufzte. Aber der Wutanfall, auf den Kara wartete, blieb noch immer aus. »Seit wann berechnet ihr die Gebühren nach Gewicht?« fragte sie nur.

»Seit einer ganzen Weile«, antwortete der Mann. »Jedenfalls bei solchen wie dem da!«

»Dem da?« Angella seufzte tief. »Es hat sich wirklich eine Menge geändert, seit ich das letzte Mal in Schelfheim war.« Sie machte eine befehlende Handbewegung, als der Schmuddelige antworten wollte. »Schreib auf, so viele du willst. In gewisser Hinsicht hast du ja recht – er wiegt wirklich soviel wie drei normale Männer.«

»Kraft hat er sogar für vier«, sagte Kara. Der Schmuddelige erbleichte.

»Mindestens«, bestätigte Angella.

Der Schmuddelige wurde noch eine Spur blasser. »Vielleicht«, sagte er nervös, »kann ich es ja verrechnen. Ich sehe, ihr habt ein Kind, dabei.« Er deutete mit einer fahrigen Bewegung auf Kara und erntete einen giftigen Blick dafür. »Ich meine, das könnte das zusätzliche Gewicht ausgleichen, nicht wahr?«

»Gib schon die Zettel her«, erwiderte Angella ungeduldig. »Unsere Zeit ist knapp.«

Der Torwächter begann seine Zettel abzuzählen, aber er war so nervös, daß er sich mehrmals verzählte und dreimal von vorn beginnen mußte. Angella riß ihm die gelben Zettel aus der Hand und stopfte sie achtlos unter ihren Umhang. Mit einer sehr hastigen Bewegung fuhr der Mann herum und verschwand hinter seiner Barriere.

Kara blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Was war das für ein Kerl?« fragte sie verblüfft.

»Ein Idiot«, antwortete Angella gelassen.

»Ich meine, was... was wollte er?«

»Die Benutzung der Brücke ist nicht kostenlos. Man muß Gebühren entrichten, um in die Stadt zu kommen.« Sie betonte den nächsten Satz, als hielte sie das Ganze hier für einen schlechten Scherz. »Schelfheim ist eine arme Stadt, mußt du wissen.«

»Gebühren? Warum benutzen wir die Brücke dann?« Kara deutete auf die Klippe hinter sich. »Ich habe mindestens ein Dutzend Stellen gesehen, an denen man bequem hinunterklettern kann.«

»Ja«, bestätigte Angella trocken. »Nur müßten wir dabei unser Gepäck auf den Schultern tragen – und die Pferde auf den Rücken. Hrhon könnte es schaffen, denke ich. Und du auch.« Sie maß Kara mit einem amüsierten Blick. »Außerdem... wirst du bald herausfinden, daß Bequemlichkeit manchmal mehr wert ist als ein wenig Geld.«

Das Klirren einer schweren Kette erscholl, bevor Kara noch etwas antworten konnte. Plötzlich teilte sich die Palisade vor ihnen, und die linke Seite rollte ein Stück zurück, allerdings nur so weit, daß sie hintereinander durch die Lücke reiten konnten. Karas Ärger über diese Bosheit des Brückenwärters flammte kurz auf und erlosch dann schlagartig, als sie hinter Angella durch die Lücke ritt und sah, was vor ihnen lag.

Der Anblick war schlicht phantastisch.

Kara hatte die Brücke bisher nur von weitem gesehen, und da war sie ihr wie eine zwar große, aber durchaus gewöhnliche Brücke vorgekommen. Jetzt aber erkannte sie, daß es sich um alles andere, doch nicht um eine gewöhnliche Brücke handelte. Die Brücke war gewaltig; es mußte auch mehr als einen Zugang geben, denn der Weg, der sich vor ihnen ausbreitete, war mehr als hundert Schritt breit. Rechts und links des aus schweren Bohlen zusammengefügten Weges erhoben sich zwei-, manchmal dreistöckige Gebäude aus Holz und Metall. Die meisten Fenster waren leer und dunkel, aber Kara entdeckte, daß einige dieser Häuser bewohnt waren! Aus Kaminen kräuselte sich graubrauner Rauch, und hier und da gewahrte sie flackernden Feuerschein. Gestalten bewegten sich zwischen den Häusern und auf der Brücke, und ein großer, vierrädriger Karren rollte vorbei, gezogen von zwei gedrungenen, sechsbeinigen Hornköpfen. Kara straffte sich. Sie wußte, daß diese Geschöpfe so harmlos – und intelligent – wie ein Stück Holz waren, aber sie hatte die instinktive Furcht vor den chitingepanzerten Kolossen niemals ganz überwunden.

Kara riß sich vom Anblick des Karrens los und trieb ihr Pferd an, um wieder zu Angella aufzuschließen. Ihr Blick versuchte das jenseitige Ende der Brücke zu finden, aber es gelang ihr nicht.

»Bei allen geflügelten Drachen«, murmelte sie, »wie lang ist dieses Ding?«

»Oh, das weiß niemand so ganz genau«, antwortete Angella. »Sie bauen ständig weiter an der Brücke. Ich denke, sie wird schon einen großen Teil der Stadt überspannen, und sie wächst fast so schnell wie Schelfheim selbst.« Sie machte eine Handbewegung über die Stadt hinweg. »Früher einmal war es wirklich nur eine Brücke, die vom Kontinent hinunter auf den Schelf führte, damit...« Sie lächelte flüchtig. »...die Leute hier eben nicht ihre Pferde auf dem Rücken das Kliff hinuntertragen mußten. Aber mittlerweile ist sie zu einer Straße über der ganzen Stadt geworden. Es gibt Zugänge in fast jedes Viertel; was ganz praktisch ist in einer Stadt, in der die Straßen schneller im Boden versinken, als man sie bauen kann. Die Bewohner nennen sie den Hochweg. Allerdings«, fügte sie auf eine Art hinzu, aus der Kara neben Erstaunen auch noch eine leise Spur von Sorge herauszuhören glaubte, »ich bin selbst ein wenig überrascht, wie schnell die Brücke in den wenigen Jahren gewachsen ist, die ich nicht hier war.«

Karas Blick glitt mit nicht nachlassendem Staunen über die riesige Brückenkonstruktion. Wie fast alle größeren Ansiedlungen – einschließlich Angellas Drachenfeste – war die Stadt auf dem der eigentlichen Welt vorgelagerten Kontinentalschelf errichtet worden; vor zweihunderttausend Jahren, als die Überlebenden der letzten großen Katastrophe aus den Trümmern ihrer Zivilisation herauskrochen und nach einem Ort Ausschau hielten, an dem sie leben konnten. Die schmalen Gürtel zwischen den verbrannten Kontinenten und den gewaltigen Becken der verdampften Ozeane waren die einzigen Teile der Welt gewesen, auf denen Leben überhaupt noch möglich war. Mittlerweile bewohnten Menschen wieder große Teile der Kontinente; es hatte auch Versuche gegeben, Siedlungen in den Bereichen des Schlundes zu errichten, die nicht von Gäa beansprucht wurden. Schelfheim aber war geblieben wie die meisten Städte, weil Schelfheim eben Schelfheim war und nicht Bergheim oder Wüstentor oder Dschungelburg und weil es mit seinen zweihunderttausend Jahren die älteste und auch die größte Stadt war. Nur waren die Gründer der meisten anderen Städte nicht so dumm gewesen, ihre Häuser auf einem drei Meilen hohen Sandhaufen zu errichten, der langsam unter ihnen zerrann.

Verblüfft wandte Kara sich an Angella. »Wieso versinkt die Brücke nicht im Boden?« fragte sie. »Wie die Häuser! Sie ist viel schwerer! «

»Aber das tut sie«, antwortete Angella. »Unentwegt.«

Kara blickte sie an und wartete darauf, daß Angella weitersprach und ihre Worte erklärte. Aber Angella schwieg nur und ritt langsam auf der gigantischen Brücke weiter.

Das Treiben auf der Brücke wurde geschäftiger, je weiter sie vorankamen. Kara entdeckte die Wege, die in die einzelnen Stadtviertel führten: große, kühn geschwungene Bögen, über die sich ein Strom von Menschen und Fahrzeugen wälzte. Bald wurde der Verkehr so heftig wie auf einer belebten Straße am Markttag.

Einmal noch mußten sie innehalten, als sie an eine Schranke gerieten. Ein bewaffneter – und wesentlich sauberer – Wächter trat zu Angella und verlangte die gelben Zettel, die ihr der schmutzige Kerl oben am Kliff gegeben hatte.

Der Torwächter war nicht allein. Ein Stück abseits stand ein zweiter Bewaffneter, der Angella und ihre Begleiter mit undeutbarem Gesichtsausdruck musterte. Und ein Stück hinter ihm... ... waren sechs oder acht Hornköpfe postiert, genau ließ sich das nicht erkennen, weil sie sich im Schatten eines Gebäudes aufhielten. Sie waren bewaffnet, bis auf zwei, die das offenbar nicht nötig hatten, denn was ihnen die Natur an Panzern, Scheren und Stacheln mitgegeben hatte, reichte, um eine kleine Armee auszurüsten. Die größere der beiden Käfergestalten sah aus, als wäre sie in der Lage, Hrhon in Stücke zu reißen, ohne dabei mehr als die Hälfte ihrer Klauen und Scheren benutzen zu müssen.

Der Wächter hatte schließlich die Zettel durchgezählt.

Angella händigte ihm die geforderte Summe aus, über deren Höhe Kara ziemlich staunte, und dann durften sie passieren. Als sie durch die Sperre ritten, fiel Kara auf, daß nicht alle, die die Brücke verließen, bezahlen mußten. Vermutlich hatten die Einwohner Schelfheims keinen Wegezoll zu entrichten.

Und dann – endlich – waren sie in Schelfheim angekommen, und der Lärm und die Hektik der Stadt schlugen wie eine Woge über ihnen zusammen.

Kara kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Obwohl keines der Gebäude höher als zehn Meter war, wirkte alles hier irgendwie riesig, auf eine fast gewalttätige und zugleich faszinierende Art mächtig. Schelfheim war laut und schmutzig, die Luft roch schlecht, und auf den Straßen war es so eng, daß sie nur zu oft gar nicht mehr von der Stelle kamen. Aber all das registrierte Kara kaum, war sie doch ganz gebannt vom faszinierenden Anblick dieser Stadt. Und sie begriff plötzlich, warum Angella so nachhaltig darauf bestanden hatte, daß sie sie begleitete. Es gab einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Sie hatte die letzten zehn Jahre in der Sicherheit des Drachenhortes verbracht; das war die Theorie. Diese laute, hektische, stinkende, entsetzlich schöne Stadt, das war die Wirklichkeit. Angella hatte es ihr zigmal erklärt, aber verstanden hatte Kara das, was ihre Lehrerin damit meinte, nicht. Erst jetzt begriff sie.

»Wohin wollen wir?« fragte Kara. Sie mußte schreien, um sich überhaupt verständlich zu machen.

Angella verhielt ihr Pferd und sah sich unschlüssig um. Sie hob die Schultern. »Ich bin nicht ganz sicher«, gestand sie schließlich. »Als ich das letzte Mal hier war, sah es anders aus. Wir besuchen einen guten alten Freund«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Er wird dir gefallen.«

»Wenn du den Weg wiederfindest.«

»Wenn ich den Weg wiederfinde.«

Sie lachten beide, und plötzlich löste sich das Gedränge vor ihnen so weit auf, daß sie weiterreiten konnten. Sie verließen den Hauptweg und ritten über weniger belebte Nebenstraßen. Kara vermutete, daß es ein Umweg war, aber sie kamen wenigstens wieder voran.

Der Himmel über der Stadt begann bereits seine Farbe zu verlieren, als sie endlich ihr Ziel erreichten: ein weitläufiges, aber in sehr einfachem Stil gehaltenes Gebäude, an das sich ein großer, von zahlreichen Stallungen gesäumter Hinterhof anschloß. Durch ein festungsähnliches Tor ritten sie in den Hof hinein und übergaben die Zügel ihrer Pferde einigen Hornköpfen, die diensteifrig herbeigeeilt kamen.

Kara streckte sich. Sie hatten vier Tage fast pausenlos im Sattel gesessen. Ein Pferd zu reiten war wesentlich anstrengender als der Ritt auf einem Drachen. Mittlerweile glaubte Kara, jeden Muskel in ihrem Körper spüren zu können.

Am schlimmsten aber hatte es Hrhon erwischt. Er stieg nicht vom Rücken seines Tieres, er ließ sich einfach hinunterfallen und blieb einen Moment reglos liegen. Zwei oder drei Männer warfen ihm mitleidige Blicke zu, aber keiner rührte auch nur eine Hand, um ihm zu helfen. Es wäre allerdings auch ein sinnloses Unterfangen gewesen, einem vierhundert Pfund schweren Waga auf die Füße helfen zu wollen.

Trotzdem streckte Kara nach einem Augenblick des Zögerns hilfreich die Hand aus. Hrhon nahm sie und ließ sich von ihr in die Höhe helfen.

»Wie geht es dir?« fragte Kara, als Hrhon schwankend vor ihr stand. Wagas boten an sich keinen sehr eleganten Anblick, aber nach einem Fünftageritt wirkten sie einfach erbärmlich. »Ghut«, antwortete Hrhon. Er sah sie betreten an. Es waren die ersten Worte, die sie seit fünf Tagen miteinander wechselten. Kara hatte sich damit abgefunden, daß sie an Angellas Befehl nichts ändern konnte, aber in Hrhon hatte sie einen Sündenbock gefunden. Daß er nicht ihre, sondern Angellas Partei ergriffen hatte, nahm sie ihm mehr als übel.

»Das war... ein anstrengender Ritt, nicht wahr?« sagte sie, nur um etwas zu sagen. Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden; Entschuldigungen waren ihr stets schwer über die Lippen gegangen, und Hrhon tat nichts, ihr die Situation zu erleichtern. Er nickte lediglich, was bei einem Wesen, das keinen Hals hatte, recht komisch aussah.

In diesem Moment aber öffnete sich hinter ihr eine Tür, und als sie sich umdrehte, sah sie Angella mit einem Freudenschrei einen grauhaarigen Mann umarmen, ein Verhalten, das für ihre stets so beherrschte Lehrerin höchst ungewöhnlich war.

»Jan!« rief Angella. »Daß es dich noch gibt! Und du hast dich überhaupt nicht verändert! Du bist noch immer genauso häßlich wie das letzte Mal!« Sie drückte den gewiß nicht schwächlichen Mann so ungestüm an sich, daß ihm die Luft wegblieb und er alle Mühe hatte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien. »Ja?« Kara wandte den Kopf, und in diesem Moment stürmte Hrhon mit hochgerissenen Armen an ihr vorbei. Angella machte einen hastigen Schritt zur Seite, und auch Jan versuchte zurückzuweichen, aber er war nicht schnell genug: Der Waga prallte gegen ihn und schob den Mann unter lautem Gejohle und Getöse zurück ins Haus. Einen Moment später erschienen Hrhon und Jan wieder unter der Tür: beide grinsten wie die Honigkuchenpferde.

»Angella!« begann Jan schwer atmend. »Ich freue mich, daß du gekommen bist. Und du hast Hrhon und so viele Freunde mitgebracht. Wie ich sehe, macht sich deine Drachenbrut hervorragend!« Seine Augen drückten ehrliche Freude aus, während sein Blick über Angellas Begleiter glitt. Zuletzt musterte Jan das Mädchen Kara, das seinen freundlichen Blick erwiderte. »Kara?« fragte er. »Du hast dich verändert, Kind.«

Wenn er jetzt sagt, du bist ja eine junge Frau geworden, dachte Kara, dann springe ich ihm an die Kehle!

»Du bist ja eine richtige junge Frau geworden?« sagte Jan. Kara lächelte. »Kennen wir uns?«

»Ich war ein paarmal bei euch im Drachenhort«, antwortete Jan. »Aber daran erinnerst du dich nicht mehr. Du warst noch ein kleines Kind damals.« Er lachte, doch Kara tat ihm nicht den Gefallen, in dieses Lachen einzustimmen! Nein, sie erinnerte sich nicht. Natürlich wußte sie, wer Jan war – schließlich hatte Angella oft genug von ihm erzählt, aber das war ein ganz anderer Jan gewesen. Der Jan, der vor ihr stand, war ein alter Mann, ein uralter Mann. Sein Gesicht war schmal und so ausgemergelt, als stünde er kurz vor dem Hungertod. Graue Schatten lagen auf seinen Wangen, und sein Haar war dünn und strähnig.

Hastig antwortete Kara: »Ich fürchte, ich erinnere mich tatsächlich nicht.«

Er lächelte auf eine Art, die ihr klarmachte, daß er in ihrem Blick gelesen hatte wie in einem offenen Buch.

»Aber nun kommt schon herein«, erklärte er. »Die Reise muß sehr anstrengend gewesen sein.«

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