Am Abend kam Cord noch einmal zu ihr. Kara war nicht nur aus dem Versammlungszimmer, sondern aus dem ganzen Hort geflohen und war stundenlang auf der Plattform des höchsten Turmes geblieben, bis Kälte und Müdigkeit sie zurück ins Innere getrieben hatten. Der Turm war eigentlich gar kein Turm, sondern ein bizarr, wie eine Nadel geformter Felsen, in den man mühsam Treppenstufen und eine Plattform gemeißelt hatte. Die Plattform lag so hoch, daß der Blick an einem klaren Tag gute hundertfünfzig Meilen weit über das Land reichte; und in der anderen Richtung eine nicht einmal mehr zu schätzende Strecke über die Leere des Schlundes. Kara kam gern und oft hier herauf, obwohl es ein sehr unwirtlicher Ort war. Der Wind, der an den Flanken der Berge und dem Turm entlangstrich, wehte selbst im Hochsommer eine kalte Brise herüber. Die vorherrschende Farbe war das stumpfe, lichtschluckende Schwarz der Lava, aus der der Turm und fast der gesamte Hort herausgeschlagen worden waren.
Doch Kara liebte diesen öden abweisenden Ort, denn hier oben hatte ihr Angella – eingehüllt in wärmende Pelze und Felle – die Geschichte der Drachenkämpfer erzählt und ihr das Land gezeigt, über das sie nicht herrschten, das zu beschützen sie aber geschworen hatten. Es war ein altes Land, ein uraltes Land, dessen Geschichte so weit zurückreichte, daß niemand mehr wußte, wann und wo sie begonnen hatte. Was freilich kein Zufall war – mehr als einhunderttausend Jahre lang hatten Jandhis Feuerdrachen dafür gesorgt, daß die technische und kulturelle Entwicklung dieses Landes auf einem niedrigen Niveau blieb.
Erst Angella und Tally brachen den Terror der Töchter der Drachen. Angella, die Kara wie eine Tochter aufgezogen hatte, und Tally, die Kara niemals gesehen hatte, denn sie war lange vor ihrer Geburt schon gestorben. Doch so alt dieses Land war, so jung war die Geschichte derer, die es beschützten; keine fünfundzwanzig Jahre, seit Angella zusammen mit Hrhon und einer Bandvoll Getreuer diese Felsenburg erobert und zu ihrem eigenen Hauptquartier gemacht hatten. Keine zehn Jahre, seit sie den letzten Angriff feindlicher Drachen abgeschlagen hatten. Glaubte dieser Narr Karoll wirklich, alles wäre vorbei? Lächerlich. Ein Feind, der hunderttausend Jahre lang über ein Land geherrscht hatte, war nicht besiegt, nur weil man zehn Jahre lang nichts von ihm gehört hatte!
Cord erwartete sie in ihrem Zimmer, als sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit blauen Lippen und steifgefrorenen Fingern zurückkehrte. Er lag auf ihrem Bett, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und das rechte Knie angezogen; eine Geste, die nur lässig wirkte, wie Kara wußte. Seit einem bösen Absturz vor fünf oder sechs Jahren bereitete ihm das Bein manchmal Schmerzen. Er sprach nie darüber, aber jedermann im Hort wußte es. Er döste vor sich hin, als Kara das Zimmer betrat, öffnete aber träge die Augen und schenkte ihr ein müdes Lächeln. Wahrscheinlich wartete er schon seit Stunden auf sie.
»Wie lange bist du schon hier?« fragte sie.
Cord zuckte mit den Schultern, ohne die Hände hinter dem Kopf hervorzunehmen. »Ich weiß nicht. Eine Stunde. Zwei.«
»Ich war auf dem Turm«, begann Kara, und Cord unterbrach sie: »Ich weiß. Ich wollte dich nicht stören.«
Kara, die damit begonnen hatte, ihre vor Kälte klammen Finger über dem Kaminfeuer aneinanderzureiben, hielt mitten in der Bewegung inne und sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Verbringst du deine Zeit jetzt nur noch damit, mir dabei zuzusehen, wie ich... glücklich aussehe?«
Cord überging die Frage. Ächzend setzte er sich auf. »Du warst nicht besonders freundlich zu unserem Gast.«
»Hat er es anders verdient?« Kara war unaufmerksam und verbrannte sich an den züngelnden Flammen die Finger. Mit einem Fluch richtete sie sich auf und stieß sich prompt am Kaminsims den Kopf. Cord lachte.
»Im Moment jedenfalls siehst du nicht besonders glücklich aus.«
Kara funkelte ihn an, rieb sich mit ihrer verbrannten Hand den schmerzenden Hinterkopf und setzte sich auf einen Stuhl. »Du versuchst nicht zufällig, mir irgend etwas beizubringen auf möglichst schonende Art?«
Cord machte ein ertapptes Gesicht. »Das hat noch ein paar Tage Zeit«, sagte er.
»Was?«
»Wir haben drei Wochen gewartet, da können wir auch noch ein paar Tage länger warten«, antwortete Cord unbestimmt. »Womit?« fragte Kara voller Ungeduld. Als Cord noch immer nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Wenn man bedenkt, wieviel Zeit es noch hat, finde ich es schon erstaunlich, daß du schon seit Tagen um mich herumschleichst wie die Katze um den heißen Brei.«
Cord druckste noch einen Moment herum, aber schließlich rückte er doch mit der Sprache heraus: »Es geht um die Frage, was mit dir geschieht, Kara.«
»Mit mir?«
»Angella ist tot«, antwortete Cord. »Wir sind ohne Führer.«
»Vergiß es«, sagte Kara impulsiv. »Ich bin zu jung.«
»Humbug«, antwortete Cord. »Tally war auch nicht viel älter, als sie die Drachentöchter schlug.«
»Ich bin nicht Tally«, sagte Kara. Sie versuchte, soviel Ernst wie möglich in ihre Worte zu legen, ohne theatralisch zu klingen. »Ich... kann es nicht.«
»Du willst nicht«, stellte Cord fest.
»Und? Macht das einen Unterschied? Ich wäre keine gute Führerin des Hortes. Es gibt so viel, das ich noch nicht verstehe – «
»Wir alle werden dir helfen.«
» – und sie nehmen mich nicht ernst«, fuhr Kara fort. »Du hast diesen Karoll erlebt!«
»Männer wie er sind unwichtig«, antwortete Cord und machte eine wegwerfende Geste. »Der Drachenhort braucht einen neuen Führer. Angella hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß du eines Tages ihre Nachfolge antreten sollst. Wir sind es ihr schuldig, diesen Wunsch zu respektieren.«
»Und aus diesem Grund wollt ihr mich zu eurer Herrin machen? Nur weil ihr glaubt, es Angella schuldig zu sein?«
»Nein, auch ich wüßte keinen besseren. Du mußt noch eine Menge lernen, und vor allem mußt du lernen, dein Temperament zu zügeln und dich nach gewissen Konventionen zu richten. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Du bist die Richtige.«
»Bin ich das?« fragte Kara. Plötzlich lächelte sie. »Wenn du mit aller Gewalt darauf bestehst, mir die Krone aufzusetzen, dann nehme ich sie an. Und ich werde dir gleich meinen ersten Befehl erteilen: Bis die neue Herrin des Drachenhortes dazu bereit ist, wirst du kommissarisch die Führung der Drachenreiter übernehmen.«
Cord lächelte flüchtig. »Abgelehnt.«
»Aber du – «
»Wir haben Wichtigeres zu tun«, unterbrach sie Cord. »Denk darüber nach. Wir werden deine Entscheidung akzeptieren, wie immer sie auch ausfällt. Aber nicht, wenn du sie leichtfertig triffst oder aus einer Laune heraus. Bedenke, was auf dem Spiel steht.«
»Vielleicht nichts«, murmelte Kara. »Weißt du, manchmal frage ich mich, ob Männer wie Karoll oder Gendik nicht recht haben. Vielleicht ist unsere Zeit vorbei, Cord. Vielleicht war alles nur ein Zufall, so unwahrscheinlich es scheint.«
»Und die Männer, die du unter der Stadt gesehen hast?«
»Also glaubst du mir wenigstens«, sagte Kara.
Cord runzelte die Stirn. »Willst du mich beleidigen?«
»Karoll hat vielleicht recht, weißt du?« fuhr Kara fort. »Wir wissen bis heute nicht, was in den Ländern jenseits des Schlundes liegt. Vielleicht kommen sie von dort. Wir selbst schicken regelmäßig junge Drachenkämpfer auf die Reise über den Drachenfels hinaus, um diese Länder zu erforschen.«
»Ja«, grollte Cord. »Und keiner ist bisher zurückgekehrt.«
»Das kann tausend Gründe haben«, sagte Kara. »Vielleicht kommen diese Männer von dort. Vielleicht sind sie nur neugierig.«
»Warum zeigen sie sich uns dann nicht offen?«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht haben sie Angst vor uns, was weiß ich?« Natürlich redete sie Unsinn; das wußte sie so gut wie Cord. Die Fremden hatten den ersten Schuß in diesem Krieg abgegeben. Sie hatten Liss und die beiden anderen im Stollen getötet, und es war einer von ihnen gewesen, der die Banditen angeführt hatte, die sie überfallen hatten. »Ich sage ja nur, daß wir noch nicht endgültig wissen, ob wir uns wirklich im Krieg befinden«, schloß sie lahm.
»Dann sollten wir vielleicht damit anfangen, genau das herauszufinden«, sagte Cord.
Aber genau das war ja ihr Problem, begriff er das denn nicht? Angella hatte ihr viel erzählt, aber noch sehr viel mehr hatte sie ihr nicht erzählt.
»Bleibt es dabei, daß du mir helfen wirst?« fragte sie. Cord nickte.
»Gut«, sagte Kara. »Dann beruf eine Versammlung für heute abend ein. Ich will alles wissen.«