24

Sie waren noch dreiundzwanzig Reiter und siebzehn Drachen, und sie verloren ein weiteres Tier und drei ihrer Kameraden, als sie versuchten, vier oder fünf Meilen entfernt in den Wipfeln des Dschungels zu landen. Das so massiv erscheinende Blätterdach gab unter dem Gewicht des Tieres nach, und als der Drache mit einer erschrockenen Bewegung wieder in die Höhe zu gelangen versuchte, schnellte ein zerborstener Ast wie ein Speer in die Höhe und schlitzte seine linke Schwinge auf voller Länge auf. Kara schloß entsetzt die Augen, als das Tier samt seiner Reiter durch die Baumkronen brach und in der Tiefe verschwand.

Durch das Schicksal seines Bruders gewarnt, setzte Markor sehr viel vorsichtiger auf dem Blätterdach auf. Auch er sank ein Stück in das grüne Dickicht ein, aber nach einem kurzen Moment des Schreckens begriff Kara, daß es sein Gewicht halten würde. Müde und zitternd vor Erschöpfung ließ sie sich von Markors Rücken gleiten und sank auf weiches, leicht klebriges Moos. Sie kämpfte gegen den Impuls an, einfach die Augen zu schließen und einzuschlafen, doch plötzlich spürte sie das schmerzhafte Ziehen des Rufers in ihren Nacken- und Schultermuskeln.

Kara?

Sie fühlte sich viel zu müde, um zu antworten. Aber sie wußte, daß der Quälgeist nicht aufhören würde. Ja. Ich lebe noch.

Wie viele sind bei dir?

Kara zwang sich, den Kopf zu heben und die verschwommenen Schatten in ihrer Nähe zu zählen. Fünf. Nach einer Sekunde verbesserte sie sich. Nein. Sechs.

Gut, signalisierte Aires. Dann schick sie weg. Wir haben mehr Drachen als Reiter.

Aber...

Die anderen Tiere kommen zurück. Sie sind vor Gäa geflohen, nicht vor uns. Sieh selbst.

Kara war viel zu müde, um auch nur den Kopf zu heben.

Aber sie registrierte auch so die riesigen, dreieckigen Schatten, die sich ihnen aus der Richtung, in der der Drachenfels lag, näherten. Wahrscheinlich waren die Tiere ebenso verängstigt und hilflos wie ihre Reiter und suchten die Nähe der anderen Drachen.

Da alle die Botschaft des Rufers mitgehört hatten, brauchte Kara Aires’ Befehl nicht zu wiederholen. Die Drachenkämpfer entfernten sich auf der Suche nach ihrem eigenen oder irgendeinem anderen Tier, auf dessen Rücken sie sich zurückziehen konnten.

Lange Zeit saß Kara einfach nur da und versuchte zu begreifen, was sie mitangesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Wenn Gäa tatsächlich mit einem Male beschlossen hatte, zu ihrem Feind zu werden, dann war das... unvorstellbar; eine Gefahr, gegen die jeder denkbare andere Feind zu einem Nichts wurde.

Nach einer Weile sah sie auf. Ihr Blick begegnete dem Markors, und was sie in den riesigen, schwarzen Augen des Drachen las, ließ sie abermals schaudern. Mitgefühl stand in seinen Augen und eine Intelligenz, die weder menschlich noch animalisch zu nennen war.

Plötzlich tropfte etwas auf ihre Hand. Und als Kara den Arm hob, sah sie, daß es Blut war. Erst dann bemerkte sie die Blutstropfen, die Markors Lefzen bedeckten.

Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was passiert war. Wie alle ausgewachsenen Drachen war auch Markor in der Lage, Feuer zu speien, und das Drachenfeuer war die mächtigste und gefährlichste Waffe des Hortes. Doch durfte diese Waffe nicht leichtfertig eingesetzt werden. Der gleiche biochemische Prozeß, der die Drachen befähigte, zu lebenden Flammenwerfern zu werden, entzog ihren Körpern auch Kräfte und bereitete ihnen erhebliche Schmerzen, weshalb sie diese letzte Waffe nur dann einsetzten, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit mehr gab. Offensichtlich war Markor so rasend vor Zorn gewesen, daß er sich in seinem Haß auf Gäa selbst verletzt hatte.

Kara stand auf, ging auf den Drachen zu und schmiegte sich an seine Flanke. Markor grollte leise. »Ich weiß, du hast Schmerzen«, murmelte sie. »Ich wollte, ich könnte dir helfen.«

Markor bewegte den Kopf, um sie anzusehen, und noch mehr Blut fiel wie roter Regen herab. Karas Augen füllten sich mit Tränen.

»Wenn dir etwas passiert, Markor«, sagte sie mit zitternder Stimme, »dann vernichte ich sie. Das schwöre ich dir.«

»Mit solchen Versprechungen wäre ich vorsichtig«, sagte Aires aus dem Dunkel heraus. Kara hatte ihr Kommen nicht bemerkt, war aber trotzdem nicht überrascht; es war, als hätte sie die Nähe der Magierin gespürt. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um die Tränen abzuwischen, und drehte sich herum. Aires war nicht mehr als ein Schatten in der Nacht. Mit einem langen besorgten Blick musterte die Magierin erst sie und dann den Drachen. »Er verliert viel Blut, aber er wird es überleben«, sagte Aires dann knapp.

Kara nickte stumm, wich ein Stück von dem Drachen zurück und schmiegte sich sofort wieder an seine Flanke, als Markor unruhig zu knurren begann. Es war kein Zufall. Der Drache wollte sie offenbar in seiner Nähe haben.

Auch Aires war Markors ungewöhnliche Reaktion nicht entgangen. Sie zog überrascht die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. »Wie geht es dir?« fragte sie schließlich. Kara zuckte die Achseln. »Ich bin nicht verletzt, wenn du das meinst.«

»Nein«, antwortete Aires. Die Schärfe in ihrer Stimme überraschte Kara. »Das meine ich nicht.« Sie schwieg einen Moment. Als sie weitersprach, klang sie wieder so ruhig wie gewohnt. »Bist du in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen?«

Kara war verwirrt. Sie wollte schon verärgert auffahren, denn sie konnte sich nicht erinnern, Aires einen Grund für diese Frage geliefert zu haben, aber dann nickte sie nur. Sie begriff, daß Aires den langen, gefährlichen Weg über die Baumwipfel auf sich genommen hatte, weil es etwas zu besprechen gab, das nicht für andere Ohren bestimmt war. »Was ist nur geschehen?« fragte sie. »Wieso greift Gäa uns an?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Aires ruhig. »Und im Moment interessiert es mich offen gesagt auch nicht sehr. Wir müssen etwas tun, Kara – und zwar sehr schnell. Du mußt etwas tun.«

Kara sah sie fragend an.

»Ich möchte, daß du zum Hort zurückkehrst«, sagte Aires. »Was?«

»Ich möchte, daß du zurückfliegst und Maran und die anderen jungen Reiter mitnimmst«, bestätigte Aires. »Und zwar gleich. Nicht morgen früh, sondern sobald sich die Tiere ein wenig erholt haben.«

»Aber warum denn?« fragte Kara verstört. Sie fühlte sich hilflos. Aires’ Worte stürzten sie in eine tiefe Verwirrung, denn sie gaben ihr das Gefühl, für irgend etwas bestraft zu werden. Und sie wußte nicht einmal wofür. »Ich meine... es ist Nacht. Die Tiere sind erschöpft, und... warum warten wir nicht wenigstens, bis es hell wird?«

»Weil es zu gefährlich wäre«, sagte Aires bestimmt. »Bildest du dir im Ernst ein, wir wären hier sicher? Dieser Dschungel ist voll von Geschöpfen, die selbst einem Drachen gefährlich werden können. Die jungen Narren überleben hier keinen halben Tag. Bring sie zurück!«

»Und du?«

»Ich werde nachkommen«, antwortete Aires.

»Nachdem du was getan hast?« erkundigte sich Kara.

»Zum einen werde ich zu der Siedlung im Norden fliegen und die Menschen dort warnen, falls es noch nicht zu spät ist. Wenn Gäa uns angegriffen hat, dann gibt es keinen Grund, aus dem sie nicht auch sie angreifen sollte.«

»Wenn sie es tat, dann ist es längst geschehen. Das weißt du so gut wie ich.«

Aires schwieg.

»Ich weiß, warum du zurückbleiben willst«, fuhr Kara fort. »Du willst herausfinden, was passiert ist, nicht wahr? Und du weißt, wie gefährlich das ist, und hast Angst, daß ich es dir verbieten könnte.«

»Verbieten?« Aires versuchte spöttisch zu klingen, aber es gelang ihr nicht. »Du kannst mir nichts verbieten, Kindchen.«

»Oh, ich denke doch, daß ich das kann«, erwiderte Kara ruhig. »Cord und Storm und du, ihr habt doch keine Gelegenheit ausgelassen, mir und allen anderen zu versichern, daß ich die einzig mögliche Nachfolgerin Angellas bin, oder etwa nicht? Daß ich den Hort führen und Befehle erteilen und vor allem Verantwortung tragen muß. War es nicht so?«

Ihre Worte waren ungerecht, aber das war ihr im Moment völlig gleichgültig. Als Aires keine Anstalten machte, irgend etwas zu antworten, fuhr sie in dem gleichen, herausfordernden Ton fort: »Gut, dann erteile ich dir jetzt einen Befehl, Aires. Ich lasse nicht zu, daß du dich einem solchen Risiko aussetzt. Du hast recht – wir müssen diese Menschen warnen, und wir müssen herausfinden, warum Gäa uns so plötzlich angreift. Aber wir werden es gemeinsam tun.«

Aires’ Augen glitzerten wie kaltes Glas. »Leg es nicht auf eine Kraftprobe an, Kleines«, sagte sie mit fremder eisiger Stimme. »Versuche es nicht. Du könntest verlieren, weißt du?«

»So?« fragte Kara ruhig. Für Momente fochten ihre Blicke ein stummes Duell; ein Duell, das Kara ganz eindeutig verlor. Ohne ein weiteres Wort aktivierte Kara ihren Rufer.

Kara hier, meldete sie sich und sah, wie Aires zusammenzuckte. Wir rasten eine Stunde, damit die Tiere sich erholen können. Danach fliegen wir weiter. Wir müssen die Stadt im Norden warnen. Und herausfinden, was, zum Teufel, hier überhaupt vorgeht.

Aires’ Gesicht verlor jede Farbe. Verärgert machte sie einen Schritt auf Kara zu, und Kara wäre nicht einmal erstaunt gewesen, hätte sie die Hand gehoben, um sie zu schlagen. Noch etwas, fügte sie hinzu. Wer verletzt ist oder aus irgendeinem anderen Grund zum Hort zurückkehren möchte, kann das tun.

Ich werde es niemandem zum Vorwurf machen.

Aires starrte sie an. Kara war nicht sicher, ob das, was sie in ihren Augen sah, nicht abgrundtiefer Haß war. »Du verdammte Närrin«, sagte sie leise. »Du bringst die Hälfte von ihnen um, ist dir das eigentlich klar?«

»Und wenn ich es nicht tue, bringe ich dich um«, erwiderte Kara. »Ist dir das lieber?«

»Ein Leben gegen zwanzig?«

»Ein einziges Leben ist ebenso viel wert wie Hunderte«, antwortete Kara. Sie hob zornig die Hand. »Was soll das? Soll ich dir jetzt erzählen, was Angella und du mir mein Leben lang eingepaukt haben?«

»Offensichtlich waren wir keine guten Lehrer«, sagte Aires. »Denn du hast nichts verstanden.« Sie preßte die Lippen zusammen und starrte an Kara vorbei ins Leere. »Ich könnte dich trotzdem zurückschicken, Kara. Mit einem einzigen Wort.«

»Warum tust du es dann nicht?«

»Ganz bestimmt nicht um deinetwillen«, fauchte Aires. »Ich werde gehorchen – um das Wohl des Hortes zu wahren. Wir brauchen keinen Führer, von dem jedermann weiß, daß er nur von meinen Gnaden herrscht. Aber wir werden darüber reden, sobald wir zurück sind. Und ich schwöre dir, Kara, du wirst dich für jedes Leben rechtfertigen müssen, das auf diesem Flug verlorengeht.«

»Auch für jedes, das ich rette?« gab Kara trotzig zurück. Aires’ Augen funkelten.

Aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich wortlos um und ging zu ihrem Drachen zurück.

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